Ich war doch noch ein Junge - Steven W. Brallier - E-Book

Ich war doch noch ein Junge E-Book

Steven W. Brallier

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Beschreibung

Nevada, 2001: Mitka Kalinski führt ein scheinbar perfektes Familienleben - doch was niemand weiß: Er trägt ein düsteres Geheimnis in sich, das er seit vielen Jahren vor der Außenwelt verbirgt. Mitka ist Jude. Und die Schatten seiner Vergangenheit holen ihn ein: Plötzlich kommen die Erinnerungen an die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Pfaffenwald und an die Zeit als Kindersklave in Rotenburg an der Fulda in voller Wucht zurück. Und damit auch die Fragen nach seinen Eltern, seinem Namen, seiner Identität. Nach Jahrzehnten des Schweigens erzählt er zum ersten Mal seine schreckliche Geschichte und macht sich mit seiner Frau Adrienne auf die Suche nach seinen Wurzeln… Und nach der Wahrheit und nach dem Gott seiner Väter.

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STEVEN W. BRALLIER ist Autor und Geschichtensammler. Er war viele Jahre als Entertainer, Agent und Autor im Unterhaltungssektor tätig.

Joel N. Lohr ist Religionswissenschaftler und preisgekrönter Autor. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Bibel, der Tora und dem jüdisch-christlichen Dialog.

Lynn G. Beck ist akademische Dekanin der Pacific Lutheran University und der University of the Pacific.

Am Ende findest du dein Ziel

Mitka Kalinski führt in Nevada ein scheinbar perfektes Familienleben – doch was niemand weiß: Er trägt ein düsteres Geheimnis mit sich, das er seit vielen Jahren vor der Außenwelt verbirgt. Mitka ist Jude. Und eines Tages holen ihn die Schatten seiner Vergangenheit ein:

Die Erinnerungen an die Konzentrationslager und an die Zeit als Kindersklave in Rotenburg an der Fulda kommen in voller Wucht zurück. Und damit auch die Frage nach seinen Eltern, seinem Namen, seiner Identität. Nach drei Jahrzehnten des Schweigens, erzählt er zum ersten Mal seine Geschichte und macht sich mit seiner Frau Adrienne auf die Suche. Auf die Suche nach seinen Wurzeln, nach der Wahrheit und nach dem Gott seiner Väter.

»Frieden schließen mit seiner Lebensgeschichte – für Mitka fast unmöglich, nach allem, was er als jüdischer Junge durch den Holocaust und versklavt bei einem Nazi-Offizier erlebt hat. Aber durch ein Wort von Gott findet er Hoffnung.«

EKKEHART VETTER Ehem. Vorsitzender der Evangelischen Allianz

»In dem Moment, als ich Mitkas Geschichte hörte, wusste ich sofort, dass ich dazu Musik schreiben musste. Es war eine große Ehre für mich, ihn kennenzulernen und die Begegnungen mit Mitka haben mich dankbarer, freundlicher und geduldiger warden lassen. Dies ist eine Geschichte, die jeder hören sollte.«

JORDAN S. ROPER Filmkomponist und Komponist der Symphonie »My Name Is Mitka«

»Von den Schrecken im ersten Teil dieses Buches nur zu lesen, schmerzt. Doch was dann folgt, ist eine faszinierende Geschichte, wie traumatische Erlebnisse verarbeitet und heil werden können – auch mit der Hilfe von einem liebevollen Partner und Familie. Und am Ende findet Mitka als alter Mann seine Wurzeln, seine Familie und seinen Glauben.«

EVA SCHLOSS Holocaustüberlebende und Stiefschwester von Anne Frank

STEVEN W. BRALLIER Joel N. Lohr | Lynn G. Beck

Ich war doch noch ein Junge

Ein Holocaustüberlebender versöhnt sich mit seiner Vergangenheit

Aus dem amerikanischen Englisch von Renate Hübsch

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7605-7 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6189-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2023 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Mitka’s Secret

© 2021 Steven W. Brallier, Joel N. Lohr, and Lynn G. Beck

All rights reserved.

Published 2021 by Wm. B. Eerdmans Publishing Co., U.S.A.

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006

SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

Übersetzung: Renate Hübsch

Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart

Titelbild: Levi Allan

Autorenfoto: © Deanna Snell, Photography

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Dieses Buch ist all den Kindern des Holocausts gewidmet, deren Geschichte nie erzählt werden wird.

Inhalt

Über die Autoren

Über das Buch

Stimmen zum Buch

Vorwort

SKLAVEREI

1  Das KinderheimBila Zerkwa und Kiew, 1939–1941

2  Die LagerBirkenau, Buchenwald, Dachau und Pfaffenwald, Herbst 1941 – Winter 1942

3  Der eiserne GustavRotenburg an der Fulda, Dezember 1942

4  MolyRotenburg an der Fulda, 1942–1943

5  Die StimmeRotenburg an der Fulda, 1944

6  Eine weiße FlaggeRotenburg an der Fulda, Frühjahr 1945

7  Die AmisRotenburg an der Fulda, 1945–1949

8  Bad AiblingBad Aibling, 1949–1950

9  DemitroBad Aibling, 1950–1951

GEHEIMNISSE

10  AmerikaDie Bronx, Februar 1951–1952

11  TimBaltimore, 1952–1953

12  AdrienneNorth Tonawanda, 1953

13  HeiratNorth Tonawanda und Lockport, 1953–1959

14  Weiter nach WestenReno und Sparks, 1959–1963

15  Die SechzigerjahreSparks, 1963–1969

16  Die SiebzigerjahreSparks, 1970–1981

ERLÖSUNG

17  Der AnrufSparks, 1981–1982

18  StaatsbürgerschaftSparks, 1982–1984

19  Rückkehr nach DeutschlandRotenburg an der Fulda, Anfang November 1984

20  FobiankaRotenburg an der Fulda, Ende November 1984

21  »Mein Bruder«Sparks, 1997

22  Das WiedersehenLondon, Sommer 1997

23  Bar-MizwaMineola, Long Island, 2001

Nachwort

Danksagungen

Über die Autoren

Anmerkungen

Vorwort

In der Twelfth Street der Stadt Sparks in Nevada steht ein Haus, das so bescheiden ist, dass es sicher keine Aufmerksamkeit erregen würde, gäbe es da nicht den auffälligen Nippes im Vorgarten. Singvögel schwirren durch das Geäst eines kümmerlichen Baums, der ihnen mit seinen Samen und Früchten ein Festmahl bereitet, und eine selbst gebaute Rasensprenger-Konstruktion bewässert das winzige Rasenstück zwischen dem Haus und einem Maschendrahtzaun. Zwei Plastiknachbildungen von Jack-Daniels-Statuen bewachen die Tür zur verglasten Veranda.

Vor der Tür steht ein alter Mann, der uns erwartet. Kerzengerade steht er da, wirkt größer als seine 1,80 m und um ein Jahrzehnt jünger als seine über achtzig Jahre. Die in die Stirn gezogene Schirmmütze kann die Aura der selbstverständlichen, ansteckenden Freude nicht verbergen, die aus seinen himmelblauen Augen strahlt. Mit einem Lächeln kommt er uns entgegen.

»Ich bin Mitka«, sagt er und streckt uns eine breite Hand mit Fingern, die sich wie Hammerstiele anfühlen, entgegen. »Kommt rein, kommt rein.«

Er dreht sich um und öffnet uns die Tür.

Wir suchen uns einen Weg durch die enge Veranda, die vollgestopft ist mit solarbetriebenen Spielzeugen (»Die schenkt uns unser Enkel Stephen«), Postern mit abgedroschenen Parolen und diversen Kartons. Im Wohnzimmer hängt eine Elvis-Uhr, deren Zeiger im Sekundentakt vorrücken, neben einem Jesusbild. Eine Menora steht auf einem Bücherregal, eine andere schmückt den Kaminsims. Überall stehen und hängen Fotos.

Mitka erläutert uns die Sammlung, Stück für Stück, jedes mit seiner eigenen Geschichte. Oft erinnert etwas an die Person, die es ihm geschenkt hat. Manchmal beschreibt er, wie er ein Teil auf einer Reise mit der Familie gekauft hat. Während er spricht, werden die Gegenstände zu mehr als nur Souvenirs. Sie bergen persönliche Erinnerungen und verbinden Mitka mit Menschen und Orten.

Lynn Beck und Joel Lohr – meine Co-Autoren – gehen mit mir in den großen, aber dürftigen Raum, der sowohl Ess- als auch Wohnbereich ist. Wir finden unsere Plätze an einem Vierertisch. Mitkas Frau Adrienne sitzt am Kopf des Tisches, Mitka an ihrer Seite.

Es ist zwei Wochen her, dass mein Freund Joel, ein Professor, mit einer fantastischen Geschichte an mich herantrat. Bei einem zwanglosen Abendessen mit mir und Lynn (die auch meine Frau ist) erzählte er in groben Zügen die Geschichte von Mitka. Es handelte sich um eine Geschichte, die sein Nachbar Robert Lucchesi schon seit 25 Jahren hartnäckig versucht hatte, auf die Leinwand zu bringen, seit er Mitka beim Camping in Bodega Bay kennengelernt hatte. Interessenten an dem Projekt waren gekommen und gegangen, aber Mitkas Frau Adrienne hatte unerschütterlich auf ihrer Überzeugung beharrt, dass erst ein Buch geschrieben werden müsse, bevor man an einen Film denken könne.

Als Autor, der bereits einiges veröffentlicht hatte, hatte Joel Feuer gefangen und anfängliche Überlegungen angestellt, wie er Mitkas Geschichte in Buchform bringen könnte.

Aber er hatte Fragen. Er wusste, dass dies eine große Geschichte war. Meine Erfahrung als ehemaliger Agent einer Literaturagentur hatte Joel veranlasst, sie mir zu stellen. Ich beantwortete seine Fragen und dann pokerte ich ein bisschen: »Würden du und Robert – also, würdet ihr in Betracht ziehen, dass ich Mitkas Geschichte schreibe?«

Ich schickte Joel einige Probetexte, er las sie, und ein paar Tage später rief er an. »Kannst du einen Termin für eine Fahrt nach Sparks machen, um Mitka und Adrienne kennenzulernen? Am besten nächste Woche?«

Joel erklärte, dass diese Reise nur aus einem einzigen Grund notwendig war. Wenn ich – mit Unterstützung durch Lynn und Joel – der Autor von Mitkas Geschichte sein sollte, dann würde es auf eine einfache Frage hinauslaufen: Konnten Mitka und Adrienne uns ihre Geschichte anvertrauen?

Und so saßen wir in einem Haus, das seit sechs Jahrzehnten das Zuhause von Mitka und Adrienne Kalinski ist, zwei ungewöhnlichen Menschen, denen man nicht ansah, dass ihr Leben von einem der größten Verbrechen der westlichen Zivilisation geprägt wurde: dem Holocaust. Und jedem von uns, die wir dort um diesen Tisch saßen, wurde eines klar: Endlich war Mitka bereit, seine Geschichte erzählen zu lassen.

Mitka und Adrienne hatten dieses Haus 1961 gekauft, zwei Jahre, nachdem sie von North Tonawanda in New York nach Sparks gezogen waren. In Nevada hatte Mitka eine feste Arbeit gefunden und damit die Genugtuung, seine Familie ernähren zu können. Aber da gab es immer noch dieses Geheimnis, das er mit sich herumtrug: die Erinnerungen an seine Kindheit. Eine Kindheit in Eisenbahnwaggons, in Todeslagern und in der Sklaverei. Erinnerungen, die er sorgsam verborgen hielt, sogar vor seiner Frau und seinen Kindern.

Es war an einem Tag im Jahr 1981, als die Schrecken aus Mitkas früherem Leben – Schrecken, die jahrelang in ihm geschwelt hatten – schließlich in hellen Flammen aufloderten. Und wie bei einem Lauffeuer konnte sein Bedürfnis, seine Geschichte immer und immer wieder zu erzählen, von da an nicht mehr ausgelöscht werden.

Von diesem Tag an dokumentierte Adrienne alles, was Mitka sagte. Danach gingen die beiden akribisch jeder Spur nach, die sie finden konnten, um seine Erinnerungen zu überprüfen und zu bestätigen und die Wahrheit herauszufinden. Mitkas Erinnerungen beginnen um 1939, als Hitler gerade begonnen hatte, Tod und Zerstörung über Europa zu bringen.

Sklaverei

1

Das Kinderheim

Bila Zerkwa und Kiew, 1939–1941

»Eins … zwei … drei … vier … fünf …«

Ein Junge – fünf oder sechs Jahre alt – zählte mit, während die Bomben fielen.

Mitka Kalinski sitzt in seinem Haus in Sparks, Nevada, an einem Tisch, als er von einem seiner frühesten Kindheitstraumata erzählt. Seine geballten Fäuste unterstreichen die Worte, die von Wut und Schmerz, von Sehnsucht und Freude reden.

»In der Nacht, fünf Bomben. Ihr wollt wissen, wieso ich mich an die Zahl so genau erinnere? Ein fünf- oder sechsjähriges Kind kann bis fünf zählen, also fünf – eins, zwei, drei …« Er zählt mit seinen Fingern. »Also fünf Bomben – und ich hatte Angst.«

Der sechsjährige Mitka trug ein Nachthemd – ein schweres, wie er sich erinnert, denn es war eines der wenigen Kleidungsstücke, die er besaß. Er kauerte in seinem Bett, dem ersten in zwei langen Reihen. Putz rieselte von der Decke.

»Meine Bettdecke war auf den Boden gefallen und ich hatte Angst, sie aufzuheben, und ich habe mich so zusammengerollt.« Er verschränkt die Arme vor der Brust, senkt den Kopf und krümmt sich zusammen.

Es war dunkel. Der Junge sah sich um, so gut er konnte. Er sah keine Erwachsenen, wie schon seit etlichen Tagen. Um ihn waren nur Kinder – kleine Kinder. Die älteren Kinder schliefen in einem anderen Raum. Einen Monat zuvor hatte eine Lehrerin den Kindern gesagt, dass sich in den nächsten Wochen alles ändern würde.

»Also fünf Bomben. Das hatte sie wahrscheinlich gemeint. Und die Bomben waren gefallen.«

An dem Morgen nach dem Bombenangriff, so erinnert Mitka sich – dem Morgen, als er ohne Decke auf seinem Feldbett lag und die Bomben zählte –, hörte er eine innere Stimme, die ihm sagte, er solle fliehen. Mitka vertraute der Stimme und folgte ihr. Barfuß und nur mit seinem dicken Nachthemd bekleidet, rannte Mitka aus dem Gebäude, er und ein anderes Kind, ein Junge, an dessen Namen er sich nicht erinnern kann. Die Jungen flohen über den nah am Haus vorbeifließenden Ros, der zu dieser Jahreszeit wenig Wasser führte, sodass man ihn überqueren konnte. Die Kartoffel- und Weizenernte, der niedrige Wasserstand des Flusses und Hitlers offensiver Vorstoß nach Russland ermöglichen es, den Zeitpunkt dieses Ereignisses auf Spätsommer oder Frühherbst zu datieren.

Nachdem die Jungen an etliche Haustüren geklopft hatten und abgewiesen worden waren, erreichten sie eine Weggabelung. Sie stritten darüber, welchen Weg sie einschlagen sollten, und da sie beide ihren eigenen Kopf hatten, wählte jeder eine andere Richtung. Mitka ging also allein weiter, tiefer in die Wälder.

Es war zwei Jahre her, dass Mitka in das Kinderheim in Bila Zerkwa, Ukraine, gekommen war, eine Internatsschule für jüngere Kinder. Ringelblumen hatten geblüht, erinnert er sich, auch wenn er damals nicht gewusst hatte, wie die Blumen hießen. Jahrzehnte später, als er einmal mit der Hand über die gelben Blütenblätter strich, erkannte er den typischen Geruch und fühlte sich sofort zurückversetzt zu dem Tag seiner Ankunft in Bila Zerkwa. Und zu einer Frau, an deren Gesicht er sich nicht erinnern kann, die aber seine Hand hielt.

»Ich erinnere mich, dass ich auf einem Pferdewagen mit Menschen mit schwarzen Hüten und langen Schals saß, und ich erinnere mich, dass wir auf der Flucht waren. Später fand ich heraus, dass die Nazis 1939 in Polen einmarschierten. Ich glaube, wir sind von Polen in die Ukraine geflohen. Das war also das Jahr, in dem das alles passierte. Es war 1939.«

Die Erinnerung an die Flucht in einem Pferdewagen ist eine der wenigen Erinnerungen an das Leben vor seiner Ankunft im Kinderheim, die Mitka besitzt.

»Ich erinnere mich an einen Mann. Er kam zu einem Haus. Er hatte einen netten kleinen Sportwagen mit einem Rad, einem Reserverad, auf dem Heck, und er schnitzte mir mit einem Messer ein Boot für das Wasser wie dieses hier.« Während er spricht, ahmt Mitka das Schnitzen nach und achtet dabei sehr auf die Details des Spielzeugboots, an das er sich erinnert. »Und er hatte eine Augenklappe über dem Auge«, fügt er dann hinzu.

Der Mann mit der Augenklappe ließ das Boot zu Wasser, und die beiden sahen zu, wie es auf den Wellen dahinglitt.

Ein paar Augenblicke vergehen, dann sagt Mitka mit etwas wie Wehmut und Zärtlichkeit in der Stimme: »Ich glaube, dieser Mann war mein Vater.« Als er weiterspricht, ist seine Stimme ungewöhnlich sanft und stockend: »Mein Vater – das sind Worte, die ich kaum aussprechen kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, was sie bedeuten.«

Nicht ganz so deutlich, aber nicht weniger wertvoll ist Mitkas Erinnerung an eine Frau mit dunklem Haar, die ihm liebevoll begegnet ist.

»Ich erinnere mich an eine Frau, an eine bestimmte Begebenheit. Ich war noch in einem Kinderbett, ich muss also noch sehr, sehr klein gewesen sein. Sie hatte ein Gummiband dabei und schenkte es mir. Ich weiß noch, dass ich das Gummiband wie eine Schnur zwischen meine Finger nahm und daran zupfte, um Musik zu machen … ping, ping, ping.« Er macht ein rhythmisches Klimpern mit seiner Stimme, seine Hände deuten das Zupfen am Gummiband an. »Sie gab mir das Gummiband, umarmte mich und ging weg. Ich stand im Kinderbett und sah zu, wie sie aus der Tür ging. Sie hatte langes Haar. Sie schloss die Tür hinter sich. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Ich glaube, sie war meine Mutter.«

Verzweifelt gern möchte Mitka sich an mehr von dieser Frau erinnern können. Er kann es nicht.

Seine nächste Erinnerung stammt, wie er meint, aus einer Zeit kurz nach der Flucht aus Polen. »Ich habe mit zwei kleinen Mädchen gespielt und mein Vater musste in den Krieg … Ich wette, er hat mich verlassen, um in den Krieg zu gehen.«

An diesem Punkt unterbricht Mitka seinen Bericht und versucht, sich die dann folgenden Ereignisse zu erklären. Er glaubt, dass er höchstwahrscheinlich in einer anderen Familie lebte, nicht bei seinen Eltern, sondern bei Menschen, in deren Obhut ihn möglicherweise sein Vater gegeben hatte. »Und dann hatten die Leute, bei denen ich wohnte, wahrscheinlich die Idee – und das sage ich aus heutiger Sicht –, dass sie mich aus dem Haus haben wollten, und haben mich woanders untergebracht. Und diese Frau« – nicht die mit dem Gummiband, sondern seine zeitweilige Ziehmutter – »hat mich ins Kinderheim gebracht. Und jetzt habe ich zwei und zwei zusammengezählt. Was denkt ihr, warum wollten sie mich nicht mehr im Haus haben?«

Der Blick in seinen Augen macht deutlich, wie wichtig diese Frage für Mitka ist. Es ist eine von vielen, die ihn schon lange verfolgen. Mit dem Vorbehalt, dass er es natürlich nicht sicher wisse, äußert er seine Vermutung: »Ich glaube, sie haben erfahren, was ich war – ein jüdischer Junge.«

Mitka schweigt eine Weile. Es ist für ihn offenbar eine schwerwiegende Erkenntnis.

»Sie dachten sich, wenn die Nazis das herausfänden, würde die ganze Familie ausgelöscht werden. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht, dass Menschen, die Juden beherbergten, ausgelöscht wurden. Ich weiß nicht, ob es wahr war, aber ich bin zu diesem Schluss gekommen.

Ich dachte immer, dass ich ins Internat geschickt wurde, weil ich nicht erwünscht war. Ich war nicht erwünscht. Ich wusste immer, dass ich anders war, weil ich so war, wie ich war, und die Sprache sprach, die ich sprach – dass ich anders war und nicht erwünscht. Ich habe die Frau, die mich dorthin gebracht hat, nie wiedergesehen – die Frau, die mich an die Hand genommen und dort abgeliefert hat.«

Als Mitka weiterspricht, geschieht es wie mit zusammengebissenen Zähnen. Seine Stimme wird härter. »Sie hat mich nach Bila Zerkwa gebracht«, sagt er sachlich, aber in seinem Ton schwingt auch Zorn mit. »Sie steckte mich in dieses Internat und ließ mich dort zurück. Ich weiß noch genau, dass ich dort nicht sein wollte. Ich habe Theater gemacht und sie haben mich in die Ecke gestellt. Ich wusste nicht, was mir geschah. Ich wusste nur, dass ich nicht dort sein wollte. Ich war ein böser Junge und sie ließen mich in der Ecke stehen.«

Diese Sätze wiederholt Mitka oft, während er sich an das Kinderheim erinnert: »Sie haben mich in die Ecke gestellt« und »Ich war ein böser Junge«. Sie spiegeln, so scheint es, sowohl die Scham als auch die Isolation wider, die er empfand.

So schnell wie sein Zorn aufgeflackert ist, so schnell ist er auch wieder verloschen. Mitka zieht die Schultern ein und schlingt die Arme um seinen Brustkorb. »Wenn ich jetzt daran denke, genau jetzt, bin ich wieder dieser kleine Junge. Ich glaube nicht, dass ich jemals erwachsen geworden bin. Innerlich bin ich immer noch sechs Jahre alt. Ich bin immer noch dort.«

Zwei Winter vergingen, in denen Mitka im Internat war. Bei diesem Detail ist er sich sicher. Die Jahreszeiten waren die Art und Weise, wie er sich an den Lauf der Zeit erinnerte.

Andere flüchtige Eindrücke haben sich ihm eingeprägt. Er weiß, dass das Kinderheim ein Ort war, an dem er nicht sein wollte, aber nicht alle seine Erinnerungen sind schmerzhaft. Er erinnert sich zum Beispiel daran, dass er es mochte, wenn es Hähnchen zu essen gab. Und dass er mit einem Dreirad, einem Tretauto und einem Reifen mit Stock spielte.

Er erinnert sich an die Pavillons auf dem Hof, oder wie er sie beschreibt: »Ähm – Schirme aus Holz«. Er fertigt eine einfache, aber detaillierte Zeichnung der Gebäude an und deutet auf die vier Standorte der Pavillons. Im Hauptgebäude erklärt er die Lage eines Büros, der Schlafräume, der Waschküche und der Küche. Auf seiner Zeichnung markiert er, wo das Plumpsklo stand und wo der Fluss Ros an das Gelände angrenzte. Er zeigt uns auch, wo der Pfau, den die Schule besaß, herumstolzierte – Mitka sammelte seine Federn und sprach mit ihm. »Ich habe immer mit den Tieren gesprochen. Und sie sprachen auch mit mir. Ich konnte hören, was sie sagten«, erklärt Mitka stolz. Er erinnert sich, dass er einer Lehrerin eine Pfauenfeder schenkte. Bis heute hat er immer eine Pfauenfeder irgendwo um sich, sie steht in einer hohen Vase in der Ecke seines Wohnzimmers.

Eine weitere Erinnerung betrifft einen Ausflug in die Stadt. Der Name der Stadt, Bila Zerkwa, bedeutet »weiße Kirche« und eine solche Kirche gab es dort auch. Zu jener Zeit lebten in Bila Zerkwa nicht nur Christen, sondern es gab auch eine große, aktive und immer wieder verfolgte jüdische Gemeinde.1 Die Kirche, an die sich Mitka erinnert, mag die Kirche gewesen sein, nach der die Stadt benannt wurde, aber das ist ihm nicht wichtig. Er ist zusammen mit anderen Kindern in der Kirche gewesen. Er beschreibt Statuen – viele Statuen –, aber sie standen nicht in dem Bereich, in dem die Messe gehalten wurde. Bei diesem Ausflug hat Mitka auch seinen ersten Film gesehen.

Wenn er sich an Menschen aus dieser Zeit seines Lebens erinnert, dann an einen »Nachtwächter«, ein »Bürofräulein«, andere nicht näher bestimmte Erwachsene und vor allem an die Frau, die ihn im Kinderheim abgesetzt hat.

In seinen Erinnerungen an diese Zeit sieht Mitka keine Gesichter, nur Körper. Diese Erfahrung, sich nicht an Gesichter, sondern nur an Körper zu erinnern, nagt an ihm. Er ringt um eine Erklärung dafür, warum er keine Augen, Nasen, Münder und Ohren sieht. »Vielleicht lag es daran, dass ich noch so klein war. Ich weiß es nicht.« Er wünscht, er könnte sich an mehr erinnern – vor allem an sein Leben vor dem Kinderheim.

Mitte August 1941, an dem Tag, an dem die Bomben auf Bila Zerkwa fielen, wurden Mitka und die anderen Kinder mit Hitlers verheerender Vision konfrontiert. In ihrem Streben nach rassischer Reinheit und nach »Lebensraum«, in dem sich die Herrenrasse fortpflanzen konnte, hatten Hitler und seine Männer das Frühjahr und den Sommer des Jahres 1939 mit Kriegsvorbereitungen verbracht. Am 1. September 1939 griff Deutschland Polen an. Frankreich und England antworteten am 2. September und erklärten Deutschland den Krieg.

Am 22. Juni 1941 verschärften die Nazis unter direkter Verletzung des 1939 von Hitler und Stalin unterzeichneten Nichtangriffspakts mit dem Überfall auf die Sowjetunion die Lage weiter. Unter dem Codenamen »Operation Barbarossa« ging Hitler von einem Unterwerfungskrieg zu einem regelrechten Vernichtungskrieg über.

Und Bila Zerkwa gehörte zu den Städten, die auf Hitlers Marschroute lagen.

Bei ihrem Marsch durch die Ukraine im Sommer 1941 hatten die Nazis ein Ziel: die Verhaftung und Eliminierung aller jüdischen Männer zwischen 17 und 45 Jahren. Im Juli genehmigte der höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln die Ausweitung der Massaker auf Frauen. Mitte August wurden jüdische Säuglinge und Kleinkinder, deren Eltern getötet worden waren, in »ein Schulhaus in Bila Zerkwa« 2 gebracht und dort eingesperrt.

Mitka erinnert sich, dass vor dem Bombenangriff, der seine Flucht veranlasste, Soldaten in »großen grünen Lastwagen« vor dem Kinderheim eintrafen und viele Kinder ausluden. Mitka weist auf einen Punkt in seiner groben Zeichnung des Gebäudes und sagt mit Genugtuung: »Und ich konnte es von hier aus sehen. Genau von hier. Vor dem Büro – da kamen die Lastwagen an.« Er kann nicht erklären, warum, aber diese grünen Lastwagen voller Kinder verhießen irgendwie etwas Schlechtes. »Vielleicht war es das, was die Lehrerin uns gesagt hatte. Ich weiß es nicht. Ich hatte einfach das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren würde.«

Es passierte tatsächlich Schlimmes. Und das meint nicht nur die Bombardierung.

Am 21. und 22. August ordnete General Walther von Reichenau, Befehlshaber der Sechsten Armee des nationalsozialistischen Deutschlands, die Ermordung der erwachsenen jüdischen Bevölkerung von Bila Zerkwa an. Der Befehl wurde von Einsatzgruppen der Nazis – Tötungsbrigaden der SS-Elite – mithilfe deutscher Soldaten und ukrainischer Verbündeter ausgeführt. Nur die Kinder, die im Schulgebäude eingeschlossen waren, blieben übrig. Als Nächstes wurden Befehle erteilt, die unmissverständlich besagten, dass die Maßnahmen zur Ausrottung des »Judäo-Bolschewismus« 3 notwendigerweise auch die Tötung jüdischer Kinder einschließen mussten 4.

Der Befehl war selbst für disziplinierte und kriegserprobte Soldaten ein harter Brocken. Zwei Militärseelsorger, der katholische Priester Ernst Tewes und der lutherische Pfarrer Gerhard Wilczek, waren besonders beunruhigt. Diese Seelsorger versuchten mit einigem Erfolg, einen deutschen Offizier, Oberstleutnant Helmuth Groscurth, davon zu überzeugen, dass die Ermordung von Kindern einen Schritt zu weit ging. Der Oberst trug seine Bedenken den hohen Militärs vor und das Massaker wurde verschoben, bis man sich mit ihnen befasst hatte. Letztendlich kam Groscurth jedoch zu dem Schluss, dass »eine alternative Unterbringung der Kinder nicht möglich war … und dass diese Rasse ausgerottet werden muss«.5

Ein Soldat, der Zeuge der Morde am 22. August war, beschrieb sie mit diesen Worten:

Ich ging allein in den Wald. Die Wehrmacht hatte schon ein Grab ausgehoben. Die Kinder wurden mit einem Traktor gebracht. Mit dieser technischen Prozedur hatte ich nichts zu tun. Die Ukrainer standen zitternd herum. Die Kinder wurden vom Traktor heruntergeholt. Sie wurden am Rand der Grube aufgestellt und so erschossen, dass sie hineinfielen. Die Ukrainer zielten nicht auf einen bestimmten Körperteil. Die Körper fielen ins Grab. Das Wimmern und Schreien war unbeschreiblich. Ich werde diese Szene mein Leben lang nicht vergessen. Es ist für mich sehr schwer zu ertragen. Ich erinnere mich besonders an ein kleines blondes Mädchen, das mich an der Hand nahm. Auch sie wurde später erschossen … Das Grab lag in der Nähe eines Waldes. Es war nicht in der Nähe des Schießstandes. Die Hinrichtung muss am Nachmittag gegen 15.30 oder 16.00 Uhr stattgefunden haben, am Tag nach den Gesprächen in der Feldkommandantur. Viele Kinder wurden vier- oder fünfmal getroffen, bevor sie starben.6

Als Mitka viele Jahre später Fotos von Bila Zerkwa betrachtete, erkannte er das Schulgebäude, in dem die verwaisten jüdischen Kinder untergebracht waren. »Das war es. Das war das Kinderheim. Die Kinder, die getötet wurden, waren die Kinder, die die Lastwagen gebracht hatten.« Weitere seiner Erinnerungen decken sich mit Ereignissen, die diesem Massaker vorausgingen.

Mitka entkam der Hinrichtung, weil er beschloss, aus der Schule zu fliehen, in der er zwei Jahre lang gelebt hatte. Nun sah sich der Junge mit einem anderen, sehr realen Überlebenskampf konfrontiert. Tage- und nächtelang lief er weiter, immer allein. Manchmal wanderte er durch Wälder, aber viel öfter durch Felder. Auf manchen Feldern fand er Kartoffeln neben den Furchen, die bei der Ernte liegen geblieben waren. »Ich sage immer, egal, wie gut man absammelt, es fällt immer eine Kartoffel für andere ab. Das ist immer so. Und so bin ich über die Felder gelaufen und habe rohe Kartoffeln gegessen.«

Er fährt fort. »Auf anderen Feldern sah ich Reihen von goldenen ›Tipis‹. Daher weiß ich, dass es Herbst war. Da gab es – wie nennt man das – dieses Zeug, das wächst, das man abschneidet und zusammenbindet – also das, woraus man Brot macht – Weizenstroh. Und wenn es zusammengebunden war, ergab es ein kleines Tipi, in dem man schlafen konnte. Es war wie ein kleines Zelt, und ich schlief darin.«

Diese aufgestellten Getreidegarben bildeten nicht nur einen Unterschlupf, in dem Mitka schlafen konnte, sie boten ihm auch eine weitere Nahrungsquelle. Vom Kopf eines Halms brach er die Ähre ab und löste durch Reiben die Weizenkörner heraus. Er aß auch Sauerampfer, eine bitter schmeckende Pflanze, die er als Schavel kannte.

Auch wenn er Kartoffeln, Weizen und Sauerampfer zu essen hatte, war er immer hungrig. »Solch einen Hunger kann sich niemand vorstellen. Fünf Tage, mindestens, ohne Essen. Wenn du fast verhungert bist, findest du heraus, was essbar ist – rohe Kartoffeln und Weizenkörner.«

Nachdem er tagelang so weitergezogen war und an jede Haustür geklopft hatte, die er fand, wendete sich sein Glück zum Besseren, zumindest vorübergehend. In einem Haus bot ihm eine ältere Frau an, ihm etwas zu essen zu geben und ihn dort schlafen zu lassen, wenn er auf ihre Kuh aufpasste, bis ihr Sohn zurückkäme. Aber wenn der käme, müsste er gehen. »Ich schlief direkt hinter der Haustür … auf ein paar Lumpen … auf einem Bündel aus Lumpen oder so.«

Wie lange er auf diesem Hof war, kann er nicht sagen. Er erinnert sich aber, dass er, als der Sohn der Frau zurückkehrte, »gezwungen wurde zu gehen«. Als er das Haus verlassen hatte und die Straße hinunterging, wurde er von einem deutschen Militärkonvoi aufgegriffen. (Mitka glaubt, dass die Frau oder ihr Sohn ihn gegen eine Belohnung an die Deutschen ausgeliefert haben.) Die Lastwagen waren mit Menschen beladen, aber er sah keine anderen Kinder, nur Erwachsene. Während der Fahrt hörte Mitka viele Gespräche, und er hörte immer wieder ein Wort: Kiew. »Dieses Wort hatte ich noch nie gehört, ›Kiew‹«, sagt er.

»Plötzlich hielt der Lastwagen an und ich hörte: ›Alle raus!‹ Und gleich darauf … tat-tat-tat.« Mitka feuert ein imaginäres Gewehr ab und ahmt das Geräusch von Schüssen nach.

»Ich erinnere mich an die Schüsse. Oh, diese Schüsse. Es war nicht schön, die Schüsse zu hören. Die Leute standen aufgereiht und fielen dann zu Boden. Ich fiel auch. Die Leute fielen auf mich und schoben mich mit sich. Leichen begruben mich. Ich sage immer, ich muss hundert Fuß tief begraben worden sein.«

Als die Henker aufhörten zu schießen und alles still war, schlängelte sich Mitka an die Spitze des Leichenhaufens. Er war davongekommen, war nicht erschossen worden. Jetzt wurde es dunkel, die Soldaten waren fort und hatten die Leichen zurückgelassen. Mitka trug noch immer das Nachthemd, das er getragen hatte, als er das Kinderheim verließ, ihm war kalt, er war hungrig, schmutzig und verängstigt. Kein lebendiger Mensch war in Sicht. »Stille, Stille, Stille …«, erinnert er sich, war alles, was er hörte. Sonst nichts.

Mitka skizziert den Schauplatz und zeigt auf den Ort der Tötung, auf die Stelle, von der aus die Schüsse fielen, und auf den Fluss, der wahrscheinlich der Dnjepr war.

Als Mitka Jahre später History Channel schaute, erfuhr er von Babi Yar, dem Massaker, bei dem Killerkommandos und lokale Kollaborateure in der Schlucht von Babi Yar in der Nähe von Kiew im Laufe von zwei Tagen mehr als dreißigtausend Juden und eine unbekannte Anzahl anderer Menschen erschossen.7 Einzelheiten, die über das Massaker von Babi Yar bekannt sind, stimmen weitgehend mit Mitkas Erlebnissen überein. Diese Übereinstimmungen haben Mitka überzeugt, dass er diese Massenerschießung tatsächlich überlebt hat, weil er unter den Leichen der Ermordeten begraben wurde. Wie beim Massaker von Bila Zerkwa lässt sich nicht feststellen, ob Mitka in Babi Yar war oder ob sich sein Beinahetod bei einem der vielen anderen Massaker, die Teil der Operation Barbarossa waren, zugetragen hat.8

Dem Massengrab entkommen lief Mitka aus einer Schlucht in Richtung des Flusses. Er war eine Strecke gelaufen – wie weit, kann er heute nicht mehr sagen –, als er vor sich Lastwagen und reges Treiben auf der Straße sah. Er zeigt auf der einfachen Karte, die er gezeichnet hat, auf die Position der Lastwagen. In dem Wunsch, Hilfe zu finden, lief er auf die Lastwagen zu – und direkt wieder in die Hände deutscher Soldaten.

Die Soldaten trugen Gewehre und luden die Menschen in einen Waggon – einen Viehwaggon. Es waren nur Erwachsene und sie wurden so eng in den Waggon gepfercht, dass sich niemand hinsetzen konnte.

»Ich habe das Schlimmste vergessen«, bemerkt Mitka. »Als ich im Viehwaggon war, konnte ich nicht umfallen. Und wenn man auf die Toilette musste, musste man dort gehen, wo man stand. Manche Leute sagten, es gäbe irgendwo einen Eimer, aber ich habe nie einen gesehen. Es gab keinen Eimer. Man erleichterte sich einfach da, wo man stand. Und während der Zug rollte, starben Menschen.«

Er greift nach einem der vielen Bücher über den Holocaust, die die Regale in seinem Haus füllen, und findet ein grobkörniges Foto eines Viehwagens, in dem Häftlinge in die Lager transportiert wurden, ein Wagen, wie er im United States Holocaust Memorial Museum ausgestellt ist. »Dieser Waggon hier kommt mir kleiner vor als der, in dem ich war.« Dann zeigt er auf ein kleines Abteil – er nennt es Häuschen –, das an einem Ende des Waggons angebaut ist. Mit dem Finger zeichnet er in der Luft einen schmalen Bau, der von einem leicht abgeschrägten Dach bedeckt ist.

»Wisst ihr, was in diesem Häuschen ist? Da ist ein Rad, mit dem man den Zug anhalten kann. Ich bin wahrscheinlich der Einzige, der euch das sagen kann, weil ich drin war. Ich wette, niemand sonst war in einem Häuschen.«

Der Grund, warum Mitka ins Häuschen kletterte, war ein Zwischenfall, bei dem einige Häftlinge einen Fluchtversuch unternahmen. Die Soldaten »haben uns manchmal aus dem Zug geholt. Ich weiß nicht mehr, warum. Vielleicht sogar, um uns etwas Suppe zu geben oder so. Plötzlich gab es eine Menge Schüsse. Heute weiß ich, dass dieses tat-tat-tat Maschinengewehre waren, die auf uns schossen.

Irgendwie sind Leute vom Zug weggelaufen, in die Büsche. Und ich konnte andere sehen, die am Rande der Gleise lagen. Und woher kam das Maschinengewehrfeuer? Aus dem kleinen Häuschen dort. Sie schlossen die Waggontür« – durch die Mitka hätte einsteigen sollen –, »und der Zug fuhr an. Und ich wollte nicht erschossen werden.

Der Zug bewegte sich … langsam, langsam.« Er pumpt mit den Armen, um das Anfahren des Zuges zu demonstrieren. »Ich hatte meine liebe Not, auf den Viehwaggon zu klettern. Das Trittbrett des Wagens war so verdammt hoch. Ich wusste nicht viel, weil ich so klein war. Aber ich wusste, dass ich Angst hatte, unter den Zug zu fallen.« Jetzt greift er nach imaginären Leitersprossen, an denen er sich hochzieht. »So kletterte ich die Leiter am Häuschen hinauf, und so erfuhr ich, dass dort ein Rad drin ist. Und falls euch mal jemand fragt – jetzt wisst ihr, dass da ein Rad drin ist.«

Die Angst ist aus Mitkas Stimme gewichen und er sagt diese letzten Worte mit einem Lächeln und dem Stolz eines Jungen, der etwas riskiert hat und erfolgreich war, eines Jungen, der etwas über den inneren Mechanismus eines Fahrzeugs wusste, in dem man ihn gefangen hielt.

Wie lange er in dem Zug war, kann Mitka nicht sagen. Tage, vermutet er. Mit einer Art Kichern erinnert er sich an einen anderen Halt. In der Nähe der Suppenausgabe für die Gefangenen picknickten Menschen.

»Ich hatte einen Blechbecher. Woher ich den hatte, weiß ich nicht mehr. Und als wir aus dem Zug stiegen, hatte ein Mann einen Brotkanten. Er kam zu mir und sagte, er würde mir den Kanten für den Becher geben. Und wir unterhielten uns weiter und tauschten. Ich gab ihm den Becher und er gab mir das Stück Brot. Und dann, bevor ich es aß, nahm er das Brot wieder an sich. Und weil er den Becher für die Suppe genommen hatte, hatte ich nichts mehr. Als die Suppe kam, habe ich meine Hände ausgestreckt. Ich musste mir die heiße Suppe in meine Hände gießen lassen.«

Mitka greift nach einem Blechbecher, den er Jahre später im Rahmen einer Werbeaktion in einem Steakhaus in einem Einkaufszentrum erhalten hat und der an einem Haken in seiner Küche hängt. Dieser Preis – ein Werbeschmuckstück ohne wirklichen Wert – hat für ihn eine große Bedeutung und erinnert ihn an seine Vergangenheit. Er hält den Becher in den Händen, als wäre es ein archäologisches Relikt von unschätzbarem Wert.

Der Zug hielt erneut an. Seit dem letzten Halt war eine »lange Zeit« vergangen. An einer Drehscheibe, wo die Lokomotiven in die Richtung umgedreht wurden, aus der sie gekommen waren, holte man alle aus dem Zug und verlud sie in einen anderen Viehwaggon. Durch die Sichtschlitze des neuen Waggons blickte Mitka auf den Waggon, in dem er kurz zuvor gesessen hatte.

»Als ich zurücksah, sah ich, wie sie die Leichen an Händen und Füßen packten und hinauswarfen.«

In diesem zweiten Viehwaggon, der genauso gedrängt voll war wie der erste, hörte Mitka ein neues Wort. Birkenau.

2

Die Lager

Birkenau, Buchenwald, Dachau und Pfaffenwald, Herbst 1941 – Winter 1942

Es war im Herbst 1941. Mitka war in etlichen Viehwaggons vom Ufer des Dnjepr in Kiew nach Birkenau gelangt, über eine Entfernung von knapp tausend Kilometern. Wie Millionen von Juden, Gefangenen und anderen Deportierten wurde er in einen Zug verladen, ohne zu wissen, was mit ihm geschehen würde oder wohin die Fahrt ging.

Vieh- und Güterwaggons hatten einen praktischen Vorteil für den Transport von Gefangenen. Da diese Waggons leicht verschließbar und fensterlos waren, wurden für den Transport menschlicher Fracht weniger Soldaten benötigt. Und die Waggons konnten eine große Anzahl von Menschen aufnehmen. Die offiziellen SS-Vorschriften sahen 50 Deportierte pro Waggon vor; es war jedoch nicht ungewöhnlich, dass 100, manchmal sogar bis zu 150 Personen in einen Waggon gepackt wurden.9 Nahrung und Wasser gab es nicht, ebenso wenig eine Toilette. Manchmal war der Boden mit Branntkalk bestreut, ein anderes Mal wurde ein Eimer als Latrine an Bord geworfen. Mitka sagt über den Geruch von Urin und Exkrementen: »Wir kannten es nicht anders. Also gewöhnte man sich daran.«

Die oberste Priorität der NS-Kriegsmaschinerie war der Transport von Truppen und Rüstungsgütern. Daher wurden die Holocaustzüge regelmäßig auf Ausweichgleise verfrachtet, wo sie oft tage-, manchmal wochenlang warteten, bevor sie weiterfahren durften. Während der Wartezeit wurden die »Passagiere« in den Viehwaggons ohne Belüftung, ohne Nahrung oder Wasser sich selbst überlassen und waren extremer Kälte oder Hitze ausgesetzt. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Wachen beim Öffnen der Türen feststellten, dass alle Insassen tot waren.10

Aber nicht alle starben in den Zügen. Manchmal, wie im Fall von Mitka, gab es in den Waggons eine Mischung aus Leichen und Menschen, die sich an das Leben klammerten und sich eng aneinanderdrängten. In Interviews spricht Mitka oft darüber, dass Züge in ihm immer noch die Assoziation von Leichen wachrufen – »so viele Leichen«. Seine Stimme wird leise, als er sagt: »Und es war mir gleichgültig.«

Immer wieder kommt Mitka auf den Gedanken zurück, dass der Tod ihn nicht berührt hat. »Menschen sind gestorben«, sagt er nachdenklich, »aber ich erinnere mich nicht an Gefühle, wenn es geschah – keine Gefühle.« Die Vorstellung, dass er die Endgültigkeit des Todes nicht begriffen hat, scheint ihn zu irritieren und zu beschämen. Auch wenn er selbst diese Schlussfolgerung nicht zieht, ist es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass das Trauma, das Mitka bei seinem Versuch zu überleben erlitten hat, und sein junges Alter ihn davor bewahrt haben, den Tod, der ihn umgab, zu verstehen.

Seine Fahrt von Kiew in sein erstes Lager beschreibt Mitka als Abfolge von immer neuen Viehwaggons, von »ständigem Umsteigen«. Im letzten Waggon vor der Ankunft im Lager hörte er, dass ihr Ziel Birkenau sei. »Ja, Birkenau«, sagt er. »Ich wüsste nicht, dass ich jemals ›Auschwitz‹ gehört hätte.« Viel später, als Erwachsener, hat er erfahren, dass Birkenau eines von vielen Nebenlagern des Auschwitz-Komplexes war.

Auschwitz-Birkenau befand sich in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze auf einem Gelände, das laut dem Historiker Nikolaus Wachsmann während des Ersten Weltkriegs »als provisorische Siedlung für Saisonarbeiter« 11 diente. Später, bevor es in ein riesiges Konzentrationslager umgewandelt wurde, wurde es vor allem, aber nicht ausschließlich, als Lager für polnische Gefangene genutzt.

Als Mitka im Lager ankam, betrat er eine Welt, in der ausgehungerte Häftlinge physisch und psychisch misshandelt wurden. In Auschwitz und den Nebenlagern Birkenau und Monowitz wurden sie gezwungen, Offiziershäuser, Baracken für Häftlinge und Gebäude zur Lagerung von Ausrüstung sowie Gaskammern und Krematorien für ihre eigene Hinrichtung zu bauen.

Er bedauere es, sagt Mitka, dass er sich nicht an mehr Details über seine Zeit in diesem Lager erinnern kann. Dann kommt er auf einen starken Eindruck zu sprechen: »Die einzigen Erinnerungen, die ich habe, sind die an den Hunger. Wenn man hungrig ist, vergisst man alles andere. Ich erinnere mich nur an den Hunger. Ich hätte mich auf eine Leiche setzen und eine Mahlzeit essen können – denn Leichen bedeuteten mir in jenen Jahren nichts. Überhaupt nichts.«

Die nächste und einzige andere Geschichte, die er aus seiner Zeit in Birkenau erzählt, betrifft die Arbeit in einer Ziegelei. Er beschreibt, wie Tonblöcke auf einem Förderband herunterkamen.

»Ich hatte dieses Gerät mit vier Drähten in der Hand. Stellt euch das vor – ein Gerät mit vier Drähten, das Ziegelsteine schneiden soll.« Er formt ein Quadrat mit seinen Händen, um den Rahmen zu zeigen, den er in der Hand hielt, und fährt fort: »Es war ein Ding zum Schneiden von Ziegeln, und sie gaben mir diese Aufgabe, aber ich konnte es nicht. Ich war zu klein dafür.« Also beschreibt er die Arbeit, die er verrichten konnte. »Sie stellten mich also an eine runde Grube. Stell dir diese runde Grube vor. Diese Ziegel kamen aus einer Grube. Und aus dieser runden Grube ragt ein Schaft, so ungefähr.« Wieder demonstriert er mit Gesten, indem er seine linke Hand auf den rechten Ellbogen legt und mit dem rechten Unterarm einen Hebel zeigt. »Und hier drüben steht ein Pferd.«

Dass es in Auschwitz-Birkenau eine Tongrube gab, ist eines der wenigen Details aus Mitkas Erinnerungen, für die es keine äußere Bestätigung gibt. Mitka konnte diese Erinnerung bisher nicht verifizieren, und das beunruhigt ihn. Es gibt Bilder von Lehmgruben und Ziegelbrennereien in anderen Lagern als Auschwitz-Birkenau, insbesondere in Sachsenhausen und Buchenwald.12 Es gibt eindeutige Beweise für eine Maurerschule in Auschwitz I in Baracke 7, in der »relativ gesunde junge Männer darin geschult wurden, Ziegel herzustellen und zu vermauern«.13 Als Mitka in Birkenau ankam, war das Lager gerade im Aufbau begriffen und es bestand Bedarf an Baumaterial. Vielleicht gab es dort eine solche Grube. Zweifelsohne gab es in Auschwitz Steinbrüche. Ausgehend von den Beschreibungen der Entwässerungsprojekte ist es mehr als wahrscheinlich, dass es in Auschwitz auch Lehm gab, den die Häftlinge vermutlich von Hand ausgraben mussten.14 Es ist aber auch möglich, dass Mitka während seiner Zeit in Buchenwald oder Dachau in der Ziegelproduktion eingesetzt wurde.

Ob in Birkenau oder einem anderen Lager, Mitka erinnert sich an eine Grube, die wie eine riesige Rührschüssel aussah. Sie war mit Ton gefüllt. In der Mitte befand sich ein Schaufelrad, das gedreht werden konnte. An der Spitze des Schaufelschafts befand sich ein Holzbalken, der mit einem Pferdegeschirr verbunden war. Das Pferd schob den Balken in der Grube umher, um den Ton zu mischen.

Da der sechs- oder siebenjährige Mitka nicht über die Kraft verfügte, mit dem Drahtgerät Ziegel aus dem Lehm zu stechen, wurde ihm eine Aufgabe zugewiesen, die dem wissbegierigen kleinen Jungen eine gewisse Freude bereitete. »Ich musste mich auf den Balken neben dem Pferd setzen, während dieses im Kreis lief und seine Runden drehte, um den Lehm zu mischen.«

Nach dieser sehr konkreten Erinnerung kommt Mitkas Erzählung ins Stocken, er unterbricht sich, setzt neu an, unterbricht sich wieder. Er fragt sich, ob die Ziegelsteine, an deren Herstellung er beteiligt war, zum Bau von Gaskammern verwendet worden sein könnten, in denen die »Endlösung« durchgeführt wurde. Und er glaubt, dass es so war, und versucht, seiner Schuld Ausdruck zu verleihen. Mit abgewandtem Blick fragt er in fast flehendem Tonfall: »Könnten diese Hände beim Bau der Öfen geholfen haben? Aber ich wusste es nicht.«

Der Moment geht vorüber, ohne dass jemand einen Kommentar abgibt.

Mitka weiß nicht, wie lange er in Birkenau war. Er weiß nur, dass er »nach Tagen und Tagen« wieder in einen Waggon gesteckt wurde, der ihn nach Buchenwald brachte, etwa 640 Kilometer westlich von Auschwitz. Warum er verlegt wurde, weiß er nicht.

Wie seine anderen Fahrten in Viehwaggons war auch der Zug nach Buchenwald voll mit Erwachsenen. Kinder kommen in Mitkas Erinnerungen aus dieser Zeit nicht vor. Wieder kannte er niemanden und spürte ständigen Hunger. Als der Zug anhielt und Mitka und die anderen ins Lager getrieben wurden, hielt der Fotoapparat in seinem kindlichen Gemüt ein Bild mit perfekter Schärfe fest. Dieses Bild sollte ihn nie mehr loslassen. Damals hatte er jedoch keinen Bezugsrahmen für das, was er sah.

»Als ich nach Buchenwald kam, hängten sie die Leute so an einem Baumstamm auf. Sie wurden dort aufgehängt, bis sie starben. Ich sah Hunderte, vielleicht Tausende von toten Menschen, aber ich wusste nicht, was das bedeutete.«

Mitka berichtet weiter von Männern und Frauen, deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren, die dann »vielleicht drei Meter hoch aufgehängt« an einem Nagel in einem Baumstamm gehängt wurden.

Das Erhängen, an das sich Mitka erinnert, war eine der typischen Folterungen von Oberscharführer Martin Sommer, einem sadistischen Lagerbeamten in Buchenwald zwischen 1938 und 1943, der als »Henker von Buchenwald« bekannt wurde.15 Diese besondere Form der Folter entlockte den Häftlingen, die sie erdulden mussten, qualvolle Schreie, was dazu führte, dass dieser Teil des Lagers »der singende Wald« genannt wurde. Sommer agierte mit voller Unterstützung des Kommandanten Karl-Otto Koch des »inoffiziellen Henkers des Lagers«.16 Der Historiker Nikolaus Wachsmann stellt fest, dass Sommers »Kaltblütigkeit selbst unter den SS-Leuten auffiel«, und beschreibt ihn so:

Sommer war ein Mann von außergewöhnlicher Grausamkeit. Er verhängte die offiziellen Strafen wie Auspeitschen und beteiligte sich an anderen Gräueltaten, indem er Häftlinge verhungern ließ, sie erwürgte, sexuell missbrauchte und ihnen den Schädel einschlug; an manchen Tagen, so gab er später zu, hat er im Bunker mehr als zweitausend Schläge ausgeteilt.17

Weder an Sommer noch an Koch oder überhaupt an einen der Täter, deren Verbrechen er miterlebt hat, kann Mitka sich erinnern. Deutlich bewusst sind ihm jedoch die Folterungen und der Sadismus, die Buchenwald prägten. Zu dieser Zeit trug Mitka auch »für eine kurze Zeit« einen gelben Stern. Dann sagt er etwas Seltsames: »Ich habe nie jemandem gesagt, dass ich Jude bin. Das war mir ja selbst nicht einmal bewusst.« Später fand er einen Weg, den Stern zu entfernen, da er bemerkte, dass Häftlinge, die den Stern trugen, mit besonderem Hass und Brutalität behandelt wurden.

Von Buchenwald aus wurde Mitka mit einem anderen Zug nach Dachau transportiert. Beim Eintritt in das Lager durch »ein von Bäumen gesäumtes großes Bogentor« sah er die Inschrift darüber, die zum Symbol für die Konzentrationslager der Nazis geworden ist. Der aus Metall gefertigte Spruch mit drei Wörtern, der über den Toren vieler Konzentrationslager hing, lautete:

ARBEIT MACHT FREI.

Dieser ebenso schlichte wie berüchtigte Slogan war Teil einer ausgeklügelten NS-Propagandamaßnahme, mit der die Lager, wie Heinrich Himmler es ausdrückte, als »streng, aber gerecht« und als »eine tatsächliche Kontrollmaßnahme« dargestellt werden sollten – ein perverses Versprechen, das Leben und Freiheit als gerechten Ausgleich für die harte Arbeit der Häftlinge in Aussicht stellte.18

Historiker wie Wachsmann, Otto Friedrich und andere, die sich mit den Lagern befasst haben, argumentieren, dass einige Nazis wahrscheinlich an diese »mystische Erklärung glaubten, dass die Selbstaufopferung in Form von endloser Arbeit an sich eine Art geistiger Freiheit bringt«.19 Die meisten jedoch, einschließlich der SS-Lageroffiziere, erkannten die Ironie des Satzes. In Sachsenhausen, einem Lager in Oranienburg, trieben die Wachen die grausame Ironie auf die Spitze, wenn sie die Häftlinge zum Krematorium führten und erklärten: »Es gibt einen Weg in die Freiheit, aber nur durch diesen Schornstein!« 20 Gewiss, die meisten Häftlinge, zumindest diejenigen, die lange genug lebten, um selbst zu erfahren, wie das Leben in den Lagern war, erkannten die monströse Farce des Slogans »Arbeit macht frei«.

Für den Jungen Mitka, der Jiddisch, Russisch und Polnisch verstand, aber nicht lesen konnte, hatten diese Worte keine Bedeutung. Er weiß aber noch, dass »jemand in meiner eigenen Sprache« – er glaubt, es war entweder Polnisch oder Jiddisch – »mir sagte, was auf dem Schild stand«.

Die Inschrift prägte sich ihm ein. Wenn er als Erwachsener ein Foto des Schildes wiedersah, schlug der Moment des Wiedererkennens ein wie ein Blitzschlag. Es kam alles zurück, und von einem Augenblick zum anderen stand er noch einmal im Eingangstor von Dachau.

Als der Zug anhielt und alle – Lebende und Tote – ausgeladen wurden, wurden die Frauen von den Männern getrennt. Mitka musste sich in die Reihe der Frauen stellen. Ob ihm gesagt wurde, er solle sich ausziehen, weiß er nicht mehr, aber dass er und alle Frauen nackt vor den Wachen standen. »Ist das zu glauben?«

Es ist eine Frage, die er in unseren Gesprächen oft wiederholt. Wenn er sie stellt, ändert sich sein Tonfall. Seine Hände wandern von den Oberschenkeln nach oben und sinken mit einem Schlag auf die Knie zurück. »Ist das zu glauben?«, sagt er, als ob er über jemand anderen sprechen würde.

Er wurde zusammen mit den Frauen zu einem Gebäude geführt, wo er »über eine Treppe in einen großen Raum hinabstieg«. Er sah Duschköpfe, die von der Decke herabhingen, und Rohre. Mitka spekuliert: »Dieses Spray – ich glaube, es war zum Entlausen. Sie besprühten uns mit etwas, das brannte, und das tat sehr weh.«

Irgendwann verkroch er sich in eine Ecke, weil es ihm peinlich war, so entblößt und verletzlich »unter so vielen nackten Frauen« zu sein. Seine Wangen röten sich, als er die Demütigung wieder erlebt.

Den größten Teil des Jahres 1942 hatte Mitka in drei Konzentrationslagern verbracht. Irgendwann im September wurde er aus unbekannten Gründen erneut verlegt. Wie bei den vorangegangenen Transporten wurden die ausgehungerten, durstigen, verdreckten Häftlinge wie Sardinen in Waggons gepackt und verfrachtet. Diesmal war das Ziel das Lager Pfaffenwald.

Der Halt im Lager Pfaffenwald war anders als die bisherigen. Als der Zug zum Stillstand kam, traten Mitka und die anderen auf den Bahnsteig des Bahnhofs einer Stadt. Er erinnert sich an ein Schild am Bahnhof. Er konnte es nicht lesen, aber er hörte, wie andere um ihn herum es lasen: Asbach.

»Alle raus aus dem Waggon«, sagt Mitka über die Ankunft, und sein Tonfall zeigt, dass es ein Befehl ist, den er gehört hat.

»Losmarschieren.« Gemeinsam gingen alle Häftlinge »in den Wald« zum Lager, eine Strecke von gut drei Kilometern. Jenseits des Waldes ragte eine große Brücke empor – eine Autobahnbrücke, die Zwangsarbeiter aus Pfaffenwald gebaut hatten. Für das Kind Mitka war der Anblick der Brücke, die den Wald überragte, »eine Erinnerung, die man nicht vergisst«.

Sie näherten sich dem Eingangsgebäude und Mitka sah Stacheldrahtzäune, Wachtürme und Soldaten. An einem Punkt des Weges trat eine Frau zu Mitka und schirmte seine Augen ab. Sie wollte nicht, dass Mitka die Leichen sah, die sich vor ihnen auftürmten. Sie war zu spät dran. Der Anblick hatte für Mitka keine besondere Bedeutung. Auch wenn die jiddisch sprechende Frau ihn nicht vor der grausigen Szene hatte bewahren können, so hatte ihr Akt der Freundlichkeit doch eine große Wirkung auf Mitka. Er hat sie nie vergessen. Einen Moment lang fühlte er sich nicht allein.

Der 1938 als Reichsautobahnlager (RAB) gegründete Pfaffenwald war ein Zwangsarbeitslager, das speziell für den Bau der Asbachtalbrücke an der Autobahn, der heutigen A4, zwischen Kirchheim und Bad Hersfeld errichtet wurde. Im Herbst 1942, als Mitka in das Lager kam, war die Brücke fertiggestellt und das Lager wurde umfunktioniert. Es beherbergte nicht mehr die vielen Arbeiter, die zum Brückenbau gezwungen worden waren. Bei Kriegsbeginn wurden die Brückenarbeiter entfernt und durch eine Reihe tschechischer, französischer, polnischer und russischer Gefangener und anderer Zwangsarbeiter ersetzt. In der Regel waren diese Häftlinge aufgrund von Krankheiten oder körperlichen Einschränkungen nicht in der Lage, die erwartete Leistung zu erbringen. Pfaffenwald eröffnete eine Art Krankenstation, um Tuberkulosekranke zu isolieren und Föten schwangerer Häftlinge abzutreiben. Bis zum Ende des Krieges wurde es als Fremdarbeiter- und Abtreibungslager weitergeführt. Diejenigen, die nicht im Lager Pfaffenwald starben, wurden zur Ermordung in die nahe gelegene Euthanasieanstalt Hadamar transportiert und dort ermordet.21

Im Lager Pfaffenwald hat Mitka Dinge gesehen, die er noch nie jemandem erzählen konnte. »Ach, die Dinge, die ich im Pfaffenwald herausgefunden habe. Wenn ich euch davon erzähle, bin ich immer noch dort. Ich weiß nicht, warum, aber ich bin immer noch dort. Und glaubt mir, es macht mir Angst.«

Wir haken nach, aber er sagt, dass er vielleicht eines Tages in der Lage sein wird, zu berichten, was passiert ist. Im Moment ist es einfach zu schwierig. Wenn er es jemals tut, dann nur im Beisein seiner Frau, sagt er. Er hat es seit 75 Jahren niemandem erzählt.

Aus seinen etwa drei Monaten in Pfaffenwald teilt Mitka vor allem Erinnerungsschnipsel mit. Manchmal ist das, was er behalten hat, mit einer konkreten Erfahrung verbunden, aber oft sind es Momentaufnahmen. Selbst diese Bruchstücke, wie der Anblick der Asbachtalbrücke, stimmen mit den bekannten Aufzeichnungen über die Ereignisse im Pfaffenwald überein.

Im Lager angekommen, wurden Mitka und die anderen in einem großen Gebäude untergebracht. »Dort, wo ich schlief, gab es ein Dach – es war aber nur halb vorhanden.« Von seinem Teil des Bodens aus blickte er durch die Dachsparren in den Himmel.

Er erinnert sich an andere Gebäude – Schlafsäle, einen Speisesaal, eine Küche, ein Bürogebäude und Wachtürme. Einen Ort, die Latrine, beschreibt er als einen langen Graben mit einem über dem Graben hängenden Brett. Die Menschen zu sehen, wie sie versuchen, sich auf dem Brett zu halten, alle in einer Reihe, ohne Privatsphäre – das hat Mitka gestört. Er sagte, er habe sich daran gewöhnt, aber es sei ihm immer peinlich gewesen.

Im Pfaffenwald musste Mitka etwas trinken, das ihn »sehr, sehr krank« machte und ihm »ständige Kopfschmerzen« bereitete. Dann »steckten sie mir einen Schlauch in die Nase und pumpten mir etwas in die Nase«. Er erinnert sich, dass er »lange Zeit nackt und in der Kälte draußen eingesperrt war«, und dann »haben sie mir etwas auf den Rücken gelegt – heiße Gläser – wie Feuer«.

Jahre später erfuhr er von Hadamar, wo sich auch ein staatliches Krankenhaus befand, und er zieht den Schluss, er müsse wohl, als man ihn anderen »Experimenten« unterzog, »in Hadamar gewesen sein«. Er sei in einem Krankenhaus gewesen, das ihn nicht an Pfaffenwald erinnert, meint er.

Während seiner Zeit in Pfaffenwald wurde Mitka Zeuge von Morden und anderen schrecklichen Ereignissen, die ohne entsprechende Aufzeichnungen kaum glaubhaft wären. In einem Fall beschreibt er eine Prozedur, die man an Frauen durchführte.

»Ich werde versuchen, es zu demonstrieren.« Mitka ballt ein imaginäres Messer und hebt es an sein Brustbein, dann führt er es abwärts bis zum Boden seines Bauches. »Sie schneiden den Bauch auf und werfen dann etwas gegen die Wand.«

Der Siebenjährige erkannte nicht, dass die Frauen, die er gesehen und vor Schmerzen schreien gehört hatte, schwanger waren. Bis etwa 1981 dachte er, dass er so etwas wie »Welpen« gesehen hatte, die den Frauen aus dem Bauch genommen und zum Sterben an die Wand geworfen wurden. Erst als seine Frau Adrienne ihm erklärte, dass es sich bei dem, was er gesehen hatte, um Föten handelte, wurde ihm klar, dass im Pfaffenwald auf diese Weise abgetrieben wurde. Er glaubt auch, dass die Schnitte mit nichts anderem als »Taschenmessern« vorgenommen wurden, was auch von anderen bestätigt wird 22.

»Und dann versuchen sie, sie mit etwas wie Klebstoff wieder zusammenzufügen, anstatt sie zu vernähen … aber sie sind trotzdem gestorben.«

Paradoxerweise stammen Mitkas etwas positivere Erinnerungen an alle seine Lagererfahrungen ebenfalls aus Pfaffenwald. Mit einem Lächeln auf den Lippen erzählt er, wie er als kleiner Junge unbemerkt unter dem Stacheldrahtzaun, der das Lager umgab, hindurchkriechen konnte. »Da war ein Baum, der war sehr hoch, und die Bucheckern fielen runter. Und ihr wisst ja, was für eine Jahreszeit das ist, wenn die Nüsse fallen. Ich war der Einzige, der unter den Baum kriechen konnte. Und ich habe die Bucheckern an die Leute verteilt. Wir waren am Verhungern und wir waren so froh, die Bucheckern zu bekommen.«

Als er anfing, die Bucheckern zu sammeln, waren sie noch grün und nicht reif. Wie auch immer, die Nüsse ergänzten die Ernährung, die aus einer dünnen »gelben Suppe, vielleicht war es eine Rübensuppe« bestand.

Mitka hatte während seines Aufenthalts im Lager eine Arbeit, die ihm gefiel. Er arbeitete zusammen mit zwei Mädchen. »Wir stapelten Brot, das ein Bäcker zweimal in der Woche brachte. Alle drei Tage bekam ich ein Stück davon.«

Gelegentlich ließ der Bäcker Mitka auf seinem Wagen mitfahren, um das Brot im Lager zu verteilen. »Das habe ich nie vergessen.«

Mitka schlief »mit wohl Hunderten anderen« in einem Raum. Nachts versuchte er, so gut es ging, warm zu bleiben. Eines Nachts, gegen Ende seiner Zeit im Pfaffenwald, wickelte er sein Bein um das Bein der Frau, die neben ihm lag. »Ich musste aufstehen, um mich zu erleichtern. Als ich zurückkam, bewegte sie sich nicht, und sie war kalt.« Er begriff, dass sie tot war.

Mitka erzählt von einer Frau, die sich ein wenig um ihn kümmerte und Jiddisch sprach. Sie sprach auch mit den Wachen, vielleicht als Dolmetscherin. Er glaubt, dass sie wusste, dass man ihn aus dem Lager holen würde. Eines Tages zog sie ihn zur Seite, spuckte auf ihre Hände, strich ihm das Haar glatt und sagte auf Jiddisch: »Sei gut, sei gut.«

Mitka muss lachen. »Meine Haare – stellt euch vor! Ich hatte in jenen Jahren Haare.«

Für den jungen Mitka sollte an diesem Tag ein neues Kapitel in seinem Leben beginnen. Ein Mann kam ins Lager, wählte ihn aus und nahm ihn mit in eine Stadt namens Rotenburg an der Fulda.23

»Und wenn dieser Nazi mich 1942 nicht da rausgeholt hätte, wäre ich in Hadamar umgebracht worden. Dieser Nazi hat es nicht getan, um mein Leben zu retten. Er wusste, dass ich Jude war. Er tat es, weil er einen kleinen Jungen brauchte.«

Gegen jede Wahrscheinlichkeit hatte der verwaiste, inzwischen siebenjährige Mitka vier Konzentrationslager der Nazis überlebt. Frei war er jedoch nicht.

3

Der eiserne Gustav

Rotenburg an der Fulda, Dezember 1942

Am Montag, den 14. 12. 1942, verließ Mitka Kalinski das »Geburts- und Sterbelager«, das Lager Pfaffenwald. Er war, wenn nicht der einzige, so doch einer der wenigen Überlebenden dieses Ortes des Todes. Wer in den Pfaffenwald kam, war dazu verdammt, dort zu sterben. Mitkas Todesurteil wurde aufgeschoben, aber wozu?

An diesem Montag ereigneten sich für den Jungen zwei wichtige Meilensteine. Erstens erhielt er einen Namen: Martin. Unter diesem Namen sollte er bis 1949 bekannt sein. Zweitens wurde ihm ein Geburtsdatum zugewiesen – der 14. Dezember 1932.24 Damit war er per Diktat genau zehn Jahre alt, nach damaligem deutschen Recht das Mindestalter für die Heranziehung zu Arbeitsdiensten. Zwei Fiktionen – ein Name und ein Geburtsdatum – bestimmten nun die Identität des Jungen.

Für Mitka war es ein Morgen wie jeder andere, bis ihn die jiddisch sprechende Frau zur Seite zog, sein Haar mit ihrer Spucke glättete und ihm sagte, er solle brav sein. Kurz darauf wurde er von zwei Männern abgeholt, die ihn durch den Lagerausgang aus dem Lager Pfaffenwald herausführten. Sie gingen, während Mitka ihnen folgte, zum Bahnhof von Asbach, demselben Bahnhof, an dem er einige Monate zuvor angekommen war.

Der Mann, der offensichtlich das Sagen hatte, ein Deutscher namens Gustav Dörr, ging voran, gefolgt von Eduard Gruschka, einem polnischen Kriegsgefangenen, der von Dörr als Hilfsarbeiter und Übersetzer beansprucht worden war. Gruschka, der Polnisch sprach, verständigte sich mit Mitka, da der Junge nur ein paar Brocken Deutsch verstand, die er in den Lagern aufgeschnappt hatte. Sie stiegen in den Zug und fuhren nach Rotenburg an der Fulda, eine kurze Fahrt von etwa 25 Kilometern. Auf dem Bahnhof in Rotenburg verließ Gruschka die Gruppe und Mitka ging mit Dörr über eine Brücke über die Fulda, dann durch das Stadtzentrum zu einem großen Haus in der Badegasse 14.

Ohne dass Mitka es wusste, war er von Gustav Dörr als Kinderarbeiter rekrutiert worden. Er kam in ein Haus auf Dörrs kleinen Bauernhof. In diesem Haus lebten Gustavs Eltern, Christian Georg Dörr und seine Frau, Gustavs Schwester Anna Dörr-Krause und ihr Lebensgefährte, Herr Holke, sowie Annas Tochter Rosemarie. (Das Haus von Gustav, seiner Frau Lisa und seiner Tochter Anni war nicht weit vom Bauernhaus entfernt.)

Als Mitka in seiner neuen Unterkunft ankam, war es schon spät am Tag, und er hatte Hunger – was für ihn nicht ungewöhnlich war. Als Allererstes, erinnert er sich, wurde er von Anna abgeschrubbt, und zwar so fest, dass es »wehtat« und Abschürfungen auf seiner Haut hinterließ. Jahre später bemerkte Gustav einmal, Mitka sei bei seiner Ankunft »verdreckt« gewesen. Mitka hält es für wahrscheinlich, dass er sich seit der Entlausungsdusche, die er bei seiner Ankunft in Dachau erhalten hatte, nicht mehr gewaschen hatte. »Sein Kopf wurde kahl geschoren und man nannte ihn ›Stoppelrusse‹, wie die anderen Fremdarbeiter.« 25 Man steckte ihn wieder in die schmutzigen Lumpen, die er getragen hatte, und er blieb barfuß. Da er nie Unterwäsche getragen hatte, trug er auch jetzt keine. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, was das war.

Der jetzt offiziell Zehnjährige, der in Wirklichkeit wahrscheinlich ein sechs- oder siebenjähriges Kind war, wurde ohne Essen und Wasser für die Nacht in ein Zimmer gesperrt.

Wie zu Beginn im Kinderheim in Bila Zerkwa, bei seiner Flucht durch die Wälder und Felder, beim Herauskriechen unter Leichen in Kiew oder der Fahrt in Viehwaggons in die Lager, sah sich Mitka auch jetzt mit Orten, Menschen und Erfahrungen konfrontiert, die für ihn völlig neu waren.

Die Stadt Rotenburg an der Fulda liegt an einer engen Stelle des Fuldatals in Hessen. Ihre Ursprünge gehen zurück auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Altstadt, in der Mitka nun leben sollte, schmiegt sich an das linke Ufer der Fulda. Die engen Kopfsteinpflastergassen sind von den typischen Fachwerkhäusern gesäumt. In der Nähe des Stadtzentrums erhebt sich eine Kirche aus rotem Stein.

Schon seit den Anfängen lebten in dem damals malerischen Dorf auch Juden.26 Zwischen 1731 und 1880 wuchs die jüdische Bevölkerung von 133 auf 390 Personen (12 Prozent der Bevölkerung Rotenburgs). Ihre Mitglieder errichteten 1738 eine Synagoge; 1924 wurde eine größere Synagoge gebaut und geweiht. Die kleine jüdische Bevölkerung wusste aus eigener Erfahrung, dass die Stadt nicht umsonst im Ruf eines virulenten und zuweilen gewalttätigen Antisemitismus stand. Ann Beaglehole beschreibt in ihrem Buch