Ich und Louis Claus - Valentijn Hoogenkamp - E-Book

Ich und Louis Claus E-Book

Valentijn Hoogenkamp

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Beschreibung

Sommer 2003, eine Stadt in den Niederlanden: Carla ist vierzehn und passt in der Schule nicht so recht dazu, zu den Wendys und Mandys und Sandys, die hübsch aussehen und sich sexy kleiden. In ihren Mitschüler Louis Claus ist sie dagegen regelrecht vernarrt. Schon bald wird Louis für Carla zu einem wichtigen Anker, hilft ihr, mit der krebskranken Mutter und dem übermächtigen Vater umzugehen. Doch nachdem Carla schwanger und zu einer Abtreibung gedrängt wird, driften die zwei auseinander. Erst achtzehn Jahre später begegnen sie sich wieder. Und obwohl ihrer beider Leben inzwischen in völlig unterschiedlichen Bahnen verläuft, ist da immer noch diese starke Anziehung – die einmal mehr alles auf den Kopf stellt.

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Valentijn Hoogenkamp

Ich und Louis Claus

Roman

Aus dem Niederländischen von Stefanie Ochel

Atlantik

Für Carlita

Stell dir vor,

du wirst vom Geist einer Blume verfolgt.

Ali Smith

Es wurde Sommer, und ich schnitt mir die Hose ab. Louis Claus kam in einem rot-grün karierten Clownskostüm zur Schule, dessen weißer Kragen von einem schlaffen Schnürsenkel zusammengehalten wurde. Die Hitze der bevorstehenden Sommerferien hing schon in den Klassenzimmern, und nicht nur ich starrte ihn an, wie er da vor dem Matheraum auf den Gong wartete, in seinem Polyesteranzug, dunkle Schweißflecken unter den Armen, und triumphierend vor sich hin lächelte.

»Gehst du zu ner Karnevalsfeier?«, fragte Kelly.

Sie gehörte zu den Ypsilonmädchen, all den Wendys, Cindys und Mandys, schön wie meine alten Barbies. Louis lenkte das Gespräch auf das Thema Hausaufgaben und zwang sie somit, seinen Aufzug zu ignorieren. Als der Unterricht begann, kam es uns längst normal vor, dass ein bis vor Kurzem bloß gut aussehender und meist gut gelaunter Mitschüler plötzlich im Clownskostüm dasaß. In der Pause schnappte ich auf, dass es um eine Wette ging, was meine Bewunderung dämpfte, aber später hörte ich, dass seine Oma gestorben war und Louis so das Leben feiern wollte. Kelly behauptete, er hätte keine Unterhose an, voll Punk. Wir alle wollten unbedingt wissen, warum Louis das machte, aber als ein rauchender Oberstufenschüler ihn vor der Tür danach fragte, kam als Antwort bloß: »Warum nicht?«

Weil wir vierzehn waren, Louis. Weil unser Aussehen und Auftreten, unser ganzes Tun und Lassen von den Gleichaltrigen mit Argusaugen beobachtet wurden und weil wir noch nicht relativieren konnten, uns nicht klarmachten, dass wir die meisten nach der Schule sowieso nie wiedersehen würden. Davon abgesehen schwitzt man sich im Juni in einem Polyesteranzug zu Tode, auch wenn der Kragen locker sitzt und sich die Brusthaare oben rauskräuseln. Ich musste mich auf meine Hand setzen, um sie nicht nach diesen Haaren auszustrecken. Auf seiner verschwitzten Brust glänzten sie dunkel und drahtig, am liebsten hätte ich sie einzeln aufgedröselt wie ein altmodisches Telefonkabel.

»Bist wohl heiß auf den!«, fasste Juicy die Lage zusammen. Juicy rauchte Zigaretten und redete pausenlos über Sex, also redete ich auch über Sex.

»Louis sieht so geil aus«, sagte sie. »Meine Möse trieft schon, das reinste Schwimmbad.«

Was mich eher an Chlor und schreiende Kinderhorden erinnerte, die sich vor der Wasserrutsche stauen. Juicy war von der Schule geflogen, weil sie im Unterricht immer Nasenbluten hatte. Unser Lehrer behauptete, es hätte an ihren Noten gelegen.

Schmacht

2003

Die Bäume brennen. Ein Mann mit oranger Warnweste hält die neugierige Nachbarschaft auf Abstand, die Arme jesusartig ausgebreitet. Zufällig hat er auch einen Bart und lange Haare. Ein Kollege von Jesus rollt den Schlauch aus.

»Gesocks«, sagt er deutlich hörbar, womit er nicht die Kinder aus der Nachbarschaft meint. Das Feuer geht wahrscheinlich auf das Konto der Hausbesetzer, die vor Kurzem das leer stehende Chinarestaurant mitten im Neubaugebiet okkupiert haben. Die jungen Bäume sind an Pflöcken festgebunden. Ihre Äste knistern, biegen sich, werden von den Silberstreifen auf Jesus’ Weste reflektiert, der fragt, ob irgendwer irgendwas gesehen hat. Meine Mutter habe ich gesehen, heute Morgen, als sie weinend unter der Dusche stand und sich mit einer Hand an den Kacheln abstützte. Ihre Haare waren tropfnass, genau wie ihre Augen. Ich habe eine Nachricht von Louis gesehen, der wollte, dass ich sofort komme, und auf dem Weg zu ihm einen Mann, der es einem Mülleimer von hinten besorgte, betrunken am frühen Samstagmorgen.

»Nein, nichts gesehen«, sage ich zu Jesus. »Kann ich jetzt vorbei?«

 

»Schuhe aus!«, ruft mir Anita aus dem Wohnzimmer entgegen.

Mit meinen Absätzen habe ich bei Familie Claus schon öfter Macken ins Parkett gehauen. Von außen sehen die Häuser hier aus wie Schuhkartons, aber drinnen ist alles aus hellem Holz, mit dünnen weißen Gardinen vor den Fenstern. An den Wänden hängen Fotos von ihren Reisen, und auf dem Esstisch stehen grüne Glasvasen mit Sonnenblumen. Zwischen den Vasen sitzt Anita und raucht. Der Aschenbecher ist schon voll.

»Louis ist oben«, sagt sie.

Auf Socken nehme ich die blank gewetzten Stufen, in der Biegung drehe ich mich noch mal um. Anitas blondiertes Haar, zum Dutt hochgebunden, hat schon einen Graustich. Asche fällt ihr in den Schoß, sie flitscht sie, ohne hinzugucken, mit dem Fingernagel weg und zieht an ihrer Zigarette.

Louis’ Dachzimmer riecht nach Louis, nach seinen Trikots und dem Hasch, das er in einer Filmdose versteckt, und nach Räucherstäbchen gegen den Haschgeruch. Nach meinem Blut, weil ich auf der Luftmatratze mal meine Tage bekommen habe. Nach Sex: auf dem Schreibtisch, dem Bett, der Luftmatratze, vor dem Spiegel. Immer, wenn wir länger als zwanzig Minuten oben sind, ruft Anita uns zum Essen.

Louis liegt auf dem Bett, in einem Karree aus Sonnenlicht, die Arme über den Augen, sodass ich nicht sehen kann, ob er geweint hat. Seine Füße ragen über den Bettrand, er hat lange Arme, lange Beine und goldene Härchen auf dem Kinn. Neben ihm auf der Matratze ist noch ein kleiner Streifen frei, ich kuschle mich an ihn.

»Heute war die erste Schauspielstunde, und es war voll scheiße«, sagt er.

»Was war denn?«

»Ich musste eine Liebesszene mit einem Stuhl spielen. Nicht mit einer unsichtbaren Person auf dem Stuhl, sondern mit dem Stuhl selbst. Also hab ich ihn gestreichelt und so ein bisschen trockengerammelt, aber wie liebt man einen Stuhl?«

»Mit elf wollte ich eine Beziehung zu meinem Pflegepony aufbauen. Ich wollte die Stelle zwischen den Nasenlöchern streicheln und ihm dabei Geheimnisse ins Ohr flüstern.«

»Bei Pferden heißt das Nüstern«, sagt Louis.

»Siehste, da hast du’s schon. Jedenfalls hat Daisy die Nüstern immer so hochgereckt, dass ich nicht rankam. Oder sie hat einen Schritt zur Seite gemacht und mich gegen die Boxenwand gequetscht. Ich hätte genauso gut einen Motorroller putzen können.«

Er nimmt den Arm runter, seine Augen sind rot. »Das ist mein Traum, kapierst du?«

»Nein. Was versprichst du dir davon, Schauspieler zu werden?«

»Man kann was von sich selbst zeigen«, sagt er.

»Hübsche Kolleginnen.«

»Oh ja, das auch.« Er kneift mir in den Po.

»Ausverkaufter Saal, Applaus, ernst genommen werden. Und so Filme, mit Robert de Niro, Al Pacino, das ist doch der Hammer? Reservoir Dogs mit Michael Madsen, wo er ein Tänzchen vor der gefesselten Geisel aufführt und dem Typen danach das Ohr abschneidet?«

Er summt die Melodie und wälzt sich auf mich, über meinen Arm, und ich stöhne vor Schmerz auf.

»Hey, was hast du denn da gemacht?«

Sein Name prangt in großen roten Lettern auf meinem Unterarm: Louis C.

Isadee hat damit angefangen, die hat sich im Biounterricht das W von Wesley mit dem Seziermesser ins Handgelenk geritzt. Die Nächste war Kelly, im Technikunterricht, mit einem Teppichmesser. Cindy hatte eh schon tausend Schnitte am Arm und meinte, das sei das I von Ich, sie sei halt in sich selbst verliebt. Louis reibt über die Ritzer, um sie wegzuwischen.

»Mach das nie wieder, hörst du? Uff, du liebst mich wirklich, was?«

»Mehr als du den Stuhl.«

Sein Gesicht verfinstert sich. »Sie meinten, ich soll mehr von mir zeigen. Aber ich bin nun mal so.«

Ich habe keine Ahnung, wie er das meint, also biete ich ihm meinen halb offenen Mund an. Mit Zunge raus und Augen zu kommt sein Gesicht näher. Er küsst mich, bis ich verschwinde.

»Alles okay?«, fragte er mit der Zunge in meinem Mund.

Anita ruft zum Essen.

 

Die Vasen mit den Sonnenblumen stehen jetzt rings um den Tisch auf dem Boden und bewachen das Mittagessen.

»Was ist das?«, frage ich und spieße ein gezacktes grünes Blatt auf, das mir sofort wieder von der Gabel fällt.

»Coq au Vin mit grünem Salat«, sagt Anita.

»Hast du noch nie Rucola gegessen?«, fragt Louis.

Die Antwort, dass mein Vater nicht an Salat glaubt, geht unter, weil in dem Moment die Haustür zuschlägt. Anita steckt sich eine Locke hinters Ohr. Titus Claus ist genauso groß wie Louis, nur faltiger und sonnengebräunter. Nachdem er seinen Rollkoffer neben der Treppe abgestellt hat, umarmt er seinen Sohn und seine Frau, die sitzen geblieben ist.

»Wer ist das?«, fragt er Louis.

»Carla«, antworte ich.

Er setzt sich ans Kopfende des Tisches. Louis erzählt von seiner Schauspielaufgabe und dem Spiegelsaal, wo unter der Woche Tae-Bo-Kurse stattfinden und am Wochenende Teenager Sterbeszenen proben. Anita häuft Essen auf einen Teller und setzt ihn Titus ziemlich geräuschvoll vor die Nase.

»Ich hatte dir auf die Mailbox gesprochen, wann du ankommst. Das war mir nämlich nicht klar.«

Sie schenkt ihm Wasser ein, es schwappt über den Glasrand. Es sind geriffelte Gläser, die ineinandergestapelt in den Hals der Karaffe passen. Bestimmt sehr französisch.

»Sorry«, sagt Titus, nimmt ihre Hände und streichelt sie. Zwischen Augenbraue und Ohr hat er eine Narbe. Anitas Stirn entspannt sich, sie umschließt seine Finger. In der Weinsoße schwimmen Fettaugen. Als ich mir Nachschlag nehme, tropft Soße auf den Tisch und zieht sofort ins Holz. Titus war einen Monat in Bagdad, um über die Bombardements zu berichten. Die Reise ist erfolgreich verlaufen, er hat alle treffen können, die er treffen wollte, bis auf einen. Einen Experten, der noch vermisst wurde. Louis’ Vater antwortet zwar auf Fragen, scheint aber nicht ganz bei der Sache zu sein, vielleicht muss er erst aufschreiben, was er gesehen hat, bevor er weiß, was er davon hält.

»Was sagst du denn zu der Situation?«, fragt Louis mich.

Überrumpelt schlucke ich meinen kompletten Mundinhalt auf einmal runter. »Zu welcher?«

»Im Irak.«

»Ich hoffe, sie finden Osama bin Laden schnell und verziehen sich dann wieder.«

»Darum geht es in dem Krieg überhaupt nicht«, sagt Louis und fängt an, mir die Probleme der amerikanischen Invasion darzulegen.

»Ich lese eigentlich nie Zeitung«, sage ich, als er kurz Luft holt.

»Warum nicht?«, fragt Titus.

»Neulich stand auf der Titelseite, dass ein siebenjähriger Junge eine Ente totgetreten hat. Das sind doch keine Nachrichten!«

»Welche Zeitung lesen deine Eltern denn?«, fragt Anita.

»Alle eigentlich. Mein Vater will, dass wir uns möglichst breit informieren.«

Louis lacht, verstummt aber nach einem Blick von seinem Vater. Titus fragt freundlich, was ich später mal werden will.

»Gar nichts. Ich heirate einen Lottokönig.«

Jetzt lachen beide. Durch das gekippte Fenster zieht leichter Brandgeruch ins Zimmer. So fotografiert gäben wir eine glückliche Familie ab. Meine Gesichtsmuskeln entspannen sich, ich höre ihnen einfach nur zu. Kein Sarkasmus, keine versteckte Kritik in wohlmeinenden Äußerungen. Nach dem Essen biete ich an, die Teller abzuräumen und in die Spülmaschine zu stellen. Als ich mich über Anita beuge, um ihren Teller zu nehmen, tippt sie mich am Ellbogen an.

»Ich mach das gerne«, sage ich.

»Es wäre schön, wenn du jetzt gehen könntest. Titus ist gerade erst zurückgekommen, dann hätten wir noch ein bisschen Zeit als Familie.«

»Natürlich, verstehe ich total.«

Ich umklammere die Teller so fest, dass sie übereinanderschaben und mir eine Gabel runterfällt. Louis spielt summend mit seinem Glas. Das Licht gibt seiner Nase und den vollen Lippen eine goldene Kontur. Für seinen kompletten Namen war nicht genug Platz, sonst wäre ich zu dicht an die Pulsader gekommen.

 

Unterm Garderobenständer gibt er mir einen Kuss.

»Was hast du gerade beim Kühlschrank getrieben?«

»Nichts.« Ich wickle meinen Finger um seine silberne Halskette.

»Seh ich dich heute Abend noch?«, fragt er.

»Ich kann dich abholen. Dann ziehen wir zusammen los.«

»Wieso?« Er beißt mir in die Nase.

Die weiße Haustür fällt leise hinter mir zu. Gleich werden sie beim Abendessen das Mittagessen nachholen, als Familie. Ich ramme den Schlüssel hektisch ins Fahrradschloss, tacktacktack, jedes Mal rutscht er ab, hinterlässt kleine Kratzer im Metall. Die Bäume haben Holzkohlehände. Es ist ein strahlender Tag, das Licht so weiß, dass es in den Augen beißt. Beim Wegradeln flattert mir ein rot-weißes Absperrband hinterher, tacketacketack.

 

Unser Haus ist das älteste in der Nachbarschaft. Auf einer Luftaufnahme von 1931 hält es sich noch für eine einsame Insel mitten im Weideland, ohne Nachbarn weit und breit. Die Vorbesitzer hatten den Dachboden zur Sauna ausgebaut, in der wir jetzt bloß unsere Klopapiervorräte und Vorteilspackungen Waschmittel lagern. Das Haus ist ringsum von einem großen wilden Garten umgeben, mit einer Hecke gegen neugierige Blicke, und an unserer Haustür hängt das ganze Jahr über ein Weihnachtskranz, Mama findet das festlich. Sie hat sogar Christbaumkugeln ans Fahrrad meiner Schwester gehängt, das immer noch an derselben Stelle im Vorgarten steht, seit sie abgehauen ist.

Mit der gemopsten Rucola-Tüte in der Hand laufe ich die Treppe einmal rauf und dann wieder runter, lasse meine Stimme durch alle leeren Zimmer hallen.

»Mama?«

Und Papa rufe ich auch, damit ich kein schlechtes Gewissen haben muss. Von der Küche ins Wohnzimmer, ich suche auch den Garten ab, der satt vor sich hin grünt. Papa ist wahrscheinlich mit seinen Ärztekumpels beim Golf oder Tennis, oder er hat Wochenenddienst. Mama hat dienstags Chor, mittwochs Lesekreis, freitags den anderen Lesekreis, samstags Pilates. Früher ist sie auch geklettert und Motorrad gefahren, aber das hat Papa ihr verboten, als wir Kinder kamen.

»Wer soll sich kümmern, wenn du einen Unfall baust?«, hatte er gefragt, als sie ihr blaues Motorrad vom Ständer rollen ließ. Es war eine Fangfrage, tatsächlich brachte nämlich er uns zum Sport, erledigte die Einkäufe und erklärte mir meine Körperfunktionen.

Ich finde keinen Zettel auf dem Esstisch, dafür eine Packung Schinken. Die lege ich in den Kühlschrank neben die Pyramide aus Wasserflaschen. Mama hat ihr eigenes Fach mit Hüttenkäse und Diätshakes, die nur sie trinken darf. Das Gemüsefach ist voll mit Bapao-Klößen, Bacardi Breezers und Hotdogs für mich.

Ich wärme mir ein Bapao in der Mikrowelle auf und sehe der Plastikhülle dabei zu, wie sie sich aufbläht und dann platzt. Heißer Dampf kommt aus der Öffnung. Die Chilisoße ist fast leer, ich quetsche noch einen letzten orangen Klecks auf den Teller und lasse das Bapao mitten reinfallen, die Soße spritzt auf mein T-Shirt.

Auf dem Shoppingkanal bewerben Tom und Candice den Magic Bullet, ein gewehrkugelförmiges silbernes Gerät, das gleichzeitig schneiden, hacken und pürieren kann. In der Werbepause lässt eine Frau in der U-Bahn einen Apfel fallen, beim Aufheben schließt sich ihre Hand gleichzeitig mit der eines Mannes um den Apfel. Er schnuppert an ihrem Hals.

»Men can’t help acting on impulse«, sagt eine zarte Frauenstimme.

Auf The Music Factory fängt gerade das Video zu November Rain an. Axl Rose in Piratenjacke heiratet eine große Frau in dem schönsten Brautkleid, das ich je gesehen habe. Die Trauung ist irgendwie verwoben mit dem Begräbnis der Frau. War sie schon bei der Hochzeit krank und hat es verschwiegen? Trauzeuge Slash verlässt die Kirche und spielt draußen ein Gitarrensolo. Übers Festnetz rufe ich Isadee an, damit wir das Video zusammen gucken können.

»Irgendwie nicht mein Ding«, sagt sie.

Im Chatfenster unten am Bildschirm tickern Herzensergüsse vorbei. »Mel grüßt Tygo, hallo Schatzi« und »Sabrina + Justin 4-ever!!!«. Den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, höre ich mir Isadees Bericht über ihr Date mit Wesley an.

»… wir wollten in 2 Fast 2 Furious, aber der Film ist erst ab sechzehn, und ich hatte den Ausweis vergessen, und er war voll sauer, und dann hab ich geheult, aber es hat geregnet, da hat er es gar nicht mitbekommen …«

Währenddessen tippe ich auf meinem Handy. Werde gefragt, ob ich die Kosten akzeptiere. Das tue ich.

»Und dann sind wir stattdessen in Legally Blonde 2 gegangen, und ich hab gesagt, ich will Anwältin werden, aber er meinte, ich soll besser Medizin studieren …«

Ich schicke Louis eine SMS, er soll TMF anmachen. Er schreibt sofort zurück, dass er mit seinen Eltern im Wohnzimmer sitzt und der Fernseher gerade tabu ist. Also leite ich die SMS an Juicy weiter.

»Okay, ist an.«

»Der Clip ist kacke.«

»Dein Geschmack ist kacke.«

Dann bemerkt sie das Chatfenster, in dem gerade meine Nachricht durchtickert. Sie schreibt:

»HAHAHAHA ich dich auch, Schnuckimucki! ~xXxX ~«

Der Soßenklecks, der sich träge über den Teller ausbreitet, hat fast den Rand erreicht. Mit dem Finger male ich ein Herz rein.

»… aber was denkst du«, fragt Isadee, »meint der das ernst? Wer soll sich um die Kinder kümmern, wenn wir beide Karriere machen? Meinst du, das wird ein Problem?«

Nachdem sie aufgelegt hat, zappe ich zu einem Call-in-Spiel mit einem Bilderrätsel: ein von weißen Kügelchen bedeckter Erdball – die gesuchte Antwort lautet »Globuli«. Auch beim siebten Anruf komme ich nicht zur Sendung durch. Die Moderatorin klagt am laufenden Band, dass sie an diesem schönen Samstag allein im Studio rumsteht und sich wünschen würde, dass jemand anruft, während sie sich mit drei Hunderteuroscheinen traurig Luft zufächert. Die Haustür knallt gegen die Flurwand.

»Was bildet sich die dumme Kuh eigentlich ein. Ich habe sie – sehr freundlich, wohlgemerkt – gefragt, ob ich mich da hinlegen darf, ich liege immer da vorne mit meiner Matte, aber die Tussi bleibt einfach liegen und behauptet, es gibt keine festen Plätze.« Mama pfeffert ihren Pilates-Rucksack auf den Boden. »Jede Woche lieg ich da.«

»Hallo, mein Schatz.« Papa hat seine Tennissachen an. Nachdem er mich umarmt hat, hab ich Schuppen auf dem T-Shirt.

»Wo wart ihr?«, frage ich.

»Deine Mutter beim Pilates, und ich war nach dem Tennis noch bei Corrie, kennst du die? Eine alte Klassenkameradin, die gerade wieder hergezogen ist. Am Ende ziehen sie doch alle zurück«, stellt er zufrieden fest.

»Weil ihr Mann gestorben ist.« Mama legt das Kopftuch auf die Sofalehne. Sie findet, damit sieht sie aus wie eine in die Jahre gekommene Lesbe. Die neu gekaufte Perücke trägt sie nicht, weil sie nicht richtig sitzt. Und Mama meint, dass sie damit jünger aussieht, seit ihr neulich ein Typ im Supermarkt hinterhergepfiffen hat. Da hat sie die Perücke abgenommen und ihn angeraunzt: »Ich hab zwei Teenietöchter und Krebs.«

Mama läuft durch in die Küche und kommt mit dem Beutel Rucola zurück.

»Was soll das hier?«

»Bei Louis gab es Coq au Vin.«

»Hat Anita wieder ne Show abgezogen?«

Papa lässt sich neben mich auf das schmale Fernsehsofa plumpsen.

»Und was hast du so gemacht? Heute Morgen habe ich mit Jan Tennis gespielt, der hat es zurzeit am Knie. Letzte Woche habe ich im Doppel gegen ihn gewonnen, was ihn wohl ziemlich gewurmt hat, also habe ich ihm angeboten, dass wir diese Woche zusammen im Doppel spielen, damit er von mir profitieren kann. Jan ist jetzt mit Betty zusammen, von Petra hatte er sich ja getrennt, die wohnt jetzt in Frankreich in so einer Frauengruppe, da malen sie Bilder mit Menstruationsblut. Also sag ich zu Jan: ›Betty ist jünger als du, da lass ich dich wohl lieber mal ordentlich rennen.‹ Was haben wir gelacht. Das ist schon auch Freundschaft, so eine Tennisclique, das Bierchen hinterher ist genauso wichtig wie das Spiel. Hab ich ne Fahne?« Er haucht mir ins Gesicht.

»Eine kleine.« Durch das Knarzen der Treppe kann ich Mamas Schritten nach oben folgen.

»Ich hab mir extra noch einen Wein bestellt, um den Bieratem loszuwerden. Hans aus der Tennisgruppe ist meines Erachtens neidisch auf Jan und Betty, weil er nie geheiratet hat. Der hat zwar eine Freundin, will aber nicht mit ihr zusammenziehen, nicht mal nen Schlüssel hat die. Und dann fragt er über die Sprechanlage: ›Und welche bist du?‹, wenn sie klingelt, was die Freundin wohl nicht so toll findet. Aber jetzt erzähl mal, was hast du denn heute gemacht?«

»Ich war bei Louis.«

Papa wuschelt mir durch die fettigen Haare. »Schön, mal deine Stimme zu hören.«

 

Auf dem Treppenabsatz bleibe ich stehen. Ihre Zimmertür ist zu, was bedeutet, dass sie entweder schläft oder liest. Neben ihrem Bett türmen sich die Taschenbücher, manche liegen schon seit Jahren da. Ich klopfe leise. Keine Antwort. Trotzdem öffne ich die Tür. Seit einer Weile sind Rollläden eingebaut, um das Zimmer vollständig abdunkeln zu können. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Schwarz, in dem der Umriss des Bettes gerade so zu erkennen ist.

»Mam? Schläfst du?«

»Was gibt’s?« Sogar im Liegen klingt sie ungeduldig, als würde ich sie beim Taschepacken stören. Ein schwerer Körpergeruch kommt mir aus der schwarzen Gruft entgegen. Mamas Gesicht verschwimmt mit dem Kissen.

»Louis hatte heute seine erste Schauspielstunde. Meinst du, das könnte auch was für mich sein?«

Sie überlegt, oder sie ist eingeschlafen. Ich stelle mir vor, wie ich in einem Scheinwerferkegel dastehe, in einem weißen Gewand, mit bodenlangem, wallendem Haar und großen Rehaugen. Das Publikum ist unsichtbar, wartet aber schon sehnsüchtig im Dunkel des Saals. Ich soll ihnen etwas erzählen, irgendwas Bedeutsames und Aufrichtiges, aber Louis hält mich von hinten fest und flüstert mir kitzelnd ins Ohr, dass der Text anders geht.

»Sie haben gesagt, er soll mehr er selbst sein, das war schlimm für ihn.«

»Warum?«, fragt Mama.

»Er will Schauspieler werden.«

»Wie soll das denn gehen?«, sagt sie aus dem Dunkeln. »Der Junge hat keine Seele.«

 

Abends ist der Marktplatz von Bistrostühlen überwuchert. Unser Tisch wackelt trotz der drei doppelt gefalteten Bierdeckel unter dem einen Bein. Wesley hat eine Lederjacke an und haut immer mit der Hand auf den Tisch, wenn er meint, dass er recht hat.

»Es ist nicht persönlich gemeint, ich finde Frauen mit großen Brüsten einfach schöner. Und dafür mache ich gerne was locker«, sagt er.

Isadee starrt wie weggetreten in ihren Ausschnitt.

»Was hast du gegen Isas Brüste?« Juicy schlürft an ihrer Rum-Cola, wobei sie ihn über den Glasrand hinweg unverwandt ansieht.

»Die sind toll«, sagt er. »Isa hat unheimlich süße Brüste, ich bin verrückt danach. Stimmt’s, Isa?«

Isadee nickt und wischt sich eine Wimper von der Wange.