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Bindungsorientiert heißt: Nicht alles erfüllen, aber verstehen.
14 weitverbreitete Missverständnisse über Bindungsorientierung – verständlich erklärt und alltagstauglich übersetzt. Ein großartiges Buch! Claudia Schwarzlmüller, SPIEGEL-Bestseller-Autorin und Diplom-Psychologin
Die zweifache Mutter und Sozialpädagogin Julia Cammann zeigt an ganz alltäglichen Beispielen, wie Eltern Bindung und Autonomie miteinander in Einklang bringen können, ohne in die Falle von Perfektionismus, Überprotektion oder Überforderung zu tappen. Sie hat eine klare, wohlwollende Haltung zu bindungsorientierter Erziehung: Wir dürfen unsere eigenen Grenzen formulieren, während wir gleichzeitig liebevoll auf die Bedürfnisse unserer Kinder eingehen. Julia Cammann nimmt Eltern in der Autonomiephase ihrer Kinder den Druck nehmen, alles richtig machen zu müssen. Ihre zugewandten Erklärungen helfen dabei, sich im Familienalltag auf das Wesentliche zu konzentrieren – ohne als Eltern auszubrennen.
In diesem Buch räumt sie dazu mit zahlreichen Missverständnissen der bedürfnisorientierten Erziehung auf, wie zum Beispiel:
• »Nur die Bedürfnisse meines Kindes zählen.«
• »Ich darf mein Kind nicht loben.«
• »Ich muss alles mit meinem Kind ausdiskutieren.«
Ein wirklich hilfreicher Ratgeber für Eltern, die ihrem Kind bedingungslose Liebe schenken möchten, ohne sich selbst dabei zu vergessen! Ein wahrer Schatz für Eltern. Dr. Martina Stotz @dr_stotz_kinderpsychologie
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 303
Veröffentlichungsjahr: 2025
»Bindungsorientiert heißt: Nicht alles erfüllen, aber verstehen.«
Wie kann man bedürfnisorientiert erziehen, ohne dabei selbst auszubrennen? Wie kann man Bindung und Autonomie miteinander in Einklang bringen? Worauf kommt es bei der Bindungsorientierung wirklich an? Diese und andere drängende Fragen stellen sich viele Eltern insbesondere in der Autonomiephase ihrer Kinder.
Die zweifache Mutter und Sozialpädagogin Julia Cammann bietet praxisnahe Antworten mit einer klaren, wohlwollenden Haltung: Wir Eltern dürfen unsere eigenen Grenzen formulieren, während wir gleichzeitig liebevoll die Bedürfnisse unserer Kinder respektieren. Dieses Buch räumt mit zahlreichen Missverständnissen der bedürfnisorientierten Erziehung auf – wie zum Beispiel »Nur die Bedürfnisse meines Kindes zählen.«, »Ich darf mein Kind nicht loben.« oder »Ich muss alles mit meinem Kind ausdiskutieren.«. An konkreten Alltagssituationen veranschaulicht Julia Cammann die wahren Bedürfnisse, die hinter dem Verhalten eines Kindes stecken können. Sie erklärt pädagogisch fundiert, warum es so wichtig ist, auch Frustration und Enttäuschung zuzulassen, um eine gesunde und starke Beziehung zu seinem Kind aufzubauen.
Mit vielen konkreten Tipps für den Familienalltag, die Eltern den Druck nehmen, alles richtig machen zu müssen
JULIACAMMANN ist Sozialpädagogin und unterstützt ihre Follower auf Instagram und auf TikTok bei allen Fragen rund um die bedürfnisorientierte Erziehung. Sie hat Soziale Arbeit an der KSH München studiert und eine theologische Zusatzausbildung absolviert. Mit dem Vertiefungsbereich »Frühe Hilfen« hat sie sich auf die Elternberatung spezialisiert. Julia Cammann lebt mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann in der Nähe von München.
JULIA CAMMANN
ICHÜBERSETZEDIRDEINKIND
Kinder bindungsorientiert begleiten, ohne sich selbst zu verlieren
Für Eltern von Kindern in der Autonomiephase (ca. 1– 7 Jahre)
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Copyright © 2025 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Dr.Daniela Gasteiger
Umschlag: buxdesign GbR
Umschlagmotiv: © Nuria Seguí / Stocksy
Innenteilillustrationen: © Bulgakova Kristina / stock.adobe.com
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-33417-8V001
www.koesel.de
INHALT
EINLEITUNG:WORAUFKOMMTESWIRKLICHAN?
Was bedeutet bindungs- oder bedürfnisorientiert?
Keine Angst vor Fehlern
Aufs Klima kommt es an
So findest du dich im Buch zurecht
BEIDIRSELBSTANKOMMEN:DIE R.A.I.N.-METHODE
Deine vier Schritte
Auf Ursachenforschung gehen: Dein inneres Kind
MISSVERSTÄNDNIS 1: »ICHMUSSBEIJEDEMPIEPSSOFORTSPRINGEN, SONSTWIRDMEINKINDTRAUMATISIERT.«
Wie viel Unterhaltung braucht mein Kind?
Mein Kind unterbricht meine Gespräche permanent!
MISSVERSTÄNDNIS 2: »NURDIEBEDÜRFNISSEMEINESKINDESZÄHLEN.«
Heißt es bedürfnisorientiert oder wunschorientiert?
Bedürfnisse altersgerecht leben
Zu viel Mental Load?
Die eigenen Bedürfnisse im Blick behalten
MISSVERSTÄNDNIS 3: »ICHMUSSIMMERINPERFEKTEMEINVERNEHMENMITMEINEMKINDSEIN, SONSTLEIDETDIEBINDUNG.«
Dienstleistung ist keine Liebe
Supermarkt mal anders
Das Prinzip Führen und Folgen
Was, wenn das Kind ausrastet?
MISSVERSTÄNDNIS 4: »WENNMEINKINDFRUSTRIERTIST, ISTESUNGLÜCKLICH!«
»Banane kaputt!« Frust aushalten ist lebenswichtig
Wutausbrüche sind notwendig
Manche Wutausbrüche sind vermeidbar
MISSVERSTÄNDNIS 5: »WUTAUSBRÜCHEWARTEICHEINFACHAB, DAKANNMANEHNICHTSMACHEN.«
Wutausbrüche begleiten. Drei Basic-Tipps für den Anfang
Hilfe, mein Kind haut und beißt
Wenn die Wut da ist
Dein Vorbild zählt
Die Empathieschleife
Den schmalen Grat zwischen Trösten und Reality Check finden
MISSVERSTÄNDNIS 6: »MEINKINDMUSSGARNICHTS.«
Kinder wollen beitragen
Als Familie im Restaurant
Begrüßen und Bedanken
Zum Entschuldigen zwingen?
Selbstwirksamkeit, Motivation und persönliche Grenzen
Das Kind unterstützen, seinen Weg zu finden
Individuelle Stärken und Schwächen anerkennen und akzeptieren
Eigene Wünsche nicht aufs Kind projizieren
MISSVERSTÄNDNIS 7: »ICHMUSSIMMERGANZSANFTUNDINEINEMRUHIGENTONFALLMITMEINEMKINDSPRECHEN.«
Dürfen wir Anforderungen an unsere Kinder haben?
Auch die nonverbale Kommunikation ist wichtig
Authentisch kommunizieren
MISSVERSTÄNDNIS 8: »ALLEWENN-DANN-SÄTZESINDSCHLECHT, WIEÜBERHAUPTJEDEMACHTAUSÜBUNG.«
Selbstwirksamkeit versus Machtdemonstration
Den Willen bindungsorientiert durchsetzen
Als Eltern verantwortungsvoll mit Macht umgehen
Die verdeckte Ausübung der Macht
MISSVERSTÄNDNIS 9: »KONSEQUENZENUNDSTRAFENSINDDASGLEICHE!«
Warum Strafen in liebevollen Beziehungen nicht weiterhelfen
Konsequenzen einsetzen
MISSVERSTÄNDNIS 10: »ICHMUSSALLESMITMEINEMKINDAUSDISKUTIEREN.«
Kinder einbeziehen
Vom Spielplatz aufbrechen
Wer bestimmt, was gegessen wird?
Euer Beschwerdemanagement
MISSVERSTÄNDNIS 11: »HILFE, MEINKINDTUT ›ABSICHTLICH‹ VERBOTENEDINGE!«
Hilfe, mein Kind quält Tiere
Mein Kind lacht provokant, wenn ich es schimpfe!
Warum freie Spielzeit so wichtig ist
MISSVERSTÄNDNIS 12: »ICHDARFMEINKINDNICHTLOBEN!«
Zerstört Lob die intrinsische Motivation?
Vorsicht vor Belohnungssystemen
Anerkennung schenken
MISSVERSTÄNDNIS 13: »ANÜBERGÄNGENKNIRSCHTESHALT.«
Das Zubettgehen spielerisch umsetzen
Frage niemals, wenn du ein »Nein« als Antwort sowieso nicht akzeptieren würdest
Im Bad
MISSVERSTÄNDNIS 14: »BINDUNGSORIENTIERTSCHLAFENGEHTNURIMFAMILIENBETT.«
Bei der Einschlafbegleitung ist weniger oft mehr
Der Ursprung des Schlaftrainings: Johanna Haarer
Bindungsorientiert allein schlafen
Drei-Monats-Koliken? Wohl eher nicht
Die eine richtige Schlaflösung gibt es nicht
SCHLUSS
ZUMWEITERLESEN
ANMERKUNGEN
Für meinen Mann und unsere zwei Kinder, die mich jeden Tag daran erinnern, worauf es wirklich ankommt.
Einleitung: WORAUF KOMMT ES WIRKLICH AN?
Schön, dass dieses Buch den Weg zu dir gefunden hat! Wenn du auf der Suche nach alltagstauglicher Inspiration bist, wie du mit den ganz normalen und manchmal nervenaufreibenden Konflikten im Familienalltag umgehen kannst, bist du hier genau richtig.
Dieses Buch ist keine 1:1-Anleitung, wie du dein Kind »richtig« behandelst, damit es »funktioniert«. Jedes Kind, jede Bezugsperson, jede Familie ist einzigartig – mit individuellen Persönlichkeiten, Hintergründen und Lebensbedingungen. Statt Patentrezepte zu liefern, möchte ich dir ein tieferes Verständnis für dein Kind ermöglichen. Dafür findest du hier zu typischem Verhalten mögliche Erklärungen, die sich an der kindlichen Entwicklung und Hirnreife orientieren. Wenn du verstehst, warum dein Kind sich so verhält, eröffnen sich dir neue Handlungsmöglichkeiten. Natürlich mache ich auch Vorschläge, was du konkret sagen könntest – mir helfen solche Beispiele selbst oft als Orientierung. Was du letztlich sagst oder tust, sollte aber zu dir passen. Am besten wirkt es, wenn du authentisch bist. Es kommt natürlich auch auf das Alter deines Kindes an, welche Reaktion angemessen ist. Hilf deinem Kind, Heimat im Inneren zu finden.
Nicht immer gibt es nur richtig oder falsch. Häufig führen mehrere Wege zum Ziel. Entscheidend ist, was zu dir, deinem Kind und eurer Familiensituation passt. Beispiel Babytransport: Ja, ergonomisch korrektes Tragen ist oft förderlich, aber nicht jedes Baby mag es. Manche Eltern können das körperlich außerdem nicht leisten. Dann ist der Kinderwagen völlig okay.
Mach dich nicht verrückt, finde deinen Weg. Verstehen wollen, nicht nur beim Kind, sondern auch bei dir selbst, ist dabei die grundlegende Haltung. Warum trifft mich das Verhalten meines Kindes manchmal so stark? Warum reagiere ich in einer Situation gelassen, in einer anderen nicht? Keine Sorge, das wird kein tiefenpsychologisches Seminar. Aber ich streue Denkanstöße ein, die dir helfen können, dich selbst besser zu verstehen. Auf dieser Basis kann es dir leichter fallen, reflektiert und mehr so zu reagieren, wie du es auch willst. Bindungs- und bedürfnisorientiert heißt nämlich nicht, dass du wie ein säuselnder Wind oder ein Roboter sprechen musst – dieses Missverständnis begegnet mir oft. Kinder wollen Bindung, also authentischen Kontakt mit echten Menschen, und dazu gehören natürlich auch andere Gefühle als nur immer Friede, Freude, Eierkuchen. Und das heißt nicht, dass du gleich in das extreme Gegenteil schwenken und mit ungebremsten Wutausbrüchen reagieren sollst.
Falls dir ein Wutausbruch passiert: Wut ist manchmal vielleicht auch ein Zeichen für tieferliegende Probleme. Anstatt dich für deine unangemessene Reaktion fertigzumachen, begib dich lieber auf Ursachenforschung und stehe für dich und für echte Veränderungen ein. Wenn du Dinge in deiner eigenen Kindheit anders erlebt hast und es jetzt »besser machen« willst, hüte dich jedoch davor, einfach das Gegenteil zu tun. Das führt oft nur in eine neue Sackgasse. Ein neuer Weg ist nicht immer leicht und kann schmerzhafte Punkte berühren, aber er lohnt sich.
Wovon ich mich in meiner Arbeit inspirieren lasse: Meine Erfahrungen als Sozialpädagogin in der stationären Kinder- und Jugendhilfe, mein Studium, das Leben mit meinen eigenen Kindern – und die vielen Fragen, die täglich von Eltern in meinem Postfach landen. Dazu kommen große Vorbilder wie Jesper Juul, Herbert Renz-Polster oder Philippa Perry, denen ich viele Aha-Momente verdanke. Dieses Buch soll sich nicht wie eine wissenschaftliche Abhandlung lesen, sondern wie ein persönliches Gespräch. Fachsprache wirst du hier kaum finden. Ich möchte, dass du dich verstanden fühlst, nicht belehrt.
Ein Wort zu Social Media und Missverständnissen rund um bindungsorientierte Erziehung: Viele Familien begleiten bindungsorientiert und sind dennoch häufig verunsichert, auch wegen widersprüchlicher Botschaften auf Instagram und Co. Zwei Extreme stechen dabei besonders hervor:
Eltern, die glauben, nur die Bedürfnisse der Kinder zählen, und sich dabei selbst verlieren.Eltern, die jedes Eingehen auf Gefühle als Verweichlichung abtun und sich, wie ich auf Social Media beobachte, über »Dinkeldörtes« und »Mehrkorndieters« lustig machen.Beide Pole beruhen auf Missverständnissen. Zwischen ihnen liegt ein riesiges, wichtiges Feld – und genau hier möchte ich dir Orientierung geben. Verstehe dieses Buch als Landkarte, nicht als starre Anleitung.
Eine offizielle Definition von bindungsorientierter Erziehung existiert nicht. Es gibt in den allermeisten Fällen nicht die eine richtige Antwort auf eine Situation. Gib drei Schreinern je ein Stück vom gleichen Holz in die Hand und sie werden ganz unterschiedliche Dinge daraus herstellen. Diese Offenheit verunsichert, eröffnet aber auch Freiheit: Du darfst deinen Weg individuell gestalten. Deshalb findest du hier Grundpfeiler, die eine tragfähige Basis schaffen können. Denn eins haben alle Wege gemeinsam: Sie gründen in liebevoller Führung und geben Orientierung und Halt.
Nimm dir von meinen Tipps und Ratschlägen, was für dich passt: Manches wird dich sofort abholen, anderes vielleicht nicht. Und das ist völlig in Ordnung.
WAS BEDEUTET BINDUNGS- ODER BEDÜRFNISORIENTIERT?
Ich möchte mit einem Gedankenanstoß beginnen: Sieh dein Kind so, wie es wirklich ist – nicht, wie du es gern hättest oder erwartest. Auch wenn wir Eltern unsere Kinder gut kennen, ist unser Blick oft durch Hoffnungen und Vorstellungen getrübt. Diese inneren Bilder können verhindern, dass wir unser Kind wirklich wahrnehmen. Natürlich dürfen wir uns etwas wünschen, zum Beispiel ein fußballbegeistertes Kind, aber wenn die Realität anders aussieht, ist es wichtig, das zu akzeptieren. Loszulassen, auch wenn es kurz wehtut. Nur so können wir unser Kind in seiner Einzigartigkeit annehmen. Und das ist die Basis, damit es echte Selbstliebe lernt. Auch Worte prägen das Selbstbild deines Kindes: Ein Kind, das ständig als »Zicke« bezeichnet wird, übernimmt diese Rolle vielleicht unbewusst. Auch vermeintlich positive Zuschreibungen wie »unser Sonnenschein« können Druck aufbauen und Kinder davon abhalten, ihre wahren Gefühle zu zeigen.
Bindungs- und bedürfnisorientierte Erziehung bedeutet, dass wir die Beziehung zum Kind in den Mittelpunkt stellen. Bindung und Erziehung sind dabei nicht das Gleiche, beeinflussen sich aber gegenseitig. Bindung beschreibt die Qualität der emotionalen Beziehung zwischen Eltern und Kind, also wie viel Liebe, Vertrauen, Sicherheit und gegenseitiges Verstehen da ist. Erziehung umfasst alles, was Eltern dem Kind mitgeben, um sich in der Welt zurechtzufinden, etwa wie man miteinander umgeht, Verantwortung übernimmt oder sich im Alltag orientiert.
Eine gute Bindung erleichtert Erziehung – ersetzt sie aber nicht. Man kann auch ein wohlerzogenes Kind haben, das sich innerlich verlassen fühlt. Und umgekehrt eine liebevolle Beziehung mit fehlender Orientierung.
Eine gute Bindung bedeutet nicht, dass wir aufhören, Eltern zu sein und stattdessen zur besten Freundin mutieren. Eltern tragen Verantwortung, müssen Entscheidungen treffen, leiten und auch mal unangenehme Dinge tun. Das ist kein Widerspruch zur Liebe, sondern Ausdruck davon. Du darfst Grenzen setzen – wichtig ist nur, wie du es tust. Manchmal bin ich am Morgen ganz einfühlsam und abends mache ich eine deutliche Ansage – das macht mich nicht weniger bindungsorientiert. Es geht darum, situativ, liebevoll und gleichzeitig klar zu handeln. Kinder brauchen Klarheit und Zugehörigkeit. All das schließt sich nicht aus.
Missverständnisse entstehen oft, wenn Erziehungsstile als starres Konzept verstanden werden. Natürlich ist es einerseits wichtig, sich Wissen über Entwicklungspsychologie und kindliches Verhalten anzueignen und auch Strategien, wie man liebevoll und gewaltfrei mit Kindern umgehen und kommunizieren kann. Doch es geht nicht darum, Regeln auswendig zu lernen, sondern den eigenen Weg zu finden: Was braucht mein Kind, was brauche ich, was tut uns als Familie gut? Erziehung ist keine Checkliste, sondern ein individueller, ganzheitlicher Prozess. Um zu wissen, was du tun kannst, musst du wissen, warum dein Kind etwas tut. Und da gibt es in den allermeisten Fällen, wie gesagt, nicht nur eine richtige Antwort oder die perfekte Formulierung. Manche sagen, ein »Aber« im Satz mache alles zuvor Gesagte zunichte. Ich sehe das differenzierter. Ein »Aber« muss nicht automatisch alles infrage stellen, was davor gesagt wurde. Manchmal zeigt es einfach nur, dass mehrere Wahrheiten gleichzeitig bestehen können.
Die Bindung, die du zu einem bestimmten Zeitpunkt zu deinem Kind hast, ist nicht in Stein gemeißelt. Eine gute Bindung in der Kindheit ist eine wundervolle Grundlage – aber sie ist keine Garantie fürs Leben. Und umgekehrt: Auch wenn nicht alles optimal lief, kann man vieles nachholen, heilen und wachsen. Es ist nie zu spät für Verbindung. Wir können nicht alles kontrollieren – aber wir können unser Bestes geben, damit unsere Kinder sich geliebt, gesehen und geborgen fühlen. Und genau darum geht es in diesem Buch.
Perfektionismus? Kann gehen. Du musst nicht alles perfekt machen, das geht sowieso nicht. Fehler gehören dazu, auch bei mir. Entscheidend ist, wie wir mit ihnen umgehen: erkennen, annehmen, daraus lernen. Und auch den Kindern zugestehen, uns ab und zu den Spiegel vorzuhalten. Ich glaube fest daran, dass Familienleben dann gelingt, wenn wir Interesse aneinander haben und uns nicht von starren Dogmen einschnüren lassen. Wenn jede kleine Formulierung zur potenziellen Traumatisierung wird, verschwindet die Leichtigkeit – und mit ihr die Freude. Stattdessen wünsche ich dir einen Garten: mit bunten Blumen, hier und da ein bisschen Unkraut, aber vor allem ein Ort, an dem sich alle wohlfühlen.
KEINE ANGST VOR FEHLERN
Ein Glaubenssatz, der Eltern oft viel Druck macht, ist: »Ich darf keine Fehler machen.« Doch das ist weder realistisch noch menschlich. Fehler passieren, gerade in der Elternschaft, weil sie einfach herausfordernd ist. Wenn wir so tun, als wären wir fehlerfrei, verlieren wir nicht nur an Authentizität, sondern schaffen auch Distanz zu unseren Kindern. Perfektion wirkt unnahbar und kann Kindern das Gefühl geben, selbst nie genügen zu können. Sie brauchen keine perfekten Eltern. Sie brauchen echte Menschen, die auch mal überfordert sind, Fehler machen, daraus lernen und weitermachen.
Kinder sollten sehen, dass wir nach einem Fehler nicht alles infrage stellen oder so tun, als wäre es das Ende der Welt – sondern dass man Fehler annehmen, daraus lernen und ganz normal weitermachen kann. Nur so kann man sich schließlich weiterentwickeln. Ich kenne das auch: Situationen, in denen ich merke, dass ich gerade nicht so reagiere, wie ich es eigentlich besser wüsste – weil ich müde, gestresst oder reizüberflutet bin. Und dann höre ich mich selbst Dinge sagen, bei denen ich innerlich schon weiß: Das war’s nicht. Entscheidend ist nicht, ob wir alles richtig machen, sondern ob wir liebevoll mit uns selbst umgehen, wenn es nicht so läuft wie erhofft. Wenn du dir selbst vergeben kannst, wird es dir auch leichter fallen, deinem Kind mit Geduld und Verständnis zu begegnen. Denn Kinder lernen nicht nur aus dem, was wir ihnen sagen – sondern vor allem aus dem, wie wir mit uns selbst umgehen. Wenn du ihnen zeigen willst, dass Fehler okay sind, dann fang bei dir selbst an. Mehr dazu findest du im Abschnitt »Zum Entschuldigen zwingen« in Missverständnis 6.
AUFS KLIMA KOMMT ES AN
Es ist also nicht möglich, immer richtig zu reagieren. Was noch wichtiger ist, ist das Klima in der Familie. Ein gutes Klima hält verschiedene Wetterlagen aus. Da kann es auch mal ein Gewitter geben, Sonnenschein, Regen oder Schnee. Wenn das Klima ansonsten ein lebensfreundliches ist, dann sind Wetterumschwünge nicht so schlimm.
Lass es mich so verdeutlichen: Es bringt nicht viel, wenn wir in Problemsituationen immer perfekt gewaltfrei kommunizieren, wenn wir ansonsten genervt, abwesend oder abweisend sind. Das macht eine bindungsorientierte Reaktion bei Streit oder Wutausbrüchen meist nicht wett. Auf dieser Basis fällt es Kindern oder allgemein Menschen grundsätzlich schwerer, zu kooperieren, und damit sind viele Konflikte auch schon vorprogrammiert. Wenn allerdings eine grundsätzlich entspannte, liebevolle und zugewandte Atmosphäre herrscht, dann ist eine nicht so perfekte Reaktion in stressigen Situationen auch leichter zu ertragen. Herrscht in einem Gebiet ein lebensfeindliches Klima mit extremer Kälte, Hitze oder Schlechtwetterlage, dann bringt ein Stündchen Sonnenschein nicht viel. In einem lebensfreundlichen Klima macht ein kleiner Sturm dagegen nicht automatisch gleich alles kaputt.
Für das Klima sind auf jeden Fall die Eltern verantwortlich, auch wenn ich hier augenzwinkernd ergänzen möchte, dass die Kinder durch ihr Verhalten oder ihre Launen das Wetter schon mal verhageln können. Doch wie gesagt – ein gutes Klima kann einen Hagelschauer gut wegstecken.
Die Art, wie Eltern miteinander umgehen, prägt das Familienklima und wirkt sich direkt darauf aus, wie die Kinder miteinander umgehen. Wir leben ihnen vor, wie Beziehung funktioniert. Es bringt wenig, die Kinder zu einem respektvollen Umgang zu ermahnen, wenn wir uns als Eltern ständig ankeifen. Mein Mann und ich merken das selbst: Wenn bei uns dicke Luft herrscht, streiten auch die Kinder mehr. Geht es uns gut miteinander, ist oft auch bei den Kindern mehr Harmonie, auch wenn ein bisschen Geschwisterstreit natürlich völlig normal ist. Das gilt ebenso für Bonuseltern und getrennt lebende Eltern. Auch hier hat der Umgang miteinander großen Einfluss auf das emotionale Wohlbefinden der Kinder. Es lohnt sich, auch wenn es schwerfällt, an einem respektvollen Miteinander zu arbeiten. Natürlich gehören immer zwei dazu, und wenn einer sein Ego über das Kindeswohl stellt, sind die Möglichkeiten des anderen begrenzt.
Besonders wichtig: Wie wir über den anderen Elternteil sprechen. Abwertende Aussagen können das Selbstwertgefühl des Kindes schädigen, weil es sich selbst als Teil beider Eltern wahrnimmt. Es fühlt sich dann automatisch mit abgewertet. Das heißt nicht, dass man Fehlverhalten beschönigen soll – im Gegenteil: Gewalt oder Übergriffe müssen klar benannt werden, und alle müssen geschützt werden. Es gibt nicht nur physische Gewalt wie Schlagen, Schütteln oder grobes Festhalten – auch psychische Gewalt kann tiefe Wunden hinterlassen. Dazu gehören zum Beispiel Anschreien, Abwerten, Beschämen, Ignorieren, emotionale Erpressung oder gezielte Manipulation. All das kann das Sicherheitsgefühl eines Kindes genauso erschüttern wie körperliche Übergriffe. Deshalb ist es so wichtig, auch für diese feinen, oft übersehenen Grenzverletzungen sensibilisiert zu sein – nicht um perfekt zu sein, sondern um bewusst und verantwortungsvoll mit der eigenen Überforderung umzugehen. Doch das ist etwas anderes, als den anderen Elternteil aus verletztem Stolz immer wieder schlechtzureden.
SO FINDEST DU DICH IM BUCH ZURECHT
Machen wir uns auf den Weg! Im ersten Kapitel teile ich eine wichtige Methode, die dir in vielen Situationen helfen kann, deine Antwort auf dein Kind bewusst zu gestalten. Danach geht es um typische Alltagssituationen, inspiriert von den häufigsten Elternfragen an mich. Dabei stelle ich dir Folgendes vor:
mögliche Ursachen für das Verhalten deines Kindes,Fallstricke bindungsorientierter Erziehung,und hilfreiche Alternativen.Du kannst das Buch von vorne nach hinten durchlesen oder gezielt in bestimmten Kapiteln nachblättern. Im Abschnitt »Dein Vorbild zählt« beim Missverständnis 5 biete ich dir SOS-Strategien für akute Situationen an, die du immer wieder nachschlagen kannst.
Zur besseren Lesbarkeit verzichte ich auf durchgängige gendergerechte Sprache. Wenn ich »Mama« schreibe, sind alle gemeint, die Kinder begleiten: Papas, Omas, Onkel, Pflegeeltern, Betreuer – ganz gleich, welchen Geschlechts. Dieses Buch richtet sich an alle, die Kinder besser verstehen und begleiten möchten, sei es als Eltern, Fachkraft oder weil sie sich selbst ein Stück weit besser verstehen lernen wollen.
Ein letzter Gedanke vorab: Manchmal hilft dir eine vorgezogene Rückschau, wenn du gerade von einer Verhaltensweise deines Kindes gestresst bist. Wenn du denkst: »Das müsste mein Kind doch längst können!«, stell dir vor, du erzählst in ein paar Jahren davon – und musst überlegen: War es mit fünf oder sechs? Wird das, woran du jetzt verzweifelst, später überhaupt noch eine Rolle spielen? Natürlich: Wenn du Sorgen hast, sprich mit deiner Kinderarztpraxis oder einer Beratungsstelle. Aber in der Regel ist die Spannweite dessen, was »normal« ist, ziemlich groß.
Bei dir selbst ankommen: DIE R.A.I.N.-METHODE
Bevor wir über Kinder sprechen, fangen wir bei uns selbst an. Denn alles, was wir erziehen, begleiten oder vorleben wollen, beginnt mit der Art, wie wir uns selbst führen. Unsere Gedanken, unsere Reaktionen, unsere Gefühle. Nur wenn wir lernen, innerlich ruhig zu bleiben, selbst wenn es im Außen stürmt, können wir wirklich bei uns sein. Und erst dann können wir mit Klarheit und Liebe für unsere Kinder da sein. Wenn du dich im Wald verlaufen hast und selbst nicht weißt, wo oben und unten ist, kannst du niemandem den Weg zeigen. Erst wenn du deinen eigenen Kompass ausrichtest, kannst du deinem Kind helfen, seinen zu finden.
Im Andenken an meine japanischen Vorfahren möchte ich dir deshalb eine buddhistische Achtsamkeitspraxis vorstellen, die R.A.I.N.-Methode. Sie ist ein wirksames Instrument, um mit allen unangenehmen Gefühlen konstruktiv umgehen zu können. Die Emotionen haben dann nicht dich im Griff, sondern du beherrschst deine Gefühle und Reaktionen.
Sie ist keine Technik, die man »mal eben anwendet«, sondern ein Weg, sich selbst zu regulieren und damit zum Anker zu werden. Für sich selbst. Und für das Kind.
Ein dem österreichischen Psychiater und Holocaust-Überlebenden Victor E. Frankl zugeschriebenes Zitat lautet:
»Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.«
Die R.A.I.N.-Methode ist eine Möglichkeit, diesen Raum zu betreten. Das ist jedes Mal eine bewusste Entscheidung und läuft vor allem am Anfang keineswegs automatisch, auch für mich nicht. Doch mit der Zeit wirst du einen Übungseffekt spüren.
Wenn du dich gerade in einem hitzigen Konflikt mit deinem Kind befindest, ist es nicht ganz so leicht, auszusteigen. Es gibt aber Möglichkeiten, zum Beispiel könntest du schnell auf die Toilette rennen. Wie es ja dann manchmal so ist, rennen die Kinder hinterher und klopfen an die Klotür. Sie fühlen sich durch den Streit in der Verbindung zu dir möglicherweise verunsichert und suchen deine Nähe, bis sie sich versichert haben, dass zwischen euch alles in Ordnung ist. Schließt du dich jetzt ein, kann das dein Kind noch mehr verunsichern. Du kannst dich dann auch nicht auf die Anwendung der Methode konzentrieren. Gehe in dem Fall wieder raus zu deinem Kind und wende die Methode so an, dass dein Kind mithören und erleben kann. Ich bin ein Fan von unkonventionellen Interventionen, denn sie können Situationen entschärfen, und das hier wäre eine davon. Gleichzeitig lebst du deinem Kind eine Methode zum Umgang mit Gefühlen vor. Allein durch das Analysieren gewinnst du einen gewissen Abstand und das Ganze wird etwas neutralisiert.
DEINE VIER SCHRITTE
Die Abkürzung R.A.I.N. steht für Recognize, Accept/Allow, Investigate, Non-Identification.
Recognize
Erkennen
»Puh, ich spüre ganz schön viel Wut!« Höre genau in dich rein und nimm einfach nur wahr, was du gerade empfindest. Welche Emotionen spürst du? Welche Gedanken rasen durch deinen Kopf?
Accept/Allow
Annehmen/Erlauben
Nimm das, was gerade ist, an! Genau so, wie es ist. Wenn es dich dabei innerlich krampft oder du einen enormen Widerstand spürst, nimm auch den an. Es darf alles genau so sein, wie es ist. »Es ist in Ordnung, dass ich mich so fühle. Alle Gefühle dürfen sein.«
Investigate
Untersuchen
Wo fühlst du die Emotion? Schnürt es dir die Kehle zu? Verkrampft dein Bauch? Spürst du einen Druck auf der Brust? Versuche zu verstehen, welche Glaubenssätze möglicherweise dahinterstecken.
Non-Identification
Nicht-Identifikation
Du bist nicht deine Gefühle, sondern du hast sie! Da helfen auch Formulierungen wie: »Ich spüre viel Wut« anstatt »Ich bin wütend«. Es ist aber auch nicht schlimm, wenn dir mal ein: »Ich bin wütend« oder »Du bist wütend« rausrutscht. Wie immer würde ich nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Die andere Formulierung hilft jedoch ungemein, sich weniger mit den Gefühlen zu identifizieren und die eigenen Handlungen nicht so sehr davon beeinflussen zu lassen.
Mir hilft die Vorstellung, dass alle Gefühle Wolken sind. Mal ist der Himmel grau und von Blitzen durchzogen, mal herrscht heiter Sonnenschein. Es ist alles nur temporär, jede Wetterlage geht vorüber. Wolken ziehen vorbei. Genau so ist es mit unseren Emotionen. Jetzt gerade reißen sie uns förmlich mit, aber nach einer gewissen Zeit sind wir wieder ruhig.
Sobald ich mir das bewusst mache, verlieren bei mir jedes Mal auch starke Emotionen mindestens die Hälfte ihrer Wucht und Macht. Erinnere dich daran, ob deine Eltern früher genauso reagiert haben, und überlege, ob du wirklich auch so reagieren willst. Viele Verhaltensweisen, von denen wir denken, sie seien einfach unser Charakter, sind in Wirklichkeit (Schutz-)Strategien, die wir uns als Kinder unbewusst als Reaktion auf gewisse Umstände zugelegt haben. Das zu erkennen, kann einem gewissermaßen das Gefühl geben, der Boden unter einem würde weggerissen werden. Wenn so viel an meinem Empfinden und Handeln nur eine Strategie ist, wer bin ich dann? Dieses Gefühl überkam mich einmal nach einer Therapiestunde. Es hat sich befremdlich und etwas beängstigend angefühlt. Doch als ich dem ein wenig nachgespürt hatte, ist das beklemmende Gefühl einem großen Gefühl der Freiheit gewichen.
Denk daran, dass du dich entscheiden kannst, eine Theorie, von der du bisher nur gelesen hast, auch anzuwenden. Das ist Neuland und am Anfang nicht unbedingt leicht. Sieh es einfach als etwas, das du neu lernst, wie beispielsweise eine Sportart, eine Sprache, eine Handwerksarbeit oder wie es damals war, als du Schreiben und Lesen gelernt hast. Am Anfang war es mühsam und ungewohnt, aber mit regelmäßiger Übung wurde es immer leichter. Und jzett ksnant du sagor deiesn Staz füslisg lseen! Genauso wird es dir mit gesünderen Strategien zum Umgang mit Emotionen gehen. Ist das nicht toll?
Kleiner Notfall-Trick: Falls du kurz vor dem Ausrasten bist, stell dir vor, du wärst gerade im Wartezimmer der Kinderärztin – voller fremder Leute. Zack, plötzlich klappt’s wieder mit der Selbstbeherrschung. Manchmal hilft schon die mentale Öffentlichkeit, um sich selbst wieder ein bisschen zu erden und sich so zu verhalten, wie man es eigentlich möchte, statt impulsiv zu reagieren.
AUF URSACHENFORSCHUNG GEHEN: DEIN INNERES KIND
Manchmal triggert uns das Verhalten unserer Kinder, weil es unbewusst alte, ungelöste Gefühle aus der eigenen Kindheit anspricht. Ich meine mit »triggern« nicht den inflationär gebrauchten Begriff, sondern das tatsächliche Wiederaufflammen alter Gefühle aus Momenten, in denen man sich damals hilflos, überfordert oder wertlos gefühlt hat. Wenn solche Erfahrungen häufiger vorkamen, kann es sein, dass wir in bestimmten Bereichen nicht vollständig seelisch reifen konnten.
In der Regel zeigt sich dieses innere verletzte Kind in engen Beziehungen – oft ganz besonders in der Beziehung zum eigenen Kind. Es können dann unbewusste Glaubenssätze auftauchen wie: »Ich bin nicht wichtig«, »Ich schaffe das eh nicht« oder »Mir hört keiner zu«. Wenn dein Kind dann beispielsweise scheinbar nicht zuhört, kann sich plötzlich große Wut oder Verzweiflung in dir regen – nicht aus dem Hier und Jetzt, sondern aus früheren Verletzungen. In solchen Momenten reagiert nicht dein erwachsener Teil, sondern dein inneres Kind, das sich wieder übergangen fühlt. Wenn deine Gefühle nie ernst genommen wurden, dann konntest du das selbst nie tun. Deshalb fühlst du dich jetzt getriggert, wenn du denkst, dass jemand deine Gefühle nicht wahrnimmt. Die Lösung ist aber nicht, gegen andere zu kämpfen, sondern dich selbst ernst zu nehmen! Natürlich gibt es auch ganz reale Gründe für Überforderung wie Hunger, Schlafmangel, Dauerstress, oder weil eine Situation einfach akut nervenaufreibend ist. Doch wenn keiner dieser Gründe zutrifft oder nur eine Teilerklärung bietet, lohnt es sich, tiefer zu schauen. Und falls du dann merkst, dass du aus einer alten Wunde heraus reagiert hast: Geh bitte nicht hart mit dir ins Gericht. Das ändert nichts, macht es beim nächsten Mal nur schwerer. Dein inneres Kind braucht Mitgefühl – nicht noch mehr Strenge.
Wichtig ist: Unser Kind ist nicht der Grund für diese Gefühle – es ist höchstens der Auslöser. Deshalb sollte unser Fokus nicht auf dem Verhalten des Kindes liegen, sondern auf dem, was in uns ausgelöst wurde. Ich schreibe hier vereinfacht vom »inneren Kind«, weil das Bild greifbar ist – auch wenn es eigentlich um verletzte Seelenanteile geht. Es ist möglich, dass wir in manchen Bereichen emotional reif sind, in anderen aber noch wie Kinder reagieren, weil wir dort als Kind nicht die Unterstützung erfahren haben, die wir gebraucht hätten. Doch Gefühle verschwinden nicht durch Wegschieben. Sie bleiben, bis wir sie sehen und annehmen. Solange du sie wegschiebst, hast du keine Kontrolle über deine Gefühle, deine Gefühle kontrollieren dich.
Stell dir dein inneres Kind vor, wie es da steht: verletzt, übersehen, vielleicht sogar wütend. Was es dann braucht, ist keine Strafe, sondern Mitgefühl. Umarm es innerlich. Kämpf nicht gegen es an. Das macht es nur lauter. Ja, manchmal explodieren wir trotzdem. Das ist menschlich. Aber wir können lernen, besser mit solchen Momenten umzugehen. Oft sind unsere Reaktionen das Resultat unserer eigenen Erziehung. Wir reagieren unbewusst so, wie es uns vorgelebt wurde – nicht, weil wir es wollen, sondern weil wir es nicht anders gelernt haben. Diese Erkenntnis ist der erste Schritt. Der zweite: Verantwortung übernehmen und neue Wege gehen.
Fazit: Es ist schwer, tief verankerte Muster zu verändern. Aber es ist möglich und es lohnt sich. Für uns. Für unsere Kinder. Und für die Beziehung zwischen uns. Wir können den Kreislauf durchbrechen. Unsere Vergangenheit können wir nicht ändern, aber unsere Gegenwart und Zukunft sehr wohl.
Missverständnis 1: »ICH MUSS BEI JEDEM PIEPS SOFORT SPRINGEN, SONST WIRD MEIN KIND TRAUMATISIERT.«
Diese Überzeugung geht wohl auf eine Aussage zurück, die der Bindungstheorie nach John Bowlby und Mary Ainsworth entstammt. Sichere Bindung entstehe, so formulierte Ainsworth 1974, wenn die Mutter feinfühlig auf die Signale des Babys reagiere, und zwar »prompt und angemessen«.1
Das stimmt auch, doch jetzt kommt ein großes Aber, weil das oft missverstanden wird: Eltern müssen nicht sofort bei jedem noch so kleinen Geräusch aufspringen. Wenn das Baby schreit, dann sollten die Bezugspersonen natürlich so schnell wie möglich zu ihm gehen. Doch oft machen Babys nur irgendwelche Geräusche, brabbeln vor sich hin oder quengeln ein wenig. Sie profitieren davon, wenn sie die Möglichkeit haben, auch mal eigene Wege zu finden, sich zu beschäftigen oder zu beruhigen. Dann saugen sie vielleicht an ihren Zehen oder betrachten ihre Finger. So lernen sie schon ganz früh Selbstwirksamkeit, ein wertvoller Faktor, damit Resilienz entstehen kann – die Fähigkeit, Widrigkeiten im Leben ohne bleibende Schäden zu meistern.
Meine ich jetzt, dass man Babys den ganzen Tag sich selbst überlassen, nie mit ihnen interagieren und sie schreien lassen soll? Selbstverständlich nicht! Wenn ein Baby schreit und in Not ist, kann es sich noch gar nicht selbst beruhigen, es ist auf die Co-Regulation der Bezugspersonen angewiesen. Deshalb ist die Aussage mancher Verfechter des sogenannten Einschlaftrainings, ein schreiender Säugling könne sich nachts in seinem Zimmer allein beruhigen, auch höchst problematisch. Das kann er nicht, denn sein Gehirn hat die nötige Reife dafür noch nicht erreicht.
Wird das Baby schreien gelassen und hört irgendwann abrupt auf, dann hat es sich nicht selbst beruhigt, sondern aufgegeben. Die Herzfrequenz und der Cortisolwert bleiben erhöht. Es gibt nun zwei typische Reaktionen. Bei der einen kann man beobachten, dass das Kind körperlich sehr angespannt bleibt und gleichzeitig starr auf einen bestimmten Punkt starrt und nicht mehr ansprechbar ist. Eine andere Reaktion auf diesen großen Stress kann sein, dass die große Erregung des sympathischen Nervensystems ins Gegenteil verwandelt wird und zu einer Erschöpfung führen kann, sodass das Kind ganz schlaff wird und einschläft. Dabei schaltet das Nervensystem des Babys vom Kampf- und Fluchtmodus in das parasympathische System, das u.a. für Schlaf, Verdauung und Entspannung zuständig ist. Die Erschöpfung und Erschlaffung kommen daher, dass die Gefühle des Babys abgespalten werden. Beides sind Notfallmechanismen. Sowohl die Erstarrung als auch die Erschlaffung sind für die Entwicklung einer guten und sicheren Bindung hinderlich.2
Auch die Aussage, es seien ja »nur zehn Minuten«, in denen das Baby geschrien habe, und das käme den Eltern nur so lang vor, weil sie es nicht aushalten könnten, halte ich für äußerst fragwürdig. Es hat seinen Grund, warum Eltern es instinktiv kaum ertragen, ihr Baby schreien zu hören. Dieser Instinkt ist wichtig – bitte hör eher auf ihn als auf »vergeistigte« Bücher, die im Widerspruch zur gut erforschten Entwicklungspsychologie stehen. Babys haben erst ab etwa einem Jahr ein rudimentäres Zeitgefühl. Das bedeutet: Diese zehn Minuten fühlen sich nicht nur für die Eltern ewig an – auch für das Baby wirken sie wie eine endlose Zeit. Manche deuten das fehlende Zeitgefühl fälschlicherweise als »unproblematisch«, da das Baby ja nicht merke, wie viel Zeit vergangen sei. Doch gerade weil Babys kein Zeitgefühl haben, kann sich auch kurzes, untröstliches Schreien wie eine Ewigkeit anfühlen – mit Gefühlen von Hilflosigkeit oder sogar Todesangst. Das Baby weiß ja nicht, dass es sicher im Kinderzimmer liegt. Für sein Urzeit-Gehirn bedeutet »allein sein« potenziell Lebensgefahr. Das Risiko ist hoch, dass dies der Entwicklung eines gesunden Urvertrauens im Weg steht und es so das tief verankerte Gefühl entwickeln kann, allein und schutzlos in einer bedrohlichen Welt zu sein.3
Falls dein Baby viel schreit, du überfordert bist und keine Kraft mehr hast, dann verlasse lieber für zehn Minuten den Raum und lenke dich irgendwie ab, anstatt Gefahr zu laufen, dein Baby anzuschreien oder zu schütteln. Scheue dich auch nicht, dir professionelle Hilfe zu suchen! Das ist kein Versagen, sondern ein Zeichen großer Stärke. Vergleiche dich auch nicht mit anderen, die es vermeintlich so viel besser als du hinbekommen. Erstens weißt du gar nicht, wie es den »ganzen anderen« wirklich geht. Außerdem hat jeder andere Stärken und Schwächen, Kapazitäten und Ressourcen. Vielleicht sind andere Babys einfach ruhiger. Oder die Eltern haben weniger Sorgen oder ein besseres soziales Netz, auf jeden Fall ein ganz anderes Leben, Persönlichkeiten und Rahmenbedingungen.
WIE VIEL UNTERHALTUNG BRAUCHT MEIN KIND?
»Ich kann nicht mal auf die Toilette gehen, weil mein Baby mich nicht lässt. Ich kann mir nicht mal ein Brot schmieren!« Die Angst, man müsse auf jedes Geräusch sofort reagieren, führt oft dazu, dass Eltern den ganzen Tag auf ihr Baby starren. Sollten sie es doch einmal wagen, aufzustehen, sprinten sie beim ersten Laut sofort mit einem schlechten Gewissen wieder hin. Ich bin hier ganz ehrlich, so ähnlich ging es mir teilweise mit unserem ersten Kind auch. Ich dachte, es fühlt sich allein und verlassen, wenn es sich allein beschäftigt, was natürlich Quatsch ist.
Wenn du Elternteil eines Babys bist, gerade ein wenig Zeit auf der Toilette verbringst und dein kleiner Schatz nach dir ruft – kein verzweifeltes Schreien natürlich –, dann musst du nicht hektisch aufspringen. Du kannst einfach mit einer ruhigen Stimme antworten: »Ich bin gerade auf dem Klo, aber ich komme zu dir, wenn ich fertig bin!« Du kannst auch was singen, Hauptsache, dein Kind hört dich. Ja, dein Baby versteht deine Worte noch nicht, doch es hört den Klang deiner Stimme, die Zuversicht, dass alles in Ordnung ist und du in der Nähe bist. Dann kannst du entspannt und ohne schlechtes Gewissen dein Geschäft zu Ende bringen und zu deinem Baby zurückgehen. Und wer weiß, was es sich dann hat einfallen lassen! Ich würde diese Zeit allerdings nicht unbedingt unnötig hinauszögern. Doch musst du dein Baby auch nicht rund um die Uhr anstarren und bei jedem Laut sofort in einen hektischen Aktionismus verfallen.
Wenn dein Baby ungefähr ein Jahr alt ist, entwickelt es langsam ein Zeitgefühl und kann immer länger warten. Dafür müssen Eltern auch keine künstlichen Situationen schaffen, und es ist auch nicht nötig oder unbedingt sinnvoll, das Warten extra zu trainieren. Das eine Jahr ist übrigens nur ein grober Richtwert. Jedes Baby entwickelt sich in einem gewissen Rahmen individuell. Du wirst aber merken, dass dein Baby immer länger »alleine« auskommt. Wenn du gerade die Spülmaschine ausräumst und dein Kind braucht deine Hilfe, dann kannst du – sofern es kein Notfall ist – sagen, dass du erst die Spülmaschine ausräumen wirst und dann Zeit hast. Oder du lässt dein Kind mithelfen, wenn es dafür alt genug ist.
