"Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen." - Michaela Karl - E-Book
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"Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen." E-Book

Michaela Karl

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Beschreibung

New York City, 1955. High Heels klackern auf der 5th Avenue. Im Kleinen Schwarzen, mit Perlenkette und Beehive ist Maeve Brennan auf dem Weg in den New Yorker. Sie ist ein Star ihrer Zeit, gefeierte Autorin und New Yorks Mode-Ikone. Angeblich dient sie sogar als Vorbild für die weltberühmte Figur der Holly Golightly in Truman Capotes Breakfast at Tiffany's. Ihr Leben ist perfekt. Doch ihr Lebensmotto lautet nicht umsonst: »Bis zum Chaos ist es nur ein kleiner Schritt ...« Irland und ihre revolutionären Eltern hat Maeve Brennan hinter sich gelassen, ebenso wie eine turbulente Affäre mit Charles Addams, dem Kopf hinter der Addams Family. Die Stelle als Moderedakteurin bei Harper's Bazaarin New York scheint ihr auf den Leib geschneidert zu sein, doch die exzentrische und messerscharf schreibende junge Frau steigt noch höher auf: zur landesweit bekannten Autorin des legendären New Yorkers. Alkohol und der Cary Grant der Journalistenszene locken sie ebenso wie das Verlangen nach einem selbstbestimmten Leben. Michaela Karl, bekannt für ihre detailreichen und ungewöhnlichen Frauenbiographien, erzählt eindrucksvoll von einer schillernden Persönlichkeit auf dem schmalen Grad zwischen Glamour und Wahnsinn.

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Seitenzahl: 616

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Michaela Karl

»Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen«

Maeve Brennan. Eine Biographie

Hoffmann und Campe

In memoriam

meiner geliebten Mutter

Christl Karl

(1946–2007)

 

Für

Alex & Kostja

 

Seid frech und wild und wunderbar!

(nach Astrid Lindgren)

Sich keine Sorgen zu machen

ist einfach eine Frage

von Plan A oder Plan B.

Maeve Brennan

Inhalt

Prolog

I. »Du hast aus deiner Kindheit solch eine Tragödie gemacht, dass ich damit nicht wetteifern wollte.«

II. »Wir haben uns die Hand gegeben, und er hat mir viel Glück gewünscht.«

III. »Ein Mädchen liest so etwas nicht ohne Lippenstift.«

IV. »Verlieben Sie sich nie in ein wildes Geschöpf!«

V. »Ich liebe New York, obwohl es mir nicht gehört.«

VI. »Na, Herzchen, kauft irgendjemand das, was Sie schreiben?«

VII. »Man braucht ungefähr vier Sekunden, um von hier zur Tür zu gehen. Dir gebe ich zwei.«

VIII. »Kennst du die Tage, wo du das rote Elend hast?«

IX. »Wenn ich im richtigen Leben mal einen Ort finde, wo ich mich so fühle wie bei Tiffany, dann werde ich Möbel kaufen und dem Kater einen Namen geben.«

X. »Es ist geschmacklos, Diamanten zu tragen, bevor man vierzig ist.«

Epilog

Danksagung

Bildteil

Anhang

Literatur und Dokumente

Archive

Zeitungen und Magazine

Filme

Radio

Lectures

Personenregister

Fußnoten

Über Michaela Karl

She loves the free fresh wind in her hairLife without careShe’s broke but it’s »oke«

Frank SinatraSinatra, Frank: The Lady is a Tramp

Prolog

The Lady is a Tramp

Verzeihen Sie bitte, dürfte ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?

Wenn Sie die Wahl hätten zwischen zwei Lebensmodellen, welchem würden Sie den Vorzug geben? Einem eher angepassten ruhigen Leben, vielleicht manchmal etwas langweilig, dafür aber frei von Zerwürfnissen mit Freunden und Familie, ohne Unsicherheit und Chaos, an dessen Ende Sie friedlich einschlafen?

Oder würden Sie sich für ein selbstbestimmtes Leben entscheiden, in dem Sie gegen alle Konventionen verstoßen, was zu großen Problemen mit Ihrem Umfeld führt? Ein Leben mit Höhen und Tiefen, das einer Achterbahnfahrt gleicht und an dessen Ende kein Happy End auf Sie wartet?

Die Frau, um die es in diesem Buch geht, hätte keine zwei Sekunden gebraucht, um diese Frage für sich zu beantworten: Maeve Brennan – Schriftstellerin, Urbanista und Stilikone. Ihre Maxime lautete schlicht und einfach: Die Freiheit ist auch im Scheitern jeden Versuch wert!

Wie Sie diese Frage beantworten, dürfen Sie selbstverständlich für sich behalten. Doch sofern Sie zumindest in der Literatur Lebensläufe mit Brüchen schätzen, werden Sie an Maeve Brennan Ihre wahre Freude haben und am Ende dieses Buches wohl auch keine Traurigkeit verspüren, sondern getragen von bittersüßer Melancholie Ihr Glas erheben auf eine außergewöhnliche Frau und Autorin, die lange Zeit zu Unrecht völlig vergessen war.

Maeve Brennan war gebürtige Irin, doch ihr Leben spielte sich überwiegend in New York City ab, genauer gesagt in Midtown Manhattan rund um den Times Square. Wenn Sie selbst schon einmal in der Millionenmetropole am Hudson waren, dann werden Sie auf den folgenden Seiten vermutlich einige Aha-Erlebnisse haben. Falls Sie hingegen noch niemals die Fifth Avenue entlanggelaufen sind, dann haben Sie in Maeve Brennan die beste Reiseführerin durch eine Stadt gefunden, die sie selbst als »die beschwerlichste, rücksichtsloseste, ehrgeizigste, konfuseste, komischste, traurigste, kälteste und menschlichste aller Städte« bezeichnete.1 Kaum jemand durchdrang Herz und Seele dieser Stadt in den fünfziger und sechziger Jahren so sehr wie Maeve Brennan. Ich verspreche Ihnen, Sie werden bei Ihrem Stadtbummel echte Insiderinformationen erhalten, nicht nur statistische Fakten wie: »New Yorker blinzeln achtundzwanzig Mal pro Minute, aber vierzig Mal, wenn sie im Stress sind. Die meisten Popcorn-Esser im Yankee Stadium halten unmittelbar vor dem Pitch für einen Moment mit dem Kauen inne. Kaugummi-Kauer auf den Rolltreppen im Kaufhaus Macy’s hören kurz mit dem Kauen auf, wenn sie die Rolltreppe wieder verlassen, um sich auf die letzte Stufe zu konzentrieren. […] Täglich schlucken die New Yorker 460000 Gallonen Bier; sie essen 3500000 Pfund Fleisch und ziehen sich vierzig Kilometer Zahnseide durch die Zähne. Täglich sterben in New York 250 Menschen, 460 werden geboren, und durch die City gehen täglich 150000 Menschen, die Brillen mit Gläsern aus Glas oder Plastik tragen.«2 Einer davon war Maeve Brennan, die ihre Brille allerdings nur an ihrer Schreibmaschine trug und ansonsten wie ein blindes Huhn durch die Gegend lief.

Das New York, in dem Maeve Brennan sich bewegte, war das der berufstätigen Frauen, deren Leben sich kaum von unserem heutigen unterschied, einzig, dass sie ausnahmslos besser gekleidet und trinkfester waren. Wenn Maeve Brennan in High Heels und Kleinem Schwarzen in der angeblich schönsten Hotellobby der Welt, im Commodore Hotel an der Grand Central Station, einen Sundowner nahm, dann tat sie dies zu den neusten Hits der Crooner um Frank SinatraSinatra, Frank, die das Leben und die Liebe feierten und wussten, dass beides nicht immer gut ausgeht: »We’re drinking my friend / To the end of a brief episode / So make it one for my baby / And one more for the road.«3 Die Männer, die die Drehtür bei dieser Gelegenheit in die Hotellobby spülte, versuchten allesamt wie Cary GrantGrant, Cary auszusehen, und wenn man großes Glück hatte, benahmen sie sich auch so. Allerdings war das Leben auch damals weit entfernt von einem Wunschkonzert.

Mit Maeve Brennans Hilfe wird es Ihnen gelingen, sich an der strengen Empfangsdame vorbei in die Redaktionsräume von Harper’s Bazaar zu schmuggeln, wo Mode-Legenden wie Carmel SnowSnow, Carmel und Diana VreelandVreeland, Diana über die Flure stöckelten und Weisheiten von sich gaben, die fürs ganze Leben Bestand hatten: »Es geht nicht um das Kleid, das du trägst, sondern um das Leben, das du in dem Kleid führst.«4

An der Seite Maeve Brennans durch New York zu bummeln bedeutet, einzutauchen in eine Welt voll schöpferischer Genialität, herrlicher Exzentrik und schier unfassbarer Fehltritte. Es ist ein Abenteuer, das deutlich macht, dass die Welt Mitte des 20. Jahrhunderts, als es weder Twitter noch Instagram gab, kaum weniger interessant, sondern nur ein klein wenig diskreter war. Was Maeve Brennan und ihren Freunden ungeahnte Möglichkeiten eröffnete …

Diese Freunde arbeiteten fast ausnahmslos bei einer wahren »Ikone der amerikanischen Alltagskultur«5 – dem New Yorker. Es waren brillante Journalisten, die in Oberhemd und Hosenträgern vor Schreibmaschinen, Fernsprechapparaten und überquellenden Aschenbechern saßen und Texte zum Niederknien verfassten. Große Exzentriker und noch größere Trinker, deren Bourbon im Glas niemals zur Neige ging. Männer, die mit der Nonchalance eines Humphrey BogartBogart, Humphrey ihren Borsalino, Modell Fedora, auf dem Kopf trugen und in nichts anderem als einem Anzug von Brooks Brothers Madison Avenue das Haus verließen – abgesehen vom Tuxedo natürlich. Kosmopolitische Gentlemen mit perfekten Manieren, die jedes schickliche Benehmen ad absurdum führten und kultiviert, charmant und ohne mit der Wimper zu zucken nach Belieben sämtliche Konventionen missachteten.

Die Frauen, die für den New Yorker schrieben, waren emanzipiert, ehe die moderne Frauenbewegung Ende der sechziger Jahre auf den Plan trat. Es waren Frauen vom Typ Katharine HepburnHepburn, Katharine, die kein Problem darin sahen, um fünf Uhr morgens nach einer durchtanzten Nacht im wallenden Chiffon-Abendkleid noch rasch einen Artikel zu Papier zu bringen. Die Journalisten und Schriftsteller des New Yorkers, männlich wie weiblich, waren durch nichts zu erschüttern und stellten, ob ihrer Coolness und der engen Verbundenheit mit New York, die schreibende Entsprechung des Hollywood-Rat-Pack um Humphrey BogartBogart, Humphrey und Lauren BacallBacall, Lauren und seinem harten Las-Vegas-Kern – Frank SinatraSinatra, Frank, Dean MartinMartin, Dean und Sammy Davis JuniorDavis, Sammy Jr. – dar.

In den Augen vieler ihrer Kollegen und Freunde war die schöne Maeve eine wahrhaftige Märchenprinzessin. Ihre grünen Koboldaugen blitzten stets vor Schalk, und ihr Charme war schlichtweg umwerfend. Weniger wohlmeinende Zeitgenossen sahen in ihr darum auch eher die Circe des New Yorkers, die durchaus für Unstimmigkeiten und Dramen sorgen konnte. Gertenschlank und zierlich wie eine Ballerina, war sie, was ihre Figur anbelangte, außerordentlich diszipliniert. »Sie aß wie ein Vögelchen, ich hab mich oft gefragt, wovon sie gelebt hat«, erinnert sich ihre Cousine.6 Viel war es vermutlich nicht: hartgekochte Eier und Martini sollen Maeve Brennans Hauptnahrungsmittel gewesen sein. Ihren makellosen Porzellanteint betonte sie durch dunkel getuschte Wimpern und einen rot geschminkten Mund. Das dichte braune Haar trug sie spätestens ab den sechziger Jahren kunstvoll zu einem Beehive aufgetürmt, und der Duft, den sie hinterließ, nannte sich Cuir de Russie und ist noch heute einer der exklusivsten Düfte von Chanel: schwer und exotisch. Im Kleinen Schwarzen mit Perlenkette wurde sie zu einer Stilikone und gilt als eine der Inspirationsquellen für eine andere bezaubernde Dame, die bevorzugt bei Tiffany frühstückte und schlechte Nachrichten nicht ohne geschminkten Mund entgegennahm. Mit Holly Golightly teilte Maeve Brennan die Erkenntnis, dass rote Lippen ein wunderbares Hilfsmittel waren, die Façon zu wahren. In den entscheidenden Situationen ihres Lebens waren beide Damen nie ohne Lippenstift anzutreffen.

Maeves Stilbewusstsein und ihre Disziplin halfen ihr, diverse Untiefen des Lebens zu umschiffen, ganz im Sinne ihrer Kollegin Diana VreelandVreeland, Diana: »Du musst Stil haben. Er hilft dir, die Treppe hinunter zu kommen. Er hilft dir, morgens aufzustehen. Stil ist eine Lebensweise.«7

Maeve Brennan selbst bewunderte vor allem die Schönheit von Blumen. Diese würden ihren Zauber auch dann noch entfalten, wenn Menschen unschöne Dinge tun. Und so blühen Blumen in ihren Kurzgeschichten gerade dann am schönsten, wenn ihre Protagonisten böse, rachsüchtig und gemein sind. Wenn Maeve Brennan ihr Redaktionsbüro im New Yorker betrat, dann wartete dort unter einer in Wedgwood-Blau gestrichenen Zimmerdecke frisches Grün in Gestalt von zahlreichen Topfpflanzen auf sie sowie ein Strauß frischer Blumen. In den diversen New Yorker Hotels, in denen sie Stammgast war, pflegten die Zimmermädchen sie täglich mit einem Blumengruß zu erfreuen; und sie ohne eine frische Blüte im Revers anzutreffen war höchst ungewöhnlich.

Maeve Brennan liebte Hotellobbys und kannte jede Bar zwischen dem Central Park und der New Yorker Stock Exchange. In den schickeren konnte man sie rauchend vor ihrem Martini sitzen sehen. Zeitlebens eine starke Raucherin, qualmte sie ihre tägliche Schachtel Camel stilsicher mit einer langen Zigarettenspitze und seufzte dabei: »Ich bin das beste Beispiel – für das, was man nicht tun sollte.«8 Mit ihrem Witz und ihrer Schlagfertigkeit erinnert sie an ihre Vorgängerin beim New Yorker, Dorothy ParkerParker, Dorothy. Von Maeve Brennan hieß es, dass sie mit ihrer scharfen Zunge ohne weiteres eine Hecke schneiden konnte. Sie war die Elfe, der durchaus auch ein herzhaftes Fuck you über die Lippen kam.

Was sie für ihre Freunde so unentbehrlich machte, war ihre Fähigkeit, Alltägliches in Außergewöhnliches zu verwandeln. Dazu kam, dass sie unheimlich generös war: »Bei Maeve durfte man nie sagen, dass man für irgendwas schwärmte, weil man es sonst prompt am nächsten Tag bekam«, so ihre Cousine ItaDoyle, Ita, »ich habe da später immer sehr aufgepasst, ihre Großzügigkeit war grenzenlos.«9 Dies beinhaltete auch die kostbaren Schriftstellerautographen, die sie ihr ganzes Leben lang sammelte. Obwohl sie diese hütete wie ihren Augapfel, war sie sogar bereit, die Signatur W.B. YeatsYeats, William Butler (W. B.)’ wegzugeben, wenn sie fand, dass sie besser zu einem ihrer Freunde passte. Wenn Maeve für etwas brannte, dann war sie voller Enthusiasmus und Empathie – in einem Ausmaß, das so manchen Zeitgenossen überforderte.

Maeve Brennan hatte viele Liebhaber, aber nur zwei wirklich große Lieben: Bücher und Tiere. Sie verehrte ColetteColette (Sidonie-Gabrielle Claudine), James JoyceJoyce, James und Leo TolstoiTolstoi, Leo, ebenso zählte der irische Schriftsteller Oliver GoldsmithGoldsmith, Oliver zu ihren Favoriten. Dessen Werk History of Earth and Animated Nature hütete sie wie einen kostbaren Schatz. Ihre literarische Lieblingsfigur jedoch war die kleine Seejungfrau aus dem gleichnamigen Märchen von Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian, die für die Erfüllung ihres Lebenstraums einen so hohen Preis bezahlen musste: »›Aber bedenke‹, sagte die Hexe, ›hast du erst einmal menschliche Gestalt bekommen, so kannst du niemals wieder eine Seejungfrau werden! Du kannst niemals wieder durch das Wasser zu deinen Schwestern und zum Schlosse deines Vaters heruntersteigen. Und du gewinnst die Liebe des Prinzen nicht. […] Am ersten Morgen, nachdem er mit einer anderen verheiratet ist, wird dein Herz brechen, und du wirst zu Schaum auf dem Wasser.‹ – ›Ich will es‹, sagte die kleine Seejungfrau.«10

Was Tiere anbelangte, so bevorzugte Maeve Brennan Hunde und Katzen: »Der Hund ist brav und freundlich, Katzen aber haben Stil.«11 Doch sie sorgte sich auch um andere Tiere. Als sie einmal in einem Billigkaufhaus gemarterte kleine Vögel ohne Wasser in einem Käfig sitzen sah, ließ sie erzürnt den Manager kommen. Gesegnet mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden, schimmert die Wut, die sie verspürte, wann immer ihr Unrecht begegnete, in vielen ihrer Kolumnen durch. Dies waren die seltenen Momente, in denen sie ihren erzählerischen Beobachtungsposten verließ und leidenschaftlich Partei ergriff, wie zum Beispiel an jenem Tag, als sie miterlebte, wie sich zwei Kunden in einem Antiquariat darüber amüsierten, dass ein Bildband über Marilyn MonroeMonroe, Marilyn reduziert worden war: »Ich setzte meine Brille ab, um sie zu mustern. Grausamkeit und Dummheit und roher Lärm […]. Eines schönen Tages wird ihre Fähigkeit, Gewalt zu provozieren, jemanden provozieren, der gewaltbereit ist. (Sagte ich mir.) Sie werden über ihre eigenen Schnürsenkel stolpern. Die Zeit wird es weisen. Sie werden nie etwas anderes kennen als den elenden Appetit des Neids. Wie ÄsopsÄsop Hirtenjunge, der zum Spaß immer ›Wolf!‹ schrie, werden sie die Erfahrung machen, dass Menschen, die einmal zu oft über andere höhnen, am Ende selbst den Schaden davontragen.«12

Maeve Brennan liebte Sonntage im Regen und hasste die Hitze des Sommers. Ihrer Ansicht nach geschahen an heißen Tagen immer ungute Dinge. Prompt ertappte sie an einem dieser Tage einen Obdachlosen dabei, wie er die Körbe auf der Rückbank eines Cabriolets durchsuchte. Sie kannte den Mann, denn er hatte sie schon mehrfach um Geld gebeten: »Ich fühlte mich schrecklich beschämt, weil ich ihn hatte stehlen sehen, und dankte dem Himmel, dass er mich nicht dabei ertappt hatte, wie ich ihm nachspionierte. Mir scheint, als sei alles, was ich über jenen Sommer und über alle Sommer empfinde, in den Gedanken enthalten, die ich mir damals über diesen Mann machte, denn in der Hitze war die Welt so verzerrt und so leblos, nichts war wirklich und nichts unwirklich, dass es ihm genauso selbstverständlich vorkam, zu stehlen, wie mir, einen Bus zu besteigen und mich von einem Ort zum anderen chauffieren zu lassen.«13

Maeve Brennan wird Sie mitnehmen auf ihre nie enden wollende Suche nach der perfekten und bezahlbaren(!) Ein- oder Zweizimmerwohnung mit Kamin, bevorzugt in der Gegend um den Washington Square. Sie wird mit Ihnen die luxuriösen Auslagen der Geschäfte auf der Madison Avenue bewundern, die leider nicht immer mit ihrem Budget zu vereinbaren waren. Und vielleicht wird Sie Ihnen sogar die Adressen der kleinen Restaurants mit den großen Fenstern zur Straße hin verraten, die sie so schätzte und die leider nachmittags geschlossen waren: »Die kleinen Lokale, die ich mag, sind selbstsüchtig genug, um die ruhige Nachmittagsstunde für sich zu behalten.«14

Ihr halbes Leben verbrachte Maeve Brennan beobachtend hinter der Scheibe solch eines Restaurants. Dieser Blick durch die Scheibe, den sie in ihren Kolumnen geradezu kultivierte, trug später entscheidend zu ihrem Image einer einsamen Seele bei. Dabei ist die Scheibe vor allem ein Symbol dafür, dass sie es ganz und gar nicht schätzte, wenn man ihr zu nahe kam.

Distanz und Diskretion sind unverzichtbar, wenn man sich Maeve Brennan nähern will. Das wussten schon ihre Freunde und Kollegen. Denn trotz ihrer auffälligen Erscheinung war sie eine zurückhaltende Person, der alles Laute ein Gräuel war. Dies schloss sogar das Empire State Building mit ein: »Wo man auch steht, das Empire State Building wirkt immer so, als wollte es mit jedem anderen Gebäude der Stadt Ellenbogenkontakt haben.«15

Nie ließ Maeve Brennan jemanden gänzlich in ihr Innerstes blicken. Freunden, Kollegen, selbst ihrer Familie blieb sie in mancherlei Hinsicht ein Rätsel. Stets auf Autonomie und Diskretion bedacht, wahrte sie diese Distanz sogar gegenüber ihren literarischen Figuren – was den besonderen Reiz ihrer Kurzgeschichten ausmacht: »Klatsch ist respektlos gegenüber den Menschen – es kümmert ihn nicht, wen er verletzt und ob die Person, die er trifft, jung oder alt, ganz oben oder ganz unten ist.«16

Nicht einmal in ihren zahlreichen Briefen gab sie viel mehr von sich preis, als dass ihr Orthographie im Allgemeinen und die Beachtung von Groß- und Kleinschreibung im Speziellen völlig egal waren und sie offenbar eine wahre Abneigung gegen Fragezeichen hatte, die in ihrer privaten Korrespondenz durch Abwesenheit glänzen.

So wie die Kolumnen, die sie unter dem Pseudonym der »langatmigen Lady« schrieb, Vermutungen über das Leben der anderen darstellten, so muss auch manches über ihr Leben reine Vermutung bleiben. Maeve ließ sich nur ungern in die Karten schauen, was für eine Informationsgesellschaft wie unsere, die an Bewertungs- und Beurteilungswahn krankt, nicht leicht zu akzeptieren ist. Doch es gibt ein Recht auf Privatheit. Maeve Brennan mahnt uns, dass ein wenig mehr Demut vor dem Leben anderer durchaus angebracht ist.

 

Viel Zeit ist vergangen, seit ich an Maeve Brennans Seite loszog, Midtown Manhattan zu erobern. Nun schlendere ich mit einem Kaffeebecher durch den Bryant Park, in dem schon Tulpen und Narzissen blühen. Vor mir liegt groß und beeindruckend die New York Public Library: Maeves erster Arbeitsplatz. Die Stadt erwacht gerade, noch sind außer ein paar Joggern und Hundesittern nur wenige Menschen unterwegs. Über die 42nd Street gelange ich zur Vorderseite der Bibliothek. Fast meine ich zu sehen, wie Maeve, die den frühen Morgen so liebte, anmutig die lange Treppe herunterkommt, in sich hinein lächelt und in Richtung Fifth Avenue entschwindet.

Ich muss gestehen, sie hat mich beeindruckt, diese Maeve Brennan, die immer für das Verlassen der Komfortzone plädierte und erklärte: »Wir haben keine Sehnsüchte. Wir haben nur ein Leben.«17

Es ist Frühling in New York.

New York, Bryant Park,

im März 2019

Es gibt ein frohes LandIn weiter, weiter Ferne,Wo man Ei und Schinken isst.Dreimal am Tag und gerne.

Maeve Brennan, Die Besucherin

I.»Du hast aus deiner Kindheit solch eine Tragödie gemacht, dass ich damit nicht wetteifern wollte.«

Ich war einst eine stolze Irin

»Ich weiß nicht, ob man sie in Irland für eine irische Schriftstellerin hält, oder für eine amerikanische. Faktisch ist sie beides, und beide Länder sollten stolz darauf sein, sie für sich reklamieren zu dürfen«, schrieb William MaxwellMaxwell, William in seinem Vorwort zu einem Erzählband von Maeve Brennan.18 Tatsächlich beschäftigt kaum eine Frage die Fangemeinde der Autorin mehr als diese. Was war sie nun? Stylish oder irish? Die Antwort darauf war nie einfach – nicht einmal für sie selbst. Denn ihr Geburtsland Irland prägte Maeve Brennan so sehr, dass sie selbst als New Yorker Stilikone ihre Wurzeln nie ganz verleugnen konnte – so sehr sie sich auch darum bemühte.

Maeve Brennan wuchs zu einer Zeit auf, in der die grüne Insel einmal mehr um Autonomie focht. Blutige Zusammenstöße mit den englischen Besatzern, aber auch zwischen Iren unterschiedlichen Glaubens waren an der Tagesordnung und prägten die irische Politik des 20. Jahrhunderts. Maeves nationalistische Eltern waren fanatische Kämpfer für die Unabhängigkeit – die irische Kultur war im Hause Brennan allgegenwärtig.

Als Maeve geboren wurde, gehörte Irland seit mehr als 100 Jahren zu Großbritannien, doch die Stimmen, die eine Loslösung vom Vereinigten Königreich forderten, waren nie verstummt und vor allem nach dem irischen Trauma der Great Famine lauter und lauter geworden.

Die Große Hungersnot war die größte Katastrophe in der Geschichte Irlands. Ihr fielen zwischen 1845 und 1849 mehr als eine Million Menschen zum Opfer. Die britische Regierung hatte auf den Fäulebefall der Kartoffel, dem Hauptnahrungsmittel der Iren, mit einem verfehlten Krisenmanagement reagiert – mit verheerenden Folgen. Die Iren werteten die ergriffenen Maßnahmen als versuchten Genozid. Allein durch Nahrungsmittellieferungen aus den USA konnte das Schlimmste verhindert werden. Dass die britische Regierung diese Hilfsleistungen erst nach internationalen Protesten ins Land ließen, steigerte den Hass der Iren auf die Besatzer ins schier Unendliche. Hilflos hatten sie mit ansehen müssen, wie Getreide aus Irland in Richtung England exportiert worden war, während die eigene Bevölkerung verhungerte. Als viele Pächter aufgrund des Ernteausfalls nicht mehr in der Lage waren, ihre Pacht zu bezahlen, wurden sie von den Großgrundbesitzern gnadenlos von ihren Höfen vertrieben, ohne dass die britische Regierung ihnen zu Hilfe kam. Mehr als eine Million Iren verließen während der Hungersnot ihre Heimat in Richtung USA, Kanada oder Australien.

In den folgenden Jahren verzeichnete die Unabhängigkeitsbewegung einen enormen Zulauf, und der Druck auf die britische Regierung, der Insel »Home Rule«, sprich Selbstverwaltung, zu gewähren, wuchs. Im ganzen Land kam es zu Unruhen und lokalen Aufständen. 1882 gründeten die Home-Rule-Anhänger um Charles Stewart ParnellParnell, Charles Stewart die Irish Parliamentary Party, deren Abgeordnete durch Dauerreden die Arbeit des britischen Parlaments behinderten. Als ParnellsParnell, Charles Stewart Partei 1885 im Unterhaus zum Zünglein an der Waage wurde, zeigte man sich in Downing Street erstmals zu Zugeständnissen in der Irlandfrage bereit. Die von Premierminister William GladstoneGladstone, William1886 und 1893 eingebrachten Home-Rule-Gesetzesvorlagen scheiterten jedoch zunächst am Unterhaus, später auch am Oberhaus. Während im Parlament händeringend nach einer Lösung gesucht wurde, vertieften sich die Gräben auch innerhalb der irischen Nation. Im Norden formierten sich die Unionisten als Gegner der Home Rule, sie traten für einen Verbleib im Vereinigten Königreich ein. Im Süden gründete Douglas HydeHyde, Douglas1893 die »Gaelic League«, die sich auf die gälischen Wurzeln der Iren berief und von einer De-Anglisierung Irlands träumte, die vor allem durch die Verbreitung der irischen Sprache befördert werden sollte. Die von der Gaelic League angebotenen Irischkurse erfreuten sich im ganzen Land alsbald großer Beliebtheit.

In diese aufgeheizte Stimmung hinein wird Maeve Brennans Vater RobertBrennan, Robert am 22. Juli 1881 als Sohn eines Lebensmittelhändlers in Wexford geboren. Die alte Wikinger-Stadt im Südosten der Insel gilt als rebellisches Pflaster. 1798 war die Grafschaft Wexford das Zentrum der irischen Rebellion gegen die Engländer gewesen. Die Stadt lag lange in den Händen der Aufständischen, an ihren englandtreuen Mitbürgern wurden Massaker verübt. Die Bewohner von Wexford waren stolze irische Bürger, daran erinnert sich Maeve Brennan später gut: »Die Stadt blieb sich immer gleich, sehr alt und ständig in Bewegung, an jeder Ecke Menschen, und ganz gleich, um wen es sich handelte, stets wusste man, dass man dieselben Rechte genoss wie sie.«19 Die kleine Maeve wird viel Zeit bei den Großeltern in Wexford verbringen und die Stadt auch zum Schauplatz einer ihrer besten Kurzgeschichten, Die Quellen der Zuneigung, machen: »Die Straßen von Wexford sind sehr eng, eher gekrümmt als gewunden. An einigen Stellen ist die Main Street eben breit genug, dass ein Auto hindurchpasst, und der Gehsteig schrumpft auf die Breite einer Planke zusammen. Dauernd kommen Kinder entlanggehüpft, einen Fuß auf der Straße, den anderen auf dem Gehsteig, andere sausen und flitzen in verschlungenen Mustern zwischen den langsam fahrenden Rädern und Autos hindurch. Es ist ein müdes, verwinkeltes Städtchen mit einfachen, nicht zueinander passenden Häusern, die von der Sonne farbig getrocknet und vom Regen farbig gespült werden. Wexford hat nichts Düsteres. Die Sonne kommt ganz nah an die Stadt heran und scheint bisweilen inmitten der Häuser aufzugehen. Der Wind streut Samenkörner gegen die Mauern und in die Dachrinnen, sodass man, wenn man aufblickt, zwischen sich und dem Himmel Ringelblumen blühen sieht.«20

Das Haus, in dem Robert BrennanBrennan, Robert aufwächst und in dem seine Mutter einen kleinen Gemischtwarenladen betreibt, verbindet durch die Vordertür und die Hintertür zwei Straßen miteinander und wird von Maeve in Der Rosengarten ausführlich beschrieben: »Eigentlich bestand das Haus aus zwei Eckhäusern, die miteinander verbunden worden waren. Die Häuser waren aufs Geratewohl zusammengelegt worden, und die Stiege wand sich entschlossen von einem Haus ins andere, wenngleich sich nicht feststellen ließ, ob sie vom ersten Stock nach oben oder vom zweiten Stock nach unten gebaut worden war, so unansehnlich und unbequem war sie. Sie schob sich, schief und krumm, durchs Haus nach oben, und einige ihrer Stufen waren so schmal, dass es schwierig war, den Fuß aufzusetzen; andere wiederum begannen breit und verengten sich auf der anderen Seite zu einem Nichts, sodass man sich beim Hinabsteigen nicht so auf sie verlassen konnte wie beim Hinaufsteigen. Es war eine tückische Stiege, doch soweit man wusste, war bislang noch nie jemand darauf ausgerutscht, denn sie nötigte Respekt und Aufmerksamkeit ab, und die Leute nahmen sich auf ihr in acht.«21

Robert BrennanBrennan, Robert wächst behütet, aber in ärmlichen Verhältnissen auf. Die sechs Pence, die das Strand Magazine kostet, in dem Woche für Woche die Fortsetzung des neuen Sherlock-Holmes-Romans von Sir Arthur Conan DoyleDoyle, Arthur Conan erscheint, kann er nicht aufbringen, und so wird die Leihbücherei des Mechanics’ Institutes sein zweites Zuhause: »Ich lungerte im Lesesaal des Mechanics’ Institutes in Wexford herum und wartete darauf, dass die neuste Ausgabe der Zeitschrift auf den Tisch gelegt wurde. Dann schnappte ich sie mir als erster und verfolgte atemlos die neusten Abenteuer von Holmes. Während er auf Leben und Tod mit dem Erzschurken Moriarty kämpfte, stand der linkische Dr. Watson immer etwas hilflos daneben.«22 Seine ersten eigenen Schreibversuche bescheren Robert BrennanBrennan, Robert bald einen Preis für die beste Kurzgeschichte.

Als er 17 Jahre alt ist, stehen in Wexford große Feierlichkeiten zum Gedenken an die Rebellion von 1798 an. Höhepunkt der Festtage ist der Auftritt von Douglas HydeHyde, Douglas, dem Begründer der Gaelic League. Dieser löst mit seinem Aufzug fast einen Skandal aus. Im Gegensatz zum feinen Tuch, das der Mann von Welt bei derartigen Ereignissen üblicherweise trägt, ist der bärtige Hyde wie ein einfacher Bauer in rauen irischen Tweed gekleidet. HydeHyde, Douglas wettert gegen aus England importierte Billigstoffe und plädiert für Kleidung aus gutem irischem Tweed, die im Land gefertigt wird. Sein Anzug ist ein politisches Statement, das sogleich von der irischen Unabhängigkeitsbewegung übernommen wird und von nun an Teil des Kampfes gegen shoddy imported goods ist.

Die Ablehnung von britischer Importware wird zu einer Glaubensfrage, die weit über Kleidung hinausgeht und neben der Kritik an der englischen Massenproduktion auch den angeblichen moralischen Niedergang des Königreichs anprangert. 1908 kann man in einer Anzeige des Enniscorthy Echo lesen: »Um wie ein echter Mann, ein echter Ire auszusehen, müssen Sie einheimischen Tweed tragen.«23 Robert BrennanBrennan, Robert ist von HydesHyde, Douglas Auftritt so beeindruckt, dass er der Wexford Gaelic League beitritt und in seiner Freizeit Irischunterricht erteilt. Die gälische Sprache ist in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr verschwunden und durch die Amtssprache Englisch abgelöst worden. Jeden Abend schwingt sich Robert BrennanBrennan, Robert nun auf sein klappriges Fahrrad und radelt in die Dörfer der Umgebung, um neue Mitglieder für die League anzuwerben.

Mit seinem Einsatz für die irische Kultur steht er nicht allein da. Viele junge Leute schließen sich dem »Gaelic Revival«, der sogenannten irischen Renaissance an, die es sich Anfang des 20. Jahrhunderts zum Ziel gesetzt hat, die irische Kultur wiederzubeleben und den Iren ihre verlorengegangene Identität zurückzugeben. Neben der Wiederbelebung irischer Sportarten wie Hurling oder Gaelic Football durch die 1884 gegründete Gaelic Athletic Association und die Irischkurse der Gaelic League ist es vor allem das 1904 in Dublin von W.B. YeatsYeats, William Butler (W. B.) und Isabelle Augusta GregoryGregory, Isabelle Augusta gegründete Abbey Theatre, das zur Identitätsbildung der Iren beiträgt. Auf dieser Bühne wird ausschließlich Irisch gesprochen, englische Stücke werden übersetzt, moderne irische Dramen erleben hier ihre Uraufführung. Thematisch beschäftigen sich die Stücke meist mit der irischen Vergangenheit. Dabei wird die Einfachheit des Lebens reichlich eindimensional romantisiert, während die bittere Armut sowie die undurchdringbaren Klassenschranken, die Millionen Iren zum Auswandern genötigt haben, vernachlässigt werden.

Obwohl die irische Renaissance als reines Kulturprojekt beginnt, lässt sie sich schon bald nicht mehr von der Politik trennen. Während des Zweiten Burenkriegs 1899–1902 werden erstmals Stimmen laut, die die Situation in Südafrika mit der in Irland vergleichen. Beide Länder seien britische Kolonien, weshalb kein Ire für Großbritannien in diesen Krieg ziehen solle. Im »Irish Transvaal Committee« finden sich politische Aktivisten wie Arthur GriffithGriffith, Arthur und James ConnollyConnolly, James Seite an Seite mit W.B. YeatsYeats, William Butler (W. B.) und Maud GonneGonne, Maud, der irischen Jeanne d’ArcD’Arc, Jeanne wieder. Die hochgewachsene Schauspielerin gilt nicht nur als die schönste Frau Irlands, sie ist auch eine der beeindruckendsten Persönlichkeiten des irischen Unabhängigkeitskampfes.

1905 gründet Arthur GriffithGriffith, Arthur in Dublin die Sinn-Féin-Partei, die ein anglo-irisches Königreich mit einem gemeinsamen Monarchen, aber getrennten Regierungen anstrebt. Vorbild ist die Donaumonarchie Österreich-Ungarn. Wie eng die Verknüpfung zwischen Politik und Kultur ist, zeigt sich am ersten Vorsitzenden der Partei, dem irischen Dramatiker Edward MartynMartyn, Edward, Mitbegründer des Abbey Theatres und zusammen mit George Bernard ShawShaw, George Bernard, W.B. YeatsYeats, William Butler (W. B.) und John Millington SyngeSynge, John Millington Mitglied des literarischen Zirkels von Dunguaire Castle.

Am 6. Juli 1909 heiratet Robert BrennanBrennan, Robert Una BolgerBrennan, UnaBolger, Una (Anastasia)Brennan, Una, eine Frau, die ihm in Sachen radikaler Nationalismus in nichts nachsteht. Geboren als Anastasia BolgerBrennan, Una am 11. September 1888 in der Nähe von Oylegate, hat sie ihren englischen Namen Anastasia abgelegt und sich für den irischen Namen Una entschieden. Das Farmland samt zugehörigem Haus, in dem UnaBrennan, Una aufwächst, wird von Tochter Maeve, die einen Großteil ihrer Kindheit hier verbringt, in einer Kurzgeschichte hinlänglich beschrieben: »Das Haus ist weiß getüncht, die Haustür grün gestrichen. Die Haustür führt in eine quadratische Diele, eben groß genug, dass man eintreten kann. Rechter Hand befindet sich eine Tür, die ins Wohnzimmer führt. Diese Tür ist stets geschlossen. Auf der linken Seite liegt die Küche, deren Tür stets offensteht. In der gegenüberliegenden Wand ist ein ganz kleines Fenster eingelassen, so dass jeder, der am Küchenherd sitzt, hinausschauen und sehen kann, wer den Feldweg heraufkommt.«24

Als ältester Tochter der Familie wird UnaBrennan, Una gestattet, über die Volksschule hinaus die Schule des Loreto-Konvents in Enniscorthy zu besuchen. Dort soll sie Nonne werden. Irische Familien sind nicht nur gute Katholiken, sondern in der Regel auch sehr kinderreich und so wird oftmals zumindest ein Kind dazu auserkoren, dem Herrn zu dienen. Meist trifft dies eines der Mädchen, deren Chancen auf ein Auskommen einzig in der Heirat oder im Kloster liegen. Die Auswanderungsquote unverheirateter junger Mädchen ist folglich überdurchschnittlich hoch. Zwar fristen die meisten als Dienstmädchen in Übersee ein erbärmliches Leben, doch das hindert sie nicht, den Großteil ihres geringen Einkommens pflichtschuldig in die alte Heimat zu übersenden. Maeve Brennan thematisiert diese Problematik viele Jahre später in ihrer Kurzgeschichte Die Braut: »Als ihr Onkel ihr aus New York schrieb und sich erbot, ihr das Geld für die Überfahrt zu leihen, nahm sie sein Angebot sofort an, glaubte sie doch bis zur letzten Minute, dass ihre Mutter Vernunft annehmen und ihr verbieten würde, von zu Hause fortzugehen. Doch die Mutter schien hocherfreut […]. Als die Schulden, die sie bei ihrem Onkel hatte, abbezahlt waren, kabelte sie immer mehr Geld nach Hause, sparte sich jeden Bissen vom Munde ab, um möglichst viel überweisen zu können. Dauernd wollte sie anfangen, das Geld für die Heimfahrt zusammenzusparen, aber im Grunde genommen glaubte sie, wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, ihre Mutter wiederzusehen, werde sich die Summe ganz von selbst einfinden. […] Alles hatte sich als trügerisch erwiesen: Die Mutter war vor fünf Monaten gestorben.«25

UnaBrennan, Una ist eine exzellente Schülerin, glänzt vor allem in Chemie und denkt überhaupt nicht daran, ins Kloster einzutreten. Allerdings fühlt sie sich nach ihrem Abschluss auf der elterlichen Farm nicht mehr willkommen. So oft wie möglich fährt sie mit dem Rad die sieben Meilen nach Wexford, um hier am kulturellen Leben teilzuhaben, das fest in der Hand der Anhänger der irischen Renaissance ist. Bald gehört auch Una dazu: Als erste Konsequenz legt sie ihren Taufnamen Anastasia ab und nennt sich von nun an offiziell UnaBrennan, Una, ein im Mittelalter sehr beliebter irischer Name. Damit folgt sie einem Aufruf irischer Nationalisten, die englischen Taufnamen abzulegen und auch in offiziellen Dokumenten die irische Entsprechung des ursprünglichen Namens zu verwenden.

Kurz nach der Hochzeit mit UnaBrennan, Una wird RobertBrennan, Robert, der als Straßeninspizient tätig ist, entlassen. Als es auf einer von ihm begutachteten Brücke zu einem Unfall kommt, nutzt man die Gelegenheit, den jungen Mann, dessen politisches Engagement mit Argwohn beobachtet wird, loszuwerden. Glücklicherweise bietet ihm der Chefredakteur des Enniscorthy Echo umgehend eine Stellung als Korrespondent für Wexford an, die RobertBrennan, Robert hocherfreut annimmt.

UnaBrennan, Una engagiert sich derweil bei den »Inghinidhe na hÉireann«, den Töchtern Irlands: »Irland braucht die liebevolle Unterstützung all seiner Kinder. Es ist den Irischen Frauen nicht hinreichend klar, dass es auch in ihrer Macht steht, die Irische Sache zu befördern oder zu verhindern. Wenn sie sich dessen bewusst wären, dann bliebe uns der traurige Anblick von irischen Mädchen erspart, die am Arm eines Mannes die Straße entlang flanieren, der die Uniform der Unterdrücker trägt.«26 In der 1900 von Maud GonneGonne, Maud gegründeten feministisch-nationalistischen Frauenvereinigung treffen sich radikale Frauen, die für Unabhängigkeit und Frauenrechte streiten. UnaBrennan, Una ist im Juli 1908 beigetreten und hat seit dieser Zeit auch eine monatliche Kolumne im Wexford Echo. Bereits in ihrem ersten Artikel fordert sie nicht weniger als die Hälfte der Welt: »Wir Frauen übernehmen im täglichen Leben die Hälfte des Denkens und in vielen Fällen auch noch die Hälfte, wenn nicht gar weit mehr, der niederen Dienste. Aber wenn es darum geht, Gesetze zu verabschieden die beide Geschlechter betreffen, dann sagt der Mann zu uns: ›Das schaff ich schon alleine, danke. Geh du nur heim und kümmere dich um das Haus.‹ Und dabei ist es doch manchmal so, dass der Mann, der die Frau so verhöhnt, nicht einmal genügend Verstand besitzt, um die Katze von der Milch fernzuhalten.«27 Die Töchter Irlands stehen den nationalistischen Männern in nichts nach, sie sind ein fester Bestandteil der irischen Freiheitsbewegung. Ihre wöchentlichen Treffen finden in den Räumen der Sinn Féin in der Monck Street in Wexford statt.

Mr. und Mrs. BrennanBrennan, UnaBrennan, Robert führen ihre gesamte Korrespondenz mittlerweile auf Irisch und werden Mitglieder der 1908 von Seán Mac DiarmadaMac Diarmada, Seán reaktivierten »Irish Republican Brotherhood« (IRB). Der alte Geheimbund, dessen Mitglieder, die Fenier, mit Waffengewalt die Unabhängigkeit Irlands erzwingen wollten, ist seit langem verboten. Der irische Revolutionär Thomas James ClarkeClarke, Thomas James, der 1883 zusammen mit anderen Feniern versucht hatte, die London Bridge zu sprengen, war nach einer 15-jährigen Haftstrafe und anschließendem Exil erst vor kurzem aus den USA nach Irland zurückgekehrt und arbeitet nun eng mit Seán Mac DiarmadaMac Diarmada, Seán zusammen. Während die Mitgliedschaft von Robert BrennanBrennan, Robert in der IRB nur folgerichtig erscheint, ist UnasBrennan, Una Aufnahme in den Männerbund eine Sensation, wie RobertBrennan, Robert selbst berichtet: »In der IRB galt das ungeschriebene Gesetz, dass Frauen nicht Mitglied der Organisation werden konnten. […] Als ich mich jedoch mit dem Gedanken trug zu heiraten, wurde das Geheimhaltungsgelübde, das ich geleistet hatte, zum Problem. Ich fand, es sei Unrecht, meine Aktivitäten vor der Frau, die meine Lebensgefährtin sein würde, zu verheimlichen. Aber etwas erzählen konnte ich ihr nur, wenn sie ebenfalls Mitglied war. Ich habe dieses Dilemma den Verantwortlichen vorgetragen, und ich war dabei so hartnäckig, dass UnaBrennan, Una in die Organisation aufgenommen wurde. […] Später habe ich erfahren, dass es außer ihr nur eine einzige Frau gegeben hat, die ebenfalls Mitglied war. Ich denke, das war Maud GonneGonne, Maud.«28

Neben all ihrem Engagement für die Politik bleibt den beiden kaum Zeit für ihre am 21. Mai 1910 geborene Tochter EmerBrennan, Emer. Sie erhält wie alle Töchter der BrennansBrennan, UnaBrennan, Robert den Namen einer irischen Königin aus dem berühmten Ulster-Zyklus. Königin Emer, die mit den sechs größten Gaben einer Frau gesegnet ist, Schönheit, liebliche Stimme, süße Worte, Weisheit, Kunstfertigkeit im Nähen und Keuschheit, ist Hauptfigur mehrerer Sagen des Zyklus und die Frau eines der größten Helden von Ulster, Cú Chulainn. Ein kurz nach EmerBrennan, Emer geborener Sohn stirbt zum großen Kummer der Eltern noch im Kindbett.

Um 1912 hat es Robert BrennanBrennan, Robert bereits zu einer leitenden Funktion bei Sinn Féin und der IRB gebracht und arbeitet mit den wichtigsten Persönlichkeiten der irischen Unabhängigkeitsbewegung zusammen, darunter mit den legendären irischen Gewerkschaftsführern Jim LarkinLarkin, James (Jim) und James ConnollyConnolly, James. Letzterer ist trotz rudimentärer Schulbildung einer der einflussreichsten sozialistischen Theoretiker seiner Zeit. Jim LarkinLarkin, James (Jim), Führer der irischen Gewerkschaftsunion, auch Big Jim genannt, ist in absoluter Armut aufgewachsen und verknüpft genau wie ConnollyConnolly, James die Unabhängigkeitsfrage mit der sozialen Frage. Er wird von seinen Anhängern tief verehrt: »Hier war ein Mann, der den Verstand und den Mut hatte, durch seine Taten zu zeigen, dass der internationale Sozialismus nicht dafür steht, dass wir unsere Identität mit der der Engländer verschmelzen […], sondern für freie Nationen und nationale Einheiten, die auf der Basis absoluter Gleichheit miteinander assoziiert sind, zu dem Zweck, für die Menschen national und für die Nationen international eine noble Zivilisation zu erreichen und zu bewahren, die auf nationalen Regierungen von Menschen für Menschen beruht.«29

1913 kommt es zum Arbeitskampf zwischen der Irish Transport and General Workers Union auf der einen Seite und der Guinness Brauerei sowie der Dublin United Tramway Company auf der anderen Seite. Er endet mit der Aussperrung von 25000 Arbeitern. Der sieben Monate dauernde »Dublin Lockout« wird zur schwersten industriellen Auseinandersetzung in der Geschichte Irlands. Nachdem Gewerkschaftsführer Jim LarkinLarkin, James (Jim) verhaftet wird, kommt es zu Straßenschlachten mit Toten und Verletzten. RobertBrennan, Robert und UnaBrennan, Una verstecken in ihrem Haus Gewerkschafter, die auf der Flucht vor der britischen Armee sind. Die Erfahrungen dieser Tage führen dazu, dass Jim LarkinLarkin, James (Jim) und James ConnollyConnolly, James im November 1913 eine Arbeiterarmee, die »Irish Citizen Army«, ins Leben rufen. Anfang 1914 endet der Streik, nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Unterstützung der britischen Gewerkschaften. Jim LarkinLarkin, James (Jim) emigriert in die USA.

Währenddessen schreitet die Militarisierung des irisch-britischen Konflikts voran. Nachdem im Norden Irlands die protestantischen Loyalisten der Ulster Unionists die »Ulster Volunteer Force« gegen das von der britischen Regierung geplante Selbstverwaltungsgesetz für Irland ins Leben rufen, gründen die katholischen Nationalisten als Antwort darauf das »Irish National Volunteer Corps«, den Vorläufer der IRA, dem RobertBrennan, Robert umgehend beitritt. Auch UnaBrennan, Una radikalisiert sich weiter. Sie gründet mit Gleichgesinnten das Frauen-Bataillon »Cumann na mBan«. Die Frauen sind bereit, ebenfalls mit der Waffe in der Hand für die irische Freiheit zu kämpfen, dies zeigt auch ihr Erkennungszeichen: Die uniformierten Frauen tragen eine Brosche, auf der neben dem Schriftzug der Bewegung ein Gewehr abgebildet ist. Cumann na mBan besteht bis heute. Noch immer marschieren die Frauen in ihren Uniformen durch die Straßen Nordirlands. Wer dies für reine Traditionspflege hält, irrt gewaltig. Als die IRA1986 offiziell ihren Gewaltverzicht erklärte und sich auflöste, wiedersetzte sich ein besonders radikaler Teil, der den Kampf gegen Großbritannien als »Real IRA« fortsetzte. Diesen Abtrünnigen schloss sich auch Cumann na mBan an. Cumann-na-mBan-Mitglied und Generalsekretärin des radikalen Flügels der Sinn Féin Josephine HaydenHayden, Josephine wurde 1995 zu fünf Jahren Haft verurteilt, nachdem man in ihrem Wagen Waffen gefunden hatte. Nach ihrer Entlassung erklärt sie, sich den Briten niemals zu ergeben. Noch im Jahre 2015 führte das britische Home Office Cumann na mBan auf der Liste der dem Terrorismus nahestehenden Organisationen.

Während Irland 1914 kurz vor einem Bürgerkrieg steht, beginnt im August der Erste Weltkrieg. Manche der irischen Nationalisten hoffen darauf, dass die britische Regierung die Bereitschaft der Iren, an der Seite Englands gegen Deutschland zu kämpfen, mit der Entlassung in die Selbstverwaltung belohnen werde, andere wiederum setzen auf den bewaffneten Widerstand und eine Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich, das bereitwillig Waffen für die irische Revolution liefert.

Als im Frühjahr 1916 der Osteraufstand gegen die britischen Besatzer beginnt, sind UnaBrennan, Una und Robert BrennanBrennan, Robert an vorderster Front beteiligt, auch wenn der Aufstand von Anfang an unter keinem guten Stern steht: Streitigkeiten unter den Revolutionären vermindern die Truppenstärke, Marschbefehle werden erteilt und wieder zurückgenommen, es herrscht das blanke Chaos. Obwohl die Übergabe einer Waffenlieferung aus Deutschland scheitert, setzen sich die Truppen am 24. April 1916 in Bewegung. Patrick PearsePearse, Patrick führt die Irish Volunteers an, James ConnollyConnolly, James die Irish Citizen Army. In Dublin besetzen die Soldaten das Hauptpostamt und andere wichtige Gebäude. Den Regierungssitz zu stürmen gelingt ihnen jedoch nicht. Lady Constance MarkieviczMarkievicz, Constance, eine 48-jährige Adelige, die zur berühmtesten Kommandantin des irischen Unabhängigkeitskampfs wird, ist in ihrer grünen Militäruniform, mit Federhut und umgeschnallter Waffe Zweite Oberkommandierende im Abschnitt St. Stephens Green: »Die Stunde, auf die wir so sehnsüchtig gewartet haben, war endlich gekommen. Unser Herzenswunsch war erhört worden, und wir waren sehr glücklich.«30 Patrick PearsePearse, Patrick ruft mit der Verlesung der Osterproklamation die Irische Republik aus.

UnaBrennan, Una und Robert BrennanBrennan, Robert kämpfen in Enniscorthy, EmerBrennan, Emer haben sie zu den Großeltern gebracht. RobertBrennan, Robert dient als Quartiermeister einer lokalen Brigade, UnaBrennan, Una ist eine von drei weiblichen Freiwilligen, die auf das Athenaeum von Enniscorthy klettern und die Trikolore hissen. Eine Woche hat die Irische Republik Bestand, dann liegen allein in Dublin mehr als 1000 Tote in den Straßen, die Hälfte davon britische Soldaten.

Die Anführer des Osteraufstandes werden verhaftet. Von ihrer Zelle aus kann Lady Constance MarkieviczMarkievicz, Constance die Hinrichtung von mehr als fünfzehn Männern verfolgen, darunter Patrick PearsePearse, Patrick, Thomas James ClarkeClarke, Thomas James und Seán Mac DiarmadaMac Diarmada, Seán. James ConnollyConnolly, James ist so schwer verwundet, dass man ihn auf einem Stuhl festbinden muss, um ihn erschießen zu können. George Bernard ShawShaw, George Bernard schreibt über diesen grausamen Akt: »Es ist absolut unmöglich, einen Mann in solch einer Position hinzurichten, ohne aus ihm einen Märtyrer oder einen Helden zu machen.«31 Tatsächlich heizen die Vergeltungsmaßnahmen der britischen Regierung und die Hinrichtung der Anführer des Aufstandes die antibritische Stimmung auch bei den Iren, die der Rebellion skeptisch gegenüberstanden, weiter an. Robert BrennanBrennan, Robert wird zusammen mit seinen Offizieren nach Dublin gebracht. Doch weil der Protest gegen die Hinrichtungen inzwischen so laut geworden ist, wird seine Todesstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt, die er im englischen Dartmoor absitzen muss.

Als UnaBrennan, Una ihn in seiner Zelle in Dublin zum letzten Mal für ein langes Jahr zu sehen bekommt, ahnt sie noch nicht, dass sie wieder schwanger ist. Sie lässt sich nach RobertsBrennan, Robert Deportation mit EmerBrennan, Emer in Dublin nieder, wo Cumann na mBan die Frauen der Inhaftierten unterstützt. Am 6. Januar 1917 wird sie im Denmark House, einem Geburtshaus in Dublin, von einem kleinen Mädchen entbunden. Das Kind erhält die Namen Maeve Brigid Clarke Brennan. Brigid heißt sie nach RobertsBrennan, Robert Mutter, Clarke nach dem hingerichteten Rebellen Thomas ClarkeClarke, Thomas James. Der Name Maeve hingegen, der sich vom irischen Medb ableitet und so viel wie »berauschend« und »mitreißend« bedeutet, folgt einmal mehr der irischen Mythologie. Táin Bó Cúailnge, der Rinderraub von Cooley, ist die wichtigste Sage des Ulster-Zyklus, der zu den vier großen Zyklen der irischen Literatur zählt. Darin wird die Geschichte des Krieges zwischen den Ländern Connacht und Ulster erzählt. Die Connachter wollen den Bullen von Cooley stehlen, doch der junge Cú Chulainn tritt ihnen entgegen. Weibliche Hauptfigur der Sage ist die legendäre keltische Königin Medb. Sie gilt als eine zentrale Figur der irischen Mythologie, ist mutig, selbstbewusst, frei und emanzipiert – genau wie Maeve es einmal sein wird. Im Prolog der Sage lässt sie sich auf einen Wettstreit mit ihrem Gatten ein, in dem es darum geht, wer von beiden reicher ist. Ein Wettstreit, der schließlich zum Rinderraub von Cooley führt, denn genau dieser Bulle würde den Unterschied zwischen den Eheleuten ausmachen. Nachdem der Versuch, den Bullen für ein Jahr zu leihen, scheitert, zieht Medb in den Krieg, um ihn sich mit Gewalt zu holen.

Während UnaBrennan, Una Maeve nach Hause holt, leidet RobertBrennan, Robert im Gefängnis von Dartmoor: »Das Leben im Gefängnis war tödlich langweilig und die Routine zum Verrücktwerden monoton. […] Wir standen vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr unter Beobachtung.«32 Lady Constance MarkieviczMarkievicz, Constance, die in Aylesbury einsitzt, schildert in ihren Memoiren, wie schlecht die politischen Gefangenen behandelt werden: »Jeden Abend wurde unser Porridge mit einer großen Zinnkelle aus dem Kübel geschöpft. Die Kelle lag dann über Nacht in einem schmutzigen Eimer, in dem auch die Bürste lag, mit der die Klos gescheuert wurden. Die Matratze, die man mir bei meiner Einlieferung gab, war so schmutzig, dass es jeder Beschreibung spottet. Ich musste damit zurechtkommen, bis zum Tag meiner Entlassung. Man gab mir alte Kleider, die von anderen Gefangenen schon getragen worden waren. Die Schuhe waren voller Löcher, sodass Feuchtigkeit und Schnee durchdrangen. Und immer war da die Angst, man würde sich irgendeine fürchterliche Krankheit holen.«33

Die Gefangenen entwickeln eigene Strukturen, um in der Haft zurechtzukommen. An der Spitze der irischen Gefangenen in Dartmoor steht Éamon de ValeraDe Valera, Éamon, der spätere Regierungschef der Republik Irland. Geboren 1882 in den USA, hatte ihn sein US-amerikanischer Pass nach dem Osteraufstand vor der Hinrichtung bewahrt. Dabei ist de ValeraDe Valera, Éamon durch und durch Ire. Aufgewachsen bei der Großmutter in Irland, ist er seit langem eine der führenden Figuren der irischen Unabhängigkeitsbewegung. Robert BrennanBrennan, Robert, der im Gefängnis seine Bekanntschaft macht, ist sogleich fasziniert von de ValeraDe Valera, Éamon und wird zum lebenslangen treuen Parteigänger.

Im Juni 1917 werden die Aufständischen im Zuge einer Generalamnestie entlassen. Robert BrennanBrennan, Robert kann Maeve zum ersten Mal in seine Arme schließen. Die Familie geht nach Wexford zurück, wo RobertBrennan, Robert seine Tätigkeit beim Enniscorthy Echo ebenso wieder aufnimmt wie seine politischen Aktivitäten: Er wird Kommandeur der Irish Volunteers von Wexford. Als er mit seinen Männern zum Gedenken an die Toten des Osteraufstands eine Parade abhält, wird er abermals verhaftet, kehrt aber bereits im November 1917 wieder nach Hause zurück.

1918 stehen in Großbritannien Wahlen an. Die Sinn-Féin-Partei will ihre Arbeit professionalisieren und ihr Programm international bekannt machen. Deshalb wird die Einrichtung einer Presseabteilung beschlossen, deren Leitung Robert BrennanBrennan, Robert übertragen wird. Seine neue Position hat die Rückkehr nach Dublin zur Folge. Die Familie lässt sich in der Belgrave Road nieder, in der viele Aufständische leben. Darunter Kathleen LynnLynn, Kathleen, Suffragette, Sinn-Féin-Aktivistin und eine der ersten Medizinerinnen Irlands. Nach Verbüßen ihrer Haftstrafe für die Beteiligung am Osteraufstand als Chief Medical Officer gründet sie das erste Kinderkrankenhaus Dublins. Auch die Suffragette Hanna Sheehy-SkeffingtonSheehy-Skeffington, Hanna zählt zu den neuen Nachbarn der Brennans. Die Gründerin der »Irish Women’s Franchise League« hatte viele Male für ihren militanten Einsatz ums Frauenstimmrecht im Gefängnis gesessen und mit ihrem Mann FrancisSheehy-Skeffington, Francis Seite an Seite beim Osteraufstand gekämpft. Nachdem dieser von den Briten hingerichtet worden war, reiste sie als Agitatorin für die irische Unabhängigkeit durch die USA und wurde bei ihrer Rückkehr nach Großbritannien umgehend verhaftet. Seit ihrer Entlassung lebt sie in der Belgrave Road, die im Volksmund auch »Straße der Rebellen« heißt.

Am 16. Oktober 1918 wird hier Ita DeirdreBrennan, Ita Deirdre geboren, die dritte Tochter der Brennans. Auch sie erhält mit Deirdre einen Namen aus der irischen Mythologie, respektive aus einer Vorgeschichte zum Rinderraub Longas mac nUislenn (Das Exil der Söhne Uislius). Darin wird die Geschichte von Deirdre erzählt, die so schön ist, dass viele Krieger um sie werben. Sie aber flieht mit dem Mann, den sie liebt, nach Schottland, wo die beiden allerdings schon bald aufgespürt werden. Als der Geliebte getötet wird, weigert sich Deirdre, einen anderen Mann zu heiraten, und begeht Selbstmord. Der irische Nationaldichter John Millington SyngeSynge, John Millington hat die Sage zusammen mit W.B. YeatsYeats, William Butler (W. B.) in Deirdre of the Sorrows1909 dramatisch umgesetzt. Maeve Brennan erinnert sich Jahre später gemeinsam mit DeirdreBrennan, Ita Deirdre an ihre Kindheit: »Das erste Mal, dass ich dich bewusst wahrgenommen habe, […] war kurz bevor wir nach Ranelagh zogen. Das war, als wir noch in dem Haus in der Belgrave Road wohnten. Du musst wohl um die achtzehn Monate alt gewesen sein. Jemand hielt dich im Arm und du hast EmerBrennan, Emer die Mütze vom Kopf gerissen und sie ins Kaminfeuer geschleudert, und EmerBrennan, Emer hat geweint. Es war eine neue Wollmütze, die sie da hatte.«34

Vier Wochen nach DeirdresBrennan, Ita Deirdre Geburt wird Robert BrennanBrennan, Robert erneut verhaftet und nach England gebracht, wo er zusammen mit Sinn-Féin-Gründer Arthur GriffithGriffith, Arthur inhaftiert wird. Zu den Parlamentswahlen 1918 ist RobertBrennan, Robert jedoch wieder auf freiem Fuß. Sinn Féin erhält bei dieser ersten Wahl in Großbritannien, an der sich auch Frauen beteiligen dürfen, viele Stimmen. Die ehemalige Kommandantin Lady Constance MarkieviczMarkievicz, Constance erobert als erste und einzige Frau in Großbritannien ein Mandat. Doch ebenso wie ihre Parteikollegen verzichtet sie darauf, ihren Sitz im Unterhaus einzunehmen. Stattdessen konstituieren die irisch-republikanischen Abgeordneten im Januar 1919 das Parlament der Irischen Republik, den Dáil Éireann, und rufen am 21. Januar die Irische Republik aus. Noch am selben Tag töten Angehörige der Irish Volunteers, die sich nun in »Irish Republican Army« (IRA) umbenennen, in einem Hinterhalt bei Soloheadbeg zwei britische Soldaten.

Während Éamon de ValeraDe Valera, Éamon durch die USA tourt, um unter den dort lebenden Iren Verbündete für den Freiheitskampf in der alten Heimat zu finden, verbietet die britische Regierung den Dáil Éireann als terroristische Organisation und schreibt seine Mitglieder zur Fahndung aus. Robert BrennanBrennan, Robert muss untertauchen. Als Mitglied der Propaganda-Abteilung von Sinn Féin gibt er in den nächsten Monaten im Untergrund die Zeitschrift Bulletin heraus. Vorrübergehend mutiert die Wohnung der Familie Brennan in der Belgrave Road zum Redaktionsbüro.

Während RobertBrennan, Robert auf der Flucht ist, mal hier mal da schläft, durchkämmen britische Einheiten die Straßen nach den Flüchtigen. Die eigens für den Irlandkonflikt ins Leben gerufenen »Black and Tans« schädigen durch ihr rücksichtsloses Vorgehen das Ansehen der britischen Regierung nachhaltig. Am 27. Februar 1919 halten die gefürchteten Lastwagen vor der Belgrave Road No. 10. Heraus springen vermummte Soldaten mit Maschinengewehren. Was UnaBrennan, Una und die Kinder in dieser Nacht erleben, dient Robert Erskine ChildersChilders, Robert Erskine, prorepublikanischer Journalist der Daily News, als Beispiel für die Grausamkeit der englischen Truppen: »Mrs. Robert BrennanBrennan, Una […] allein zu Hause mit ihren drei kleinen Kindern, wird in der Nacht vom 27. Februar durch heftiges Klopfen aus dem Schlaf gerissen. Im Nachthemd läuft sie die Treppe hinunter, bittet darum, sich noch anziehen zu dürfen, und erhält zur Antwort: ›Hol dich der Teufel, mach auf, oder wir treten die Tür ein!‹ Sie wird beiseite gestoßen. […] Was folgt, ist qualvoll. Einer der Soldaten ist betrunken und flucht. Statt dass man sich gnädig zeigt und ihr erlaubt, zu ihren Kindern zu gehen, wird sie unter Bewachung gestellt, während das Haus durchsucht wird. Die Durchsuchung wird von einer Rohheit und Unverschämtheit begleitet, die den Hunnen zur Ehre gereicht hätte. Es wird nichts gefunden. Keinerlei Entschuldigung. Das ist keine zivilisierte Kriegsführung.«35

Robert BrennanBrennan, Robert, von Freunden in seinem Versteck alarmiert, kann nur hilflos aus der Ferne beobachten, was mit seiner Familie passiert: »Nachdem ich über die Mauer geklettert war, sah ich UnaBrennan, Una blass und in sich gekehrt am Fenster stehen. Noch nie schien sie einem Zusammenbruch so nahe wie in diesem Moment. Sie hatte geweint. Man hatte sie die ganze Nacht unten festgehalten und nicht zu den Kindern gelassen. Sie und EmerBrennan, Emer, die erst neun Jahre alt war, waren über Stunden verhört worden […]. Die Zimmer sahen aus, als ob eine Herde wilder Stiere durch sie getrampelt wären. Die beiden Kleinen, Maeve, drei Jahre alt, und DeirdreBrennan, Ita Deirdre, gerade mal eineinhalb Jahre alt, waren völlig hysterisch, was wirklich niemanden zu wundern braucht.«36 Tatsächlich hätte eine gründliche Hausdurchsuchung bei den Brennans allerhand zu Tage fördern müssen. Nicht nur, dass im Haus Papiere und Dokumente versteckt werden, im Gartenhaus verbirgt UnaBrennan, Una immer wieder auch Rebellen. Selbst RobertBrennan, Robert taucht hin und wieder auf. Den Mädchen wird eingeschärft, niemals irgendetwas zu notieren, was auch nur den leisesten Hinweis auf das Versteck ihres VatersBrennan, Robert geben könnte.

Während RobertsBrennan, Robert Flucht muss UnaBrennan, Una die Familie allein über Wasser halten. Als fliegende Händlerin zieht sie mit den Kindern von Haustür zu Haustür und preist ihre Waren an. Politisch steht sie voll und ganz hinter ihrem Mann – seine Sache ist auch die ihre. Ein wie auch immer geartetes Familienleben findet bei den Brennans nicht statt. Die glücklichste Zeit ihrer Kindheit verbringen die Kinder fern von ihren rebellischen Eltern bei den Verwandten in Wexford und Coolnaboy. Maeve besucht hier sogar die Vorschule. An ihrem ersten Schultag weint sie bittere Tränen, allein und ohne Eltern steht sie in der Klasse, bedauert von den Mitschülerinnen.

Am 1. April 1919 gründet sich im Untergrund eine irische Regierung unter Ministerpräsident Éamon de ValeraDe Valera, Éamon. Robert BrennanBrennan, Robert übernimmt auf de ValerasDe Valera, Éamon Wunsch hin im Auswärtigen Amt den Posten eines Staatssekretärs für politische Angelegenheiten. Constance MarkieviczMarkievicz, Constance wird Arbeitsministerin und damit die erste Ministerin Westeuropas. Die Mitglieder der neuen Regierung können sich nur heimlich treffen, flüchten über Dächer und durch Keller, aber sie halten die Regierungsgeschäfte aufrecht. Constance MarkieviczMarkievicz, Constance tarnt sich als ältere Dame, um an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen: »Es ist schrecklich komisch, auf der Flucht zu sein. […] Jedes Haus ist für mich offen & jeder ist bereit mir zu helfen. Ich rase auf meinem Fahrrad durch die Stadt & es ist zu lustig, den Ausdruck auf den Gesichtern der Polizisten zu sehen, wenn sie mich vorbeizischen sehen.«37

Die Verhaftungen von Sinn-Féin-Mitgliedern, IRA-Angehörigen und -Sympathisanten nehmen jetzt zu. Im Mai 1919 wird Constance MarkieviczMarkievicz, Constance nach einer Veranstaltung vom britischen Militär verhaftet. Mit einem dreifachen Hoch auf die Republik Irland tritt sie ihren Gang ins Frauengefängnis nach Cork an. Der blutige Guerillakampf der IRA gegen die britischen Besatzer, unter der Führung von Michael CollinsCollins, Michael, beginnt.

Am 21. November 1920 kommt es zum ersten Blutsonntag in der irischen Geschichte. Nachdem republikanische Truppen zwölf britische Spione erschießen, feuern Angehörige der »Auxiliaries«, einer paramilitärischen Einheit innerhalb der königlich irischen Schutzpolizei, im Croke Park Stadion in Dublin während eines Gaelic-Football-Spiels in die Menge. Vierzehn Menschen sterben, Hunderte werden verwundet. Stunden später werden drei republikanische Häftlinge erschossen. Die Gewalt eskaliert. Allein zwischen Januar und Juli 1921 fordert der anglo-irische Krieg über tausend Tote.

Doch mit jedem Toten wächst auf beiden Seiten die Bereitschaft für Verhandlungen. Die IRA ist der britischen Armee zwar langfristig unterlegen, beschert dem Vereinigten Königreich aber hohe Opferzahlen und immense Kosten. Zudem sieht sich die britische Regierung immer größerer Kritik am Vorgehen ihrer Truppen in Irland ausgesetzt. Bereits im Dezember 1920 hatte Premierminister David Lloyd GeorgeGeorge, David Lloyd im Parlament den Government of Ireland Act eingebracht, um den Konflikt zu entschärfen. Im Juli 1921 beginnen zwischen David Lloyd GeorgeGeorge, David Lloyd und Éamon de ValeraDe Valera, Éamon Waffenstillstandsgespräche.

Noch bevor der Vertrag unterschrieben ist, kommt es unter den irischen Nationalisten zu Unstimmigkeiten. De ValeraDe Valera, Éamon, der die Gespräche zunächst angestoßen hat, weigert sich, die Verhandlungen weiterzuführen, ist mit dem Angebot der Briten nicht einverstanden. Am Ende unterzeichnet Michael CollinsCollins, Michael als Leiter der irischen Delegation im Dezember 1921 den Friedensvertrag, der 26 irischen Grafschaften eine Art Dominion Status gewährt. Dies bedeutet für Irland eine eigene Außenpolitik und volle Hoheit über die Innenpolitik. Allerdings bleibt der englische König das Staatsoberhaupt, auf das die irischen Abgeordneten einen Treueid schwören müssen. Zudem bleibt Irland Mitglied des Commonwealth und ist zur Verteidigung des Königreiches verpflichtet. Die sechs nördlichen Provinzen Antrim, Armagh, Down, Fermanagh, Londonderry und Tyrone sowie die Stadtbezirke Derry und Belfast bilden von nun an Nordirland und bleiben Teil Großbritanniens.

Der Vertrag, der offiziell die Teilung der Insel einleitet, ist in Irland populär, einzig innerhalb der Sinn Féin, die für ein vereintes unabhängiges Irland kämpft, ist er höchst umstritten. Als die Abgeordneten im Dáil Éireann den Vertrag am 7. Januar 1922 absegnen, tritt de ValeraDe Valera, Éamon als Ministerpräsident zurück. Die Vertragsbefürworter bilden eine neue provisorische Regierung, deren Vorsitzender Michael CollinsCollins, Michael wird. CollinsCollins, Michael, 1996 im gleichnamigen Film herausragend dargestellt von Schauspieler Liam NeesonNeeson, Liam, hält den Vertrag für das im Augenblick maximal Erreichbare. Robert BrennanBrennan, Robert, der wie de ValeraDe Valera, Éamon zu den Vertragsgegnern gehört, legt sein Amt im Auswärtigen Amt umgehend nieder.

Ab jetzt verläuft nicht nur durch Irland eine Grenze, sondern auch zwischen Familien, Freunden und alten Kameraden. Aus ehemaligen Verbündeten werden Todfeinde, die sich bald bis aufs Blut bekämpfen werden. Auch die IRA spaltet sich auf. Aus einem Teil formt Michael CollinsCollins, Michael die regulären Streitkräfte des neuen irischen Staates, der andere Teil unterstützt als IRA die Vertragsgegner um de ValeraDe Valera, Éamon. Ende März 1922 verlassen die Vertragsgegner die Ebene der Agitation und beginnen mit dem bewaffneten Kampf gegen die provisorische Regierung. Im April 1922 besetzen militante Vertragsgegner das Gerichtsgebäude in Dublin. Alle Versuche, die Besetzer zur Aufgabe zu überreden, scheitern. Daraufhin gehen die irischen Streitkräfte mit britischer Unterstützung gegen das Gerichtsgebäude vor. Es ist der Beginn eines blutigen Bürgerkriegs, geprägt von Attentaten und Hinrichtungen. Der pro-irische Journalist Robert Erskine ChildersChilders, Robert Erskine, der sein Leben dem irischen Unabhängigkeitskampf gewidmet und über die Hausdurchsuchung der Black and Tans bei Maeves Familie geschrieben hatte, ist einer von 77 ehemaligen Mitstreitern, die von der neuen irischen Regierung hingerichtet werden.38

Den irischen Bruderkampf erlebt die Familie Brennan in der Cherryfield Avenue in Ranelagh, einem Wohngebiet im Süden von Dublin, wo sie seit Oktober 1921 lebt. Das Haus mit der Nummer 48 wird zum Schauplatz vieler autobiographisch gefärbter Geschichten Maeve Brennans. Noch in ihrer letzten Geschichte Ein Segen, die am 5. Januar 1981 im New Yorker erscheint, kehrt sie in Gedanken zurück in die Cherryfield Avenue: »Dreizehn Jahre lang wohnten wir in diesem Haus. Es war eines in einer langen Reihe von Häusern, die einer langen Reihe von identischen Häusern auf der anderen Seite der ruhigen kleinen Straße gegenüberstanden, jedes mit einem kleinen Vorgarten und einem recht großen Garten hinter dem Haus. Jedes Mal, wenn mein Vater nach Hause kam und eintrat, ging er zuerst ins hintere Zimmer, um durch das große Fenster auf den Garten seiner Frau zu blicken und sich davon zu überzeugen, welche Veränderungen sie dort in den Stunden seiner Abwesenheit vorgenommen hatte. In diesem Haus feierte ich meinen fünften Geburtstag und auch meinen siebzehnten Geburtstag feierte ich dort. […] Und natürlich wurden auch alle meine Geburtstage zwischen fünf und siebzehn dort gefeiert. Alle unsere Geburtstage wurden dort gefeiert, mit Geschenken am Morgen und ganz besonderem High Tea mit Geburtstagstorte am Abend.«39

Das Haus der Brennans ist ein schönes Haus in einer schönen Straße, die auf ihre Weise die unschöne irische Realität widerspiegelt: Auf der einen Straßenseite leben die Protestanten, auf der anderen die Katholiken. Die Konfessionen pflegen keinerlei Umgang miteinander.

Robert BrennanBrennan, Robert ist ein seltener Gast im Hause seiner Familie und spielt auch später in Maeves Literatur keine große Rolle. Gleichwohl sorgt der VaterBrennan, Robert immer wieder für Aufregung und Schrecken. Denn jetzt durchkämmen nicht mehr die Black and Tans die Straßen nach Rebellen, sondern die regulären Streitkräfte der irischen Armee. Diese versuchen ihre ehemaligen Verbündeten mit Hilfe der britischen Artillerie in Schach zu halten. Erneut gibt es viele Hausdurchsuchungen, auch in Nummer 48: »Auf der Suche nach meinem VaterBrennan, Robert oder nach Informationen über seinen Verbleib kamen eines Nachmittags mehrere unfreundliche Männer zu unserem Haus. Sie trugen Zivil und waren mit Revolvern bewaffnet. Das war in Dublin, im Jahre 1922. Soeben war der Vertrag mit England unterzeichnet worden, der Irland zum Irischen Freistaat machte. Regiert wurde das Land von jenen Iren, die für den Vertrag eingetreten waren […]. Diejenigen, die wie mein Vater auf einer Republik beharrten, rebellierten dagegen. Mein Vater wurde von der neuen Regierung gesucht und war untergetaucht. Er befand sich auf der Flucht, schlief eine Nacht hier, die nächste dort, und manchmal stahl er sich nach Hause, um uns zu sehen. Vermutlich nahm uns meine MutterBrennan, Una einige Male mit zu seinem Versteck, aber ich kann mich nur an einen dieser Besuche erinnern. […] Wie auch immer, diese Männer waren ausgesandt worden, um ihn zu fassen. Sie drängten sich in unsere schmale, kleine Diele und trampelten durchs ganze Haus, oben und unten, stöberten überall herum und stellten Fragen. […] Ich war fünf«, wird Maeve Brennan später schreiben.40