Im Angesicht des Manaslu - Benedikt Böhm - E-Book

Im Angesicht des Manaslu E-Book

Benedikt Böhm

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Beschreibung

Im Herbst 2012 ereignete sich eines der schwersten Bergunglücke im Himalaja: Benedikt Böhm plante eine Speedbegehung des Manaslu, als eine Lawine mehrere Bergsteiger begrub und er mit bloßen Händen Überlebende aus den Schneemassen barg. Nun verarbeitet er die Tragödie in einem Buch und erzählt, warum er wenige Tage danach trotzdem den Gipfel bestieg. Rückblickend beleuchtet er Schlüsselmomente seiner Bergsteigerkarriere: von der Bezwingung des ersten Achttausenders – des Gasherbrum II –, einem dramatischen Überlebenskampf am Broad Peak bis hin zum Scheitern am Manaslu fünf Jahre davor. Er schreibt über schwierige Entscheidungen, einsame Erfolge sowie Freundschaft und Rivalität am Berg; und schildert, wie sich Expeditionen, Familie und Beruf vereinbaren lassen.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-96641-2

September 2015

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2014

Redaktion: Wolfgang Gartmann

Fotos im Bildteil: Benedikt Böhm, außer 4, 5, 7, 8, 9: Xandi Kreuzeder; 6: Basti Haag; 13, 14, 15: Christoph Aster; 34, 35, 39: Michael Meisl, Klaus Kranebitter; 38: Moving Adventures Medien GmbH; 40: Wolf Heider-Sawall

Karten und Routenverläufe im Text: Eduard Böhm

Karte Manaslu: action press (Foto), Benedikt Böhm (Route)

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, Egling

Covermotiv: Benedikt Böhm (oben), Dieter Deventer for E.O.F.T (unten)

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Für Sebastian Haag und Andrea Zambaldi

Nach Niederlagen immer wieder aufzustehen ist oft die größere Leistung als der Gipfel.

VORWORT

Mir ist durchaus bewusst, dass mein Sport nicht nur Freunde hat. Was die einen beeindruckt, ist für andere ein sinnloser und eitler Egotrip, der billigend den Verlust des eigenen Lebens in Kauf nimmt. Ich bin allerdings weder lebensmüde, noch fühle ich mich als bewundernswerter Held oder als rücksichtsloser Egoist.

Seit ich denken kann, war ich in Bewegung. Mit elf Jahren entflammte meine Leidenschaft für den Leistungssport. Ich entdeckte meine Begabung und habe sie als großes Geschenk empfunden. In den folgenden Jahren habe ich erfahren, dass es Willen und viel Disziplin erfordert, aus seinen Anlagen etwas zu machen. Ich habe gelernt, mich auf das zu konzentrieren, was ich habe (statt das zu wollen, was ich nicht habe), und meinen eigenen Weg zu gehen (statt den von jemand anderem). Mich treibt nicht Ehrgeiz an, es ist vielmehr die Liebe zu diesem Sport und die Sehnsucht nach Bewegung in einer Welt der Ruhe, Ausgeglichenheit und Einsamkeit. Ich bin sehr dankbar für mein Talent und möchte gern das Beste daraus machen.

Die Befriedigung und das Glück, das die Berge und mein sportliches Weiterkommen in mir auslösen, wünsche ich jedem Menschen. Ich glaube, es ist nie zu spät, sich auf den eigenen Weg zu begeben.

Manaslu, 23. September 2012, 4.45 Uhr

Ich glaube, jeder von uns hatte Angst vor dem, was uns hier auf 6500 Meter Höhe erwarten würde, und die noch herrschende morgendliche Dunkelheit verunsicherte uns zusätzlich. Das Einzige, was wir sahen, waren einige hektisch flackernde Taschenlampenlichter auf der Höhe von Lager 2 unter uns und von Lager 3 über uns. Als wir am Fuße der berüchtigten Hangflanke ankamen, auf der die Lager aufgeschlagen waren, war das Erste, was im Lichtkegel unserer Stirnlampen auftauchte, ein einzelner Schuh, so ein Daunenüberschuh, wie man ihn nur im Zelt zum Wärmen der Füße trägt. Das war der Moment, in dem jedem von uns klar wurde, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.

START

Daheim, Frühjahr 2012

Es ist fünf Uhr morgens. Die Sonne hat gerade den Horizont überschritten und schickt mir ihre wärmenden Strahlen als Morgengruß ins Gesicht. Ich stehe ausgepowert, aber sehr zufrieden auf dem Gipfel der Alpspitze. Um mich herum schimmert das Panorama meiner geliebten Alpen in unschuldigem, zartem Rosa. Ich genieße den Moment in vollen Zügen und bin einfach nur glücklich.

Wenn mein Tag so beginnt, kann mich kaum noch etwas aufregen, selbst einen Einkaufsbummel am Samstag ertrage ich danach gelassen! Und unter der Woche schaffe ich es locker bis um neun Uhr zurück nach München in mein Büro, oder ich bin ohnehin auf der Durchreise, da ich beruflich viel in den Alpen unterwegs bin.

Sooft es mir möglich ist, absolviere ich dieses Trainingsprogramm: Frühmorgens – oder auch spätnachts – schleiche ich mich leise aus der Münchner Wohnung, um Frau und Sohn nicht zu wecken, und fahre in die nahe gelegenen Alpen. Für die lange Runde mit 2600 Höhenmetern auf die Alpspitze brauche ich 3,5 Stunden. Vor großen Expeditionen mache ich diese Runde oft zweimal hintereinander. Auch aus diesem Grund gehe ich lieber zu Zeiten, wo außer mir niemand unterwegs ist, denn begegne ich einem anderen Skitourengeher, kann es passieren, dass ich dem gleich viermal über den Weg laufe. Das erste Mal überhole ich ihn beim ersten Hochgehen, das zweite Mal komme ich ihm abfahrend entgegen, das dritte Mal überhole ich ihn beim zweiten Hochgehen und das vierte Mal wieder abfahrend. Da bleibt ein ungläubiges »Ja, des gibt’s doch net! Du warst doch grad ebn scho amoi do!« oder »Ja, servus, des wiavuite Moi is’n heit scho, Bene?« nicht aus. Ich schätze diese anerkennende bayerische Kontaktaufnahme, aber meist bin ich bei diesen Trainingseinheiten so in mich und meinen Rhythmus versunken, dass ich auf Gespräche keine Lust habe.

Trainingseinheit auf der Alpspitze bei Garmisch-Partenkirchen: Kreuzeck Parkplatz – Hochalm – Bernadeinlift Bergstation – Abfahrt Bernadeinlift Talstation – Aufstieg Alpspitze Gipfel über Rücken und Ostgrat – Abfahrt Bernadeinlift Talstation – Aufstieg Bernadeinlift Bergstation – Kreuzeck Parkplatz

Um das, was ich mir vorgenommen habe, zu schaffen, werde ich in den nächsten Monaten Zigtausende an Höhenmetern bergauf und bergab zurücklegen. Ich werde Gipfel besteigen, die mir alles abverlangen, und von Hängen abfahren, bei deren Anblick mein Herz bis zum Hals schlägt – mal vor Freude, mal vor Aufregung und Angst. Vor mir liegt die größte sportliche Herausforderung meines Lebens.

An einem dieser Frühlingsabende sitzen meine Frau Veronika und ich gemütlich vor dem Fernseher. Beim Zappen stoßen wir auf eine Dokumentation über den Versuch, den 8080 Meter hohen Gasherbrum I im Winter zu besteigen. Das Unternehmen endete tödlich. Am Morgen des 9. März 2012, die drei Bergsteiger hatten eine Nacht auf 7700 Meter bei über 50 Grad minus hinter sich, riss die Funkverbindung ab. Stunden später wurden sie mit dem Fernglas gesichtet. Sie befanden sich im Aufstieg in einem Eisfeld etwa 250 Meter unterhalb des Gipfels. Just in diesem Moment kam ein Sturm auf, der sich in Windeseile zu einem Orkan auswuchs. Vor den Augen des Freundes wurden die drei von den dichten Wolken verschluckt – und nie wieder gesehen. Cedric Hählen, Gerfried Göschl und Nisar Hussain sind bis heute verschollen.

Ich kannte Cedric. Kurz bevor er im Januar auf diese Expedition ging, telefonierten wir noch miteinander, auch Teile seiner Ausrüstung hat er von mir bekommen. Ein paar Wochen später erreichte mich die Nachricht von seinem tragischen Tod. Cedric war ein angenehm ruhiger und bescheidener Typ und mit seinen 30 Jahren ein exzellenter, sehr erfahrener und besonnener Bergsteiger. Wir lernten uns 2009 auf dramatische Weise an einem anderen Achttausender kennen, dem Broad Peak. Ohne Cedrics Hilfe hätte diese Expedition auch ganz anders ausgehen können. Seit damals standen wir in regelmäßigem Kontakt. Meine Frau kannte Cedric nicht, aber sie schaut den Film »Der letzte Weg« sehr aufmerksam an. In ein paar Wochen werde ich auf dem Weg ins Himalajagebirge sein … 

München, Kindergarten- und Schulzeit

Die Liebe zu den Bergen wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Mein Elternhaus war eher künstlerisch geprägt. Mein Vater und meine Mutter interessieren sich für alles, was mit Kunst, Literatur und Musik zu tun hat, und genießen die vielfältigen Möglichkeiten, die eine Großstadt in dieser Hinsicht bietet. Dabei sind sie ebenso naturverbunden, unternehmungslustig und bewegungsfreudig. Als das fünfte von sechs Kindern wuchs ich in einer umtriebigen Familie auf, die Tür unseres Hauses stand immer offen, und es war immer etwas los.

Die Abenteuer meiner Kindheit spielten sich vor allem in unmittelbarer Umgebung – im Perlacher Forst oder an der Isar – ab. Oft paddelten wir mit dem Schlauchboot den Fluss hinunter, aber selten unter »normalen« Umständen. Für meinen abenteuerlustigen Vater musste schon Hochwasser oder mindestens schlechtes Wetter sein. Die Sonntagsausflüge gingen oft ins Voralpenland, aber auch dort marschierten wir natürlich nicht auf den vorgeschriebenen Wegen, sondern querfeldein.

Einmal landeten wir mitten in einem Moorgebiet – ich erinnere mich, wie meine Mutter bis zur Hüfte in einem Sumpfloch verschwand –, ein anderes Mal blieb unser Schlauchboot an einem entwurzelten Baum, der mit dem Hochwasser in der Isar abgetrieben war, hängen und wurde zerrissen. In letzter Sekunde wurden wir Kinder am Schlafittchen gepackt und auf die Äste gesetzt – wo wir dann bei Nieselregen in unseren pitschnassen Kleidern ausharrten, bis bei Einbruch der Dunkelheit endlich Rettung nahte. Die Soldaten einer amerikanischen Militärübungspatrouille waren die Einzigen außer uns, die bei diesem Sauwetter unterwegs waren. Mit ihren Kajaks setzten sie uns ans Ufer über.

Der Großteil meiner Kindheit fand in unserem Garten statt. Dort erschuf ich mir meine eigene Welt. In der einen Hand ein Köfferchen, in der anderen eine Lupe, streifte ich, als Detektiv verkleidet, unheilwitternd durch das Gestrüpp, um Beweise für ein Verbrechen – oder gar eine Leiche! – zu finden. Als Ritter zog ich in den Kampf gegen meine nächstältere Schwester, die mich erst unermüdlich attackieren ließ, um mich dann mit einem gezielten Schlag zu Boden zu strecken. Als junger Prinz führte ich meine Truppen, bestehend aus meiner jüngeren Schwester und ihren Freundinnen, in die Schlacht. Als ich älter wurde, lösten waghalsigere Unternehmungen die Rollenspiele ab. Der Garten wurde zu einem Radl-Parcours umgebaut, mit dem Skateboard sprang ich vom Garagendach der Nachbarn, und im Winter spielten wir im Garten Eishockey. Damals waren die Winter auch in der Stadt noch so kalt, dass mein Vater mit täglichem Spritzen aus dem Rasen einen Eisplatz machen konnte. Ich war ein Draufgänger und ständig in Aktion – allerdings nur solange ich mich in vertrauter Atmosphäre bewegte. Kaum war ich fort von zu Hause, verließ mich schnell der Mut. Da verwandelte sich der unerschrockene Kämpfer in einen sehr sensiblen und unsicheren Buben. Meine Ängste hatten teilweise ganz konkrete Ursachen. Durch meine über zehn Jahre älteren Geschwister bekam ich mehr mit, als mir guttat. Kindertypische Ängste vor Dunkelheit, Räubern und Mördern wurden durch viel zu frühes Schauen von Sendungen wie »Aktenzeichen XY … ungelöst« bedrohlich real. In meiner Einbildung sah ich in fremden Menschen alle möglichen Verbrecher. Das nahm zeitweise derart überhand, dass ich nicht einmal auf die Geburtstagsfeier eines Kindergartenfreundes gehen wollte. Ich konnte schlecht allein sein, vor allem nachts. Meine jüngere Schwester war in der Beziehung ganz unbeschwert. Nicht nur einmal musste ich sie demütig anbetteln, mich bei ihr im Zimmer schlafen zu lassen. Da wir uns tagsüber oft bekriegten, kostete mich die Bitte um nächtliches Asyl große Überwindung und Überredungskünste. Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, bekam ich jedes Mal Angst, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte und sie nie mehr heimkäme. Wenn ich selbst unterwegs war, beobachtete ich die Umgebung um mich herum ganz genau, weil ich fürchtete, entführt zu werden. Ich empfand diese Ängste als eine einzige Blockade, hinderten sie mich doch daran, mich frei zu bewegen.

Irgendwann hatte ich es satt. Ich war schätzungsweise acht Jahre alt, als ich beschloss, diese lästigen Hindernisse aus dem Weg zu räumen. In kleinen Schritten stellte ich mich ganz gezielt immer größeren Mutproben. Zum Beispiel wagte ich mich nachts allein in den Keller oder – nächste Stufe – versuchte, allein im Dunkeln nach Hause zu gehen. Mit jedem Teilerfolg wuchs mein Selbstvertrauen, und meine Ängste schrumpften, bis sie sich weitgehend aufgelöst hatten.

In der Schule sah ich mich vor einer neuen, diesmal wirklich fast unüberwindbaren Hürde. Dass meine Schwester mir am ersten Schultag den Inhalt meiner Schultüte streitig machte und diese bei unserem Kampf vollkommen zerstört wurde, war nur ein Vorgeschmack auf das, was mich in den folgenden 13 Jahren an Niederlagen erwarten sollte. Kaum ein Tag, an dem ich nicht in irgendeiner Form versagte, kein Zwischenzeugnis, in dem mir nicht »Vorrücken gefährdet« attestiert wurde. Mit enormem Kraftaufwand schaffte ich es zwar doch immer, meine »Leistungen im 2. Halbjahr erfreulich zu steigern« und mich »auch nach Rückschlägen nicht entmutigen« zu lassen, aber in mir drinnen sah es ganz anders aus. Ich litt unter Versagensängsten, war völlig verunsichert, traute mir nichts zu und ließ es dann auch schleifen. Den Gipfel in dieser Hinsicht hatte ich in der 8. Klasse mit sechs 5ern und einem 6er erreicht. Das war der absolute Tiefpunkt meiner schulischen Karriere. Kurz nach diesem desaströsen Zwischenzeugnis streckte mich eine schwere Lungenentzündung endgültig nieder. Ich war derartig schwach, dass ich ernsthaft glaubte, sterben zu müssen. Ich wollte und konnte niemanden mehr sehen, fühlte mich nur noch wie tot. Gleichzeitig sah ich in dieser Krankheit ein Zeichen, dass ich mein Leben ändern musste. Das war der Wendepunkt. Ein halbes Jahr später zierte nur noch ein 5er im Fach »Wirtschaft und Recht« mein Jahreszeugnis. Ich hatte das Klassenziel erreicht!

Nicht mehr ganz so dramatisch, aber doch ähnlich verlief der Rest meiner Schulzeit. (In Sport bekam ich übrigens nur einmal eine 1 im Zeugnis. Für die geordneten Verhältnisse eines Schulsportunterrichts schoss meine Energie zu überschäumend und unkontrolliert aus mir heraus – und der Ball traf mit entsprechender Wucht nicht immer dahin, wo er sollte.)

Ohne Helfer hätte ich die Schulzeit nicht durchgestanden. Am eigenen Leib machte ich die Erfahrung, wie wohltuend und existenziell notwendig es sein kann, einen Mentor zu haben. Einen Menschen, der an einen glaubt, der einen unterstützt und motiviert. In meiner Grundschulzeit war das meine Lehrerin in der 3. und 4. Klasse. Einmal gab sie mir einen Brief für meine Mutter mit, in dem das Diktat für den nächsten Tag steckte, mit der Bemerkung: »Ich glaube, Benedikt braucht mal wieder ein Erfolgserlebnis.« Mit mir zettelte sie eine kleine Brieffreundschaft an – wir schrieben uns Zettelchen während des Unterrichts –, damit ich die Angst vor dem Schreiben verlor. Ich liebte diese Lehrerin und wollte sie nur ungern enttäuschen.

Am Gymnasium bedurfte es da schon tatkräftigerer Unterstützung. Meine Freunde hatten zwar auch ihre Probleme in der Schule, taten sich aber insgesamt alle leichter. Dass ich die 10. Klasse überstand, verdanke ich meinem Klassenlehrer. Er sah mehr in mir als nur einen schlechten und unruhigen Schüler. Während die meisten anderen Lehrer eher genervt von mir waren, verstanden wir uns sehr gut. Er handelte mit mir und einer besonders ungnädigen Lehrerin einen Deal aus: Wenn ich versprach, nach Ablauf des Schuljahrs auf eine andere Schule zu wechseln, sollte ich die Chance bekommen, mich bei ihr zu verbessern und damit die 10. Klasse zu bestehen. Natürlich willigte ich ein.

Der Schulwechsel von München nach Bad Tölz läuterte mich. Ich hatte das Gefühl, aus meiner Heimatstadt verbannt worden zu sein. Getrennt von den Freunden, mit denen ich seit meiner Kindheit zusammen war, konzentrierte ich mich jetzt voll und ganz auf den Lernstoff. Mir war mittlerweile vollkommen bewusst, dass ich das Abitur irgendwie schaffen musste, um frei und ohne Einschränkungen einen Beruf wählen zu können.

Ein Vorbild war für mich in dieser Beziehung mein Großvater. Über meinem Bett hing ein Foto von ihm als olympischer Fackelläufer. Er war sehr sportlich gewesen und hatte als Zehnkämpfer an den Olympischen Spielen teilgenommen. Mit Willen, Fleiß und Durchhaltevermögen schaffte er aber auch den vermutlich noch viel härteren Weg vom Lehrling zum Abitur (wobei er zweimal durch die Prüfungen flog) und bis zum Doktor der Philosophie.

Ich wünsche jedem Kind und jedem Heranwachsenden jemanden, der ihn fördert und an ihn glaubt. Heute bin ich in der Position, jungen Menschen eine Perspektive geben zu können, indem ich sie in ihren Fähigkeiten bestärke – beruflich wie sportlich. Dabei messe ich den Zeugnisnoten wenig Bedeutung bei, für mich zählen das Potenzial und die soziale Intelligenz eines Menschen.

Meine Fähigkeiten sah ich damals ganz eindeutig in einem Beruf aufgehoben, für den ich mir die Quälerei zum Abitur allerdings hätte sparen können: Ich wollte Stuntman werden. Da gebe es immer »Action«, da wäre Mut gefordert, aber auch die Fähigkeit, das Risiko zu kalkulieren. (Zu der Zeit sprang ich mit Vorliebe von Hausdach zu Hausdach.) Meine hochfliegenden Berufsträume zerschellten jedoch jäh auf dem Boden der Realität, nachdem ich mir eine Stuntman-Schule angeschaut hatte. Vielleicht lernte ich dort ja die falschen Stuntmen kennen, aber der Job erschien mir in Wirklichkeit viel langweiliger, als ich das von »the unknown stuntman« Colt Seavers aus dem Fernsehen kannte.

Expeditionsplanung Cho Oyu, 2012

Selten habe ich mich so auf eine Expedition gefreut wie auf diese. Meinen kompletten Jahresurlaub habe ich für dieses Unternehmen »geopfert«. Unser Ziel ist der 8201 Meter hohe Cho Oyu. Er liegt in Tibet in unmittelbarer Nachbarschaft von Mount Everest und Lhotse und ist ein wunderbarer Achttausender zum Skifahren. Das heißt, keiner der 14 Achttausender ist wirklich für das Skifahren gemacht, aber der Cho Oyu eignet sich noch am ehesten. Die höchsten Berge der Welt sind zerklüftet, eisig, steil und verspaltet, da muss man die Skier wirklich beherrschen. Aber wenn man seine Technik und seine Nerven in den Steilhängen der Alpen geschmiedet hat, können Skier an diesen Bergen eine enorme Hilfe bedeuten. Der Cho Oyu ist wie geschaffen für meinen Freund und Seilpartner Sebastian Haag – »Basti« – und mich und unseren Speed-Skistil. Wenn man über die Nordwestroute aufsteigt, hat er keine allzu schwierigen Kletterpassagen – im Unterschied zu vielen anderen Extrembergsteigern komme ich nicht aus dem Klettersport – und einen relativ sanft abfallenden Hang. Für einen Achttausender wohlgemerkt. »Sanft« bedeutet in diesem Zusammenhang durchaus 50 Grad steile Hänge, bodenlose Gletscherspalten und Eisplatten wie Stahl.

Am Cho Oyu werden wir nicht die Ersten sein, die dort mit den Skiern abfahren. Einmalig ist allerdings die Kombination aus schnellem und kompromisslosem Aufstieg vom auf 5700 Meter gelegenen Basislager zum Gipfel und einer Skiabfahrt zurück zum Basislager. Während klassische Expeditionen drei bis fünf Tage für einen Gipfelgang veranschlagen, wollen wir die 2500 Höhenmeter hoch und runter in maximal 24 Stunden bewältigen. Das ist unser Traum.

Ich liebe das Skibergsteigen über alles und habe mich darauf spezialisiert, so schnell wie möglich hoch- und auf Skiern möglichst schnell runterzukommen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich das erste Mal auf diese Weise am Berg unterwegs war. Damals nannten wir das »Steckerlreiten«.

Langlaufsport, 1988 bis 1993

Ich war in der 5. Klasse des Gymnasiums und einigermaßen verzweifelt. Laut Übertrittszeugnis gab es in meinem Verhalten »Schwankungen zwischen Unsicherheit, Eigenwilligkeit und Einordnungsbereitschaft«, die mich »sehr unausgeglichen erscheinen ließen«. Tatsache war: Ich konnte nicht gescheit mit meiner überschüssigen Energie umgehen und wusste mir selbst nicht zu helfen. Zwar hatte ich gerade als jüngster Teilnehmer den 1000-Meter-Lauf der gesamten Unterstufe gewonnen, aber ansonsten empfand ich meinen Bewegungsdrang – heute würde ich wahrscheinlich als hyperaktiv diagnostiziert werden – nicht als Segen.

Wegen der guten Platzierung beim 1000-Meter-Lauf kamen mein ältester Bruder und meine Mutter auf die Idee, mich im Langlaufverein anzumelden, damit ich durch sportliche Erfolgserlebnisse wieder ein bisschen Auftrieb erhielte. Offenbar hatte ich ja ein gewisses Langstreckentalent.

Langlaufen war eigentlich »out«. »In« war Alpinskifahren. Das wurde in unserer Familie aber nicht betrieben. Während die meisten Freunde in den Weihnachtsferien zum Skifahren in die Berge fuhren, wurden schon meine älteren Geschwister mit dem Stadtjugendamt zum Langlaufen geschickt. Sie wären zwar viel lieber Pisten runtergebrettert, aber immerhin zeigte mein ältester Bruder Corbinian so viel Talent im Langlauf, dass Kurt Dotzler, der damalige sportliche Leiter des Münchner Skiclubs Hochvogel, ihn entdeckte und für den Verein anwarb. Wie die meisten potenziellen Sportlerkarrieren endete auch die meines Bruders in der Pubertät, als er nach und nach lieber anderen Freizeitbeschäftigungen nachging. Zu dieser Zeit war ich noch im Kindergarten, aber der Kontakt zum Verein war hergestellt, und so wurde ich 1988 ebenfalls dort angemeldet – ein, wie sich noch herausstellen sollte, aus der Not geborener Glücksfall für mich. In diesem Verein habe ich viel mehr für das Leben gelernt als in der Schule.

Ich war elf Jahre alt und hatte keine Ahnung, was Skilanglauf überhaupt ist. Aber ich war sofort begeistert. Es war Sommer, und das Training bestand aus Laufen, Kajak fahren, Leichtathletik, Berggehen und sogenanntem Sommer-Rollerski. Egal, welche Disziplin, ich lechzte geradezu danach, mich zu bewegen, und war entsprechend selig. Ich hatte das große Glück, dass sich Kurt Dotzler als Trainer auch meiner annahm. Er wurde eine Art Vaterfigur für mich, von ihm fühlte ich mich ernst genommen und gefördert, er holte das Beste aus mir heraus. Nie wieder habe ich jemanden erlebt, der den Leistungssport mit einer derartigen Begeisterung und jugendlichen Zielstrebigkeit vermittelte wie er. Er hatte sich voll und ganz diesem Sport verschrieben. Auch mich faszinierten die Kombination aus Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer sowie der elegante Bewegungsablauf. Ich entdeckte eine völlig neue Welt abseits der Großfamilie.

Ohne es zu merken, prägte mich die Zeit innerhalb des Vereins für mein Leben. Ich fand dort Vorbilder und konnte meinen unbändigen Bewegungsdrang sinnvoll für sportliche Ziele einsetzen. Dabei herrschten hier durchaus eine außergewöhnlich hohe Disziplin, Leistungs- und Leidensbereitschaft. Ich lernte, mir den Schmerz der Anstrengung zu verbeißen, die körperlichen Qualen zu ertragen und ein Rennen niemals aus purer Selbstaufgabe heraus abzubrechen. »Schmerzen kannst du nicht verhindern, aber du kannst deine Leidensfähigkeit bestimmen«, war einer der Leitsätze im Verein. Man brachte mir bei, meine Energie zu bündeln und mich punktgenau auf Wettkämpfe vorzubereiten.

Die wichtigste Lektion jedoch war, dass für den Erfolg nicht unbedingt das Talent entscheidend ist, sondern der unbarmherzige Wille und die damit verbundene Disziplin. Wir waren ein eingeschworenes Team, und es herrschte eine sehr freundschaftliche Atmosphäre, die allerdings klaren Gesetzen und einem Ehrenkodex unterlag. Der notwendige Leistungsdruck wurde mir immer fördernd und positiv fordernd vermittelt. Sonst hätte ich sicher sehr schnell die Lust verloren. Es war vor allem Kurt Dotzler, der mich in der Anfangszeit extrem motivierte. Zum ersten Mal in meinem jungen Leben wurde ich an meine Leistungsgrenzen gebracht, das war eine sehr wichtige Erfahrung für mich. Ich lernte, wie süß sich sportliche Erfolge und wie bitter sich Niederlagen anfühlen.

Eine meiner unangenehmsten Erinnerungen ist ein Rennen, bei dem ich weinend aufgeben musste. Anfangs war ich gut dabei und lief weit vorn im Feld, nur die Schmerzen an meinen Händen wurden immer unerträglicher. Der Grund: Ich hatte es meinem Vorbild, einem russischen Athleten, der immer mit bloßen Händen lief, gleichtun wollen und war bei minus 20 Grad ohne Handschuhe in das Rennen gegangen. Schon nach kürzester Zeit waren meine Hände Eiszapfen, aber ich ertrug die Höllenqualen so lange, bis es einfach nicht mehr ging. Die Tränen liefen über meine vor Kälte roten Wangen, als ich aus der Loipe trat und das Rennen schluchzend beendete. Damit nicht genug, verfolgte mich die Schmach dieser selbst verschuldeten Niederlage noch wochenlang in Form von blöden Bemerkungen meiner Vereinskameraden, die ich zerknirscht über mich ergehen lassen musste.

In der Anfangszeit war ich ein starker Läufer. Mit 13 kam dann ein richtiger Einbruch. Während meine Konkurrenten sich körperlich rasant entwickelten und damit auch läuferisch große Fortschritte machten, blieb ich im wahrsten Sinn auf der Strecke. Läufer, die ich über die letzten beiden Jahre dominiert hatte, überholten mich nun plötzlich. Das war eine bittere Zeit nach meiner erfolgsverwöhnten Anfangsphase, und es dauerte lange, bis auch bei mir endlich das Wachstum einsetzte.

Ohne es bewusst wahrzunehmen, verliebte ich mich in dieser prägenden Zeit in die Natur und in die Berge. Ein fast heiliger Ort war für mich die Vereinshütte im Tegernseer Tal. Sie wurde zwischen den beiden Weltkriegen erbaut und liegt auf etwa 1400 Meter abgelegen auf dem sonnigen Plateau der Bodenschneid. Noch heute laufe ich sehr gern hier hoch. Gerade nach großen Expeditionen zieht es mich magisch zurück an diesen Ort meiner Anfänge.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich das erste Mal aufstieg. Mit einem voll bepackten Rucksack stapfte ich über einen kleinen, selten begangenen Steig durch den dichten Wald. Auf einmal öffnete sich eine Lichtung, und ich befand mich auf einem großen, baumfreien Plateau ein paar Hundert Höhenmeter unterhalb des Gipfels. Am Rand dieser märchenhaften Szenerie liegt eingebettet in das zarte Grün die Vereinshütte, ein bisschen wie das Haus der sieben Zwerge. Oft saß ich in den folgenden Jahren dort auf dem großen Balkon, ganz verzaubert von dem grandiosen Ausblick auf die Venedigergruppe, den Großglockner und die Tauern, musikalisch untermalt von dem Glockengeläut der Kühe, die hier oben einen friedlichen Almsommer verbrachten.

So sanft die weich gewellten Wiesen und die weite Bergwelt die Hütte umspielten, so hart waren die Trainingseinheiten, die hier an den Sommerwochenenden absolviert wurden. Der Wallberg hieß bei uns nur Qualberg. Zweimal hoch und runter laufen (je knapp 1000 Höhenmeter) gehörte zum Standardprogramm. Beliebt war auch die »Drei-Gipfel-Tour« über Bodenschneid, Risserkogel und Brecherspitze. Geduscht, gekocht und geheizt wurde per Holzofen, aber schon damals gab es Strom aus einer Solarzelle. Jeder lernte sich selbst zu organisieren, und ich lernte das Schafkopfen, das wichtigste bayerische Kartenspiel.

Jedes Frühjahr, wenn die Wettkämpfe vorbei waren, nahmen wir die Hütte wieder in Betrieb. Oben lag zu dieser Zeit meist noch viel Schnee, und so kam ich zu meiner ersten Skitour. Mit Klebefellen unter den Langlaufskiern ging es auf den Gipfel der Bodenschneid. In diesem Fall dienten die Skier nur dazu, besser durch den tiefen Schnee zu kommen. Es ging weder um den Gipfel an sich noch gar darum, eine schöne Tour zu laufen. Die Berge waren reines Trainingsgebiet, ein Mittel zum Zweck.

Mit Langlaufskiern und der dazugehörigen offenen Bindung im Tiefschnee abzufahren ist eine echte Herausforderung und eine sehr wackelige Angelegenheit. Meist praktizierten wir deshalb das sogenannte Steckerlreiten. Beim Steckerlreiten setzt man sich auf seine Skistöcke und fährt »im Schuss« den Hang hinunter. Je nachdem, wie leicht oder schwer man die Stöcke sitzenderweise mit seinem Gesäß belastet, bohren sich die Stöcke wie ein Ackerpflug als rettende Bremse in den Schnee. Die Navigation ist entsprechend schwierig – ich erinnere mich nicht nur an einen gebrochenen Langlaufski –, aber das Bergab auf Skiern erweiterte den Spaßfaktor ungemein.

Für einige Jahre war nun der SC Hochvogel mein Zuhause. Wir waren eine treue Gruppe von vier aktiven Leistungssportlern. Unser Trainer Andi Seibold war wie ein älterer Bruder, er zeigte eine bewundernswerte Geduld mit uns pubertierenden 13-Jährigen und kümmerte sich professionell und aufopferungsvoll um unser sportliches Weiterkommen. Die schneearmen Münchner Winter und meine sinkenden schulischen Leistungen erschwerten das Trainieren jedoch zunehmend. Wir trafen uns immer seltener, und als sich dann noch mein gleichaltriger Trainings- und Sparringspartner Wolfi eine schlimme Verletzung bei einer Skitour zuzog, brach die vorerst letzte aktive Gruppe des SC Hochvogel auseinander. Auch ich entdeckte nun andere Facetten des Lebens wie Partys, das andere Geschlecht etc. Die Langlaufskier wurden durch Eishockeyschläger und Tourenski ersetzt.

Andi Seibold, Trainer des SC Hochvogel

» Nach meiner aktiven Zeit als Langläufer (von 1970 bis 1982) und ein paar Jahren sportlicher Abstinenz fing ich Ende der Achtzigerjahre wieder an, ein- bis zweimal pro Woche ins Langlauftraining zu gehen. Aufgrund des Schneemangels ist Skilanglauf in der Großstadt eigentlich kaum möglich. Wir trainierten hauptsächlich auf sogenannten Skirollern in den Parks von München. Wenn wir so, mit Rollern an den Füßen und Stöcken in den Händen, unsere Runden drehten, wurden wir belächelt und mit dummen Kommentaren – ›Ja, wo is denn do da Schnee?‹ – versorgt.

Die Alternative waren lange Autofahrten ins Gebirge zu unserem Trainingsstützpunkt. Eine richtige Trainingsgruppe gab es zu dieser Zeit nicht mehr, und Kurt Dotzler, mein damaliger Trainer, zog ins Allgäu und legte nach 30 Jahren sein Amt als Sportwart nieder. Ich stellte mich als sein Nachfolger gern zur Verfügung, denn ich hatte unwahrscheinliche Lust und das Bedürfnis, meine Erfahrung an Kinder und Jugendliche weiterzugeben. Viel zu tun hatte ich allerdings nicht, denn es gab keine jungen Nachwuchssportler.

Doch dann, es müsste 1988 oder 1989 gewesen sein, kamen zwei: Wolfi und Bene. Bene war der Bruder von Corbinian, mit dem ich zehn Jahre zuvor zu Wettkämpfen gefahren war. Wolfi war ein Einzelkind und bekam von zu Hause jegliche Unterstützung. Bene hingegen musste sich um alles selbst kümmern. Unterschiedlicher hätten beide nicht sein können. Bene – als 11- oder 12-Jähriger – war chaotisch organisiert. Mir ist noch gut in Erinnerung, wie sich dies an unseren Hüttenwochenenden in den von den Eltern gepackten bzw. selbst vollgestopften Rucksäcken widerspiegelte. Wolfis Sachen waren sauber geordnet, die Verpflegung – unsere Hütte ist eine Selbstversorgerhütte – mundgerecht vorbereitet. Aber wie das eben so ist, wenn alles für einen gemacht wird und man seine Sachen nicht selbst gepackt hat, findet man nichts bzw. ist man nicht mal fähig, das vorgekochte Essen aufzuwärmen. Bene hingegen beherrschte sein Chaos. Für sein Alter war er schon sehr selbstständig und ein richtiger ›kleiner‹ Kumpel. Man konnte jeden Spaß mit ihm haben. Ab und zu versuchte er aber auch, seine Grenzen bei mir auszuloten.

An Bene faszinierte mich seine Physis. Egal, wie kalt es dort oben war – wenn die Hütte im Winter eine Woche nicht besucht war, hatte es in den ersten Stunden innen fast die gleichen Temperaturen wie außen, und das konnten schon mal minus 10 Grad sein –, Bene lief barfuß oder höchstens mit Socken bekleidet umher und wurde nie krank. Für mich war das beneidenswert. Auch sportlich hatte Bene einen guten Einstand. Gleich bei seinem ersten Vereinsberglauf – im Oktober 1989 mit gerade mal zwölf Jahren – belegte er den 3. Platz.

Unser Berglauf für Jugendliche ging vom Tal am Tegernsee (Enterrottach) bis zur Hütte auf etwa 1400 Meter – gute 600 Höhenmeter. Im folgenden Jahr belegte Bene schon den ersten Platz. Mehr als sechs Minuten schneller! Und besser als der zwei Jahre ältere Vorjahressieger. Ich war sehr stolz auf ihn und habe mich riesig gefreut. ›In diesem Winter wird er es allen zeigen‹, dachte ich mir. 1990/91 hatte ich meine Mannschaft, die mich in den kommenden zwei Jahren – neben dem Berufsleben – das ganze Jahr beschäftigen sollte, beisammen: Bene, Wolfi, Markus und Andi. Für mich eine der schönsten Zeiten. Ich konnte den vieren das zurückgeben, was mir der Skisport und das Vereinsleben in meiner Jugend gegeben hatten. Doch was machte der Bene im Winter …? Er konnte seine Physis auf den Skiern nicht umsetzen. Er war mein Trainings- und Laufweltmeister. Aber wenn ›mein Bene‹ wichtige Wettkämpfe hatte, ging seine Kraft und Energie überall hin, nur nicht in die Geschwindigkeit. Wolfi war in diesen Jahren – wenn es darauf ankam – besser.

Aber Langläufer wird man nicht in zwei oder vier Jahren. Um ein richtig guter Langläufer zu werden, braucht es mindestens zehn bis fünfzehn Jahre. Diese Sportart ist sehr komplex. Man benötigt Kraft (Schnellkraft), Ausdauer, Erfahrung (wie gehe ich einen Wettkampf an), gutes Material, das richtige Skiwachs und am Wettkampftag auch die richtige Einstellung – einfach einen guten Tag. Bene hatte also noch genügend Zeit, wenn er sich für den Skilanglauf entscheiden sollte. Wenn nicht, so hoffte ich, ihm wenigstens etwas von dem mitgeben zu können, was für mich das Leben so lebenswert macht: sportliche Betätigung, Freude an der Bewegung, am Gebirge – ich glaube, das ist unserem Team gelungen.

Heute macht es mir große Freude, von Bene zu lesen, und dabei denke ich immer an den zwölfjährigen Langläufer zurück. Ich bewundere ihn und bin auch ein wenig stolz, wie er die höchsten Berge der Erde mit Tourenskiern als ›Speedbergsteiger‹ bezwingt. Für mich ist das Wichtigste, er bleibt dabei gesund. «

Es war vor allem der Vater eines guten Freundes, der mich dem Tourensport näherbrachte. Mit dieser Familie durfte ich einige Winterurlaube verbringen. Zum ersten Mal ging ich Skitouren mit echten Tourenskiern. Zum ersten Mal bestieg ich den Großvenediger und viele andere umliegende Gipfel. Und zum ersten Mal bemerkte ich, dass hier mein wirkliches Talent liegt. Mich auf diese Weise auf den Skiern zu bewegen fiel mir unglaublich leicht, und ich war mit meinen 14, 15 Jahren erstaunlich schnell. Meist hatte ich alle recht bald hinter mir gelassen und lief allein voraus. Das war reiner Spaß an der Freude, und ich kam gar nicht auf die Idee, dass Skitourengehen mehr als ein winterliches Hobby sein könnte.

SCHNELLER

Mittenwald, Skizug Bundeswehr, 1997/98

Eine sportliche Blütezeit erlebte ich dann noch einmal nach dem Abitur. Kurz nach meinem Abschluss meldete sich ein Herr Seiko von der Bundeswehr bei mir und fragte mich, ob ich nicht Interesse daran hätte, in den Skizug einzutreten. Anscheinend hatten mich frühere Skilangläufer Kollegen empfohlen, die ihre Bundeswehrzeit im Skizug abgeleistet hatten. Herr Seiko erklärte mir, dass es zwei verschiedene Einheiten innerhalb des Skizugs gebe: eine Biathlonmannschaft und eine Militärpatrouille. Die Militärpatrouille bewege sich auf Tourenski auf und ab in den Bergen. Für beide Mannschaften würde eine Handvoll der besten Sportler ausgesucht werden. Ziel der Einheit sei es, sogenannte Militärpatrouillen-Wettkämpfe erfolgreich zu bestreiten. Man müsse die ersten zwei Monate Grundausbildung in Mittenwald hinter sich bringen, dann würde man in einem separaten Gebäude innerhalb der Kaserne Murnau untergebracht werden. Den Flecktarnanzug würde man nur noch sehr selten sehen.

Ich hatte ursprünglich vorgehabt, irgendwie durch die Musterung zu fallen, aber es war mir leider nicht gelungen. Das Angebot mit dem Skizug kam mir daher sehr gelegen. Herr Seiko hatte mich für den Biathlonzug vorgesehen, aber für mich war sofort klar, dass ich die Militärpatrouille wähle. Tourenski gefielen mir inzwischen wesentlich besser als Langlaufski. Er lenkte ein. Im September sollte ich meinen Dienst antreten.

Bevor es so weit war, gönnte ich mir aber erst mal einen ausgiebigen Surfurlaub in Spanien. Schließlich hatte ich gerade das Abitur geschafft! Zusammen mit drei Freunden kauften wir einen alten, postgelben VW-Bus, bauten ihn gemütlich aus und fuhren damit unmittelbar nach der Zeugnisvergabe in Richtung Süden. Wir klapperten die ganze Atlantikküste bis Porto ab, campierten wild am Strand und ritten jede Welle, die sich uns bot. Nach ein paar sehr entspannten Wochen lieferten mich meine Freunde direkt am Mittenwalder Bahnhof ab. Den salzigen Geschmack der Freiheit noch auf den Lippen, stand ich nun von Angesicht zu Angesicht zwei Soldaten vor einem Militär-Unimog gegenüber. Sie waren über meinen Anblick wahrscheinlich genauso erschrocken wie ich über ihren. Aus ihren korrekten Uniformen trafen mich verächtlich musternde Blicke. Durch die lange Zeit am Meer hatte ich fast weißblonde, schulterlange Haare und war überall mit irgendwelchen Ketten behängt. Ich sah aus wie ein Hippie, und irgendwie fühlte ich mich auch so – bis ein zackiges militärisches »Aufsitzen!« mich endgültig aus meinem Urlaub riss.

Nie wieder habe ich eine so bunte Vielzahl an dubiosen Persönlichkeiten getroffen wie bei der Bundeswehr. Die ersten Tage während der Grundausbildung in Mittenwald stand ich ab und zu am Fenster und blickte wehmütig auf die vorbeifließende Isar. Mich packte das Heimweh, und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, einfach in den Fluss zu springen und bis nach München zu schwimmen, um diesem Kasperlverein zu entfliehen. Die Disziplin und die körperlichen Herausforderungen waren im Vergleich zu dem, was ich im Skiclub Hochvogel erlebt hatte, ein Witz. Einzig und allein der wenige Schlaf machte mir zu schaffen. Schließlich lernte ich notgedrungen, überall zu schlafen. Eine Sekunde Leerlauf genügte, um in jeder Köperhaltung, auch stehend, in den Schlaf zu fallen. Wenn sich bei dem Kommando »Volle Deckung!« alle bäuchlings auf den Boden werfen mussten, stand bei dem Befehl »Aaaaachtung!« die Hälfte der Soldaten nicht mehr auf, sondern schlummerte friedlich vor sich hin.

Bereits in der zweiten Woche lernte ich Markus Finsterwalder kennen. Er wurde mein bester Freund und erhellte mir die düsteren Tage der Grundausbildung. Als ein Abfahrtsskifahrer der Extraklasse war er ebenfalls für den Skizug ausgewählt worden und fühlte sich hier ebenso fehl am Platze wie ich. Nach kurzer Zeit genossen wir die Tatsache, dass wir unkündbar waren. In der Schule war es immer darum gegangen, das Jahr zu schaffen und nicht durchzufallen. Hier konnten wir uns alles erlauben. Selten hatte ich so viel Spaß.

Irgendwann während einer mehrtägigen Übung im bergigen Militärgelände hatten Markus und ich die Schnauze voll vom ewigen Kriegspielen und dem wenigen Schlaf. Er erklärte: »Mi langweilt der Scheiß da so brutal. Die solln sich selber mit den Platzpatronen derschießen. Wir verpissen uns jetzt und pennen erst amoi ordentlich aus. Des spannt doch keine Sau.« Wir packten unseren Schlafsack, eine Zeltplane und unser Geschirr zusammen und liefen los, bis wir nichts mehr von den Schüssen hörten und von den Leuchtkugeln sahen. Vorher hatten wir noch aus dem Essenszelt reichlich Proviant mitgehen lassen.

Nach einer herrlichen Nacht im dichten, nach Freiheit duftenden Wald wachten wir beide ausgeschlafen und uns wohlig rekelnd auf. Es war bereits zehn Uhr morgens. Schnell packten wir unsere Sachen zusammen und rasten zurück, um uns unauffällig wieder unter die Truppe zu mischen. Leider war unsere Abwesenheit nicht unbemerkt geblieben. Alle mussten antreten. Wir beide wurden nach vorn gerufen. Markus stand dem Offizier kaugummikauend gegenüber, als dieser uns einen ordentlichen Föhn verpasste. Es hagelte ein ganzer Schwall von Beschimpfungen auf uns hernieder.

Als wir am Vorabend noch aktiver Teil der Übung – es ging darum, den »Feind« anzugreifen – gewesen waren, hatten wir ein gegnerisches Zelt in Flammen gesetzt, indem wir die Leuchtspurmunition nicht, wie es uns gelehrt worden war, in die Luft, sondern direkt auf »das Ziel« abfeuerten. Zuvor hatten wir uns natürlich versichert, dass niemand drinnen war. Es gehörte zwei ganz guten Freunden aus unserer Kompanie, die das sicher lustig fanden.

Damit noch nicht genug, hatten wir von unserem G3-Gewehr das Manöverpatronenübungsgerät (MPG) abgeschraubt. Das MPG mussten alle Soldaten vorschriftsmäßig zum Schießen mit Platzpatronen verwenden. Es wird einfach auf ein Gewinde am vorderen Teil des Laufs aufgeschraubt. Damit wird der Knall erheblich gedämpft und zudem der dicke Feuerschweif, der jeden Schuss begleitet, verhindert. Wenn man das MPG aber abschraubte, knallte es richtig laut, und ein dicker Feuerschweif schoss aus der Mündung, was in der Nacht besonders toll aussah. Wir fanden, dass wir ohne MPG bei unseren Gegnern mehr Eindruck schinden konnten. Es liefen so viele dunkel getarnte Soldaten umher, dass die Unteroffiziere unmöglich erkennen konnten, zu wem die beiden superlauten Gewehre ohne MPG gehörten. Wir hatten den größten Spaß, überknallten die »Feuer sofort einstellen!«-Befehle und genossen es ganz besonders, dem leitenden Unteroffizier auf diese Weise seine Autorität zu rauben. Er hatte Markus und mich von Anfang an auf dem Kieker gehabt. Sein großes persönliches Ziel war immer, in den Skizug aufgenommen zu werden, aber dieses Ziel verfehlte er von Jahr zu Jahr, obwohl er doch ein so vorbildlicher Soldat war. Wir waren seine Feindbilder, und er wurde zu unserem.

Markus hatte beim nächtlichen Ausflug in den Wald seine Erkennungsmarke verloren. Und so standen wir jetzt stramm vor der Kompanie, während uns das Gebrüll des Vorgesetzten scharf ins Gesicht blies. Zur Strafe mussten wir beide uns an einem extrem heißen Tag gegen einen Gasangriff verteidigen. Das heißt in voller Montur mit Gasmaske und sogenanntem Gasponcho den ganzen Tag irgendwelche Übungen machen. So trainierte ich unfreiwillig, bei geringer Sauerstoffzufuhr aktiv zu bleiben. Natürlich folgte auch eine Beschwerde des besagten Unteroffiziers beim Skizugleiter Seiko, dass wir schlechte Soldaten seien. Der zeigte sich aber unbeeindruckt, vermutlich galt sein Interesse mehr unseren sportlichen als unseren militärischen Fähigkeiten.

Nach der Grundausbildung in Mittenwald verbrachten wir noch acht Monate im Skizug in Murnau. In dieser Zeit bestritt ich das erste Mal Skitouren-Wettkämpfe, die allerdings sehr militärisch geprägt waren. Neben der Zielvorgabe, möglichst schnell den Berg hoch- und wieder runterzukommen, wurden zusätzlich Punkte für Schießen, Handgranatenwerfen und Zusammenbau und Führen eines Ski-Akias, des wannenförmigen Transport- oder Rettungsschlittens, vergeben. Das machte mir großen Spaß.

Unser Skizug bestand aus nur acht Soldaten. Wir waren in einer ehemaligen Offiziersvilla auf dem Kasernengelände untergebracht und verbrachten Tag und Nacht zusammen. Trainieren, essen, schlafen, aufstehen, trainieren, essen, schlafen, Wettkampf, essen, schlafen … (Auch das war, im Nachhinein betrachtet, eine gute Schule, um die Lebensumstände in einem Basislager gelassen zu ertragen.) Gegen Ende dieser Zeit verlor ich das erste Mal einen Freund in den Bergen. Mein Skizugkollege Tobias kam nach einem Wochenende nicht mehr zurück. Er war zwischen Groß- und Kleinglockner tödlich abgestürzt. Ein Schlag ins Gesicht. Ich weiß noch gut, wie ich damals am Schreibtisch saß und versuchte, in einem Brief an seine Mutter, tröstende Worte zu finden. Durch Tobias’ Tod musste ich mich zum ersten Mal ganz konkret mit dem Thema Sterben auseinandersetzen. Während ich mich bemühte, der Mutter gegenüber meine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, wurde mir selbst bewusst, wie sehr ich das Leben liebe und dass ich jeden Moment davon intensiv gestalten und erleben will.

Ich war froh, als es nach insgesamt zehn Monaten endlich vorbei war. Obwohl ich der Schule nie hatte etwas abgewinnen können, hatte ich während meiner Militärzeit erstaunlicherweise das Gefühl, etwas zu verblöden.

England und USA, Studium 1998 bis 2001

Ich entschied mich, ein Studium in England zu beginnen. Felix, ein sehr guter Freund von mir, studierte bereits dort und half mir bei der Bewerbung. Im darauffolgenden Semester bezog ich ein WG-Zimmer in Eastbourne mit Blick aufs Meer. Für mich war es anfangs nicht leicht. So weit weg von zu Hause und fremd in einem Land, dessen Sprache ich nicht wirklich beherrschte. Ohne Dan, einen meiner drei WG-Mitbewohner, der mir half, wo er konnte, hätte ich das erste Studienjahr wahrscheinlich nicht geschafft. Das Studium verdiente ich mir als Kellner in den Strandhotels, was meine Sprachkenntnisse schnell voranbrachte. Im zweiten Studienjahr wechselte ich an die Oxford Brookes University zu meinem Freund Felix. Diese Uni hatte einen besseren Ruf und auch eine Rudermannschaft.

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