Ich wollte Liebe und lernte hassen! - Fritz Mertens - E-Book

Ich wollte Liebe und lernte hassen! E-Book

Fritz Mertens

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Beschreibung

Fritz Mertens hat zwei Menschen ermordet. Um die Frage nach dem Strafmaß zu beantworten, soll er seinen Lebenslauf niederschreiben. Sein Bericht ist das bewegende Dokument eines kollektiven Versagens: eine Kindheit, gekennzeichnet durch Krankheit und Misshandlung, die Suche nach Verständnis und die immer wieder darauf folgende Enttäuschung. Ein Buch über das sensible Terrain des kindlichen Gemüts, auf dem wir uns mit aller Vorsicht bewegen müssen.

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Seitenzahl: 446

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Fritz Mertens

Ich wollte Liebe und lernte hassen!

Ein Lebensbericht

Mit einem Vorwort von Reinhart Lempp

Diogenes

{5}Dieses Buch wurde nur geschrieben, da mich mein Jugendpsychiater gebeten hatte, meine Lebensgeschichte niederzuschreiben.

Der Gutachter, also mein Jugendpsychiater, musste für mich ein Gutachten erstellen, da ich zwei Menschen getötet habe. Nur deshalb ist dieses Buch entstanden. F.M.

{7}Vorwort

Im Sommer 1983 erhielt ich als gerichtlicher Sachverständiger von einer Staatsanwaltschaft, wie schon oft, ein dickes Aktenpaket zugesandt mit dem Auf‌trag, einen jungen Mann namens Fritz Mertens – er heißt eigentlich anders, diesen Namen hatte er später selbst gewählt –, gerade 20 Jahre alt, zu untersuchen und über ihn ein Gutachten zu erstellen.

 

Als ich Fritz Mertens dann im Gefängnis in dem kleinen Arbeitszimmer des Sozialarbeiters – einer ehemaligen Zelle – gegenübersaß, war der große, kräftige junge Mann recht zurückhaltend und eher misstrauisch. Wie sollte es auch anders sein. Er kannte mich nicht, und bisher hatte er von öffentlichen Ämtern und Dienststellen und ihren Inhabern wohl noch nie persönliches Wohlwollen erfahren, und auch ich musste ihm sagen, dass ich Arzt des Gerichtes und nicht sein Arzt sei. Auch ließen die Situation und die Aufgabe der Begutachtung weder Zeit noch Raum für einen wirklich persönlichen Kontakt. Dennoch wirkte er beim zweiten und dritten Mal gar nicht mehr wie der harte und resigniert abweisende Mann, sondern eher wie ein sehr trauriger Junge, der einen Erwachsenen sucht, dem er vertrauen kann, auch wenn der »einsame Wolf«, als der er sich fühlte, immer wieder dazwischen hervortrat. Als er von seinem Leben und {8}seiner Kindheit berichten sollte, deutete er mir vielerlei an, es kam bruchstückweise und unzusammenhängend, wie aus einem mühsam zusammengehaltenen, unter Druck stehenden Gefäß, wo es mal da, mal da herausquillt. Er wollte erzählen, wusste aber nicht, wo anfangen, wo aufhören, so als lohne es sich gleichsam gar nicht erst, damit zu beginnen, als wäre er sich nicht sicher, ob er eigentlich etwas sagen solle oder lieber doch nicht. Ich drang nicht weiter in ihn. Schließlich geht es bei so einem Gutachten nur um die Beantwortung ganz konkreter Fragen, und dafür wusste ich bald genug. Aber ich sagte schließlich beim Weggehen, er solle doch einmal aufschreiben, was er aus seiner Kindheit noch wisse.

 

Einen Monat später schrieb er mir: »Ich möchte Ihnen nur mitteilen, dass ich jetzt angefangen habe, meine Lebensgeschichte zu schreiben. Es ist zwar nicht ganz einfach, aber ich versuche es trotzdem. Sie wird alles enthalten, was ich in meinem Leben von Geburt an mitgemacht habe, was die Familie betrifft, und meine Gefühle. Sie haben mich damals in Tübingen darum gebeten, und ich werde Ihnen Ihren Wunsch erfüllen, da ich zu Ihnen Vertrauen habe und ich glaube, dass Sie die Geschichte vor Gericht nicht so in den Dreck ziehen, so wie es andere täten … Da die Geschichte sehr umfangreich ist, und ich erst 34 Seiten zusammenhabe, wird es noch ein oder zwei Monate dauern, bis ich sie beendet habe. Die Namen sind fast alle geändert, aber sonst entspricht alles der Wahrheit …«

 

{9}Und nach zwei weiteren Monaten kam dann zu meiner Überraschung mit einem Brief ein umfangreiches Manuskript, über 500 handgeschriebene Seiten, denen anzumerken war, dass es für den Schreiber ungewohnt war, sich auszudrücken und dies niederzuschreiben. Im Brief stand: »… Ich habe das Ganze wie ein Buch geschrieben, da ich es besser so fand und es auch verständlicher ist. Es muss noch viel ausgebessert und geändert werden … Dann werde ich das Buch an einen Verlag schicken, denn ich möchte es veröffentlichen lassen. Wenn Sie mir dabei helfen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar …«

 

Ich kenne viele sogenannte Lebensläufe Jugendlicher, die sich mehr oder weniger mager an ihren äußeren Lebensdaten entlanghangeln und über das eigene Erleben so gut wie nichts enthalten. In dieser Erwartung ging ich zunächst auch an die Lektüre dieses Berichts heran. Anfangs noch etwas steif und holperig, dann aber von Seite zu Seite flüssiger geschrieben, sah ich mich bald gefangen genommen von der Ursprünglichkeit und Offenheit, vor allem aber vom Gewicht des kindlichen, jungenhaften Erlebens, wie da geschildert wird, wie ein Junge zwischen Hoffnung und sich immer wiederholender Enttäuschung hin- und hergerissen wird, wie er Verständnis sucht und abgewiesen wird, immer wieder, immer noch einmal. Alle diese Erfahrungen haben sich bei ihm offenbar eingekerbt in seiner Erinnerung, so dass er sie dem Erleben entsprechend wiedergeben konnte, ja wohl musste, um nicht daran zu ersticken.

 

{10}Da Fritz Mertens mich gebeten hatte, ihm zu helfen, den Bericht zu einem Buch zu machen, zeigte ich ihn einer erfahrenen Lektorin, die mir bestätigte, dass er unbedingt veröffentlicht werden sollte. Ich wandte mich an den mir bekannten Verlag und schrieb vorsichtig und anfragend. Offenbar war man dort wider Erwarten überrascht, gefangen und erschüttert. Ich selbst kenne keinen so spontanen, unmittelbaren, aus echter, eindeutiger Erinnerung heraus geschriebenen Bericht über die jahrelange Suche und Enttäuschung eines Kindes, die sein ganzes junges Leben bestimmten, bis zur Tat. Ihr fielen zwei Menschen zum Opfer, aus dem Augenblick heraus, aus einer Situation, aus der sie alle den richtigen Ausweg nicht finden konnten. Inzwischen hat die Hauptverhandlung vor der Jugendkammer eines Landgerichtes stattgefunden. Die Mutter war geladen, aber nicht erschienen. Sie machte von ihrem Zeugenverweigerungsrecht Gebrauch. Aber die Großmutter war da und berichtete. Und was dabei vom Leben des Jungen zur Sprache kam, jedes Mal bestätigte sie das, was der Bericht geschildert hatte, von dessen Existenz sie nichts weiß. Es war offenbar alles so, wie Fritz Mertens dies hier geschildert hat.

 

Das Gericht hat sich alles angehört, ausführlich, geduldig. Fritz Mertens selbst machte nicht viel Worte. Der Bericht lag dem Gericht nicht vor, und ich habe nur das Grundsätzliche aufzeigen können. Das Gericht musste ihn zu einer langen Jugendstrafe verurteilen. Fritz Mertens hatte damit gerechnet.

 

{11}Eines ist mir wieder deutlich geworden: Es ist nicht unser Verdienst, wenn wir nicht straf‌fällig werden, wenn wir in unserem Leben niemanden durch unsere Schuld töten.

 

Reinhart Lempp

Da der vorliegende Bericht möglichst in seiner authentischen Form belassen werden sollte, wurden vom Verlag lediglich orthographische Fehler korrigiert sowie ganz behutsam der Text, wenn das Verständnis nicht gewährleistet war.

{13}Am 15.6.1963 bin ich geboren worden, nicht im Krankenhaus, sondern zu Hause auf dem Sofa. So hat man es mir erzählt. Also ich bin Fritz und versuche hier meine Lebensgeschichte zu erzählen, und das, was ich noch so alles von mir gehört habe, aber ich mich nicht daran erinnern kann, da ich noch zu klein war.

Nachdem mein Vater gehört hat, dass er einen Sohn bekommen hat, ist er bei uns in Villingen durch die Brigach geschwommen, ein kleiner Fluss in der Stadt und nicht gerade der sauberste. Vier Wochen nach meiner Geburt soll ich in ein Säuglingsheim gekommen sein, was ich heute nicht gerade als Nächstenliebe gegenüber seinem Kind empfinde. Wann ich da wieder rausgekommen bin, weiß ich nicht, und das hat mir auch keiner aus der Verwandtschaft bis heute erzählt. Also mein Vater hat mich dann wieder aus dem Säuglingsheim geholt, obwohl meine Mutter dagegen gewesen sein soll. Danach sind wir irgendwann nach Würzburg gezogen, wo meine zwei Brüder Ralf und Uwe zur Welt gekommen sind. Ralf ist zwei Jahre jünger als ich, und Uwe drei Jahre, was ich sehr amüsant finde, wenn ich sie heute ansehe. Danach sind wir wieder nach Villingen gezogen, da mein Vater hier bei den Aluminiumwerken eine Stelle als Gießer gefunden hat und sein eigener Vater, {14}also mein Großvater, auch dort arbeitet, und der Verdienst nicht schlecht sein soll. Wir haben sogar eine Dreizimmerwohnung vom Aluminiumwerk bekommen, und die Miete soll auch nicht besonders hoch gewesen sein. Ach was ich noch vergessen habe. In Würzburg waren mein Bruder Ralf und ich auch noch einmal im Heim, woran ich mich nicht erinnern kann. Also mein Vater ging dann im Aluminiumwerk arbeiten, und meine Mutter führte den Haushalt, bis es ihr zu dumm gewesen sein muss, und sie wieder als Kellnerin arbeiten ging, was meinem Vater nicht gerade gefallen haben muss. Da mein Vater ein sauberes Zuhause gewöhnt ist und immer sein warmes Essen, wenn er nach Hause kam, und das nicht mehr der Fall war, seit meine Mutter arbeitete, gab es zu Hause ab und zu von meinem Vater ein paar ganz gewaltige Wutausbrüche. Da er seine Wut nicht an den Kindern, also an uns, auslassen konnte, weil wir noch zu klein waren, griff er halt immer öfters zur Flasche, das heißt: er hat sich heimlich oft sinnlos besoffen, und wenn dann meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, muss es sogar manchmal zu handfesten Auseinandersetzungen gekommen sein.

Mein Vater muss dann auf kurz oder lang mal ausgezogen sein, zu seinen Eltern, die natürlich meine Mutter von Anfang an nicht ausstehen konnten, da sie keine Zeugin Jehovas war. Da sie am laufenden Band auf meiner Mutter rumgehackt haben, beschloss mein Vater, dort wieder auszuziehen und zu uns zurückzukommen, da er ja meine Mutter liebte und er ja auch noch Kinder hatte, das muss ihm so nebenbei mal eingefallen sein. Kurze Zeit darauf hatte ich auf einmal sogar ein Schwesterchen, das Daniela {15}heißt, und acht Jahre jünger ist als ich. Ach was ich auch noch vergessen habe, das erste Schuljahr musste ich wiederholen, da mich meine Mutter aus der Schule genommen hat, mit der Begründung, ich sei dumm. Wenn mir das damals einer erzählt hätte, hätte ich es sogar geglaubt, denn meine Mutter hat es ja oft genug zu mir gesagt. So, nun kommen meine Erinnerungen. Meine Mutter ging kurz nach der Geburt von Daniela wieder arbeiten, da das Geld nicht langen täte und wir jetzt ein Sechs-Personen-Haushalt wären. In der Zeit, als sie arbeiten war, versorgte ich Daniela, machte die Wohnung sauber und kümmerte mich um meine zwei kleinen Brüder. Es war nicht immer gerade angenehm, meine kleine Schwester trockenzulegen, aber auf sie aufpassen hat mir Spaß gemacht. Mein Tagesablauf zu der Zeit war ganz einfach: Nach der Schule musste ich mich um die Geschwister kümmern, da meine Mutter ja erst nachmittags arbeiten gegangen ist; dann die Wohnung aufräumen, und ab und zu sogar das Abendessen warm machen, wenn mein Vater nicht rechtzeitig von der Arbeit nach Hause gekommen ist. Eines Tages verspürte ich starke Schmerzen in der Hüfte, genau am Hüftgelenk, und als ich es meiner Mutter sagte, da meinte sie, dass es schon wieder weggehen würde, und ich solle nicht so wehleidig sein. Aber die Schmerzen hörten nicht auf. Meine Mutter ging weiter arbeiten, und mein Vater griff wieder öfters zur Flasche, da er irgendwelche Sorgen mit meiner Mutter hatte. Eines Abends hatten sie einen barbarischen Streit, wobei meine Mutter eine Ohrfeige eingefangen hat, da mein Vater besoffen war und sich nicht mehr beherrschen konnte. Als mein Vater eingeschlafen war in seinem Vollrausch, {16}griff meine Mutter zu Schlaf‌tabletten. Sie wollte sich kurz entschlossen einfach umbringen, nur weil sie eine Ohrfeige bekommen hatte.

Als sie dann ins Kinderzimmer kam, mit einer Haribotüte in der Hand, was sehr selten vorkam um diese Uhrzeit, ist mir noch nichts aufgefallen an ihr. Erst als sie vor meinem Bett zusammengebrochen ist, erfasste mich eine lähmende Angst, die ich heute noch nicht beschreiben kann. Nachdem ich meinen ersten Schock überwunden hatte, kniete ich mich neben meine Mutter und versuchte sie wachzurütteln, was mir natürlich nicht gelang. Kurz entschlossen rannte ich ins Wohnzimmer, wo mein Vater auf dem Sofa schlief und unüberhörbar schnarchte. Ich versuchte ihn wachzurütteln, was mir ebenfalls nicht gelang, da ihm der Alkohol zu stark ins Gehirn gestiegen sein muss. Dann vernahm ich das Weinen meiner Geschwister, und ich ging zurück ins Kinderzimmer, dort zog ich Hose und Hemd und Schuhe an, so schnell ich konnte. Meine Hüfte schmerzte, trotzdem beschloss ich, zu meinen Großeltern zu laufen, was eine Entfernung von ungefähr 3 km war. Unterwegs fing ich an zu weinen, ich konnte es nicht zurückhalten, erstens wegen meiner Mutter, und weil die Schmerzen in meiner Hüfte durch das Rennen mittlerweile unerträglich wurden. Als ich dann gegen elf Uhr bei den Großeltern vor der Türe war und Sturm läutete, war ich erschöpft und konnte fast nicht mehr sprechen. Ich versuchte meinen Großeltern klarzumachen, dass meine Mutter sterben müsse, wenn sie keinen Krankenwagen rufen täten. Am Anfang haben sie mir nicht geglaubt, aber nach ein paar Minuten kam es ihnen doch spanisch vor, dass ich um diese Zeit bei ihnen {17}auf‌tauchte. Sie fuhren mit mir dann in die Wohnung zurück, und als sie die Bescherung gesehen hatten, ging alles sehr schnell. Der Krankenwagen kam und transportierte meine Mutter ab. Ich fing wieder an zu schluchzen, und auf einmal stand mein Vater vor mir, es war mir rätselhaft, wie er wach geworden ist, aber er fragte mich drohend, warum ich ihn nicht geweckt hätte. Darauf erwiderte ich, dass ich ihn geweckt habe, er aber nicht aufgestanden sei, sondern sich nur rumgedreht und weitergeschlafen habe. Wir fuhren zum Krankenhaus und erfuhren dort, als sich meine Großeltern erkundigt hatten, dass meine Mutter überleben würde und bald wieder gesund sei.

Auf einmal überfiel mich eine merkwürdige Müdigkeit, aber ich konnte nicht schlafen, weder im Auto noch zu Hause im Bett. Irgendwie war ich ein klein wenig stolz auf mich selber, meine Mutter gerettet zu haben. Nach drei Tagen war meine Mutter wieder zu Hause, und sie war überrascht, dass die Großeltern sich um uns gekümmert hatten, da mein Vater ja arbeiten musste. Auf jeden Fall war die ganze Familie froh, dass unsere Mutter wieder zu Hause war. Ich sagte ihr, das darfst du nie wieder machen, und sie antwortete mir, es wäre besser gewesen, wenn sie gestorben wäre. Auf einmal hatte ich wieder dieselbe Angst, dass sie es noch einmal tun könnte. Aber sie tat es nicht mehr an diesem Tag und auch am nächsten nicht, mir kam es vor, als wenn sich meine Eltern jetzt besser vertragen täten. Meine Schmerzen in der Hüfte hatte ich immer noch, und als ich meinen Vater und meine Mutter darauf ansprach, nahmen sie keine Notiz davon.

 

{18}Das Leben ging bei uns weiter wie gewohnt, nur dass meine Mutter nicht mehr arbeitete und den ganzen Tag zu Hause war. Eines Tages war mein Vater mal wieder stinkbesoffen, als er nach Hause kam. Es gab Streit, und mein Vater warf meiner Mutter eine Blumenvase nach, die an der Wand zerschellte, danach wollte er ihr einen Stuhl nachwerfen, aber beherrschte sich noch im letzten Moment und stellte ihn auf den Boden zurück. Warum sie sich immer öfters gestritten haben, wusste ich nicht und habe es bis heute nicht erfahren, und ich werde es auch jetzt nicht mehr erfahren. Eines Tages kam mein Vater zu mir und fragte, warum ich nicht richtig laufen täte, ich sagte ihm, dass ich Schmerzen in der Hüfte hätte. Er glaubte mir nicht, denn er war wieder unter Alkoholeinfluss, und sagte, ich soll mal im Korridor auf und ab laufen und wenn ich wieder hinken würde, würde er mir eine scheuern. Ich fasste meinen ganzen Mut zusammen und lief im Flur einmal auf und ab. Auf einmal spürte ich einen brennenden Schmerz in meinem Gesicht, mein Vater hatte mir wirklich eine geklebt, und er sagte zu mir, ich soll mich nicht wie ein Krüppel anstellen und es noch mal versuchen. Ich fing nicht an zu weinen, im Gegenteil, ich biss meine Zähne zusammen und ging den Flur auf und ab, und jedes Mal wenn ich wieder vor meinem Vater stand, habe ich eine Ohrfeige bekommen. Mir tat das ganze Gesicht weh, da mein Vater nicht gerade schwach gebaut war, aber ich hatte immer noch keine Tränen in den Augen. Dann kam meine Mutter dazwischen, und ich stürzte in ihre Arme und fing an zu weinen. Eines weiß ich ganz genau: Mit diesen Schlägen, die mir mein Vater an diesem Tag gegeben hatte, hatte er mir für immer eine Angst {19}eingeflößt, und ich habe immer versucht, einen Bogen um ihn zu machen, wenn er besoffen war. Seit diesem Tage hielt ich bombenfest zu meiner Mutter.

 

Die Schmerzen in meiner Hüfte ließen nicht nach, und als ich immer stärker hinkte, ging meine Mutter mit mir zu unserem Hausarzt. Der wiederum konnte nichts machen und schickte uns zu einem Spezialisten. Wir mussten lange im Wartezimmer sitzen, bis wir drankamen, aber schließlich war es so weit und wir wurden aufgerufen. Ich hatte ein klein wenig Angst bekommen, als ich den Arzt sah. Als wir dann ins Behandlungszimmer gingen, und ich die ganzen Spritzen und Instrumente sah, fühlte ich mich gleich besser und wollte wieder nach Hause. Meine Mutter meinte darauf, dass wir jetzt schon hier wären, und meine Hüfte endlich untersucht wird, und dass nicht gekniffen wird. Also begann die Untersuchung, und der Arzt fing an, an mir herumzuklopfen, was mir überhaupt nicht passte. Kurz darauf sagte er zu mir, dass er meine Hüfte mal fotografieren wolle, und ich hatte nichts dagegen und musste mich auf einen merkwürdigen metallenen Tisch legen. Erst ein paar Jahre später erfuhr ich, dass man mich geröntgt hatte. Nach dieser merkwürdigen Methode zu fotografieren, also für mich merkwürdig, durf‌te ich mich wieder anziehen, und meine Mutter und ich mussten im Wartezimmer warten. Nach einer halben Stunde wurden wir vom Arzt ins Behandlungszimmer gerufen, und er erklärte meiner Mutter irgendwas, was ich nicht verstand, denn solche Fremdwörter hatte ich mein Leben lang noch nicht gehört. Aber eins verstand ich, nämlich dass wir in zwei Tagen wieder {20}hier erscheinen müssen, was mir natürlich gar nicht behagte, denn ich hatte für heute genug vom Arzt und seiner Fotografiererei. Zwei Tage später saßen wir wieder in dem kleinen, nach Arzt riechenden Wartezimmer, und ich hatte ein ungutes Gefühl im Magen, dass heute noch irgendwas passieren würde, und das Gefühl blieb, bis ich ins Behandlungszimmer ging, denn dort vergaß ich es vor lauter Aufregung. Der Arzt befahl mir, dass ich mich ausziehen und auf eine merkwürdige Art von Werkbank legen sollte. Es lagen eine Menge weißer Rollen herum, auch in einem Eimer mit Wasser lagen ein paar weiße Rollen, und noch allerhand anderes Gerümpel. Der Arzt meinte zu mir, er würde mich eingipsen, und ich war damit einverstanden, wenn es nicht weh täte. Daraufhin gipste mich der Arzt ein, und als er mit der ganzen Sache fertig war und ich sein Werk betrachtete, war ich weniger begeistert, denn mein ganzes linkes Bein und mein halbes rechtes Bein vom Knie ab aufwärts lagen im Gips bis zu meinem Bauchnabel. Das Einzige, was frei war, war mein Pimmel und ein Stück vom Hintern, damit ich meine Geschäfte nicht in den Gips machen musste, was mich natürlich ungemein beruhigte. Auf einmal bekam ich Tränen in den Augen, und ich wusste nicht einmal warum. Meine Mutter stand neben mir mit bekümmertem Gesicht und versuchte mich zu trösten, was ihr auch nach langem Hin und Her und vielen Versprechungen gelang. Kurz darauf, nachdem der Gips richtig hart war, kamen zwei Sanitäter in weißen Kitteln und mit einer Tragbahre zu mir an die ärztliche Werkbank und grinsten mich an, mir gelang es zurückzugrinsen, und ich fragte mich, was die nun von mir wollten. Sie legten mich dann zu zweit auf die Tragbahre {21}und deckten mich sorgfältig zu, wahrscheinlich damit ich mich nicht erkälte, was ja sowieso nicht mehr ging, da ich in eine ungeheure Gipsmenge verpackt war. Die zwei hoben darauf die Tragbahre an und brachten mich zwei Etagen tiefer auf die Straße und hievten mich in einen Krankenwagen. Als ich nun im Krankenwagen lag, gesellte sich meine Mutter zu mir und einer der Sanitäter, die Türen des Wagens schlossen sich. Ich hatte auf einmal gar keine Angst mehr, im Gegenteil, ich verspürte auf einmal einen kleinen Stolz in mir, dass ich bestimmt der Erste war von unserer Schulklasse, der in einem Krankenwagen mitgefahren ist. Ich dachte, ich komme jetzt ins Krankenhaus, so wie es auch in Fernsehfilmen immer ist, wenn ein Krankenwagen auf‌taucht. Umso überraschter war ich, als der Wagen dann vor unserer eigenen Haustür hielt und die Türen wieder aufschwangen. Die Sanitäter trugen mich in unser Kinderzimmer, das wir zu dritt teilten, und legten mich auf mein Bett, und ich fühlte auf einmal in mir eine beglückende Seligkeit, dass ich wieder zu Hause war und nicht im Krankenhaus, wo alles so fremd sein würde und ich bestimmt ganz allein wäre. Als ich mich dann bei den Sanitätern bedankt hatte, genauso wie meine Mutter es gemacht hatte, verließen die Sanitäter uns, und wir waren alleine im Zimmer zurückgeblieben. Meine Mutter hatte irgendwie ein besorgtes Gesicht, und ich wollte den Versuch machen sie aufzumuntern, was mir aber nicht gelang. Auf einmal verspürte ich das dringende Gefühl nach menschlichen Bedürfnissen, und sagte es meiner Mutter. Ich war mir also echt nicht im Klaren, wie ich die erledigen sollte, und war überrascht, als meine Mutter mit einem Topf (Bettpfanne) {22}und einer Flasche zu mir hereinkam. Sie erzählte mir, sie habe das alles schon im Voraus gekauft und dass es in der Beziehung keine Schwierigkeiten gäbe. Sie schob mir die Pfanne untern Hintern und hängte meinen Pimmel in diese komische Flasche, dabei genierte ich mich und lief rot an im Gesicht. Das erkannte meine Mutter sofort und meinte, ich brauchte mich nicht zu schämen, und ließ mich allein, damit ich mein Geschäft erledigen konnte. Als ich fertig war, musste ich sie wieder rufen, denn ich konnte ja nicht ewig auf dem Topf liegen bleiben, denn es fing langsam an zu stinken, und selber saubermachen, also den Hintern abwischen, konnte ich nun ja auch nicht. Als sie fertig war mit mir, und ich jetzt so total vergipst in meinem Bett lag, überkam mich eine hundsgemeine Müdigkeit, und ich schlief in wenigen Minuten fest ein.

Als ich wieder erwachte, saßen meine beiden kleinen Brüder neben mir und fragten mich, warum mich der Onkel Doktor einbetoniert hätte, worauf ich ihnen keine Antwort geben konnte. Als sie dann meinen Gips bewundert hatten, widmeten sie sich wieder ihrem Spiel, und ihre Neugier war befriedigt.

Am Abend kam dann der Vater von der Arbeit. Er kam zu mir ins Zimmer, und als ihm Mutter alles erklärt hatte, sagte er, wieso so eine verdammte Scheiße gerade unsere Familie treffen müsse. Er schaute meinen Gips an, und nach einer Weile fragte er, ob ich Fernsehen schauen wolle; ich bejahte seine Frage, und er trug mich ins Wohnzimmer vor den Fernsehapparat. Ich wartete die ganze Zeit, dass er sich für die Ohrfeigen entschuldigte, aber er tat es nicht, und so breitete sich in mir eine große Enttäuschung aus, denn ich {23}konnte doch nichts dafür, dass ich krank wurde. Ich sagte auch nichts mehr und stierte auf die Glotze, wie meine Mutter das Fernsehen nannte, und ich es mittlerweile von ihr übernommen hatte. Meine Mutter sagte dann zu mir, dass ich in diesem Gips fast zwei Monate liegen müsse, und dann fahren wir wieder zum Arzt, und er macht mir den Gips ab. So vergingen dann diese verdammten zwei Monate mit dauerndem auf dem Rücken Liegen, da ich mich ja nur ein kleines Stück aufsetzen konnte. Mein Freund kam fast jeden Tag vorbei und brachte mir die Hausaufgaben aus der Schule mit, damit ich nicht verblöden täte, hat er gemeint. Ich versuchte sie so gut wie möglich zu erfüllen und freute mich täglich darauf, dass mein Freund wiederkommen würde, aber nach drei Wochen kam er nicht mehr regelmäßig, und nach fünf Wochen kam er überhaupt nicht mehr.

So vergingen fast zwei Monate, eines Tages kamen dann wieder zwei Sanitäter, und es war wirklich eine Freude, als ich sie sah, denn ich dachte, dass ich heute meinen Gips loswerde. Der Krankenwagen brachte mich wieder zu dem Knochenspezialisten, und sie legten mich wieder bei ihm auf seine elegante Werkbank, wie ich es immer nannte. Er kam zu mir, also der Arzt, und gab mir freundlich die Hand und sagte zu mir, dass er mich jetzt aus dem Gipsbett sägen wolle. Als ich das Wort raussägen hörte, bekam ich einen wahnsinnigen Bammel, und mir lief gleich der Schweiß die Stirn runter. Der Arzt kam auch gleich mit der Säge, es war ein kleines Ding. Als er die Säge ansetzte, da dachte ich nur noch, dass er mir jetzt den Fuß absägen wird, aber das geschah nicht. Innerhalb kurzer Zeit hatte er die Gipsschale so sorgfältig ausgesägt, dass er sie nur noch wie {24}eine Dose öffnen brauchte. Als er die Gipsschale öffnete, war ich fast zu Tode erschrocken, denn mein linkes Bein war viel dünner als mein rechtes, und als ich es anwinkeln wollte, durchzuckte mich ein wahnsinniger Schmerz, und der Arzt drückte mich gleich wieder in die Horizontallage. Er sagte nur, dass das Bein sich erst wieder daran gewöhnen müsse, und außerdem müsse er mich erst röntgen und nachschauen, ob meine Hüfte in Ordnung ist. Also wurde ich wieder auf den Fototisch verfrachtet und ließ mich mal wieder von neuem fotografieren, was mir auch nichts ausmachte, da es ja nicht weh tat. Nach einer Weile trugen mich seine Arztgehilfen wieder auf die noble Werkbank, und der Arzt kam zu mir herein und sagte in einem traurigen Ton zu mir, dass er mich noch mal eingipsen müsse, da die Hüfte noch nicht in Ordnung sei. In mir brach meine ganze Hoffnung zusammen, und ich bekam Tränen in den Augen, die mir auch ein paar Minuten später die Wange runterliefen. Auf einmal konnte ich den Arzt nicht mehr sehen, am liebsten hätte ich ihn verhauen, aber dazu war ich zu klein, und außerdem hätte meine Mutter etwas dagegen gehabt, und so beschränkte ich mich darauf, gar nichts zu tun und zu sagen, sondern mit mir alles geschehen zu lassen. Mir war in diesem Moment alles egal, und wenn der Arzt mich umgebracht hätte, wäre mir das gerade recht gewesen. Leider hat er mir keine Betäubung gegeben, als er mich eingipste, und so wurde mein Zorn von Gipsbinde zu Gipsbinde größer, so dass ich zum Schluss, besser gesagt fast zum Schluss, dem Arzt nur ein Wort ins Gesicht brüllte, nämlich Kinderquäler, worauf mir meine Mutter gleich mit der flachen Hand über mein loses Mundwerk {25}fuhr. Ich fing an zu schluchzen und beruhigte mich erst im Krankenwagen auf dem Weg nach Hause, auf dieser elenden rumtragbaren Pritsche. Na ja, der Arzt hat gemeint, dass ich in vielleicht sechs Wochen den Gips losbekäme, aber ich wusste jetzt schon, dass er mich anlog, und ich redete mir schon selber ein, dass ich nie wieder laufen könnte und ewig ein Krüppel bleiben werde, der immer im Gips und in seinem Bett liegen muss.

Ich verfluchte den schneeweißen neuen Gips und den Arzt. Mir kamen die Tage endlos vor, und ich wurde von Tag zu Tag nervöser. Nichts passierte, jeden Tag derselbe Trott, und wenn Verwandte oder Bekannte kamen, bemitleideten sie mich so, dass ich sie, also die Besucher, ab und zu sogar anpflaumte. Meine Mutter fand das zwar gar nicht gut, glaube ich, denn ich sah es an ihrem Gesicht, und sie brauchte mir gar nichts zu sagen. Ich glaube, sie verstand mich aber in der Beziehung, und deswegen sagte sie auch nichts.

Eines Tages aber gab es wirklich Ramba Zamba in der Bude, und ich wurde da genauso in Mitleidenschaft gezogen wie meine Brüder.

Meine Brüder kamen von draußen, also vom Spielen nach Hause. Als sie im Kinderzimmer waren, stellte Mutter fest, dass sie irgendwie blass aussehen täten, und so betrachtete sie meine Brüder genauer.

Sie fing an zu schnuppern und stellte fest, dass sie nach Zigarettenrauch stänken. Sie meinte, sie sollen sie mal anhauchen, was die zwei ehrfürchtig machten, worauf Mutter auch zornrot anlief und die zwei hysterisch anschrie und von ihnen wissen wollte, ob sie geraucht hätten, wobei {26}die zwei gleich mit einem lauten Ja antworteten und gar nicht den Versuch gemacht hatten, sie anzulügen. Mutter schrie, jetzt setze es eine Tracht Prügel, und die zwei Kleinen fingen gleich an zu weinen. Meine Mutter ging ins Schlafzimmer und kam mit einem breiten Hosengürtel von meinem Vater zurück, und wir Brüder wussten alle drei, was die Stunde geschlagen hatte. Sie nahm den Gürtel doppelt und forderte meine Brüder auf, sich über den Stuhl zu legen, was sie auch taten und dabei weinten, als hätten sie die Tracht Prügel schon hinter sich. Meine Mutter schlug zu, immer auf die Hintern meiner Brüder und immer abwechselnd, und das Geschrei meiner Brüder wurde immer lauter, bis ich es nicht mehr hören konnte und Mutter anschrie, sie solle endlich aufhören, das sei genug. Sie drehte sich um, hob den Gürtel blitzschnell und zog ihn mir quer durchs Gesicht über den Mund. Ich spürte auf einmal den stechenden Schmerz in meinem Gesicht und spürte das leicht süßliche Blut in meinem Mund, aber ich war zu keinem Wort mehr fähig, sondern nur noch überrascht. Sie zielte noch zwei Schläge über die Hintern meiner Brüder ab und hörte dann auf zu schlagen. Darauf drehte sie sich zu mir und sagte, sie bestrafe ihre Kinder, wie sie wolle, und ich habe dabei die Schnauze zu halten, und beim nächsten Mal bleibt es nicht bei einem Schlag, dann tät ich die Hucke vollkriegen, dass ich mindestens zehn Tage meinen Arsch nicht mehr spüren täte. Ich nickte nur und war tödlich beleidigt und habe mir geschworen, nicht mehr mit ihr zu sprechen, was ich natürlich nicht gehalten habe, denn nach einer Stunde musste ich unbedingt, und ich musste sie rufen und bitten, damit sie mir hilft.

{27}Die Tage vergingen, und meine Langeweile wurde immer größer, und so fing ich an zu malen, was meine Mutter für eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung hielt. Aber eines Tages fand sie es nicht mehr so sinnvoll, nämlich als ich aus Versehen das Tuschfläschchen umgestoßen habe und die ganze Tusche ins Bett gelaufen ist.

Ich rief meine Mutter und wollte ihr das schonend beibringen, was mir aber nicht gelang. Sie schrie mich an, nachdem sie den riesigen Tuschfleck im Bett gesehen hatte. »Du dämlicher Krüppel, wie hast du das wieder fertiggebracht, du bist ja zu nichts fähig«, und gab mir dann ein paar schallende Ohrfeigen und nahm mir mein Malzeug weg, und sagte: »Ab jetzt ist Schluss mit dem Unsinn.« Ich erwiderte gar nichts, sondern blieb reglos im Bett liegen und versuchte die Ohrfeigen zu vergessen. Am Abend kam dann Pappa nach Hause, setzte sich neben mein Bett und fragte, was ich denn da heute angestellt habe? Also wusste ich gleich, dass Mutter es ihm gesagt hat, das mit dem Tuschfleck. Ich sagte Pappa alles, was passiert ist, und verschwieg dabei bewusst die Ohrfeigen. Pappa meinte, das sei doch gar nicht so schlimm und strich mir sanft übers Haar und lächelte mich an, dabei kniff er ein Auge zu, und ich wusste, dass es so gemeint war, wie er es sagte. Ab diesem Tage war die Welt zwischen Pappa und mir wieder in Ordnung. Darauf trug er mich ins Wohnzimmer, und wir schauten Fernsehen, wobei er eingenickt war. Als ich dann abends im Bett war und nicht einschlafen konnte, hörte ich laute Stimmen aus dem Wohnzimmer und versuchte darauf, angestrengt zu lauschen. Die Stimmen waren unverkennbar, es waren Mutti und Pappa, sie stritten mal {28}wieder, bloß machten sie immer einen Fehler, sie ließen aus Versehen wahrscheinlich die Tür einen Spaltbreit auf. Um was sie stritten, habe ich nicht mitbekommen, aber ich bekam plötzlich einen merkwürdigen Kloß im Hals, und mir kamen die verrücktesten Gedanken. Was ist, wenn Mutti wieder Schlaf‌tabletten schluckt, es ist ja keiner da, der ihr diesmal helfen kann, oder wenn Pappa sie schlägt, was soll ich da tun. Oder wenn einer von beiden davonläuft, sind wir ja alleine. Mir kamen Tränen, aber kurz darauf muss ich auch schon eingeschlafen sein, denn der ganze Tag hat mich angestrengt, und das Fernsehen hat wahrscheinlich seinen Rest dazu beigetragen.

Am nächsten Morgen schien der Tag wieder in Ordnung zu sein, als ich aufwachte. Ich hörte das mittlerweile vertraute Geschirrklappern, und meine Geschwister, die schon am frühen Morgen herumtollten. Ich hatte, gleich als ich aufwachte, an den gestrigen Abend gedacht, und meinte, es sei wieder alles in Ordnung.

Mutti kam mit dem Frühstück ins Zimmer, und ich wünschte ihr einen guten Morgen, aber sie erwiderte nichts, sondern drehte sich um und ging wieder aus dem Zimmer. Das machte mich natürlich stutzig, und ich fragte: »Mutti, was ist denn heute los mit dir?« – »Lass mich in Ruhe, wegen dir habe ich schon genug Ärger am Hals, und das von gestern Abend werd ich dir so schnell nicht vergessen«, und darauf ging sie aus dem Zimmer.

Ich starrte auf das Frühstück und hatte auf einmal keinen Hunger mehr. Ich fragte mich, was ich gestern Abend nur angestellt haben mochte, und mir fiel nichts ein, ich habe doch nur Fernseh geschaut und bin dann später, als Pappa {29}aufwachte, von ihm ins Bett zurückgetragen worden. Ich überlegte und überlegte, aber ich kam nicht auf des Rätsels Lösung. Aber dass ich noch darauf kommen sollte, stellte sich genau eine halbe Stunde später raus.

Mutti kam ins Zimmer, um wahrscheinlich das Frühstücksgeschirr zu holen, aber ich habe das Frühstück gar nicht angerührt, und so stand es noch genau wie vorher auf dem Tischchen neben dem Bett.

Sie schaute mich an und dann auf das nicht angerührte Frühstück. Dann sagte sie zu mir in einem ganz gehässigen Ton: »Bin ich dir nicht gut genug, um das Frühstück zu machen, oder muss es dir ab jetzt dein Vater machen, dem erzählst du ja sowieso alles, was ich mache, das hat sich ja gestern mit der Tusche mal wieder gezeigt. Du bist ja sowieso sein Lieblingssohn, aber ich werde dir noch helfen und zeigen, wie dein Vater ist.«

Ich lag mit geöffnetem Mund im Bett und wusste nicht genau, was ich sagen sollte, und als ich sie fragen wollte, ob sie deswegen, also wegen der Tusche, gestern Abend gestritten hätten, sagte sie, bevor ich noch zu Wort kam: »Das was ich dir jetzt gesagt habe, kannst du ihm ja heute Abend gleich wieder erzählen, dann kannst du dich heute Abend freuen, wenn wir uns wieder streiten wegen dir, ich erzähle es dir dann, damit du dich freuen kannst über deine Hetzerei.« Das war alles, sie drehte sich auf dem Absatz herum und verließ das Zimmer, mit dem unangerührten Frühstück. So, jetzt weiß ich endlich, warum sie gestritten haben, aber jetzt war mir überhaupt nicht mehr wohl in meiner Haut, denn ich wusste nicht mehr, was ich machen sollte. Warum haben die zwei jetzt bloß so ein Theater {30}gemacht, ich habe doch Pappa die Ohrfeigen verschwiegen. Na ja, nach langem Überlegen bin ich dann dazu gekommen, dass ich Pappa mit solchen Sachen nicht mehr unterhalte, damit erstens Mutti und Pappa nicht mehr streiten, und zweitens ich dann hinterher keinen Ärger mehr habe mit Mutti. Ich lag den ganzen Vormittag im Zimmer, ohne dass Mutti mal nach mir geschaut hätte. Als sie dann das Mittagessen brachte, sprach sie kein Wort mit mir und zog eine Miene dahin, dass ich es für besser fand, lieber auch nichts zu sagen, außer wenn ich was brauchte, und Bitte und Danke, das war auch wirklich alles, was gesprochen wurde.

Am Abend kam Pappa nach Hause und fragte mich, wie es mir geht, und ich versicherte ihm, dass es mir gutgeht. Als dann noch Mutti ins Zimmer kam, war sie auf einmal freundlich, und sprach wieder mit mir, und ich dachte schon, ihr Zorn sei verflogen, was sich dann am nächsten Tag als falsch rausstellte. Am nächsten Morgen war sie genauso grimmig wie am Tag vorher, und das trieb mich manchmal fast zur Verzweif‌lung. Am Tage, wenn Pappa nicht da war, war sie grimmig, und abends, wenn er da war, war sie die freundlichste und hilfsbereiteste Person, die es überhaupt auf der Welt gibt. Das ging fast zwei Wochen so, und mittlerweile stellte ich fest, dass meine Mutter so falsch sein kann, wie die Nacht dunkel ist. Als sich ihr Zorn wieder gelegt hatte, war ich echt froh, und hatte wieder eine Lektion dazugelernt.

Trotzdem ich Pappa nichts mehr erzählte von unseren Streitigkeiten, oder besser gesagt Muttis Angriffen »auf Pappas Liebling«, also mich, stritten sie noch, und {31}manchmal hatte ich regelrecht Angst, es sei wegen mir, obwohl ich nie mehr in dieser Beziehung etwas zu Pappa gesagt hatte, und außerdem hatte ich Angst, dass Mutti sich noch mal etwas antun könnte. So vergingen die letzten Wochen, und ich sollte wieder zum Arzt in die Stadt fahren, natürlich mit dem Krankenwagen. Ich sehnte mich so nach dem Tag, dass ich mir das Datum auf den Gips schrieb, denn ich versprach mir viel von diesem Besuch, und dass ich endlich den Gips wegbekomme und auch noch dass ich vielleicht wieder laufen könnte.

 

Dann war es endlich so weit, der Arztbesuch war für heute angemeldet, und mir war es egal, ob mich der Arzt nun röntgen oder mit seiner Spezialsäge in die Haut ritzen täte, Hauptsache der Gips kommt heute weg, das war der einzigste Gedanke, der für mich interessant war. Der Krankenwagen kam pünktlich, und zufällig waren es dieselben Sanitäter wie letztes Mal, und der eine sagte zu mir: »So mein Junge, heute macht er dir bestimmt den Gips weg, und du wirst bald wieder rumspringen wie früher.« – »Ja, das wäre schön«, antwortete ich und freute mich im Geheimen schon. Na wenn der Sanitäter schon sagt, ich bekomme den Gips weg, dann muss der Arzt mir heute den Gips abnehmen. Nach einer halben Stunde lag ich wieder auf der ärztlichen Werkbank, und der Arzt kam zu mir herein.

»Nun Kleiner, wie geht es uns denn heute, wir haben uns ja schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen«, sagte er, mit einem Anflug von Lächeln auf seinem Gesicht. »Gut, nur der Gips stört mich so wahnsinnig«, sagte ich und lächelte diesmal auch ein wenig.

{32}Er ging dann aus seinem Gipserzimmer und kam ein paar Minuten später wieder mit einem Schnellhefter herein. Er legte ihn auf einen freien Tisch und sagte: »Dann wollen wir mal an die Arbeit gehen und dir deinen lästigen Gips abnehmen.« Ich wäre vor Freude am liebsten bis an die Decke gesprungen, aber ich konnte ja nicht, da ich noch im Gipsbett lag. Er nahm seine spezielle Gipssäge, schloss sie an der Steckdose an, und ließ sie anlaufen und kam dann zu dem Tisch, auf dem ich lag. »So dann wollen wir mal«, sagte er, und ich freute mich wie ein Schneekönig.

Während er mir den Gips aufsägte, malte ich mir schon aus, was ich machen täte, wenn ich nachher wieder auf die Straße dürf‌te. Erst täte ich mal spazieren gehen, und dann zu meinen alten Schulfreunden und vor ihnen hinstehen und sagen, da bin ich wieder, ich bin wieder vollkommen gesund, und jetzt können wir ja wieder zusammen in die Schule gehen, und auf dem Schulhof »Fangen« spielen, und ich will der Sieger sein, da ich der Schnellste war und immer noch bin, und jetzt werde ich es noch beweisen, und dann spielen wir »Fangen«, bis die Schulglocke läutete und wir wieder ins Klassenzimmer mussten.

Mittlerweile war der Arzt auch fertig mit seiner Sägearbeit und sprach mich an, und dabei riss er mich aus meinen Gedanken, und ich fragte »Wie bitte«, da ich ihn nicht verstanden habe, oder besser gesagt es nicht mitbekommen habe, da ich ja wo ganz anders war.

»Wir sind fertig, versuche dich mal ganz aufzurichten, also hinsetzen, sagte ich«, wiederholte er. Ich versuchte mich aufzurichten, was mir auch sofort gelang, und ich freute mich, dass es mir keine Schwierigkeiten bereitete, und {33}dachte sofort, dass es mit dem Laufen auch nicht schwieriger sein würde, und so lautete auch gleich meine nächste Frage: »Darf ich jetzt versuchen zu laufen?« – »Nein, wir müssen dich röntgen, und dann werden wir weitersehen«, sagte er.

Man brachte mich wieder auf den Röntgentisch und bereitete alles für die Röntgenaufnahmen vor. Nachdem diese erledigt waren, brachte man mich in eine Art Wartezimmer, wo eine Liege drinnen stand, und zwei oder drei Stühle, ein Rollstuhl und noch ein paar andere Geräte. Dort wartete ich fast eine halbe Stunde, als der Arzt wieder zu mir kam und mich noch mal genau untersuchen wollte, also besser gesagt, abtasten. Ich lag erwartungsvoll auf der fahrbaren Liege, als er eintrat. »So mein Junge, jetzt will ich dich noch mal ein bisschen untersuchen, bis die Röntgenaufnahmen fertig sind, wir sind damit gleich fertig, und dann werden wir sehen, was wir mit dir weiter machen«, sagte er, so richtig routinemäßig.

Er stellte sich vor die Liege und winkelte mein Bein, also das linke, das ganz im Gips gelegen ist, an und sagte: »Wenn es anfängt, weh zu tun, dann sag es.« Er hatte es nur leicht angewinkelt, als ich schon aufschrie: »Au! Das tut schon weh.« Er nickte und legte das Bein wieder kerzengerade auf die Liege. Dann tastete er mein Becken ab und fragte mich öfters, ob mir das und das oder das weh täte, worauf ich immer verneinte, da es mir ja wirklich nicht weh tat. Als er fertig war, ging er hinaus und kam gleich darauf wieder herein.

»So Kleiner, laufen darfst du noch nicht, aber du wirst die nächsten vier Wochen im Rollstuhl verbringen und nicht {34}auf‌treten auf den linken Fuß, und dann kommst du wieder zu mir, und wir werden weitersehen«, sagte er und rümpf‌te dabei die Nase. »Hast du mich verstanden?«, fragte er, worauf ich gleich antwortete: »Ja.« Ich war nicht einmal so enttäuscht, als er mir sagte, ich darf noch nicht laufen, aber ich war heilfroh, dass er mich nicht wieder eingegipst hatte, und ich vermied es total, von Gips zu sprechen, damit er es sich nicht wieder anders überlegte und mich dann doch noch einbetonieren tut.

»Jetzt kannst du dir die Hosen anziehen, und ich schicke dir gleich deine Mutti und eine von meinen Helferinnen, die dir beim Anziehen helfen werden, und vergiss nicht, ja nicht auf den kranken Fuß auf‌treten, nur versuchen, ihn ein klein wenig anzuwinkeln, damit du ihn nicht immer kerzengerade halten musst, alles o.k.?«, fragte er dann noch, und ich versicherte ihm: »Ja, ich habe alles verstanden.«

Dann kamen Mutti und eine andere Frau, die die Arztgehilfin sein musste, ins Zimmer und halfen mir beim Anziehen. Auf einmal waren die zwei Sanitäter wieder da und sagten: »Heute fahren wir dich das letzte Mal nach Hause.« Einer nahm mich auf den Arm und trug mich hinaus, und unterwegs zum Krankenwagen verabschiedete ich mich vom Arzt, der mir zum Schluss noch zuwinkte und lächelte.

Als wir wieder zu Hause waren, und ich im Wohnzimmer saß, fühlte ich mich irgendwie besser als die ganzen letzten Wochen und freute mich wie ein Schneekönig über den losgewordenen Gips.

Nach zehn Minuten kam Mutti mit einem fahrbaren Stuhl ins Zimmer und sagte: »Der ist gerade für dich {35}abgegeben worden, das ist jetzt dein Rollstuhl für die nächsten paar Wochen.« Ich schaute das komische Gefährt an. Es war ziemlich groß, hatte zwei Griffe an kurzen Stangen, die sich beim Fahren bewegten. So vom Aussehen war mir der Rollstuhl gleich sympathisch. Ich setzte mich in den Rollstuhl und bewegte die Hebel, beide Vordrücken und dann nach hinten Ziehen, und der Stuhl bewegte sich kerzengerade nach vorn. Wenn man die Hebel jetzt einen nach vorn und einen nach hinten bewegte, konnte man auch Kurven fahren. Ich probierte also meine Neueroberung gleich aus und fuhr im Hof an den Garagen, die dort waren, ganz vorsichtig hin und her.

Nach zwei Tagen hatte ich mich daran gewöhnt, mit dem Rollstuhl durch die Gegend zu kurven, was mir natürlich mehr Spaß machte, als im Bett zu liegen mit einem Haufen Gips am Körper. Die Nachbarn schauten alle ganz dumm, als sie mich täglich im Rollstuhl sahen, den Erwachsenen tat es wahrscheinlich leid, und einigen von den Kindern ebenfalls. Aber wir hatten auch Nachbarskinder, die das sehr lustig fanden, da sie mich immer auslachten und mich mit ein paar nicht gerade angenehmen Schimpfwörtern bombardierten.

Eines Nachmittags fuhr ich mal wieder im Hof an den Garagen und den Terrassen über uns spazieren, damit ich frische Luft schnappen konnte und nicht den ganzen Tag in der Wohnung sitzen musste, als plötzlich eines der Nachbarskinder auf mich zukam. Sie hieß Susanne und hatte noch fünf Geschwister, aber sie war durchtrieben, frech, unhöf‌lich und hatte immer die größte Schnauze, wenn man das überhaupt noch Schnauze nennen kann, auf jeden Fall {36}war es am besten davonzulaufen und nicht hinzuhören, wenn sie losschimpf‌te, da man sonst alle Schandtaten von ihr an den Kopf geworfen bekommt. Also sie kam auf mich zu und musterte mich von Kopf bis Fuß und fragte mich dann: »Darf ich mal mit dem Rollstuhl fahren?« – »Nein«, antwortete ich kurz und bündig. »Ja warum denn nicht?« – »Ganz einfach, weil ich nicht aus dem Rollstuhl darf und zweitens weil ich nicht laufen kann und drittens mir meine Eltern verboten haben, ihn auszuleihen, damit andere damit spielen können, und weil es nicht unser eigener ist, da er von der Krankenkasse gestellt worden ist.«

Sie fing an, um mich herumzulaufen und mich mit ein paar gesalzenen Schimpfwörtern zu betiteln. »Du Eierkopf, Krüppel, kranker Idiot, Geizhals!«, alles was ihr gerade so einfiel.

Da drehte ich mich einmal im Kreis und fuhr direkt auf sie zu und brüllte lautstark: »Du dumme Gans, ich wäre froh an deiner Stelle, wenn ich es nicht hätte, du fieses Aas!«, und noch ein paar Schimpfwörter fielen mir ein, worauf sie panisch die Flucht ergriff.

Am nächsten Tag fuhr ich wieder im Hof, und da stand sie auf der Terrasse mit drei ihrer Geschwister und schaute zu mir herunter, und ich zu ihnen hinauf. Da fragte sie mich: »Was gibt es denn so dämlich zu glotzen, du Affe im Rollstuhl?« Natürlich nahm ich das nicht gleich wörtlich und schaute wieder über den Hof, wo meine Geschwister, also meine Brüder besser gesagt, im Sandkasten buddelten und Murmeln spielten.

Auf einmal fingen sie an, von oben von der Terrasse auf meinen Kopf zu spucken, und sie trafen auch nicht schlecht, {37}also mussten sie einige Übung darin haben. Als ich dann lange genug in ihrer Schusslinie stand, fuhr ich so schnell wie möglich unter die Vorbauten der Terrassen, so dass sie mich nicht mehr sehen konnten und mich auch nicht mehr anspucken. Als ich dann in Sicherheit unter den Vorbauten war, fing ich an, mich maßlos aufzuregen, und schrie von unten rauf einige ganz gewaltige Schimpfwörter. Dabei muss die Mutter der Engelchen, so wie sie sie immer nannte, auf die Terrasse gekommen sein und musste mich da unten schimpfen hören, was ihr ja gar nicht gepasst haben muss. Als ich fertig war mit meiner Schimpfwortkanonade, fuhr ich zum Haupteingang und klingelte, dass mir jemand zu Hilfe kommt, damit ich wieder in die Wohnung komme, da ich es allein nicht schaffen konnte, da ca. neun Stufen dazwischen waren. Mutti kam dann raus und half mir in die Wohnung. Dort fuhr ich gleich ins Bad und wusch mir das Gesicht und die Haare, und da ich sowieso kurze Haare hatte, waren sie auch schnell wieder trocken. Dann fuhr ich ins Wohnzimmer und schaute meiner Mutter zu, wie sie Daniela fütterte. Ich wollte ihr an und für sich sagen, was gerade vorgefallen war, aber dann hielt ich es doch für besser, nichts zu sagen, aus Angst, dass ich selber ein paar Ohrfeigen kassieren würde, wegen meiner Schimpfworte, die ich selbst abgefeuert hatte, und was ja auch bei uns verboten war, mit solchen Ausdrücken rumzuwerfen. Kurz nach fünf kam dann Pappa von der Arbeit nach Hause, und er schien heute sehr gut gelaunt zu sein, denn er sang leise vor sich hin. Nach dem Abendessen, als alle im Wohnzimmer vor dem Fernsehen saßen, klingelte es auf einmal an der Haustür, und Pappa und Mutti {38}schauten sich fragend an, was das wohl sein könnte. Pappa stellte sein Bier auf den Tisch und ging dann auf die Haustüre zu und schaute durch den Spion. Er drehte sich dann um und sagte zu Mutti, es ist die Nachbarin Frau Meier von nebenan, was will die denn hier um die Zeit, die kommt doch sonst auch nicht. In mir stieg eine Ahnung auf, und ich dachte gleich an meine Schimpfworte, die ich losgelassen hatte, und jetzt ist sie gekommen, um sich zu beschweren. Pappa öffnete die Tür und begrüßte sie ganz höf‌lich und bat sie dann, sie möchte doch bitte eintreten, was sie auch dann tat und gleich anfing, mit meinem Vater zu sprechen.

»Ihr Sohn ist unmöglich, Herr Mertens, er hat heute meine Tochter beschimpft, mit Ausdrücken, die nicht mehr menschenwürdig sind, so etwas gibt es ja nicht einmal in den Slums von Amerika.«

»Ja warum hat er denn das getan, und wie hat sich das überhaupt abgespielt?«, fragte mein Vater.

»Meine Töchter sind auf der Terrasse gestanden und haben auf Ihren Sohn hinuntergeschaut, und als er das gesehen hat, fing er an, sie mit Schimpfwörtern zu betiteln, als er damit anfing, kam ich gerade auf die Terrasse und schickte meine Töchter gleich wieder in die Stube, damit sie das nicht mit anhören mussten, ich will mir ja meine Töchter nicht versauen lassen.«

Mein Vater schaute sie prüfend an und schaute dann zu mir herüber und fragte: »Fritz, ist das richtig, was Frau Meier da sagt, und wenn, warum hast du das getan?« Im ersten Moment bekam ich keinen Ton heraus, aber dann, als ich mich unter Kontrolle hatte, sagte ich mit leiser {39}Stimme: »Nun Pappa, ganz so wie es Frau Meier sagt, war es nicht, und ohne Grund schimpfe ich nicht auf andere Leute oder Kinder.« Und dann schilderte ich genau, was passiert ist, und mein Vater wurde von Wort zu Wort, das ich sprach, röter im Gesicht und drehte sich dann zu Frau Meier. »Was haben Sie dazu zu sagen, Frau Meier. Sie haben also doch nicht alles mitbekommen?« – »Das ist eine Lüge, Herr Mertens, was Ihr Sohn da erzählt, unsere Töchter lügen nicht, so was täten sie niemals.« – »Also dann holen Sie doch mal Ihre Töchter, und ich werde sie fragen.« Sie stürzte in ihre Wohnung nebenan und kam nach ein paar Minuten mit ihren Mädchen wieder, und mein Vater fragte die drittälteste, was da los war, denn von den beiden ältesten hätte er sowieso nicht die Wahrheit erfahren, da sie immer lügen, dass sich die Balken biegen.

Die Kleine schaute meinem Vater genau in die Augen, und nach einem kurzen Moment fing sie an zu schluchzen, fiel ihrer Mutter in die Arme und sagte: »Susanne hat gesagt, ich darf nichts verraten, sonst kriegen wir alle ne Tracht Prügel und ich noch eine extra von Susanne, aber ich habe nicht ein einziges Mal getroffen, als wir von der Terrasse spuckten.« Das langte meinem Vater, und er wandte sich an Frau Meier. »Also dann wäre der Fall ja erledigt, und ich täte Ihnen empfehlen, Ihre Töchter besser im Zaum zu halten und sie dazu zu bringen, Sie nicht mehr anzulügen, damit nicht mehr solche Missverständnisse auf‌treten. Wollen Sie noch ein Glas Wein mit uns trinken, wir nehmen es niemandem übel.« Frau Meier kam auf mich zu und entschuldigte sich bei mir, mit hochrotem Kopf, und ihre Töchter ebenfalls, dann schlug sie das angebotene Glas {40}Wein aus und verschwand mit ihrer Sippschaft wieder aus unserer Wohnung.

Mann, hatte ich am Anfang Bammel gehabt, dass ich wegen meiner Schimpfwörter eine Tracht Prügel abbekommen tät. Pappa kam zu mir und kniete vor dem Rollstuhl hin und sagte dann zu mir: »Das, was die getan haben, war nicht richtig, aber ich muss dir auch eine Rüge erteilen, mit solchen Schimpfwörtern wirfst du mir nicht mehr rum, das nächste Mal kommst du gleich nach Hause und erzählst alles, ohne zu lügen, wie es die jetzt getan haben, von Anfang an, und dann werden wir, also Mutti und ich, das Problem in die Hand nehmen und alles regeln. Haben wir uns verstanden?«

»Ja«, sagte ich und nickte mit dem Kopf.

Pappa stand auf und strich mir flüchtig mit der Hand über die Haare und sagte dabei: »Dann ist ja alles wieder in Ordnung, und jetzt will ich die Nachrichten anschauen!«

Ich freute mich im Geheimen und wünschte mir das erste Mal, dass die Nachbarskinder heute endlich mal den Frack vollbekommen, damit es ihnen mal eine Lehre ist, und sie mich in Zukunft in Ruhe lassen.

Am nächsten Tag betrachteten mich die Nachbarskinder ziemlich schräg, aber ich wusste immer noch nicht, ob sie jetzt endlich ihre Tracht bekommen haben, aber sie hänselten und ärgerten mich an diesem Tag nicht, und ich war froh darüber.

Aber ein paar Tage später ging es wieder los, doch ich sagte nichts, ich leistete keine Gegenwehr mit Schimpfwörtern und erzählte zu Hause meinen Eltern davon auch nichts, ich war schon zufrieden, dass sie mich nicht mehr {41}anspuckten, und so versuchte ich ihnen nur aus dem Weg zu gehen, damit ich nicht mehr in ihre Schusslinie kam, das genügte mir voll und ganz, und so beschäftigte ich mich immer alleine, da ich ja mit keinem sonst sprechen konnte, weil mir immer der Rollstuhl im Weg war.