Ich weiß, dass Gottes Plan perfekt ist - Johannes Holmer - E-Book

Ich weiß, dass Gottes Plan perfekt ist E-Book

Johannes Holmer

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Beschreibung

Lydia Holmer, eine junge Frau voller Lebensfreude und Liebe zu Gott und den Menschen, erhält die niederschmetternde Diagnose Krebs. In Ich weiß, dass Gottes Plan perfekt ist erzählen Eva-Maria und Johannes Holmer die bewegende Geschichte ihrer Tochter, die in allem die Handschrift Gottes erkannte und auch auf ihrem Leidensweg an Gott festhielt, bis sie schließlich mit nur 28 Jahren an ihrer Krankheit verstarb. Mit ihrem unerschütterlichen Glauben und ihrer anhaltenden Freude war sie vielen ein Vorbild, und ihre Geschichte inspiriert bis heute zahlreiche Menschen.

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Seitenzahl: 322

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Eva-Maria und Johannes Holmer

Ich weiß, dass Gottes Plan perfekt ist

Lydia – ein Leben voller Vertrauen

Best.-Nr. 275536 (E-Book)

ISBN 978-3-98963-536-4 (E-Book)

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/ Holzgerlingen.

Weiter wurden verwendet: EU: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

HFA: Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica US, Inc., Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

LUT: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

NIRV: New International Readers Version, © 1995, 1996, 1998 by International Bible Society®.

NIV: The Holy Bible, New International Version, © 1973, 1978, 1984, 2011 by Biblica, Inc.®

SLT: Bibeltext der Schlachter Bibelübersetzung. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.

Alle Rechte vorbehalten.

1. Auflage (E-Book)

© 2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg

[email protected]

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Umschlagmotiv und Bilder im Innenteil: © Familie Holmer

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gern kontaktieren: [email protected]

Inhalt

Markus Spieker über Lydia

Abschied von Puschel

Puschels Kindheit

Aidlingen

Eine ganz andere Schwester

Schweden

Aufbruch nach El Salvador

Eine andere Welt

Zurück in Deutschland

Ein schwerer Weg

Tag X

Nach der Operation

Puschel schreibt wieder

Ich liebe das Leben

Eine Reha, die keine ist

Atomteilchen in Heidelberg

Amerika – ich komme!

Ich werde nicht am Krebs sterben …

Freude

Und wenn es das Letzte ist …?

Nun auch das noch – Meningitis

Abschied

In großer Dankbarkeit gegenüber dem Herrn, der Lydia so sichtbar in seiner Hand gehalten hat.

Dankbar auch gegenüber denen, die über viele Jahre hinweg an Lydia gedacht und für sie gebetet haben.

Manche haben sie auch materiell unterstützt.

Viele haben uns geholfen, dieses Buchprojekt zu realisieren, haben uns Beiträge geschickt oder von Begegnungen erzählt.

Die meisten der vielen Freunde von Lydia konnten hier nicht namentlich genannt werden.

Im Gedenken an Maximilian, an Sigurd und an Monika, besondere Freunde, die schon in der Ewigkeit sind, sowie in der Fürbitte für die, die zurückgeblieben sind.

Markus Spieker über Lydia

Was macht einen Menschen groß?

Die Frage stelle ich mir oft, wenn ich über Persönlichkeiten des Zeitgeschehens berichte. Präsidenten, Kanzler, Minister oder sonstige Amts- und Würdenträger. Sie spielen auf der Bühne der Weltöffentlichkeit, dabei ist der Applaus zu Beginn meist stürmisch und die Buhrufe am Ende laut. Oft bleiben sie nur als geschichtliche Randnotizen im allgemeinen Gedächtnis, je nachdem, wie viel Gutes oder Böses sie bewirkt haben und was davon überhaupt Schlagzeilen gemacht hat.

Manche werden einwenden, dass die Frage falsch gestellt ist und es bei der Lebensbilanz nicht so sehr auf die historische Größe, sondern vielmehr auf das persönliche Glück ankommt. Gewonnen hat nach dieser Lesart nicht der mit den meisten Pokalen, sondern der mit den meisten Spielzeugen, derjenige, der viel Spaß gehabt hat, und das möglichst lange.

Bei beiden Fragen, denen nach Größe und Glück, schneidet Lydia nicht sonderlich gut ab. Sie war gemessen an den gängigen Erfolgsstandards ein kleines Licht, und das ging auch noch schnell aus.

Aber sie hat gestrahlt! Und wie! So kräftig, dass davon mir und allen, die sie kannten, jetzt und vermutlich immer warm ums Herz wird. So gesehen war Lydia ein Superstar. Eine Supernova. Eine Ausnahmeerscheinung. Weil ihr Leuchten nicht die Zufälligkeiten eines angenehmen Lebens reflektierte und auch nicht von innen kam und damit an den provisorischen Herzschlag gekoppelt war – sondern von Gott, der ihr Leben zum Überquellen vollmachte. Deshalb hatte sie recht, wenn sie ein paar Jahre vor der schrecklichen Krebsdiagnose schrieb: »Ich bin sehr gespannt, was Gott noch mit mir macht. Ich merke oft, dass Gott Dinge macht, die wir uns gar nicht hätten denken können. So ein Leben ist doch spannend.«

Lydia hat gestrahlt.

So leicht es mir im Nachhinein fällt, Lydias Leben sinnhaft in Gottes Heilsplan einzuordnen, so schwerfällt es mir, ihr teilweise unsägliches Leiden zu akzeptieren. Ich frage: War das wirklich nötig, Jesus? Wie kannst du zusehen, wie eine deiner treuesten Jüngerinnen so qualvoll von inneren Wucherungen zerfressen wird? Ich habe zwar selbst schon gepredigt, dass Gemeinschaft mit Jesus auch Leidensgemeinschaft bedeuten kann, aber in diesem konkreten Fall erscheint es einfach zu brutal.

Die Antwort auf die Frage nach den Gründen für Lydias gesundheitliche Tragödie werde ich erst im Himmel bekommen. Schon jetzt weiß ich: Der Krebs hat sie nicht besiegt, sondern sie zu einer ganz besonderen Schönheit werden lassen. Ich habe – und das schreibe ich ganz ohne journalistische Übertreibung – noch nie einen Menschen erlebt, der die christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung besser verkörpert hat als Lydia, trotz und gerade wegen ihres harten Schicksals. Wenn ich sie in Bülow besucht habe, ging von ihrem Zimmer eine größere Kraft aus als vom Kanzleramt. Und nach jedem Besuch war ich selbst der Beschenkte. Die Glaubensfestigkeit, die Zuversicht und die Freundlichkeit, die Lydia auf Krücken, im Rollstuhl oder im Krankenbett ausstrahlte, wirkt bei mir immer noch nach. Ich staune darüber, wie ein Geschöpf, das langsam seines Lebens beraubt wird, so vital erscheinen kann, so dankbar, so gütig. Nicht von ungefähr nannte sie ihren kleinen Hund »Grace«. Sie vertraute hartnäckig auf Gottes Barmherzigkeit und beschämte damit viele kerngesunde Christen, denen der Überfluss die Glaubenssubstanz weggespült hat. Sie begriff, dass Gottes Gnade sich nicht in oberflächlich heilen Umständen zeigt, sondern in der permanenten Erlösung von irdischer Begrenzt- und Verlorenheit.

Zweimal habe ich mit Lydia einen Gottesdienst in ihrer Heimatkirche erlebt: erst am Osterfest, dann ein Dreivierteljahr später bei ihrer Beerdigung. Es tröstet mich zu wissen, dass sie zwar gestorben, aber nicht tot ist und dass ich ihren blonden Lockenkopf und ihre feurig-fröhlichen Augen auf jeden Fall vor Ablauf dieses Jahrhunderts wiedersehen werde, wenn es bei mir nämlich selbst soweit ist mit dem Sterben.

Es geht ihr gerade prächtig.

Die Frage, ob Lydia ein großer Mensch war und ein glückliches Leben hatte, ist also falsch gestellt. Irdisches Glück gibt es nur für den Moment, und für Größe fehlt uns Menschen die richtige Maßeinheit. Fakt ist stattdessen: Lydia hat ein erfülltes Leben, und es geht ihr gerade prächtig. Den ersten Abschnitt ihrer biologisch befristeten und auf drei Dimensionen beschränkten Existenz hat sie mit Bravour absolviert. Sie hat ein Leuchten in die Welt gebracht, das alle TV-Scheinwerfer wie trübe Funzeln aussehen lässt.

Danke, Lydia, und danke, Jesus.

Markus Spieker

Ich werde eines Tages sterben, wie jeder von uns. Doch ich habe die Gewissheit, dass ich eine viel schönere »Welt« erleben werde. Jesus hat diese Hoffnung in mir verankert.

Lydia Holmer vor ihrem Tod

Abschied von Puschel

11. Februar 2012. Winterliches Licht fällt durch die Kirchenfenster auf die 350 feierlich gekleideten Menschen. Die sitzen dicht gedrängt in der kleinen Dorfkirche in Bülow am Malchiner See. Weil die Stühle nicht reichen, müssen viele im hinteren Bereich der Kirche stehen. Doch das stört sie nicht, sondern unterstreicht nur das Besondere dieses Gottesdienstes. In der Mitte der Kirche steht eine Kamera auf einem Stativ – aufgestellt für die, die den Gottesdienst live übers Internet in aller Welt verfolgen. Das sind am Ende mehr als 300.

Abschied von Puschel

Mancher aus unserem Dorf ist gekommen, viele auch aus der weitläufigen Kirchengemeinde. Und noch viel mehr sind aus aller Welt angereist: aus Schweden, Holland oder von dem weit entfernten Bodenseehof der Fackelträger.

Alle sind hier wegen Lydia, die nie gerne im Mittelpunkt stand. Die meisten von ihnen kennen sie nur unter dem Namen Puschel. Manche senken die Köpfe, andere schauen gedankenverloren auf den Sarg, ein paar haben ihren Blick auf das Foto von Puschel gerichtet, das neben dem Predigttext an die Wand projiziert ist. Auf dem Bild schaut Puschel glücklich in die Ferne, so, als blicke sie Gott direkt in die Augen, als hätten die beiden etwas Wichtiges zu bereden.

Unter den Trauergästen sind Grafen, Freiherren und Journalisten. Viele von ihnen haben Lydia über Jahre hinweg freundschaftlich und im Gebet begleitet. Und natürlich ist da auch Lydias weitläufige Verwandtschaft der »Holmer-Sippe«.

Als Pastor von Bülow begrüße ich die Trauergemeinde. »Wir sind hier nicht versammelt, um irgendeinen Personenkult um unsere Tochter zu betreiben, sondern weil wir in dieser Stunde Gott loben und für Lydia danken wollen.«

Der Prediger, Lydias Onkel Reinhard aus Elbingerode, spricht von Jesus, dem Hirten. »Niemand kann die Schafe aus der Hand des Vaters reißen, sagt er. Gott schenkt ewiges Leben.«

Lydia war reich. Sie hatte nicht viel Geld, aber sie war beschenkt von Gott. Sie ist seinen Weg gegangen mit einer Krankheit, die ihr zwar viel nahm, den Lebensmut und die Liebe zu Gott und ihren Mitmenschen jedoch nie. Puschel hatte Freunde in aller Welt, wie sie wohl nur die haben, die die große geistliche Familie des Vaters im Himmel kennen.

Nach dem Gottesdienst kommen viele mit zur Beisetzung in das dreißig Kilometer entfernte Serrahn. Dort ist Lydias Oma beerdigt, die ihr bereits 1995 in die Ewigkeit vorausgegangen ist. Damals hat Lydia als Zwölfjährige mit uns an ihrem Sterbebett gesessen.

Puschel wurde nur 28 Jahre alt. Und so steht bei dieser Abschiedsfeier, ausgesprochen oder auch nicht, die Frage im Raum: Gott, warum?

Nach der Beisetzung versammeln wir uns bei Kaffee und Kuchen zu einer Lob- und Dankstunde. Viele erzählen von ihren Begegnungen mit Puschel. Eine alte Frau aus unserem Dorf schildert, wie sie sich immer gefreut hat, wenn Puschel auf ihrem Quad angefahren kam und sie besuchte.

Tabea, eine von Puschels Cousinen, sagt: »Ich kannte Puschel schon, bevor sie so weise war. Sie war für jeden Spaß zu haben …« Einige der anderen Cousinen und Cousins stimmen sofort zu. Dann sind es Freunde von den »Fackelträgern« und sogar Mitpatienten aus der Krankheitszeit, die etwas sagen. Am Ende ergreift Puschels Pflegeschwester das Wort. Sie räuspert sich. Sie ist es nicht gewohnt, vor vielen Menschen zu sprechen. »Puschel hat mich beeindruckt, noch nie hat mir jemand Glaube, Liebe und Hoffnung so vorgelebt wie Puschel. Sie hat immer gesagt: ›Ich weiß, dass Gottes Plan perfekt ist.‹«

Let us fix our eyes on Jesus …

Seit diesem Ereignis ist mehr als ein Jahr vergangen. Lydia ist nach fünfjährigem Kampf nun in der ewigen Heimat.

Dieses Buch zu schreiben, ist schmerzlich und doch zugleich wunderbar. Während wir nach und nach die Texte lesen, die Puschel aufgeschrieben hat, werden wir immer wieder überrascht. Wir lernen von unserer eigenen Tochter. Zum Beispiel entdecken wir, dass Puschel schon beim Ausbruch ihrer Krankheit alles mit Gott besprochen hatte, was ihr Leben ausmachte. Wir entdecken, dass Gott Linien in ihr Leben hineingeschrieben hat, die für sie stets seine Linien waren.

Wir lernen von unserem Kind.

In den Jahren ihrer Krankheit erzählte Puschel jungen Menschen in Deutschland, Schweden und Amerika, dass Gott sie besonders in der Zeit auf der Bibelschule in Schweden und im Kinderheim in El Salvador auf die letzten fünf Jahre ihres Lebens vorbereitet hatte.

»Ich schaue jeden Tag mehr auf Details und freue mich über Kleinigkeiten«, sagt sie acht Monate vor ihrem Tod in einem Radio-interview. »Ich wusste es immer, aber ich habe nun erfahren, was trägt und was wirklich wichtig ist.

Das Erste ist, den Blick auf Gott zu behalten, denn ich habe gemerkt: Die Zeiten, in denen ich K. o. war und dachte ›Jesus, ich kann nicht mehr‹, waren Zeiten, in denen ich mich auf andere Dinge konzentriert habe – mehr als auf ihn. Wenn ich meinen Blick wieder auf ihn gerichtet habe, dann hat das mein Herz verändert und mich wieder fröhlich gemacht.«1

»Let us fix our eyes on Jesus, the author and perfecter of our faith.«2 steht auf einer Tafel an ihrem Grabstein.

Bevor Puschel 2006 nach El Salvador aufbrach, richteten wir eine Internetseite ein, damit sie ihre Freunde regelmäßig über ihre Arbeit in Mittelamerika informieren konnte. Auch später war dies für sie die beste Möglichkeit, mit ihren Freunden in Kontakt zu bleiben und über ihren Gesundheitszustand zu berichten. Daneben hatte sie jedoch auch ihre Tagebücher, die sie für sich persönlich und im Gespräch mit Gott niedergeschrieben hat. Gern hätten wir hier auch noch mehr Freunde zu Wort kommen lassen und ein paar Bilder mehr gezeigt, doch das hätte den Rahmen dieses Buchs gesprengt.

»Ich werde eine viel schönere ›Welt‹ erleben.«

Auf ihrer Internetseite schrieb sie an ihre Freunde:

Gott tut Wunder. Doch geht es um weit mehr als darum, mich auf diesem Planeten zu behalten. Ich werde eines Tages sterben, wie jeder von uns. Doch ich habe die Gewissheit, dass ich eine viel schönere »Welt« erleben werde.

Puschel war ein zutiefst dankbarer Mensch. Das konnten alle, die sie erlebten, immer wieder sehen. Für sie war etwas, was wir uns oft nicht bewusst machen, sehr klar: Gott baut in unser Leben viele Möglichkeiten ein, mit denen wir Tag für Tag leben, die aber immer nur Grund zur Dankbarkeit sein können, nie zu Stolz oder Hochmut. Es ist nicht nebensächlich, in welches Land, in welche Familie wir hineingeboren werden, welchen Menschen wir bereits in der Kindheit begegnen. Wir leben von den Entscheidungen anderer, besonders unserer Eltern, mehr, als wir ahnen. Wir können für die allermeisten Voraussetzungen in unserem Leben nichts. Darum war ihr die Dankbarkeit so wichtig.

Puschel war ein Mensch wie du und ich. Doch in allem »Normalen« waren Gott und die Menschen ihre Leidenschaft. Dies wird auf jeder Seite ihrer Tagebücher und Briefe sichtbar. Sie hat das alles gewiss nicht dafür geschrieben. Doch wir sind sicher, dass sie damit einverstanden wäre, dass wir hier Auszüge daraus wiedergeben.

Bülow, im Mai 2013

1Auszug aus einem Interview von ERF Medien. Geführt am 11.05.2011 in der Reihe Calando.

2Hebräer 12,2 (LUT): »Lasst uns aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und Vollender des Glaubens.«

Puschels Kindheit

1982. Wir befinden uns im Osten Deutschlands in der tiefsten DDR-Zeit. Vieles ist anders als das, was wir heute als normal empfinden. Ich habe mein erstes theologisches Examen in der Tasche. Ich werde Pastor. Meine Vikariatszeit in der Mecklenburgischen Landeskirche ist fast beendet. Da werde ich völlig überraschend zum Militär eingezogen. Das ist reine Schikane, denn die Politik der DDR-Führung will ihre Macht demonstrieren: Niemand soll sich auf irgendetwas einstellen oder verlassen können. Und so lande ich – mitten im zweiten theologischen Examen, die schriftliche Hausarbeit muss ich schnell und verkürzt zu Ende bringen – bei den Bausoldaten der DDR, dem damals möglichen Wehrersatzdienst. Ich bin irgendwie sauer, ein bisschen auch auf Gott – warum das alles?

Ende Mai 1983 ist Eva-Maria, meine Frau, hochschwanger. Ich möchte gern wie bei unserem ersten Kind, Titus, bei der Geburt dabei sein. Das scheint jetzt eher schwierig zu sein, denn ich bin mehr als hundert Kilometer entfernt stationiert. So warte ich in der Kaserne sehnsüchtig auf die Nachricht aus dem Klinikum in Wriezen, dass unser zweites Kind geboren wird. Doch die kommt nicht. Tage später erhalte ich einen Anruf von zu Hause mit der Frage, warum ich nicht zur Geburt gekommen sei. Es stellt sich heraus, dass uns ein kleines Mädchen geboren worden ist – Lydia.

Eva-Maria hatte zwar ein Telegramm geschickt, doch die Vorgesetzten in der Kaserne haben die Nachricht »Geburt im Anmarsch« einfach nicht weitergeleitet. Mir hätte ein Sonderurlaub von drei Tagen für die Geburt meines Kindes zugestanden.

Die neugeborene Lydia mit Schlappohr

So mischt sich in die Freude über das gesunde Töchterchen ein wenig der Ärger über die Gemeinheit des DDR-Systems. Ich schreibe daraufhin eine Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, und beschwere mich über diese Verfahrensweise. Das Ergebnis ist: Ich bekomme eine Woche Sonderurlaub. Offenbar hat Gott diese Gemeinheit gesehen – und ein bisschen ausgebügelt. So kann ich die Kleine und ihre Mutter nun zu Hause viel länger genießen.

Von unserer kleinen Lydia wird später manches Mal im Spaß gesagt, man habe sie auf dem »Babyberg« in Wriezen wohl vertauscht – das könne doch wohl nicht unsere Tochter sein. Denn sie entwickelt schon bald ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Stil. Die Gene ihrer Eltern sind jedoch unverkennbar – Puschel passt sehr gut in die »Holmer-Bülow-Sippe« hinein und ist sicher nicht vertauscht worden.

Sie entwickelt ihren eigenen Kopf.

Nach etwa einjähriger Zwischenstation in Jabel, in der Nähe von Waren/Müritz, ziehen wir nach Bülow am Malchiner See. Das Pfarrhaus steht auf einem wunderschönen Fleckchen Erde. Es ist ein großes, urwüchsiges Gelände direkt an diesem malerischen Natursee, dessen Nordufer in großen Teilen von Kirchenland gesäumt wird und deshalb sehr natürlich geblieben ist.

So wächst Lydia in diesem kleinen Dorf mit knapp 70 Einwohnern auf. Sie ist ein niedliches, kleines Mädchen, wie es sich wohl alle Mütter (und Väter natürlich!) wünschen. Ihre hellen Löckchen machen sie auf den ersten Blick zu einem kleinen Sonnenschein. Ihre Art ist frisch, sonnig und unbeschwert.

In den folgenden Jahren bekommt Lydia zwei weitere Geschwister, Esther und Silas. Dass vor Silas noch ein weiteres Schwesterchen während der Geburt stirbt, bekommt sie nur am Rande mit. Jedenfalls scheint es sie nicht besonders zu beschäftigen, dass Mama zwar lange einen dicken Bauch hatte, nun aber ohne ein neues Geschwisterchen wieder nach Hause kommt.3 Wir haben unseren Kindern die Traurigkeit und den Verlust nicht dramatisch vor Augen geführt. Und da sich Kinder oft viel schneller mit den Realitäten im Leben abfinden als Erwachsene, geht auch Puschel schnell wieder zu ihrer Tagesordnung über. Die meiste Zeit verbringt sie mit ihrem großen Bruder Titus; die beiden denken sich oft ihre eigenen Spiele aus und stromern gemeinsam übers Gelände. Lydia kann auch stundenlang irgendwo im Zimmer oder draußen im Gelände still für sich »herummuscheln«. Als sie ungefähr fünf Jahre alt ist und wir eines Tages Besuch haben, heißt es plötzlich: »Und das ist unsere Muschel-Puschel.« Dieser Spitzname, der dann zu »Puschel« wird, bürgert sich so ein, dass später viele Freunde und Bekannte Lydias richtigen Namen gar nicht kennen.

»Muschel-Puschel«

Bei Mami ist’s am schönsten. Lydia (1984)

Gern läuft mir Puschel, wenn ich im Gelände arbeite, überall hinterher, sie will helfen und alles mitmachen. Wir haben zu der Zeit bis zu 20 Schafe, die als »Rasenmäher« helfen sollen, das drei Hektar große wilde Areal urbar zu machen. Zudem ist die Wolle für mich als Pastor in der DDR mindestens ein zusätzliches Monatsgehalt pro Jahr wert. Zu Puschels großer Freude schwimmen in unserem Teich meist Enten, im Stall gibt es Kaninchen, Katzen stromern übers Gelände oder dösen irgendwo in der Sonne. »Muschel-Puschel« denkt sich Spiele mit ihren Tieren aus, hütet die Entenfamilien. Manchmal versucht sie, ein Lämmchen zu dressieren, oder füttert ein anderes mit der Flasche. Ein ganz besonderes Lamm ist Fridolin. Seine Mutter ist nach der Geburt gestorben. Und so bettelt Puschel regelrecht darum, es mit der Flasche aufziehen zu dürfen. Fridolin folgt ihr überallhin, später sogar zum Einkaufen. Und manchmal ist Fridolin sogar in ihrem Zimmer bei den Hausaufgaben dabei.

Mit Papa draußen im Gelände (1987)

Eines Tages ist Puschel wieder bei mir draußen und »hilft«, eine Ente zu schlachten. Für sie ist es eine normale Sache, dass für einen guten Braten ein Tier getötet werden muss – das Sterben gehört eben zum Leben dazu. So ist sie also auch dabei, als ich die tote Ente von den Federn befreie und anschließend die Innereien herausnehme. Puschelchen beobachtet jeden Schritt und sagt plötzlich: »Papa, darf ich auch mal?« So schaue ich amüsiert zu, wie ihr kurzer rechter Arm bis zur Schulter in der Ente verschwindet, um dieser den Schlund durch das Hinterteil zu ziehen. Für Puschel ist das kein Problem. Doch für mich ein Bild, das ich wohl nie vergessen werde.

So wächst Puschel in einer Bullerbü-ähnlichen Dorfidylle auf, in der es auch Kinderstreiche gibt. Wenn die Geschwister am Abend von ihren Abenteuern zurückkommen, ist es immer eine Frage der Abwägung, ob sie Mutti und Papa von ihren Erlebnissen erzählen. Puschel ist meist der Meinung, dass ihre Eltern nicht unbedingt alles wissen müssen. Oft ist sie es, die ihren großen Bruder Titus – sie verehrt ihn über die Maßen und schaut meistens zu ihm auf – zu irgendwelchen Streichen anstachelt. Sie selbst hat die meisten lustigen Ideen, aber eben nicht genug Kraft, sie zu verwirklichen.

Eines Tages, Puschel ist etwa sieben Jahre alt, heißt es in Bülow: Der Altpapiercontainer vor dem Dorf steht in Flammen. Er brennt tatsächlich tagelang und glüht am Ende völlig aus. Man munkelt im Dorf, die Pastorskinder seien beteiligt oder gar schuld daran. »Tante Holz«, die Leiterin des Konsums, eines kleinen Lebensmittelladens, den in der DDR-Zeit jedes Dorf hat, beteuert fest gegenüber allen, die ihr das auf diesem Meinungsumschlagsplatz des Dorfes erzählen: »Ich lege meine Hand für diese braven Kinder ins Feuer, die waren das nicht.« Die anderen Kinder vielleicht, aber Puschel und Titus? Niemals! Erst als ihr Puschel Jahre später erzählt, dass tatsächlich sie ihren großen Bruder angestachelt und selbst Schmiere gestanden hat, muss »Tante Holz« es glauben. Natürlich hat Puschel nicht gewollt, dass das Altpapier so lange brennt. Aber es ist ja auch kein Drama – jedenfalls für Puschel nicht. Für sie ist das Leben sowieso schön. Und da sollte man sich doch durch solche kleinen Pannen nicht irremachen lassen …

Daneben ist Puschel eine richtige Künstlerin! Schon in der Kindheit malt und zeichnet sie gern für Freunde und Verwandte Bilder auf Briefe und Karten. Diese Begabung hat sie sicher nicht von ihrem Vater geerbt – ihre Mutter ist die Künstlerin in der Familie.

Die schlimmsten Zeiten sind vorbei

Puschel lernt mit ihrem Bruder Titus nur noch kurz den realen Sozialismus der DDR kennen. Sie kommt im September 1989 in die Schule.

Mit großem Bruder Titus und kleiner Schwester Esther (1987)

Während jedoch ihr großer Bruder noch die gemeinen Seiten des Sozialismus am eigenen Leib zu spüren bekommt, trifft es sie nicht mehr so hart. Titus hat noch zum Eröffnungsappell des Schuljahres und zur Begrüßung der Schulanfänger allein auf dem Appellplatz seiner Klasse stehen bleiben müssen, während die anderen, viel »Klügeren«, nach vorn kommen durften, um ihre Gratulation und das Pionierhalstuch in Empfang zu nehmen.

Es ist Strategie der sozialistischen Pädagogik, die »Ewiggestrigen« hautnah spüren zu lassen, dass sie auf der falschen Seite stehen – alle sollen sehen, wie einsam und verlassen man ist, wenn man nicht mit der Zeit geht.

Die kleine Schwester Puschel hat es etwas leichter, weil die Zeit, mit der man noch ein Jahr zuvor gehen sollte, plötzlich ganz anders zu werden scheint und es ein paar Wochen später tatsächlich wird. Und so geht sie stolz mit ihrem großen Bruder Titus die drei Kilometer ins Nachbardorf zur Schule. Wenn das Wetter gut ist, fahren die beiden die schmale »KAP-Straße«4 von Bülow nach Schorssow mit ihren Fahrrädern. Manchmal nehmen sie auch den Bus. Wenn dann die Schule allerdings früher aus ist und der Bus nicht gleich fährt, laufen sie los – allein auf der Landstraße. Oft werden sie dann von vorbeifahrenden Treckern mitgenommen. Manchmal hat Papa auch einfach vergessen, sie von der Schule abzuholen. Aber das ist schon okay – er hat ja auch immer viel zu tun …

Mein Papa ist der Bürgermeister

1992 werde ich zum ersten frei gewählten Bürgermeister der umliegenden Dörfer gewählt, weil es dafür kaum Kandidaten gibt, die von der DDR-Zeit her nicht vorbelastet sind. »Mein Papa ist der Bürgermeister«, erzählt Puschel stolz allen, die es (nicht) wissen wollen. So ändern sich die Zeiten – auch für »Pastors Kinder«.

In diesen Tagen taucht Puschels Opa eine Zeit lang auf den Titelseiten großer Zeitungen und Magazine in Deutschland auf, weil er dem Staatschef der DDR, Erich Honecker, in seinem Haus Asyl gegeben hat. Das ist für die kleinen Enkelkinder zwar ein Grund, ein wenig stolz zu ihrem Opa aufzublicken. Doch Opa ist eben Opa. Und der ist ja zu allen lieb und barmherzig. Und so ist das nicht wirklich etwas Besonderes – jedenfalls in ihren Augen nicht. Außerdem ist Honecker für sie schon viel zu weit weg …

Puschels Opa ist in der Zeitung.

Unsere Kinder werden in die Großfamilie Holmer mit am Ende mehr als 50 Enkeln hineingeboren. Lydia betrachtet das stets als Geschenk Gottes. Titus ist der älteste Junge unter allen Cousins der Holmer-Sippe und Puschel die erste von allen Cousinen. Ich selbst habe neun Geschwister und Eva-Maria vier. Manche von ihnen haben bis zu acht eigene Kinder. So wird jedes Familientreffen zu einer lustigen Angelegenheit. Je älter die Cousins und Cousinen werden, desto bunter wird es.

Die Tiere müssen auch im Winter versorgt werden. Familie Holmer beim Heumachen

Ihr Opa, den nicht nur Puschel bewundert und liebt, veranstaltet ab 1999 jedes Jahr eine sogenannte Enkelkinderfreizeit, zuerst in Bülow, dann in Serrahn, wo er zu Hause ist. Da treffen sich dann alle Enkelkinder von Opa Holmer, dessen größtes Anliegen es ist, dass sie seine jahrzehntealte Liebe zu Jesus kennenlernen und selbst Kinder Gottes werden. An diesen Enkelkinderwochen kann Puschel zwar nicht jedes Mal teilnehmen, doch sie liebt es, so viele Cousins und Cousinen wie möglich auf einmal zu sehen. Und es macht ihr Freude, etwas von Opas Glaubens- und Lebensweisheiten zu hören und dadurch Gott immer besser kennenzulernen. Obwohl Lydia ungern vor einer größeren Menschenmenge redet, folgt sie, als sie später so schwer krank ist, gern Opas Bitte, allen etwas aus ihrem Leben mit Jesus zu erzählen.

Enkelkinderfreizeit 2005 – Opa Holmer liebt es, all die Seinen um sich zu haben.

Ronja Räubertochter

Ihre Cousins und Cousinen wissen, dass sie keine Heilige ist und gerne Streiche ausheckt, trotzdem hören sie ihr aufmerksam zu.

Puschels Cousinen Reinhild, Almut und Magdalena schreiben:

Puschel war eine Art Ronja Räubertochter. Sie war frei, raufte ebenbürtig mit ihren Brüdern und Cousins, fuhr schon als Teenie Trabbi und amüsierte sich laufend über uns ahnungslose »Großstadtkinder« (schließlich kamen wir aus einer Stadt mit 7 000 Einwohnern!). Für uns war sie wie Pippi Langstrumpf – stark, unabhängig, bester Freund der Tiere, und sie hatte immer einen Haufen Blödsinn im Kopf. Wir waren Tommy und Annika. Sie zeigte uns, wie man Regeln bricht (natürlich, ohne erwischt zu werden), Heu macht, auf einem Pferd oder Esel reitet – oder wie interessant eine Gruft sein kann. Doch wie man einen Apfel mit bloßen Händen in zwei Teile bricht – das blieb trotz ihrer Erklärungsversuche immer ihr Geheimnis. Denn das schafften nicht einmal alle Jungs …

Eine Entscheidung fürs Leben

Für Puschel ist die Kirchengemeinde ein Teil ihrer Heimat. Als sie mit uns nach Bülow zog, gab es dort keine Gemeinde. 1984 fanden wir allenfalls bauliche und geistliche Trümmer vor. Fast 15 Jahre lang war dort kein Pastor gewesen, und der Kirchenvorstand hatte sich aufgelöst. Nur in einer der vier Kirchen gab es im Sommer einige Gottesdienste. So muss alles neu begonnen und aufgebaut werden. Puschel wird mit ihren Geschwistern Teil dieses Aufbaus. Sie bringen ihre Freunde und Schulkameraden in die Gemeinde mit, die Arbeit beginnt.

Puschel als Schulkind (1991)

Für Puschel selbst vollzieht sich der Anfang ihres eigenen Glaubens recht still. Sie redet nie groß darüber, dass sie mit neun Jahren ihr Leben Jesus geschenkt hat. Sie selbst sagt dazu später in einem Interview:

»Als ich neun Jahre alt war, lag ich in meinem Bett und habe Jesus mein Leben gegeben, habe gesagt: ›Okay, ich hab hier so viel von dir gehört und es scheint wichtig zu sein, dass ich dir sage, dass mein Leben dir gehört.‹ Und über die Jahre ist auch der Wunsch gewachsen, dass ich hundert Prozent für ihn leben möchte. Mit dem Versprechen habe ich ihm aber auch das Versprechen gegeben, dass er mit meinem Leben alles machen kann und darf … Es ist seine Sache, was er damit macht.«5

In ihr Tagebuch schreibt sie:

Gott kann man sich anvertrauen! Er führt und leitet mich auf oft wunderliche, aber doch wunderbare Weise! Als neunjähriges Mädchen habe ich mich abends im Bett Gott anvertraut. Doch langsam merke ich, dass man mit Gott nie auslernen kann.

In der Dorfschule ist Lydia eher eine graue Maus, aber nachmittags zu Hause hüpft sie fröhlich durch den Garten, denkt sich Spiele aus, malt und zeichnet, erkundet das friedliche Dorf und streift über die Wiesen. Durch eine Familie, die nach der politischen Wende in Deutschland aus dem Westen in unser Dorf umgesiedelt ist, lernt sie Pferde, das Reiten und das Leben mit großen Tieren kennen. Mit ihren Freundinnen Giesela und deren beiden Töchtern Konstanze und Lucia, die ihre beste Freundin im Dorf wird, reitet sie oft aus. Die weiten Ausritte, die kindlichen Streiche, das ruhige Leben im Dorf geben ihr eine große Ausgeglichenheit.

Gott kann man sich anvertrauen.

In Puschel wächst der feste Wunsch, Pferdewirtin zu werden. Sie macht ein Praktikum in einem größeren Pferdezuchtbetrieb und ist am Ende der Schulzeit sicher: Ich möchte mit Tieren arbeiten. So bewirbt sie sich, wartet und hofft. Doch sie erhält nur Absagen. So steht sie plötzlich vor der Frage. Was nun?

3Später allerdings erzählt uns ihre Freundin Eva, dass Puschel damit noch in Zeiten der Ausbildung zur Kinderkrankenschwester innerlich beschäftigt war.

4KAP war die »Kooperative Abteilung Pflanzenproduktion« – von den meisten Menschen bis zuletzt jedoch als LPG, Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft, bezeichnet.

5Auszug aus einem Interview von ERF Medien. Geführt am 11.05.2011 in der Reihe Calando.

Aidlingen

Anders als erträumt

Nachdem sich Puschels Wunsch, Pferdewirtin zu werden, zerschlagen hat, fragt ihr Opa eines Tages: »Wie wäre es mit Aidlingen?« In Aidlingen, im fernen Süden Deutschlands, befindet sich das Mutterhaus der Aidlinger Diakonissen, die dort unter anderem berufliche Orientierung für junge Frauen anbieten. Opa findet es wichtig, dass seine Enkel »etwas Ordentliches« lernen. Am liebsten wäre es ihm, vor allem im Blick auf seine älteste Enkeltochter, wenn sie gut vorbereitet eine Familie gründen würden. Geldverdienen und Karriere hält er zwar nicht für alles entscheidend, aber gut ist es allemal. Vor allem Familie und Kindererziehung sind der wichtigste Dienst an den Kindern selbst und an der Gesellschaft. Studieren ist zwar nicht schlecht, doch meist kommen die jungen Frauen dann in den Zugzwang, Karriere zu machen – wozu studiert man sonst? Kinder sind meist das Letzte, was dann zum Glück noch fehlt.

Doch nicht nur Opa schlägt Aidlingen vor, auch wir Eltern können dem etwas Gutes abgewinnen. Es wäre für unser 16-jähriges Mädchen vom Lande sicher nicht schlecht, Erfahrungen mit gleichaltrigen Christen zu machen. Und der Schutz eines Mutterhauses ist hilfreich, um nach und nach selbstständig zu werden.

Puschel in der Aidlinger Zeit

Natürlich kann Puschel selbst entscheiden, was sie tun möchte. Das Thema Haushalt hat sie aber noch nie interessiert. Ihr Ordnungssinn, um es vorsichtig auszudrücken, ist nicht besonders ausgeprägt. Sie müsste ihre Freiheit, die Natur und ihre Tiere eine Zeit lang aufgeben. Doch alle machen ihr Mut, dorthin zu gehen. Außerdem will Tabsi, eine Freundin aus der Nachbargemeinde, sie begleiten. Tabsi möchte in Aidlingen eine dreijährige Ausbildung machen. Für Puschel reicht das Vorstellungsvermögen allenfalls für ein Jahr, also für ein Hauswirtschaftspraktikum.

Wir können nicht wirklich sagen, wie sehr sie in dieser Zeit von Heimweh geplagt wird und sich durchbeißen muss. Die Diakonissen können sich wahrscheinlich am wenigsten vorstellen, wie stark sich das lebenslustige Dorfmädel aus Bülow, das doch eigentlich Pferdewirtin werden wollte, umstellen muss.

Sie kämpft sich durch – und findet Freude daran. Im Nachhinein schreibt sie über diese Zeit:

Gott hat mich 1999 durch meinen Opa nach Aidlingen geführt, wo ich erst richtig lernen konnte, mit Christen in Kontakt zu sein. Ich werde selbstständig. Gott hat mir bei allen Entscheidungen innere Ruhe gegeben. Gott hat mir auch liebe Eltern gegeben, die mir geholfen haben, dies alles durchzustehen. Ich habe es noch vor Augen, als ich mit der Bahn noch in Mecklenburg war, schon da überkam mich Heimweh. Ich habe überlegt, wie schön es ist, hier eine Heimat zu haben. Mir kam dann der Bibelvers in den Sinn: »Sagt Gott, was ihr braucht, und dankt ihm.«6 Und das tat ich dann auch. Denn es gibt Tausende Menschen, denen es viel schlechter geht als mir.

Puschel macht das Beste aus allem. Und das bedeutet für sie, die Dinge so zu nehmen, wie sie sind, und sich gleichzeitig so viel wie möglich an ihnen zu erfreuen. Die feste Einbindung in die Regeln eines Mutterhauses akzeptiert sie zwar, aber so ein bisschen wird man sich ja wohl seine eigenen Freiheiten herausnehmen können … Ihre Freundin Tabsi aus Mecklenburg schildert:

Puschel macht das Beste aus allem.

Zu unseren Aufgaben gehörte das Singen im Jugendchor. In den Übungsstunden suchten wir uns unsere Plätze immer möglichst nebeneinander. Dass Puschel extrem gut aufpasste, kann man nicht sagen … Während der »superlangweiligen« Erklärungen, die zwischendurch zwangsläufig immer wieder anstanden, drehte sie die Notenblätter einfach um und malte dann Porträts unserer beiden Chorschwestern Christel und Annette. Ich traute meinen Augen kaum, als ich beim Entstehen dieser Bilder zusah. Sie traf mit einfachen Bleistiftstrichen deren Eigenarten punktgenau. Ich war mit diesen beiden Schwestern schon bald etwas enger befreundet und zeigte ihnen nach der Chorstunde Puschels Meisterwerk. Sie waren so beeindruckt, dass Puschel ganz plötzlich die Aufgabe bekam, Kulissen für die Kindermusicals zu malen.

Puschel genießt die Zeit mit den anderen Mädchen sehr. Einige stammen aus Nachbarorten und genießen darum ein paar Sonderrechte. Als im sieben Kilometer entfernten Gärtringen ein Jugendabend stattfindet, lässt sich Puschel nicht lange bitten mitzukommen, obwohl das für sie nicht erlaubt ist. Bei diesem einen Abend aber bleibt es nicht. Und es entstehen Freundschaften zu einer Reihe von Jugendlichen, natürlich auch zu Jungs (auwei – und das vom Mutterhaus aus!), die Lydias Leben prägen.

Irgendwann sind wir Eltern in Aidlingen zu Besuch bei Puschel. Wir erleben die Freundlichkeit und Gastfreundschaft des Mutterhauses und freuen uns, dass unser ostdeutsches Dorfmädchen gut in die geistliche Gemeinschaft eingebunden ist. Wir laufen gerade durch das Mutterhaus, als wir Puschel bei der Arbeit begegnen. Sie hat die Aufgabe, eine große, breite Marmortreppe zu putzen. Allerdings ist auch vor der Reinigung schon alles sauber, jedenfalls in Puschels Augen. Da ist es doch gar nicht einzusehen, dass man sich für eine so sinnlose Arbeit auch noch krumm macht. Also steht Puschel da, hält sich fröhlich am Geländer fest und hat den Wischlappen unter ihren Füßen, die sie ein wenig hin und her schiebt. Sie freut sich, uns zu sehen, und erklärt auf die Frage, was sie denn da gerade mache: »Na ja, ich mache sauber, aber ich mach das halt auf meine Weise.«

Hier lernt sie auch Myri kennen, die eigentlich Myriam heißt, etwas älter ist und sie als Freundin bis zum Ende ihres Lebens begleitet. Myri hat die Texte von manchen der Musicals, die in Aidlingen und Umgebung mit den Kinder- und Jugendchören aufgeführt werden, geschrieben. Für einige der Musicals malt Puschel dann Kulissen für die Bühne. All das ist für sie nicht selbstverständlich. Ihre Freundin Myri schreibt über diese Zeit des Kennenlernens und der ersten Begegnungen:

Zwei Mecklenburgerinnen in Schwaben – Tabsi und Puschel

Als Puschel nach Süddeutschland kam, war sie sehr geprägt von ihrer kleinen Welt in Bülow. Jeder, der sie kennenlernte, hörte von ihrem Papa und ihrer Mutti, von ihren Tieren und der Natur in Mecklenburg. Schon damals freute sie sich immer, wenn sie helfen konnte. Und so ließ sie oft den in die Gespräche einfließen, von dem sie diese Leidenschaft hatte: ihren Papa. Manchmal dachte ich, jeder zweite Satz beginnt mit »Papa …«, »Mutti …« oder »In Mecklenburg …«. Sie war einfach noch das kleine Mädchen vom Lande, das ihr Dorf und ihre Familie über alles liebte. Und das sollte sich auch nicht ändern – bis auf das Detail mit dem »kleinen Mädchen«. Das hat Gott über die Jahre so ziemlich in jeder Hinsicht verändert. War Puschel zu Beginn unserer Freundschaft jemand, der gerne überall mitmachte, doch nie die Führung übernahm, lernte sie über die Jahre, Gruppen anzuleiten, zu organisieren und Initiative zu ergreifen. Nie hätte ich gedacht, dass Puschel jemals vor einer Gruppe von Menschen reden, niemals, dass sie etwas schriftlich verfassen würde, was andere lesen könnten. All das tat sie Jahre später immer wieder – stets mit dem einen Ziel: Menschen herauszufordern, Gott mehr zu vertrauen. Puschel war keine Schriftstellerin, keine Akademikerin und keine großartige Rednerin. Ihr Herz war einfach auf Gott ausgerichtet. Sie liebte ihn so sehr, dass sie kompromisslos verfolgte, was ihm am Herzen lag: Menschen. Das ließ sie Dinge tun, die sie sich selbst niemals zugetraut hätte, als sie mit 17 Jahren Aidlingen verließ.

Meine erste Begegnung mit Puschel war nicht einmal physischer Art. Ich hörte nur von »Puschel«, die als Praktikantin bei den Hauswirtschafterinnen ist und super zeichnen kann. Da wir gerade ein Musical fertig geschrieben hatten, zeichnete sie ein Bild, das als Vorlage für das Werbeplakat zu den Aufführungen dienen sollte. Darunter hatte man geschrieben: Zeichnung: Lydia Holmer. Ich weiß noch, wie ich ganz verwirrt fragte: »Aber das Bild ist doch von Puschel!?«

Mit ihrer Freundin Myriam (2001)

Puschel ließ sich nicht gerne den Spaß verderben, denn Spaß war doch das Wichtigste … Ihr Lieblingsspruch war lange: »Gott hat dir ein Gesicht gegeben. Lachen musst du selbst.« So unkompliziert wie möglich – das war Puschel am liebsten. Eigentlich war nichts wirklich ein Problem für sie. Und: Es war ein hartes Stück Arbeit, sie davon zu überzeugen, dass »Jungsklamotten« nicht wirklich hübsch an Mädchen sind und dass das Benutzen von Wimperntusche einen nicht gleich zum Modepüppchen macht …«

Am Ende ihres Jahrespraktikums ringt Puschel sich durch, im Süden zu bleiben und eine Ausbildung in einem Krankenhaus der Aidlinger Schwestern zu machen. Doch auf ihre Bewerbung hin wird ihr gesagt, sie habe doch ein recht mangelhaftes Sozialverhalten. Das ist wohl die Quittung von einer Schwester, die für Puschels Sondertouren nach Gärtringen in den Jugendkreis wenig Verständnis aufbringen konnte … Puschel bekommt eine Absage. Doch wenn es auch im ersten Moment eine Enttäuschung ist, stürzt es sie nicht in eine Krise. Sie wendet sich der Zukunft zu. In ihrem Tagebuch schreibt sie:

… so langsam kam dann der Sommer, und jeder fragte mich, was ich danach machen wollte. Myri hatte mich nach Herrenberg zum Eisessen eingeladen. Wir bekamen plötzlich einen Anruf von Schwester Anne, die ich durch Schwester Christel kannte … Sie bot mir an, für ein halbes Jahr im Korntaler Kinderheim zu arbeiten, in dem sie die Leitung hatte. Und sie machte auch den Vorschlag, im Altenheim vorbeizuschauen. So machte ich das von November bis Januar/Februar. In dieser Zeit konnte ich eine Freundschaft zu Myri aufbauen und ab und zu Lara und Co.7 treffen. Schwester Anne gab mir den Tipp, mich im Kinderkrankenhaus »Olga-Hospital« zu bewerben. Ich tat es und bekam prompt eine Einladung zum Auswahlverfahren. Da ich so etwas noch nie gemacht hatte, bekam ich etwas Angst. Doch ich bat Gott, dass er mir Ruhe gibt. Im Januar konnte ich dann die Ruhe spüren. Und in dem ganzen Verfahren merkte ich, dass Gott da war.

Irgendwie habe ich in der ganzen Zeit gedacht, dass dies mein Platz sein könnte, denn auf dem Briefbogen waren Tiere von Noah … Und da ich gerade mit Schwester Christel und Myri das Musical »Aktion Arche« mit Kinderchor, Spielern und »Pro2«8