Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit - Johann Gottfried Herder - E-Book

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit E-Book

JOHANN GOTTFRIED HERDER

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Beschreibung

Sein Hauptwerk Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791) beruht auf den Gedanken, die er bereits in kleineren Schriften veröffentlicht hatte. Es ist eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse über die Erde und den Menschen, "dessen einziger Daseinszweck auf Bildung der Humanität gerichtet ist, der alle niedrigen Bedürfnisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen sollen". Er legte seine Auffassungen über Sprachen, Sitten, Religion und Poesie, über Wesen und Entwicklung der Künste und Wissenschaften, über die Entstehung von Völkern und historischer Vorgänge dar. Vernunft und Freiheit hielt er für Produkte der "natürlichen" ursprünglichen Sprache, Religion für den höchsten Ausdruck menschlicher Humanität. Die unterschiedlichen natürlichen, historischen, sozialen und psychologischen Umstände führen zur vielschichtigen Differenzierung der Völker, die verschieden aber dennoch gleichwertig sind. Herder "interpretiert die Menschheitsgeschichte als die vernunftgeleitete Fortsetzung der Naturgeschichte: So, wie die Organisationsweise eines Lebewesens zugleich durch seine organische Kraft und seine Umwelt bestimmt ist, muss die kulturelle Entwicklung eines Volkes, wenn sie gelingen soll, zugleich bestimmt sein durch den "Charakter" oder "Genius eines Volks" und durch die physischen Bedingungen ("Clima") des "Landes" oder "Erdstrichs", in dem es lebt. Diese beiden Determinanten beeinflussen sich wechselseitig: das jeweilige "Clima" prägt die Sinnlichkeit und Denkart des Volkes, das Volk prägt sein Land, indem es dieses zweckmäßig gestaltet, d. h. kultiviert. Im Laufe ihrer Geschichte bildet so jede Kultur eine organische, Mensch und Natur umgreifende Einheit, die einzigartig ist, weil jedes Volk besondere Anlagen hat und jedes Land spezifische Anpassungen erfordert bzw. Nutzungsmöglichkeiten bietet.

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Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Johann Gottfried Herder

Inhalt:

Johann Gottfried Herder – Biografie und Bibliografie

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Erster Teil

Vorrede

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Viertes Buch

Fünftes Buch

Zweiter Teil

Sechstes Buch

Siebentes Buch

Achtes Buch

Neuntes Buch

Zehntes Buch

Dritter Teil

Elftes Buch

Zwölftes Buch

Dreizehntes Buch

Vierzehntes Buch

Funfzehntes Buch

Vierter Teil

Sechzehntes Buch

Siebenzehntes Buch

Achtzehntes Buch

Neunzehntes Buch

Zwanzigstes Buch

Plan zum Schlußbande

Fußnoten

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, J. G. Herder

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849627683

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Johann Gottfried Herder – Biografie und Bibliografie

Einer der hervorragendsten und einflußreichsten Schriftsteller und Denker Deutschlands, ward 25. Aug. 1744 zu Mohrungen in Ostpreußen als Sohn des Kantors, Glöckners und Schullehrers Gottfried H. und dessen zweiter Ehefrau, Anna Elisabeth Pelz, geboren und starb 18. Dez. 1803 in Weimar. Die Verhältnisse seiner Eltern waren bescheiden und beschränkt, nicht aber so dürftig, daß sie auf eine bessere Erziehung ihrer Kinder und namentlich des Knaben, dessen Begabung früh zutage trat, durchaus hätten verzichten müssen. H. besuchte die Stadtschule und wurde zum Studium der Theologie bestimmt. Die unfreundliche und willkürliche Einmischung des Diakonus S. F. Trescho, der Herders Eltern zu bestimmen suchte, den Knaben ein Handwerk lernen zu lassen, kreuzten die künftigen Lebenspläne. Trescho nahm den Knaben als Famulus in sein Haus, mißbrauchte jedoch seine Kräfte zu allerhand unwürdiger Arbeit, so daß es für H. eine Erlösung aus bittern Leiden war, als sich ein russischer Regimentschirurg erbot, ihn zur Erlernung der Chirurgie nach Königsberg und später nach Petersburg mitzunehmen. H. langte im Hochsommer 1762 in der ostpreußischen Hauptstadt an, und da er alsbald erkannte, daß er für den von seinem Beschützer in Aussicht gestellten Beruf gänzlich ungeeignet sei, ließ er sich 10. Aug. als Studiosus der Theologie immatrikulieren. An dem Buchhändler Kanter, dem er sich schon von Mohrungen aus durch Zusendung des »Gesanges an Cyrus« empfohlen hatte, gewann er einen hilfreichen Gönner; durch seine Anstellung als Lehrer an der Elementarschule des Collegium Fridericianum ward er der drückendsten Not rasch überhoben und überließ sich rückhaltlos seinem Bildungsdrang. Bedeutenden Einfluß auf die geistige Entwickelung des Jünglings übte von den Universitätslehrern nur Kant, außerhalb der Universitätskreise aber der »Magus aus Norden«, der originelle J. G. Hamann aus. Unter den Einwirkungen seiner mannigfaltigen und ausgebreiteten Lektüre war keine tiefer, sein ganzes Wesen bestimmender als die der Schriften J. J. Rousseaus. Im Herbst 1764 ward H. als Kollaborator an die Domschule nach Riga berufen, später auch als Pfarradjunkt an der Jesus- und an der Gertraudenkirche angestellt, so daß er in der alten Hauptstadt Livlands, die sich damals noch fast republikanischer Selbständigkeit erfreute, einen ausgebreiteten und nicht unwichtigen Wirkungskreis fand. Die Kreise des städtischen Patriziats erschlossen sich dem jungen vielversprechenden Mann, der sich in ihnen mancher Anregung und eines bis dahin ungekannten Lebensgenusses erfreute. Unter so günstigen Umständen eröffnete H. mit den »Fragmenten über die neuere deutsche Literatur« (Riga 1766–67), dem Schriftchen »Über Thomas Abbts Schriften. Der Torso von einem Denkmal, an seinem Grab errichtet« (das. 1768) und den »Kritischen Wäldern« (das. 1769) seine große literarische Laufbahn. Indem er darauf hinwies, daß die literarischen Erzeugnisse aller Nationen durch den besondern Genius der Volksart und Sprache bestimmt sind, und indem er die »kritische Betrachtungsweise Lessings durch seine eigne genetische ergänzte«, gewann H. seine selbständige Stellung in dem großen Kampf der Zeit. Die Angriffe gegen die seichte und verächtliche Clique der Klotzianer waren nur Konsequenzen seiner Anschauungen. Gleichwohl hatte sich H. Klotz und den Seinen gegenüber Blößen namentlich durch die Ableugnung der Autorschaft der »Kritischen Wälder« gegeben und ward, wie im spätern Leben noch oft, in ärgerliche Händel verwickelt, die ihm selbst das Behagen an seiner sonst so günstigen Stellung in Riga verleideten. Starker Reisedrang und das Verlangen, sich für eine künftige große Wirksamkeit (die er sich mehr als eine praktische, denn als eine literarische dachte) allseitig vorzubereiten, veranlaßten H., im Frühling 1769 seine Entlassung zu begehren, die man ihm gewährte in der Hoffnung, daß er zurückkehren werde. Im Juni d. J. trat er eine große Reise an, die ihn zunächst zu Schiff nach Nantes führte, von wo er im November nach Paris ging. Weil er sich rasch überzeugen mußte, daß es nicht möglich sein werde, mehrjährige Reisen nur mit Unterstützung seiner Freunde durchzuführen, war ihm der Antrag des fürstbischöflich lübeckischen Hofes in Eutin, den Erbprinzen Peter Friedrich Wilhelm als Reiseprediger zu begleiten, ganz willkommen. Anfang 1770 kam er nach Eutin und brach im Juni d. J. von dort mit dem Prinzen auf. Noch vor der Abreise hatte ihn ein Ruf des Grafen Wilhelm von Lippe in Bückeburg erreicht; gleich darauf lernte H. in Darmstadt seine nachmalige Gattin, Maria Karoline Flachsland (s. unten), kennen. Eine rasch gefaßte und erwiderte Neigung nährte in H. den Wunsch nach festen Lebensverhältnissen. Er folgte dem Prinzen nur bis Straßburg, begehrte vom eutinischen Hof seine (im Oktober gewährte) Entlassung, nahm die vom Grafen zur Lippe angetragene Stellung als Hauptprediger der kleinen Residenz Bückeburg und als Konsistorialrat an, blieb aber dann um einer (leider mißglückten) Augenoperation willen den Winter in Straßburg und knüpfte hier die freundschaftlichen Beziehungen zu dem um fünf Jahre jüngern Goethe an. Ende April 1771 trat H. seine neue Stellung in Bückeburg an. Sein Verhältnis zu dem Landesherrn des kleinen Ländchens, dem berühmten Feldherrn Grafen Wilhelm, ward bei aller Achtung, die der durch und durch soldatische und an keinen Widerspruch gewöhnte Fürst ihm zollte, kein erfreuliches. Auch als Graf Wilhelms Gemahlin, die liebenswürdige fromme Gräfin Maria, sich H. in herzlicher Verehrung anschloß, betrachtete dieser den Aufenthalt in Bückeburg als ein Exil. Doch wurden ihm diese Jahre durch die Liebe seiner im Mai 1773 heimgeführten Gattin und durch die reichen Ergebnisse seiner Studien verschönt. Die Zeit des Bückeburger Aufenthalts war für H. die eigentliche Sturm- und Drangperiode. Mit der geistvollen, von der Berliner Akademie preisgekrönten Abhandlung »Über den Ursprung der Sprache« (Berl. 1772), die er noch in Straßburg begonnen, den beiden Aufsätzen über »Of sian und die Lieder alter Völker« und über »Shakespeare« in den fliegenden Blättern »Von deutscher Art und Kunst« (Hamb. 1773; Neudruck von Lambel, Stuttg. 1893) und der Schrift »Ursache des gesunkenen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern, da er geblühet«, trat er in den Mittelpunkt der Bewegung, die eine aus dem Leben stammende und auf das Leben wirkende, echte Natur atmende Dichtung wiedergewinnen wollte. Mit der Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« (o. O. [Riga] 1774) erklärte er der prahlerischen und öden Aufklärungsbildung des Jahrhunderts den Krieg. Rief schon diese Arbeit die entschiedensten Widersprüche, ja Herabsetzungen und Verlästerungen Herders hervor, so war dies in noch höherm Grade der Fall bei seinen theologischen und halbtheologischen Schriften, der »Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts« (Riga 1774–76, 2 Tle.), den »Briefen zweener Brüder Jesu in unserm Kanon« (Lemgo 1775), den »Erläuterungen zum Neuen Testament, aus einer neueröffneten morgenländischen Quelle« (Riga 1775) und den 15 Provinzialblättern »An Prediger« (1774). Die Angriffe, die er erfuhr, veranlaßten ihn, seine schon zum Druck vorbereitete Sammlung der »Volkslieder« zurückzuhalten. Sie brachen ihm den Entschluß des Weiterwirkens nicht, aber sie steigerten eine hypochondrische Reizbarkeit und ein dämonisches Mißtrauen, die in Herders Seele früh erwacht waren. H. verhandelte eben wegen einer Berufung an die Universität Göttingen, als er durch Goethes freundschaftliche Bemühungen im Frühjahr 1776 als Generalsuperintendent, Mitglied des Oberkonsistoriums und erster Prediger an der Stadtkirche nach Weimar berufen wurde. Sein Weggehen von Bückeburg folgte dem Tode seiner Gönnerin, der Gräfin Maria, fast auf dem Fuß. Am 2. Okt. 1776 trat H., der besten Erwartungen und des besten Wissens voll, in Weimar ein. Obschon er hier die denkbar freundlichste Aufnahme fand, so blieben doch auch Mißhelligkeiten nicht aus. Da H. wahrzunehmen glaubte, daß in dem engern Kreise des Herzogs eine gründliche Gleichgültigkeit, ja verächtliche Geringschätzung gegen Kirche und Schule vorherrschte, vertrat er nicht nur, was sein gutes Recht war, deren Interessen aufs kräftigste und eifrigste, sondern setzte sich in Opposition gegen nahezu alle Meinungen, Richtungen und Neigungen jenes Kreises. Und so gewiß Weimar eine große Verbesserung Bückeburg gegenüber heißen durfte, so fühlte sich H. von der Kleinlichkeit und Enge auch vieler weimarischer Verhältnisse gedrückt. Dennoch wirkte die veränderte Lage günstig auf ihn, und seine literarische Produktivität nahm einen großen und immer gewaltigern Aufschwung. Der Läuterungsprozeß, durch den sich die hervorragendsten Repräsentanten des Sturmes und Dranges in die Hauptträger der deutschen klassischen Literatur verwandelten, nahm auch bei H. zu Ausgang der 1770er Jahre seinen Anfang. Die bedeutsame philosophische Abhandlung »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume« (Riga 1778), die »Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traum« (das. 1778) und die Herausgabe der »Lieder der Liebe« (Leipz. 1778) sowie der längst vorbereiteten »Volkslieder« (erst später von Johannes v. Müller »Stimmen der Völker in Liedern« betitelt, das. 1778–79) waren seine ersten von Weimar aus in die Welt gesandten Publikationen. Die von der Münchener Akademie preisgekrönte Abhandlung »Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten« (1778) galt einem neuen Nachweis, daß echte Poesie die Sprache der Sinne, erster mächtiger Eindrücke, der Phantasie und der Leidenschaft, daher die Wirkung der Sprache der Sinne allgemein und im höchsten Grade natürlich sei, eine Wahrheit, welche die mit umfassender Literaturkenntnis ausgewählten, lebendig nach- und anempfundenen, z. T. vorzüglich übersetzten »Volkslieder« eben weiten Kreisen zum Bewußtsein brachten.

Einen höchst glücklichen Einfluß auf Herders weitere geistige Entwickelung übte seit den ersten 1780er Jahren das wiederhergestellte innige Verhältnis Herders und seines Hauses zu Goethe. H. trat in den regsten Gedankenaustausch zu dem jüngern Freund, und während er seinen Weg unter dessen bewundernder Teilnahme weiter verfolgte, steigerte sich sein Gefühl für Schönheit und Klarheit des Vortrags, selbst sein poetisches Ausdrucksvermögen durch den reinen Formensinn Goethes. In ebendiesen 80er Jahren entstand beinahe alles, was Herders immer genialem Wirken durch innere Reise und äußere Vollendung bleibende Nachwirkung sicherte. Bezogen sich die »Briefe, das Studium der Theologie betreffend« (Weim. 1780–1781, 4 Tle.) und eine Reihe von vorzüglichen Predigten auf Herders Amt und nächsten Beruf, so leitete das große, leider unvollendet gebliebene Werk »Vom Geiste der Ebräischen Poesie« (Dessau 1782–83, 2 Tle.; hrsg. von Hoffmann, Gotha 1891) von der Theologie zur Poesie und Literatur hinüber. Aus der tiefsten Mitempfindung für die Naturgewalt, die Frömmigkeit und eigenartige Schönheit der hebräischen Dichtung wuchs ein Werk hervor, von dem Herders Biograph (R. Haym) mit Recht rühmt,-daß es »für Kunde und Verständnis des Orients Ähnliches geleistet wie Winckelmanns Schriften für das Kunststudium und die Archäologie«. 1785 aber begann H. die Herausgabe seines großen Hauptwerkes, der »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (Riga 1784–91, 4 Bde.), die endliche Ausführung eines Lieblingsplans, die breitere Ausführung von Gedanken, die er längst in kleinern Schriften in die Welt gesandt hatte, und wiederum die energische Zusammenfassung alles dessen, was er über Natur und Menschenleben, die kosmische Bedeutung der Erde, über die Aufgabe des sie bewohnenden Menschen, »dessen einziger Daseinszweck auf Bildung der Humanität gerichtet ist, der alle niedrigen Bedürfnisse der Erde nur dienen und selbst zu ihr führen sollen«, was er über Sprachen und Sitten, über Religion und Poesie, über Wesen und Entwickelung der Künste und Wissenschaften, über Völkerbildungen u. historische Vorgänge gedacht und (wie seine Gegner erinnerten) geträumt hatte. Die Aufnahme des Werkes entsprach dessen großem Verdienst (vgl. Grundmann, Die geographischen und völkerkundlichen Quellen und Anschauungen in Herders. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit', Berl. 1900). Gleichzeitig veröffentlichte H. die Sammlung seiner »Zerstreuten Blätter« (Gotha 1785–97, 6 Tle.), in der eine Reihe der schönsten Abhandlungen und poetischen Übersetzungen die Geistesfülle und sittliche Grazie des Schriftstellers in herzgewinnender Weise offenbarte. Seiner Verehrung für Spinoza, in der er sich mit Goethe eins fühlte, gab er Ausdruck in den Gesprächen, die er 1787 u. d. T. »Gott« veröffentlichte.

Einen großen Abschnitt in Herders Leben bildete die Reise, die er 1788–89 nach Italien unternahm. Freilich wirkten seine hypochondrische Reizbarkeit und mancherlei ungünstige Zufälle zusammen, ihn eigentlich nur in Neapel zum Vollgenuß dieser Reise kommen zu lassen; doch empfing er bedeutende und bleibende Eindrücke, die vielleicht noch günstigere Folgen gehabt hätten, wenn ihn nicht in Italien eine abermalige ehrenvolle und vielverheißende Berufung nach Göttingen erreicht und die schwere Frage des Gehens oder Bleibens in Weimar ihn während der Rückreise gequält hätte. Goethe, von der Erwägung ausgehend, daß der Freund dem Kathederärger in Göttingen noch weniger gewachsen sein werde als dem Hof- und Konsistorialärger in Weimar, wirkte für Herders Bleiben und konnte im Einverständnis mit dem Herzog Tilgung der Herderschen Schulden, Gehaltsverbesserungen und mancherlei tröstliche Verheißungen für die Zukunft bieten. H. ließ sich mit einem gewissen Widerwillen zum Bleiben bestimmen, und beide Freunde sollten dieser Entscheidung nur kurze Jahre froh werden. Herders Gesundheitszustand war bloß vorübergehend gebessert, körperliche Leiden brachen ihm Lebenslust und Arbeitskraft; der fünfte Teil der »Ideen« blieb ungeschrieben, und bereits die »Briefe zur Beförderung der Humanität« (Riga 1793–97, 10 Sammlungen) trugen die Farbe seines verdüsterten Geistes. Die materiellen Sorgen im Herderschen Hause hatten sich leider nur vorübergehend gemildert, und die nur halb gerechtfertigten Ansprüche, die H. und seine Gattin auf Grund der Abmachungen von 1789 erhoben, führten zu einem unheilbaren Bruch mit Goethe. H. hatte schon zuvor mit reizbarer Eifersucht die wachsende Intimität zwischen Goethe und Schiller betrachtet. So trat allmählich ein Zustand der Isolierung und kränklich verbitterten Beurteilung alles ihn umgebenden Lebens bei H. ein. Die geistigen Gegensätze, in denen er sich zur Philosophie Kants, zur klassischen Kunst Goethes und Schillers fand, verstärkte und verschärfte H. gewaltsam und ließ sie in seinen literarischen Arbeiten mehr und mehr hervortreten. Zwar gab er, sowie er auf neutralem Gebiet stand, auch jetzt noch Vorzügliches und Erfreuliches. Dem Unterrichtswesen widmete er fortwährend eine liebevolle Teilnahme, die besonders in seinen formvollendeten und inhaltreichen Schulreden zum Ausdruck kam. Seine »Terpsichore« (Lübeck) 795), die den vergessenen neulateinischen Dichter Jakob Balde wieder einführte, seine »Christlichen Schriften« (Riga 1796–99, 5 Sammlungen), in denen das unbeirrteste Gefühl für den eigentlichen Kern des Christentums den schönsten und maßvollsten Ausdruck fand, seine Aufsätze für Schillers »Horen« bewährten den alten Herderschen Geist. Aber voll grimmer Bitterkeit und dazu mit unzulänglichen Waffen bekämpfte H. in der »Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft« (Leipz. 1799, 2 Tle.) die Philosophie und in der »Kalligone« (das. 1800) die Ästhetik Nants, voll absichtlicher Verkennung und unwürdiger Lobpreisung des Abgelebten und Halben richtete seine »Adrastea« (das. 1801–03, 6 Tle.) alle ihre versteckten Spitzen gegen die lebendige, schönheitsfreudige Dichtung Goethes und Schillers. Nur die Qual eines Zustandes, der ihn tief niederdrückte, und in dem er sich selbst bald als »dürrer Baum und verlechzte Quelle«, bald als »Packesel und blindes Mühlenpferd« schilderte, konnte diese letzte verhängnisvolle Wendung seiner literarischen Tätigkeit entschuldigen. Letzte Erquickung bereitete ihm, dessen körperliche Kraft mehr und mehr erlag, die poetische Arbeit an seinen »Legenden«, an der Übertragung der Romanzen vom »Cid« (s. d., S. 149) und an den dramatischen Gedichten: »Der entfesselte Prometheus« und »Admetus' Haus«. Die Annahme eines vom Kurfürsten von Bayern 1802 ihm verliehenen Adelsdiploms bereitete H. schweren Ärger, und seine endliche Ernennung zum Präsidenten des Oberkonsistoriums (1801) kam zu spät, um ihm Lebensmut zurückzugeben. In den Sommern 1802 und 1803 suchte er Heilung in den Bädern von Aachen und am Egerbrunnen; im Herbst des letztgenannten Jahres erfolgte ein neuer heftiger Anfall seines unheilbaren Leberübels, dem er im Winter erlag. Sein Grabdenkmal in der Stadtkirche zu Weimar trägt die Aufschrift: »Licht, Liebe, Leben«; vor der Kirche wurde ihm 1850 ein ehernes Standbild (von Schaller) errichtet.

Mannigfach rätsel- und widerspruchsvoll, ungleicher in seinen Leistungen als seine großen Zeitgenossen, aber unvergleichlich reich, vielseitig, voll höchsten Schwunges und schärfster Einsicht, eine Fülle geistigen Lebens in sich tragend und um sich erweckend, steht H. in der deutschen Literatur. In der großen Umbildung des deutschen Lebens am Ende des 18. Jahrhunderts hat er mächtiger und entscheidender eingegriffen als einer, und die Spuren seines Geistes lassen sich in der Literatur im engern Sinn, in Fachwissenschaften und Spezialzweigen, die aus seinen Anregungen hervorgegangen sind, überall nachweisen. Die Forderung der »Humanität«, der Heranbildung und Läuterung zum vergöttlichten Menschlichen, ist der durchgehende Grundgedanke in der Vielheit und Mannigfaltigkeit seiner Schriften. Bei allen seinen Gaben war ihm die künstlerische Gestaltungskraft versagt, so daß er als Dichter nur in einzelnen glücklichen Momenten und auf dem Gebiete der didaktischen Poesie zu wirken vermochte. Die Verbindung seines eignen ethischen Pathos mit Stimmungen und Gefühlen, die ihm aus der Dichtung der verschiedensten Zeiten und Völker ausgingen, war nie ohne Reiz; sein Verdienst als poetischer Übersetzer, als Aneigner und Erläuterer fremden poetischen Volksgeistes kann kaum zu hoch angeschlagen werden Die große Zahl von Herders poetischen Übertragungen aus den verschiedensten Sprachen, ihre Auswahl und die Resultate, die H. jedesmal aus ihnen zog, haben einer allgemeinen, über die »Gelehrtengeschichte« der vorausgegangenen akademischen Perioden hinauswachsenden Literaturgeschichte den Boden bereitet. Neben den »Volksliedern«, dem »Cid«, den Epigrammen aus der griechischen Anthologie, den Lehrsprüchen aus Sadis »Rosengarten« und der ganzen Reihe andrer Dichtungen und poetischer Vorstellungen, die Herders anempfindender Geist für die deutsche Literatur gewann, stehen jene morgenländischen Erzählungen, jene Paramythien und Fabeln, die H. im Wiedererzählen benutzt, um Momente seiner eignen sittlichen Anschauung, seiner Humanitätslehre beizugesellen, und die hierdurch wie durch ihre Vortragsweise zu seinem geistigen Eigentum werden. Höher aber als der Dichter steht überall der Prosaiker H., der große Kulturhistoriker, Religionsphilosoph, der feinsinnige Ästhetiker, der produktive Kritiker, der glänzende Essayist, der gehaltreiche und in der Form anziehende Prediger und Redner. Es ist Herders eigenstes Mißgeschick gewesen, daß die großen Ergebnisse seines Erkennens und Strebens rasch zum Gemeingut der Bildung, seine Anschauungen zu Allgemeinanschauungen wurden, so daß es erst der historischen und kritischen Zurückweisung auf die Genialität, die seelische Tiefe und den verschwenderischen Gedankenreichtum der Herderschen Schriften bedurfte, um das größere Publikum zu ihnen zurückzuführen.

Herders »Sämtliche Werke« erschienen zuerst in einer von J. Georg Müller, Johannes v. Müller und Heyne unter Mitwirkung von Herders Witwe und Sohn veranstalteten Ausgabe (Cotta, Stuttg. 1805–20, 45 Bde.; Taschenausg. mit den Nachträgen, das. 1827–1830, 60 Bde., und 1852–54, 40 Bde.). Die Entfremdung des Publikums veranlaßte die »Ausgewählten Werke« in einem Band (Cotta, Stuttg. 1844), ferner »Ausgewählte Werke«, hrsg. von Ad. Stern (Leipz. 1881, 3 Bde.), die des Cottaschen Verlags (mit Einleitung von Lautenbacher, Stuttg. 1889, 6 Bde.) und die in Kürschners »Deutscher Nationalliteratur« (Stuttg. 1886 ff.); besonders gelungen ist die Auswahl der Werke in der gut kommentierten Ausgabe von Th. Matthias in der Klassikerbibliothek des Bibliographischen Instituts (Leipz. 1903, 5 Bde.). Vollständigkeit erstrebten die Ausgabe in der Hempelschen »Nationalbibliothek« (Berl. 1869–79, 24 Tle., mit Biographie von Düntzer) und die große kritische, von Suphan geleitete Ausgabe von »Herders sämtlichen Werken« (das. 1877–99, 32 Bde., wovon noch Bd. 14 fehlt). Auf Grund der letztern Ausgabe gaben Suphan und Redlich »Herders ausgewählte Werke« (Berl. 1884–1901, 5 Bde.) heraus. Eine ungekrönte Preisschrift Herders: »Denkmal Joh. Winckelmanns«, von 1778 veröffentlichte Alb. Duncker (Kassel 1882). Sammlungen von Briefen Herders veranstalteten Düntzer und Ferd. Gottfr. v. Herder in den Werken: »Aus Herders Nachlaß« (Frankf. 1856 bis 1857, 3 Bde.), »Herders Briefwechsel mit seiner Braut« (das. 1858), »Herders Reise nach Italien« (Gießen 1859) und »Von und an H.« (Leipz 1861–1862, 3 Bde.); O. Hoffmann gab Herders Briefwechsel mit Nicolai (Berl. 1887) und Herders Briefe an Hamann (das. 1889) heraus.

Von biographisch-kritischen Schriften über H. sind außer den von seiner Gattin gesammelten »Erinnerungen« (s. unten) und dem von seinem Sohn Emil Gottfried v. H. verfaßten »Lebensbild« (Erlang. 1846 bis 1847, 3 Bde.) zu erwähnen: Danz und Gruber, Charakteristik J. G. v. Herders (Leipz. 1805); ferner: H. Döring, Herders Leben (2. Aufl., Weim. 1829); »Weimarisches Herder-Album« (Jena 1845); Jegor v. Sivers, H. in Riga (Riga 1868) und Humanität und Nationalität, zum Andenken Herders (Berl. 1869); Joret, H. et la renaissance littéraireen Allemagne (Par. 1875); namentlich aber das biographische Hauptwerk: R. Haym, H. nach seinem Leben und seinen Werken (Berl. 1880–85, 2 Bde.), eine Meisterleistung streng sachlicher und zugleich liebevoller Lebensdarstellung und Beurteilung. Vgl. außerdem A. Werner, H. als Theologe (Berl. 1871); J. G. Müller, Aus dem Herderschen Hause, Aufzeichnungen 1780–1782 (hrsg. von J. Bächtold, das. 1881); Bärenbach, H. als Vorgänger Darwins und der modernen Naturphilosophie (Berl. 1877); Lehmann, H. in seiner Bedeutung für die Geographie (das. 1883); J. Böhme, H. und das Gymnasium (Hamb. 1890); Kühnemann, Herders Persönlichkeit in seiner Weltanschauung (Berl. 1893) und Herders Leben (Münch. 1894); Franke, H. und das Weimarische Gymnasium (Hamb. 1894); O. Hoffmann, Der Wortschatz des jungen H. (Berl. 1895); Bloch, H. als Ästhetiker (das. 1896); Tumarkin, H. und Kant (Bern 1890); Schaumkell, H. als Kulturhistoriker (Ludwigslust 1902); Genthe, Der Kulturbegriff bei H. (Jena 1902); Wiegand, H. in Straßburg, Bückeburg und in Weimar (Weim. 1903); Bürkner, H., sein Leben und Wirken (Berl. 1903).

Herders Gattin Maria Karoline, geborne Flachsland, geb. 28. Jan. 1750 zu Reichenweier im Elsaß, gest. 15. Sept. 1809 in Weimar, lebte nach ihres Vaters Tode bei ihrer Schwester in Darmstadt, wo sie H. kennen lernte, der sich 1773 mit ihr verheiratete. Nach Herders Tode ordnete sie dessen literarischen Nachlaß und schrieb: »Erinnerungen aus dem Leben Herders« (hrsg. von J. G. Müller, Stuttg. 1820, 2 Bde.; neue Ausg. 1830, 3 Bde.). Der älteste Sohn, Wilhelm Gottfried v. H., geb. 1774 in Bückeburg, studierte in Jena Medizin, ward 1800 Provinzialakkoucheur und 1805 Hofmedikus in Weimar, wo er 1806 starb. Er schrieb: »Zur Erweiterung der Geburtshilfe« (Leipz. 1803) und nahm teil an der Herausgabe der Werke seines Vaters. Der dritte und jüngste, Emil Gottfried v. H., war bis 1839 bei der Regierung für Schwaben und Neuburg tätig und starb als bayrischer Oberforst- und Regierungsrat 27. Febr. 1855 in Erlangen. Er gab in »Herders Lebensbild« (s. oben) eine liebevolle Darstellung des Lebens und Wirkens seines Vaters. Ein Enkel Herders, G. Th. Stichling, war weimarischer dirigierender Staatsminister und starb 22. Juni 1891.

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Erster Teil

– Quem te Deus esse

Jussit et humana qua parte locatus es in re

Disce –

Pers.

Lerne, wer du nach Gottes Willen sein sollst und an welchen Platz in der Menschheit du gestellt bist.

Persius, »Satiren«,3. Satire, Vers 71-73

Vorrede

Als ich vor zehn Jahren die kleine Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« herausgab, sollte das »Auch« dieses Titels wohl nichts weniger als ein »Anch'io son pittore« sagen. Es sollte vielmehr, wie auch der Zusatz »Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts« und das untergesetzte Motto zeigte, eine Note der Bescheidenheit sein, daß der Verfasser diese Schrift für nichts minder als für eine vollständige Philosophie der Geschichte unsres Geschlechts gebe, sondern daß er neben so vielen gebahnten Wegen, die man immer und immer betrat, auch auf einen kleinen Flußsteg wiese, den man zur Seite liegenließ und der doch auch vielleicht eines Ideenganges wert wäre. Die hie und da im Buch zitierten Schriften zeigen gnugsam, welches die betretnen und ausgetretnen Wege waren, von denen der Verfasser ablenken wollte; und so sollte sein Versuch nichts als ein fliegendes Blatt, ein Beitrag zu Beiträgen sein, welches auch seine Gestalt weiset.

Die Schrift war bald vergriffen, und ich ward zu einer neuen Ausgabe derselben ermuntert; unmöglich aber konnte diese neue Ausgabe sich jetzt in ihrer alten Gestalt vors Auge des Publikums wagen. Ich hatte es bemerkt, daß einige Gedanken meines Werkchens, auch ohne mich zu nennen, in andre Bücher übergegangen und in einem Umfange angewandt waren, an den ich nicht gedacht hatte. Das bescheidne »Auch« war vergessen; und doch war mir es nie eingefallen, mit den wenigen allegorischen Worten: Kindheit, Jugend, das männliche, das hohe Alter unseres Geschlechts, deren Verfolg nur auf wenige Völker der Erde angewandt und anwendbar war, eine Heerstraße auszuzeichnen, auf der man auch nur die Geschichte der Kultur, geschweige die Philosophie der ganzen Menschengeschichte mit sicherm Fuß ausmessen könnte. Welches Volk der Erde ist's, das nicht einige Kultur habe? Und wie sehr käme der Plan der Vorsehung zu kurz, wenn zu dem, was wir Kultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten, jedes Individuum des Menschengeschlechts geschaffen wäre? Nichts ist unbestimmter als dieses Wort, und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten. Wie wenige sind in einem kultivierten Volk kultiviert? Und worin ist dieser Vorzug zu setzen? Und wiefern trägt er zu ihrer Glückseligkeit bei? Zur Glückseligkeit einzelner Menschen nämlich; denn daß das Abstraktum ganzer Staaten glücklich sein könne, wenn alle einzelne Glieder in ihm leiden, ist Widerspruch oder vielmehr nur ein Scheinwort, das sich auf den ersten Blick als ein solches bloßgiebet.

Also mußte viel tiefer angefangen und der Kreis der Ideen viel weiter gezogen werden, wenn die Schrift einigermaßen ihres Titels wert sein sollte. Was ist Glückseligkeit der Menschen? Und wiefern findet sie auf unsrer Erde statt? Wiefern findet sie, bei der großen Verschiedenheit aller Erdwesen und am meisten der Menschen, allenthalben statt, unter jeder Verfassung, in jedem Klima, bei allen Revolutionen der Umstände, Lebensalter und Zeiten? Gibt es einen Maßstab dieser verschiednen Zustände, und hat die Vorsehung aufs Wohlsein ihrer Geschöpfe in allen diesen Situationen als auf ihren letzten und Hauptendzweck gerechnet? Alle diese Fragen mußten untersucht, sie mußten durch den wilden Lauf der Zeiten und Verfassungen verfolgt und berechnet werden, ehe ein allgemeines Resultat fürs Ganze der Menschheit herausgebracht werden konnte. Hier war also ein weites Feld zu durchlaufen und in einer großen Tiefe zu graben Gelesen hatte ich so ziemlich alles, was darüber geschrieben war, und von meiner Jugend an war jedes neue Buch, das über die Geschichte der Menschheit erschien und worin ich Beiträge zu meiner großen Aufgabe hoffte, wie ein gefundener Schatz. Ich freuete mich, daß in den neuern Jahren diese Philosophie mehr emporkam, und nutzte jede Beihülfe, die mir das Glück verschaffte.

Ein Autor, der sein Buch darstellt, gibt, wenn dies Gedanken enthält, die er, wo nicht erfand (denn wie weniges läßt sich in unsrer Zeit eigentliches Neues erfinden?), so doch wenigstens fand und sich eigen machte, ja, in denen er jahrelang wie im Eigentum seines Geistes und Herzens lebte: ein Autor dieser Art, sage ich, gibt mit seinem Buch, es möge dies schlecht oder gut sein, gewissermaße einen Teil seiner Seele dem Publikum preis. Er offenbaret nicht nur, womit sich sein Geist in gewissen Zeiträumen und Angelegenheiten beschäftigte, was er für Zweifel und Auflösungen im Gange seines Lebens fand, mit denen er sich bekümmerte oder aufhalf, sondern er rechnet auch (denn was in der Welt hätte es sonst für Reiz, Autor zu werden und die Angelegenheiten seiner Brust einer wilden Menge mitzuteilen?), er rechnet auf einige, vielleicht wenige, gleichgestimmte Seelen, denen im Labyrinth ihrer Jahre diese oder ähnliche Ideen wichtig wurden. Mit ihnen bespricht er sich unsichtbar und teilt ihnen seine Empfindungen mit, wie er, wenn sie weiter vorgedrungen sind, ihre besseren Gedanken und Belehrungen erwartet. Dies unsichtbare Commercium der Geister und Herzen ist die einzige und größeste Wohltat der Buchdruckerei, die sonst den schriftstellerischen Nationen ebensoviel Schaden als Nutzen gebracht hätte. Der Verfasser dachte sich in den Kreis derer, die wirklich ein Interesse daran finden, worüber er schrieb, und bei denen er also ihre teilnehmenden, ihre bessern Gedanken hervorlocken wollte. Dies ist der schönste Wert der Schriftstellerei, und ein gutgesinneter Mensch wird sich viel mehr über das freuen, was er erweckte, als was er sagte. Wer daran denkt, wie gelegen ihm selbst zuweilen dies oder jenes Buch, ja auch nur dieser oder jener Gedanke eines Buches kam, welche Freude es ihm verschaffte, einen andern, von ihm entfernten und doch in seiner Tätigkeit ihm nahen Geist auf seiner eignen oder einer bessern Spur zu finden, wie uns oft ein solcher Gedanke jahrelang beschäftigt und weiterführet: der wird einem Schriftsteller, der zu ihm spricht und ihm sein Inneres mitteilet, nicht als einen Lohndiener, sondern als einen Freund betrachten, der auch mit unvollendeten Gedanken zutraulich hervortritt, damit der erfahrnere Leser mit ihm denke und sein Unvollkommenes der Vollkommenheit näher führe.

Bei einem Thema wie das meinige: Geschichte der Menschheit, Philosophie ihrer Geschichte, ist, wie ich glaube, eine solche Humanität des Lesers eine angenehme und erste Pflicht. Der da schrieb, war Mensch, und du bist Mensch, der du liesest. Er konnte irren und hat vielleicht geirret: du hast Kenntnisse, die jener nicht hat und haben konnte; gebrauche also, was du kannst, und siehe seinen guten Willen an; laß es aber nicht beim Tadel, sondern beßre und baue weiter. Mit schwacher Hand legte er einige Grundsteine zu einem Gebäude, das nur Jahrhunderte vollführen können, vollführen werden: glücklich, wenn alsdenn diese Steine mit Erde bedeckt und wie der, der sie dahin trug, vergessen sein werden, wenn über ihnen oder gar auf einem andern Platz nur das schönere Gebäude selbst dastehet.

Doch ich habe mich unvermerkt zu weit von dem entfernt, worauf ich anfangs ausging; es sollte nämlich die Geschichte sein, wie ich zur Bearbeitung dieser Materie gekommen und unter ganz andern Beschäftigungen und Pflichten auf sie zurückgekommen bin. Schon in ziemlich frühen Jahren, da die Auen der Wissenschaften noch in alle dem Morgenschmuck vor mir lagen, von dem uns die Mittagssonne unsres Lebens so viel entziehet, kam mir oft der Gedanke ein: ob denn, da alles in der Welt seine Philosophie und Wissenschaft habe, nicht auch das, was uns am nächsten angeht, die Geschichte der Menschheit, im ganzen und großen eine Philosophie und Wissenschaft haben sollte? Alles erinnerte mich daran, Metaphysik und Moral, Physik und Naturgeschichte, die Religion endlich am meisten. Der Gott, der in der Natur alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet, der darnach das Wesen der Dinge, ihre Gestalt und Verknüpfung, ihren Lauf und ihre Erhaltung eingerichtet hat, so daß vom großen Weltgebäude bis zum Staubkorn, von der Kraft, die Erden und Sonnen hält, bis zum Faden eines Spinnegewebes nur eine Weisheit, Güte und Macht herrschet, Er, der auch im menschlichen Körper und in den Kräften der menschlichen Seele alles so wunderbar und göttlich überdacht hat, daß, wenn wir dem Allein-Weisen nur fernher nachzudenken wagen, wir uns in einem Abgrunde seiner Gedanken verlieren: wie, sprach ich zu mir, dieser Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unsres Geschlechts im ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und hier keinen Plan haben? Oder er sollte uns denselben verbergen wollen, da er uns in der niedrigern Schöpfung, die uns weniger angeht, so viel von den Gesetzen seines ewigen Entwurfs zeigte? Was ist das menschliche Geschlecht im ganzen als eine Herde ohne Hirten? Oder, wie jener klagende Weise sagt: »Lässest du sie gehen wie Fische im Meer und wie Gewürm, das keinen Herrn hat?« – Oder hatten sie nicht nötig, den Plan zu wissen? Ich glaube es wohl; denn welcher Mensch übersiehet nur den kleinen Entwurf seines eignen Lebens? Und doch siehet er, so weit er sehen soll, und weiß gnug, um seine Schritte zu leiten; indessen, wird nicht auch eben dieses Nichtwissen zum Vorwande großer Mißbräuche? Wie viele sind, die, weil sie keinen Plan sehen, es geradezu leugnen, daß irgendein Plan sei, oder die wenigstens mit scheuem Zittern daran denken und zweifelnd glauben und glaubend zweifeln. Sie wehren sich mit Macht, das menschliche Geschlecht nicht als einen Ameishaufen zu betrachten, wo der Fuß eines Stärkern, der unförmlicherweise selbst Ameise ist, Tausende zertritt, Tausende in ihren klein-großen Unternehmungen zernichtet, ja wo endlich die zwei größten Tyrannen der Erde, der Zufall und die Zeit, den ganzen Haufen ohne Spur fortführen und den leeren Platz einer andern fleißigen Zunft überlassen, die auch so fortgeführt werden wird, ohne daß eine Spur bleibe. – Der stolze Mensch wehret sich, sein Geschlecht als eine solche Brut der Erde und als einen Raub der alleszerstörenden Verwesung zu betrachten; und dennoch, dringen Geschichte und Erfahrung ihm nicht dieses Bild auf? Was ist denn Ganzes auf der Erde vollführt? Was ist auf ihr Ganzes? Sind also die Zeiten nicht geordnet, wie die Räume geordnet sind? Und beide sind ja die Zwillinge eines Schicksals. Jene sind voll Weisheit; diese voll scheinbarer Unordnung; und doch ist offenbar der Mensch dazu geschaffen, daß er Ordnung suchen, daß er einen Fleck der Zeiten übersehen, daß die Nachwelt auf die Vergangenheit bauen soll: denn dazu hat er Erinnerung und Gedächtnis. Und macht nun nicht eben dies Bauen der Zeiten aufeinander das Ganze unsres Geschlechts zum unförmlichen Riesengebäude, wo einer abträgt, was der andre anlegte, wo stehenbleibt, was nie hätte gebauet werden sollen, und in Jahrhunderten endlich alles ein Schutt wird, unter dem, je brüchiger er ist, die zaghaften Menschen desto zuversichtlicher wohnen? – Ich will die Reihe solcher Zweifel nicht fortsetzen und die Widersprüche des Menschen mit sich selbst, untereinander und gegen die ganze andre Schöpfung nicht verfolgen. Gnug, ich suchte nach einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, wo ich suchen konnte.

Ob ich sie gefunden habe? Darüber mag dieses Werk, aber noch nicht sein erster Teil entscheiden. Dieser enthält nur die Grundlage, teils im allgemeinen Überblick unsrer Wohnstätte, teils im Durchgange der Organisationen, die unter und mit uns das Licht dieser Sonne genießen. Niemanden, hoffe ich, wird dieser Gang zu fern hergeholt und zu lang dünken: denn da, um das Schicksal der Menschheit aus dem Buch der Schöpfung zu lesen, es keinen andern als ihn gibt, so kann man ihn nicht sorgsam, nicht vielbetrachtend gnug gehen. Wer bloß metaphysische Spekulationen will, hat sie auf kürzerm Wege; ich glaube aber, daß sie, abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur, eine Luftfahrt sind, die selten zum Ziel führet. Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat: sie sind das heilige Buch, an dessen Charakteren ich zwar minder als ein Lehrling, aber wenigstens mit Treue und Eifer buchstabiert habe und buchstabieren werde. Wäre ich so glücklich, nur einem meiner Leser etwas von dem süßen Eindruck mitzuteilen, den ich über die ewige Weisheit und Güte des unerforschten Schöpfers in seinen Werken mit einem Zutrauen empfunden habe, dem ich keinen Namen weiß, so wäre dieser Eindruck von Zuversicht das sichere Band, mit welchem wir uns im Verfolg des Werks auch in die Labyrinthe der Menschengeschichte wagen könnten. Überall hat mich die große Analogie der Natur auf Wahrheiten der Religion geführt, die ich nur mit Mühe unterdrücken mußte, weil ich sie mir selbst nicht zum voraus rauben und Schritt vor Schritt nur dem Licht treu bleiben wollte, das mir von der verborgenen Gegenwart des Urhebers in seinen Werken allenthalben zustrahlet. Es wird ein um so größeres Vergnügen für meine Leser und für mich sein, wenn wir, unsern Weg verfolgend, dies dunkelstrahlende Licht zuletzt als Flamme und Sonne werden aufgehen sehen.

Niemand irre sich daher auch daran, daß ich zuweilen den Namen der Natur personifiziert gebrauche. Die Natur ist kein selbständiges Wesen, sondern Gott ist alles in seinen Werken; indessen wollte ich diesen hochheiligen Namen, den kein erkenntliches Geschöpf ohne die tiefste Ehrfurcht nennen sollte, durch einen öftern Gebrauch, bei dem ich ihm nicht immer Heiligkeit gnug verschaffen konnte, wenigstens nicht mißbrauchen. Wem der Name »Natur« durch manche Schriften unsres Zeitalters sinnlos und niedrig geworden ist, der denke sich statt dessen jene allmächtige Kraft, Güte und Weisheit und nenne in seiner Seele das unsichtbare Wesen, das keine Erdensprache zu nennen vermag.

Ein gleiches ist's, wenn ich von den organischen Kräften der Schöpfung rede; ich glaube nicht, daß man sie für qualitates occultas ansehen werde, da wir ihre offenbaren Wirkungen vor uns sehen und ich ihnen keinen bestimmtern, reinern Namen zu geben wußte. Ich behalte mir über sie und über manche andre Materien, die ich nur winkend anzeigen mußte, künftig eine weitere Erörterung vor.

Und freue mich dagegen, daß meine Schülerarbeit in Zeiten trifft, da in so manchen einzelnen Wissenschaften und Kenntnissen, aus denen ich schöpfen mußte, Meisterhände arbeiten und sammlen. Von diesen bin ich gewiß, daß sie den exoterischen Versuch eines Fremdlings in ihren Künsten nicht verachten, sondern verbessern werden: denn ich habe es immer bemerkt, daß, je reeller und gründlicher eine Wissenschaft ist, desto weniger herrscht eitler Zank unter denen, die sie anbauen und lieben. Sie überlassen das Wortgezänk den Wortgelehrten In den meisten Stücken zeigt mein Buch, daß man anjetzt noch keine Philosophie der menschlichen Geschichte schreiben könne, daß man sie aber vielleicht am Ende unsres Jahrhunderts oder Jahrtausends schreiben werde.

Und so lege ich, großes Wesen, Du unsichtbarer hoher Genius unsers Geschlechts, das unvollkommenste Werk, das ein Sterblicher schrieb und in dem er Dir nachzusinnen, nachzugehen wagte, zu Deinen Füßen. Seine Blätter mögen verwehn und seine Charaktere zerstieben; auch die Formen und Formeln werden zerstieben, in denen ich Deine Spur sah und für meine Menschenbrüder auszudrücken strebte; aber Deine Gedanken werden bleiben, und Du wirst sie Deinem Geschlecht von Stufe zu Stufe mehr enthüllen und in herrlichern Gestalten darlegen. Glücklich, wenn alsdenn diese Blätter im Strom der Vergessenheit untergegangen sind und dafür hellere Gedanken in den Seelen der Menschen leben.

Weimar, den 23. April 1784

Herder

Quid non miracolo est, cum primum in notitiam venit? Quam multa fieri non posse, priusquam sint facta, indicantur? Naturae vero rerum vis atque maiestas in omnibus momentis fide caret, si quis modo partes eius ac non totam complectatur animo.

Plin.

Erstes Buch

I

Unsre Erde ist ein Stern unter Sternen

Vom Himmel muß unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt, so muß man sie zuvörderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist. Mit unsichtbaren, ewigen Banden ist sie an ihren Mittelpunkt, die Sonne, gebunden, von der sie Licht, Wärme, Leben und Gedeihen erhält. Ohne diese könnten wir uns unser Planetensystem nicht denken, sowenig ein Zirkel ohne Mittelpunkt stattfindet; mit ihr und den wohltätigen Anziehungskräften, womit sie und alle Materie das ewige Wesen begabt hat, sehen wir in ihrem Reich nach einfachen schönen und herrlichen Gesetzen Planeten sich bilden, sich um ihre Achse und um einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt in Räumen, die mit ihrer Größe und Dichtigkeit im Verhältnis sind, munter und unablässig umherdrehn; ja nach eben diesen Gesetzen sich um einige derselben Monde bilden und von ihnen festgehalten werden. Nichts gibt einen so erhabnen Blick als diese Einbildung des großen Weltgebäudes, und der menschliche Verstand hat vielleicht nie einen weitern Flug gewagt und zum Teil glücklich vollendet, als da er in Kopernikus, Kepler, Newton, Huygens und Kant1 die einfachen, ewigen und vollkommenen Gesetze der Bildung und Bewegung der Planeten aussann und feststellte.

Mich dünkt, es ist Hemsterhuis, der es beklagt, daß dies erhabene Lehrgebäude auf den ganzen Kreis unsrer Begriffe die Wirkung nicht tue, die es, wenn es zu den Zeiten der Griechen mit mathematischer Genauigkeit festgestellt wäre, auf den gesamten menschlichen Verstand würde getan haben. Wir begnügen uns meistens, die Erde als ein Staubkorn anzusehen, das in jenem großen Abgrunde schwimmt, wo Erden um die Sonne, wo diese Sonne mit tausend andern um ihren Mittelpunkt und vielleicht mehrere solche Sonnensysteme in zerstreuten Räumen des Himmels ihre Bahnen vollenden, bis endlich die Einbildungskraft sowohl als der Verstand in diesem Meer der Unermeßlichkeit und ewigen Größe sich verliert und nirgend Ausgang und Ende findet. Allein das bloße Erstaunen, das uns vernichtigt, ist wohl kaum die edelste und bleibendste Wirkung. Der in sich selbst überall allgnugsamen Natur ist das Staubkorn so wert als ein unermeßliches Ganze. Sie bestimmte Punkte des Raums und des Daseins, wo Welten sich bilden sollten, und in jedem dieser Punkte ist sie mit ihrer unzertrennlichen Fülle von Macht, Weisheit und Güte so ganz, als ob keine andre Punkte der Bildung, keine andre Weltatomen wären. Wenn ich also das große Himmelsbuch aufschlage und diesen unermeßlichen Palast, den allein und überall nur die Gottheit zu erfüllen vermag, vor mir sehe, so schließe ich, so ungeteilt, als ich kann, vom Ganzen aufs Einzelne, vom Einzelnen aufs Ganze. Es war nur eine Kraft, die die glänzende Sonne schuf und mein Staubkorn an ihr erhält; nur eine Kraft, die eine Milchstraße von Sonnen sich vielleicht um den Sirius bewegen läßt und die in Gesetzen der Schwere auf meinem Erdkörper wirket. Da ich nun sehe, daß der Raum, den diese Erde in unserm Sonnentempel einnimmt, die Stelle, die sie mit ihrem Umlauf bezeichnet, ihre Größe, ihre Masse, nebst allem, was davon abhängt, durch Gesetze bestimmt ist, die im Unermeßlichen wirken, so werde ich, wenn ich nicht gegen das Unendliche rasen will, nicht nur auf dieser Stelle zufrieden sein und mich freuen, daß ich auf ihr ins harmoniereiche Chor zahlloser Wesen getreten, sondern es wird auch mein erhabenstes Geschäft sein, zu fragen, was ich auf dieser Stelle sein soll und vermutlich nur auf ihr sein kann. Fände ich auch in dem, was mir das Eingeschränkteste und Widrigste scheint, nicht nur Spuren jener großen bildenden Kraft, sondern auch offenbaren Zusammenhang des Kleinsten mit dem Entwurf des Schöpfers ins Ungemessene hinaus, so wird es die schönste Eigenschaft meiner Gott nachahmenden Vernunft sein, diesem Plan nachzugehen und mich der himmlischen Vernunft zu fügen. Auf der Erde werde ich also keine Engel des Himmels suchen, deren keinen mein Auge je gesehen hat; aber Erdbewohner, Menschen, werde ich auf ihr finden wollen und mit allem vorliebnehmen, was die große Mutter hervorbringt, trägt, nährt, duldet und zuletzt liebreich in ihren Schoß aufnimmt. Ihre Schwestern, andre Erden, mögen sich andrer, auch vielleicht herrlicherer Geschöpfe rühmen und freuen können; gnug, auf ihr lebt, was auf ihr leben kann. Mein Auge ist für den Sonnenstrahl in dieser und keiner andern Sonnenentfernung, mein Ohr für diese Luft, mein Körper für diese Erdmasse, alle meine Sinne aus dieser und für diese Erdorganisation gebildet: demgemäß wirken auch meine Seelenkräfte; der ganze Raum und Wirkungskreis meines Geschlechts ist also so festbestimmt und umschrieben als die Masse und Bahn der Erde, auf der ich mich ausleben soll; daher auch in vielen Sprachen der Mensch von seiner Mutter Erde den Namen führet. Je in einen größern Chor der Harmonie, Güte und Weisheit aber diese meine Mutter gehört, je fester und herrlicher die Gesetze sind, auf der ihr und aller Welten Dasein ruhet, je mehr ich bemerke, daß in ihnen alles aus einem folgt und eins zu allem dienet, desto fester finde ich auch mein Schicksal nicht an den Erdenstaub, sondern an die unsichtbaren Gesetze geknüpft, die den Erdenstaub regieren. Die Kraft, die in mir denkt und wirkt, ist ihrer Natur nach eine so ewige Kraft als jene, die Sonnen und Sterne zusammenhält; ihr Werkzeug kann sich abreiben, die Sphäre ihrer Wirkung kann sich ändern, wie Erden sich abreiben und Sterne ihren Platz ändern; die Gesetze aber, durch die sie da ist und in andern Erscheinungen wiederkommt, ändern sich nie. Ihre Natur ist ewig wie der Verstand Gottes, und die Stützen meines Daseins (nicht meiner körperlichen Erscheinung) sind so fest als die Pfeiler des Weltalls. Denn alles Dasein ist sich gleich, ein unteilbarer Begriff, im Größesten sowohl als im Kleinsten auf einerlei Gesetze gegründet. Der Bau des Weltgebäudes sichert also den Kern meines Daseins, mein inneres Leben, auf Ewigkeiten hin. Wo und wer ich sein werde, werde ich sein, der ich jetzt bin, eine Kraft im System aller Kräfte, ein Wesen in der unabsehlichen Harmonie einer Welt Gottes.

II

Unsre Erde ist einer der mittleren Planeten

Die Erde hat zwei Planeten, den Merkur und die Venus, unter sich, den Mars (und wenn vielleicht über ihm noch einer versteckt ist), den Jupiter, Saturn, Uranus über sich, und was für andre noch da sein mögen, bis sich der regelmäßige Wirkungskreis der Sonne verliert und die exzentrische Bahn des letzten Planeten in die wilde Ellipse der Kometenbahnen hinüberspringet. Sie ist also ein Mittelgeschöpf, so wie der Stelle nach, so auch an Größe, an Verhältnis und Dauer ihres Umschwungs um sich und ihres Umlaufs um die Sonne; jedes Äußerste, das Größeste und Kleinste, das Schnellste und Langsamste, ist zu beiden Seiten von ihr entfernt. So wie nun unsre Erde zur astronomischen Übersicht des Ganzen vor andern Planeten eine bequeme Stelle hat2, so wäre es schön, wenn wir nur einige Glieder dieses erhabnen Sternenverhältnisses näher kennten. Eine Reise in den Jupiter, die Venus oder auch nur in unsern Mond würde uns über die Bildung unsrer Erde, die doch mit ihnen nach einerlei Gesetzen entstanden ist, über das Verhältnis unsrer Erdegeschlechter zu den Organisationen andrer Weltkörper von einer höhern oder von einer tiefern Art, vielleicht gar über unsere zukünftige Bestimmung so manchen Aufschluß geben, daß wir nun kühner aus der Beschaffenheit von zwei oder drei Gliedern auf den Fortgang der ganzen Kette schließen könnten. Die einschränkende, festbestimmende Natur hat uns diese Aussicht versaget. Wir sehen den Mond an, betrachten seine ungeheuren Klüfte und Berge; den Jupiter und bemerken seine wilden Revolutionen und Streifen; wir sehen den Ring des Saturns, das rötliche Licht des Mars, das sanftere Licht der Venus und rätseln daraus, was wir glücklich oder unglücklich daraus zu ersehen meinen. In den Entfernungen der Planeten herrscht Proportion; auch auf die Dichtigkeit ihrer Masse hat man wahrscheinliche Schlüsse gefolgert und damit ihren Schwung, ihren Umlauf in Verbindung zu bringen gesucht: alles aber nur mathematisch, nicht physisch, weil uns außer unsrer Erde ein zweites Glied der Vergleichung fehlet. Das Verhältnis ihrer Größe, ihres Schwunges, ihres Umlaufs z.B. zu ihrem Sonnenwinkel hat noch keine Formel gefunden, die auch hier alles aus einem und demselben kosmogonischen Gesetz erkläre. Noch weniger ist uns bekannt, wie weit ein jeder Planet in seiner Bildung fortgerückt sei, und am wenigsten wissen wir von der Organisation und dem Schicksal seiner Bewohner. Was Kircher und Swedenborg davon geträumt, was Fontenelle darüber gescherzt, was Huygens, Lambert und Kant davon, jeder auf seine Weise, gemutmaßt haben, sind Erweise, daß wir davon nichts wissen können, nichts wissen sollen. Wir mögen mit unsrer Schätzung herauf- oder herabsteigen, wir mögen die vollkommenern Geschöpfe der Sonne nah oder ihr fern setzen, so bleibt alles ein Traum, der durch den Mangel der Fortschreitung in der Verschiedenheit der Planeten beinah Schritt vor Schritt gestört wird und uns zuletzt nur das Resultat gibt, daß überall wie hier Einheit und Mannigfaltigkeit herrsche, daß aber unser Maß des Verstandes sowie, unser Winkel des Anblicks uns zur Schätzung des Fort-oder Zurückganges durchaus keinen Maßstab gebe. Wir sind nicht im Mittelpunkt, sondern im Gedränge; wir schiffen wie andre Erden im Strom umher und haben kein Maß der Vorgleichung.

Dörfen und sollen wir indes aus unserm Standpunkt zur Sonne, dem Quell alles Lichts und Lebens in unserer Schöpfung, vor- und rückwärts schließen, so ist unsrer Erde das zweideutige goldne Los der Mittelmäßigkeit zuteil worden, die wir wenigstens zu unserm Trost als eine glückliche Mitte träumen mögen. Wenn Merkur den Schwung um seine Achse, mithin seine Tag- und Nachtrevolution, vielleicht in 6 Stunden, sein Jahr in 88 Tagen vollbringt und sechsmal stärker von der Sonne erleuchtet wird als wir; wenn Jupiter dagegen seine weite Bahn um die Sonne in 11 Jahren und 313 Tagen vollendet und dennoch seine Tag- und Nachtzeit in weniger als 10 Stunden zurücklegt; wenn der alte Saturn, dem das Licht der Sonne hundertmal schwächer scheinet, kaum in 30 Jahren um die Sonne kommt und abermals sich vielleicht in 7 Stunden um seine Achse drehet: so sind wir mittlere Planeten, Erde, Mars und Venus, von mittlerer Natur. Unser Tag ist wenig voneinander, von den Tagen der andern aber so sehr verschieden als umgekehrt unsre Jahre. Auch der Tag der Venus ist beinah 24 Stunden, des Mars nicht 25 lang. Das Jahr der ersten ist von 224, des letzten von 1 Jahr und 322 Tagen, ob er gleich 3 1/2 mal kleiner als die Erde und um mehr als die Hälfte von der Sonne entfernt ist. Weiterhin gehen die Verhältnisse der Größe, des Umschwungs, der Entfernung kühn auseinander. Auf einen der drei Mittelplaneten hat uns also die Natur gesetzt, auf denen auch ein mittleres Verhältnis und eine abgewogenere Proportion so wie der Zeiten und Räume, so vielleicht auch der Bildung ihrer Geschöpfe zu herrschen scheinet. Das Verhältnis unsrer Materie zu unserm Geist ist vielleicht so aufwiegend gegeneinander als die Länge unsrer Tage und Nächte. Unsre Gedankenschnelligkeit ist vielleicht im Maß des Umschwunges unsres Planeten um sich selbst und um die Sonne zu der Schnelligkeit oder Langsamkeit andrer Sterne, so wie unsre Sinne offenbar im Verhältnis der Feinheit von Organisation stehen, die auf unsrer Erde fortkommen konnte und sollte. Zu beiden Seiten hinaus gibt es wahrscheinlich die größesten Divergenzen. Lasset uns also, solange wir hier leben, auf nichts als auf den mittelmäßigen Erdeverstand und auf die noch viel zweideutigere Menschentugend rechnen. Wenn wir mit Augen des Merkurs in die Sonne sehen und auf seinen Flügeln um sie fliegen könnten; wenn uns mit der Raschheit des Saturns und Jupiters um sich selbst zugleich ihre Langsamkeit, ihr weiter, großer Umfang gegeben wäre oder wenn wir auf dem Haar der Kometen, der größesten Wärme und Kälte gleich empfängig, durch die weiten Regionen des Himmels schiffen könnten: denn dörften wir von einem andern, weitern oder engern, als dem proportionierten Mittelgleise menschlicher Gedanken und Kräfte reden. Nun aber, wo und wie wir sind, wollen wir diesem milde proportionierten Gleise treu bleiben; er ist unserer Lebensdauer wahrscheinlich gerade recht.

Es ist eine Aussicht, die auch die Seele des trägsten Menschen erwecken kann, wenn wir uns einst auf irgendeine Weise im allgemeinen Genuß dieser uns jetzt versagten Reichtümer der bildenden Natur gedenken, wenn wir uns vorstellen, daß vielleicht, nachdem wir zur Summe der Organisation unsres Planeten gelangt sind, ein Wandelgang auf mehr als einem andern Stern das Los und der Fortschritt unsres Schicksals sein könnte oder daß es endlich vielleicht gar unsre Bestimmung wäre, mit allen zur Reife gelangten Geschöpfen so vieler und verschiedener Schwesterwelten Umgang zu pflegen. Wie bei uns unsere Gedanken und Kräfte offenbar nur aus unsrer Erdorganisation Leimen und sich so lange zu verändern und zu verwandeln streben, bis sie etwa zu der Reinigkeit und Feinheit gediehen sind, die diese unsre Schöpfung gewähren kann, so wird's, wenn die Analogie unsre Führerin sein darf, auf andern Sternen nicht anders sein: und welche reiche Harmonie lässet sich gedenken, wenn so verschieden gebildete Wesen alle zu einem Ziel wallen3 und sich einander ihre Empfindungen und Erfahrungen mitteilen. Unser Verstand ist nur ein Verstand der Erde, aus Sinnlichkeiten, die uns hier umgeben, allmählich gebildet; so ist's auch mit den Trieben und Neigungen unsres Herzens; eine andre Welt kennet ihre äußerlichen Hülfsmittel und Hindernisse wahrscheinlich nicht. Aber die letzten Resultate derselben sollte sie nicht kennen? Gewiß! alle Radien streben auch hier zum Mittelpunkt des Kreises. Der reine Verstand kann überall nur Verstand sein, von welchen Sinnlichkeiten er auch abgezogen worden; die Energie des Herzens wird überall dieselbe Tüchtigkeit, d. i. Tugend, sein, an welchen Gegenständen sie sich auch geübet habe. Also ringet wahrscheinlich auch hier die größeste Mannigfaltigkeit zur Einheit, und die allumfassende Natur wird ein Ziel haben, wo sie die edelste Bestrebungen so vielartiger Geschöpfe vereinige und die Blüten aller Welt gleichsam in einen Garten sammle. Was physisch vereinigt ist, warum sollte es nicht auch geistig und moralisch vereinigt sein, da Geist und Moralität auch Physik sind und denselben Gesetzen, die doch zuletzt alle vom Sonnensystem abhangen, nur in einer höhern Ordnung, dienen? Wäre es mir also erlaubt, die allgemeine Beschaffenheit der mancherlei Planeten auch in der Organisation und im Leben ihrer Bewohner mit den verschiednen Farben eines Sonnenstrahls oder mit den verschiednen Tönen einer Tonleiter zu vergleichen, so würde ich sagen, daß sich vielleicht das Licht der einen Sonne des Wahren und Guten auch auf jeden Planeten verschieden breche, so daß sich noch keiner derselben ihres ganzen Genusses rühmen könnte. Nur weil eine Sonne sie alle erleuchtet und sie alle auf einem Plan der Bildung schweben, so ist zu hoffen, sie kommen alle, jeder auf seinem Wege, der Vollkommenheit näher und vereinigen sich einst vielleicht, nach mancherlei Wandelgängen, in einer Schule des Guten und Schönen. Jetzt wollen wir nur Menschen sein, d. i. ein Ton, eine Farbe in der Harmonie unsrer Sterne. Wenn das Licht, das wir genießen, auch der milden grünen Farbe zu vergleichen wäre, so lasset sie uns nicht für das reine Sonnenlicht, unsern Verstand und Willen nicht für die Handhaben des Universum halten; denn wir sind offenbar mit unsrer ganzen Erde nur ein kleiner Bruch des Ganzen.

III

Unsre Erde ist vielerlei Revolutionen durchgegangen, bis sie das, was sie jetzt ist, worden

Den Beweis dieses Satzes giebet sie selbst, auch schon durch das, was sie auf und unter ihrer Oberfläche (denn weiter sind die Menschen nicht gekommen) zeiget. Das Wasser hat überschwemmt und Erdlagen, Berge, Täler gebildet; das Feuer hat gewütet, Erdrinden zersprengt, Berge emporgehoben und die geschmolznen Eingeweide des Innern hervorgeschüttet; die Luft, in der Erde eingeschlossen, hat Höhlen gewölbt und den Ausbruch jener mächtigen Elemente befördert; Winde haben auf ihrer Oberfläche getobet, und eine noch mächtigere Ursache hat sogar ihre Zonen verändert. Vieles hievon ist in Zeiten geschehen, da es schon organisierte und lebendige Kreaturen gab; ja hie und da scheint es mehr als einmal, hier schneller, dort langsamer, geschehen zu sein, wie fast allenthalben und in so großer Höhe und Tiefe die versteinten Tiere und Gewächse zeigen. Viele dieser Revolutionen gehen eine schon gebildete Erde an und können also vielleicht als zufällig betrachtet werden; andre scheinen der Erde wesentlich zu sein und haben sie ursprünglich selbst gebildet. Weder über jene noch über diese (sie sind aber schwer zu trennen) haben wir bisher eine vollständige Theorie; schwerlich können wir sie auch über jene haben, weil sie gleichsam historischer Natur sind und von zu viel kleinen Lokalursachen abhängen mögen. Über diese aber, über die ersten wesentlichen Revolutionen unsrer Erde, wünschte ich, daß ich eine Theorie erlebte. Ich hoffe, ich werde es; denn obgleich die Bemerkungen aus verschiedenen Weltteilen lange noch nicht vielseitig und genau genug sind, so scheinen mir doch sowohl die Grundsätze und Bemerkungen der allgemeinen Physik als die Erfahrungen der Chemie und des Bergbaues dem Punkt nahe, wo vielleicht ein glücklicher Blick mehrere Wissenschaften vereinigt und also eine durch die andere erkläret. Gewiß ist Buffon nur der Descartes dieser Art mit seinen kühnen Hypothesen, den bald ein Kepler und Newton durch rein zusammenstimmende Tatsachen übertreffen und widerlegen möge. Die neuen Entdeckungen, die man über Wärme, Luft, Feuer und ihre mancherlei Wirkungen auf die Bestandteile, auf Komposition und Dekomposition unsrer Erdwesen gemacht hat, die simpeln Grundsätze, auf die die elektrische, zum Teil auch die magnetische Materie gebracht ist, scheinen mir dazu wo nicht nahe, so doch entferntere Vorschritte zu sein, daß vielleicht mit der Zeit durch einen neuen Mittelbegriff es einem glücklichen Geist gelingen wird, unsre Geogonie so einfach zu erklären, als Kepler und Newton das Sonnengebäude darstellten. Es wäre schön, wenn hiemit manche als qualitates occultae bisher angenommene Naturkräfte auf erwiesene physische Wesen reduziert werden könnten.

Wie dem auch sei, so ist wohl unleugbar, daß die Natur auch hier ihren großen Schritt gehalten und die größeste Mannigfaltigkeit aus einer ins Unendliche fortgehenden Simplizität gewähret habe. Eh unsre Luft, unser Wasser, unsre Erde hervorgebracht werden konnte, waren mancherlei einander auflösende, niederschlagende stamina nötig; und die vielfachen Gattungen der Erde, der Gesteine, der Kristallisationen, gar der Organisation in Muscheln, Pflanzen, Tieren, zuletzt im Menschen, wieviel Auflösungen und Revolutionen des einen in das andre setzten die voraus! Da die Natur nun allenthalben auch jetzt noch alles ans dem Feinsten, Kleinesten hervorbringt und, indem sie auf unser Zeitmaß gar nicht rechnet, die reichste Fülle mit der engsten Sparsamkeit mitteilet, so scheint dieses auch, selbst nach der Mosaischen Tradition, ihr Gang gewesen zu sein, da sie zur Bildung oder vielmehr zu Ausbildung und Entwicklung der Geschöpfe den ersten Grund legte. Die Masse wirkender Kräfte und Elemente, aus der die Erde ward, enthielt wahrscheinlich als Chaos alles, was auf ihr werden sollte und konnte. In periodischen Zeiträumen entwickelte sich aus geistigen und körperlichen staminibus die Luft, das Feuer, das Wasser, die Erde. Mancherlei Verbindungen des Wassers, der Luft, des Lichts mußten vorhergegangen sein, ehe der Same der ersten Pflanzenorganisation, etwa das Moos, hervorgehen konnte. Viele Pflanzen mußten hervorgegangen und gestorben sein, ehe eine Tierorganisation ward; auch bei dieser gingen Insekten, Vögel, Wasser- und Nachttiere den gebildetern Tieren der Erde und des Tages vor, bis endlich nach allen die Krone der Organisation unsrer Erde, der Mensch, auftrat, Mikrokosmus. Er, der Sohn aller Elemente und Wesen, ihr erlesenster Inbegriff und gleichsam die Blüte der Erdenschöpfung, konnte nicht anders als das letzte Schoßkind der Natur sein, zu dessen Bildung und Empfang viele Entwickelungen und Revolutionen vorhergegangen sein mußten.

Indessen war's ebenso natürlich, daß auch er noch viele erlebte, und da die Natur nie von ihrem Werk abläßt, noch weniger einem Zärtling zugut dasselbe vernachlässigt oder verspätet, so mußte die Austrocknung und Fortbildung der Erde, ihr innerer Brand. Überschwemmungen, und was sonst daraus folgte, noch lange und oft fortdauren, auch da Menschen auf Erden lebten. Selbst die älteste Schrifttradition weiß noch von Revolutionen dieser Art, und wir werden späterhin sehen, was diese fürchterlichen Erscheinungen der ersten Zeit beinah aufs ganze menschliche Geschlecht für starke Wirkungen gemacht haben. Jetzt sind Umwälzungen dieser ungeheuren Gattung seltner, weil die Erde ausgebildet oder vielmehr alt ist; nie aber können und werden sie unserm Geschlecht und Wohnplatz ganz fremde werden. Es war ein unphilosophisches Geschrei, das Voltaire bei Lissabons Sturz anhub, da er beinah lästernd die Gottheit deswegen anklagte. Sind wir uns selbst nicht und alle das Unsre, selbst unsern Wohnplatz, die Erde, den Elementen schuldig? Wenn diese, nach immer fortwirkenden Naturgesetzen, periodisch aufwachen und das Ihre zurücke fodern; wenn Feuer und Wasser, Luft und Wind, die unsre Erde bewohnbar und fruchtbar gemacht haben, in ihrem Lauf fortgehn und sie zerstören; wenn die Sonne, die uns so lang als Mutter erwärmte, die alles Lebende auferzog und an goldenen Seilen um ihr erfreuendes Antlitz lenkte, wenn sie die alternde Kraft der Erde, die sich nicht mehr zu halten und fortzutreiben vermag, nun endlich in ihren brennenden Schoß zöge: was geschähe anders, als was nach ewigen Gesetzen der Weisheit und Ordnung geschehen mußte? Sobald in einer Natur voll veränderlicher Dinge Gang sein muß, so bald muß auch Untergang sein, scheinbarer Untergang nämlich, eine Abwechselung von Gestalten und Formen. Nie aber trifft dieser das Innere der Natur, die, über allen Ruin erhaben, immer als Phönix aus ihrer Asche ersteht und mit jungen Kräften blühet. Schon die Bildung unsres Wohnhauses und aller Stoffe, die es hergeben konnte, muß uns also auf die Hinfälligkeit und Abwechselung aller Menschengeschichte bereiten; mit jeder nähern Ansicht erblicken wir diese mehr und mehr.

IV

Unsre Erde ist eine Kugel, die sich um sich selbst und gegen die Sonne in schiefer Richtung beweget

Wie der Zirkel die vollkommenste Figur ist, indem er unter allen Gestalten die größeste Fläche in der leichtesten Konstruktion einschließt und bei der schönsten Einfalt die reichste Mannigfaltigkeit mit sich führet, so ist unsre Erde, so sind alle Planeten und Sonnen als Kugelgestalten, mithin als Entwürfe der einfachsten Fülle, des bescheidensten Reichtums aus den Händen der Natur geworfen. Erstaunen muß man über die Vielheit der Abänderungen, die auf unsrer Erde wirklich sind, noch mehr erstaunen aber über die Einheit, der diese unbegreifliche Mannigfaltigkeit dienet. Es ist ein Zeichen der tiefen nordischen Barbarei, in der wir die Unsrigen erziehen, daß wir ihnen nicht von Jugend auf einen tiefen Eindruck dieser Schöne, der Einheit und Mannigfaltigkeit auf unsrer Erde, geben. Ich wünschte, mein Buch erreichte nur einige Striche zu Darstellung dieser großen Aussicht, die mich seit meiner frühesten Selbstbildung erfaßt hat und mich zuerst auf das weite Meer freier Begriffe führte. Sie ist mir auch so lang heilig, als ich diesen alles umwölbenden Himmel über und diese alles fassende, sich selbst umkreisende Erde unter mir sehe.

Unbegreiflich ist's, wie Menschen so lange den Schatten ihrer Erde im Monde sehen konnten, ohne zugleich es tief zu fühlen, daß alles auf ihr Umkreis, Rad und Veränderung sei. Wer, der diese Figur je beherzigt hätte, wäre hingegangen, die ganze Welt zu einem