Im Brand der Welten - Michael Martens - E-Book

Im Brand der Welten E-Book

Michael Martens

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Beschreibung

"Für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet", wurde Ivo Andric 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Michael Martens zeigt in seiner meisterlich geschriebenen Biografie einen außergewöhnlichen Lebensweg nach: Es führt von der Kindheit in Bosnien über das Attentat von Sarajevo 1914 bis zu Andrics Zeit als Diplomat des Königreichs Jugoslawien in Hitlers Berlin. Diesen bewegten Zeiten folgen Jahre im von den Deutschen okkupierten Belgrad, als Andric in völliger Zurückgezogenheit die großen Romane schreibt, die ihm Weltruhm einbringen werden – selten hat es ein bemerkenswerteres Dichterleben gegeben.

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Über das Buch

„Für die epische Kraft, mit der er Motive und Schicksale aus der Geschichte seines Landes gestaltet, wurde Ivo Andrić 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Michael Martens zeichnet in seiner meisterlich geschriebenen Biografie einen außergewöhnlichen Lebensweg nach und schildert darüber hinaus ein beeindruckendes Panorama europäischer Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: Es führt von der Kindheit in Bosnien über das Attentat von Sarajevo 1914 bis zu Andrićs Zeit als Gesandter des Königreichs Jugoslawien in Hitlers Berlin. Diesen bewegten Zeiten folgten Jahre im von den Deutschen okkupierten Belgrad, als Andrić in völliger Zurückgezogenheit die großen Romane schrieb, die ihm Weltruhm einbrachten. Ein Buch, das die Leser vom ersten bis zum letzten Satz fesseln wird.

Michael Martens

Im Brand der Welten

Ivo Andrić Ein europäisches Leben

Paul Zsolnay Verlag

Inhalt

1 Europas brennende Blumen

Götter und Geister — Väter und Priester — Sava, raka, tikataka — Sarajevo — Europas brennende Blumen — Krakau — Der Donnerschlag — Zelle 115

2 Die Geräusche des Krieges

Hauptsache Jugoslawien — Nach Belgrad! Nach Belgrad! — New York, Rom, Bukarest, Triest — Österreich — Freimaurer — Marseille, Paris — Yo lo ví. (Y esto también) — Völkerball — Morde und Mörder — Minister Andrić — Teilen und herrschen — Hitlers Hände — Waffenhandel — Intarsien — Im Netz — Die Geräusche des Krieges — Saloniki beherrschen — Der Putsch — Interniert

3 Genosse Ivo

Schreiben und schweigen — Vom Glück in Zeiten des Krieges — Was die Jugoslawen taten, als ihr Klassiker schrieb — Genosse Ivo — Der verdammte Elefant — Ehe — Ehen — Was kümmert uns Višegrad? — Stockholmer Tombola — Ruhm

4 Die Brücke über die Brücke

Erntezeit — Was man einen Abtrünnigen nennt — Spätlese — Die Frau, die es nicht mehr gibt — Rituale (Carbo Animalis) — Alt sein — Lauter letzte Male — Die Brücke über die Brücke — Ein europäisches Leben

Anmerkungen

Dank

Quellen- und Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Register

1 Europas brennende Blumen

Götter und Geister

Das Wichtigste war, niemals unter einem Nussbaum einzuschlafen. In Bosnien hielten nämlich die Teufel Rat auf solchen Bäumen, und die Unglücklichen, die in ihrem Schatten in den Schlaf sanken, wachten als Besessene wieder auf. Gewiss, so etwas konnte Schlafenden auch unter anderen Bäumen widerfahren, „wen aber diese Krankheit unter einem Nussbaume befällt, der sucht vergebens Heilung. Es ist ihm nie und nimmermehr zu helfen“, schrieb ein Reisender, der Ende des 19. Jahrhunderts Lieder und Brauchtum der bosnischen Bevölkerung sammelte. Einen Nussbaumschläfer konnten selbst die sephardischen Drogisten in Sarajevo nicht mehr heilen, obwohl ihr Mumienpulver sonst fast jedes Übel vertrieb, wie es in einem 1911 erschienenen Buch zur Geschichte der bosnischen Juden heißt: „Fast jeder Kranke ist von bösen Geistern besessen, es gilt also vor allem, die bösen Geister zu vertreiben. Dass die Mumie diese wunderbare Kraft hat, liegt auf der Hand, sie ist ja Fleisch und Knochen eines Toten.“ Das Mumienpulver wurde mit etwas Zucker vermischt und dem Besessenen verabreicht. Oder man gab ihnen Wasser, in dem einige Gramm Mumie aufgelöst waren, dazu Gebete und geweihtes Salz. Half selbst das nicht, gab es noch in Dattelmus gemischtes Opium.

Als die habsburgischen Truppen im Sommer 1878 in Bosnien-Hercegovina einmarschierten, wie es auf dem Berliner Kongress zwischen Europas Großmächten vereinbart worden war, lebten dort etwa 1,2 Millionen Menschen. Mehr als vier Jahrhunderte lang war Bosnien-Hercegovina eine Provinz des Osmanischen Reiches und der Islam die herrschende Religion gewesen, doch noch immer folgte eine Mehrheit der Bosnier dem Kreuz. Fast ein Fünftel der Bevölkerung waren katholische Kroaten, an die 45 Prozent orthodoxe Serben. Die bosnischen Muslime stellten nicht ganz vierzig von hundert Bosniern. In der Hauptstadt Sarajevo lebten außerdem noch einige tausend sephardische Juden. Kreuz, Halbmond und Davidstern herrschten in Bosnien jedoch nie allein über Herz und Verstand der Bosnier. Sie mussten sich ihre Macht mit allerlei Geistern, Hexen, Kobolden, Wasserfeen und Waldschraten teilen. Diese Fabelwesen konnten unversehens in die Körper von Menschen fahren, zogen aber für gewöhnlich den Aufenthalt in Wäldern, Kirchtürmen, Minaretten und Windmühlen vor. Sie durchdrangen die offiziellen Konfessionen, überlagerten und grundierten sie. Mochten alle anderen Gräben noch so tief sein: Christen, Muslime und Juden in Bosnien waren geeint in einem gemeinsamen Aberglauben, „einem wahnwitzvollen Gemisch unverdauter östlicher und westlicher Angstbrauereien“, behauptete 1885 der österreichische Ethnologe, Slawist und Sexualforscher Salomon Krauss. Ein Reisender aus jener Zeit hielt fest, die Bosnier glaubten „an Hexen, Poltergeister, Zauberer, Gespenster und Weissager so fest und hartnäckig, als ob sie alles dies in der Natur tausendmal gesehen hätten“.

Sie glaubten an Geschichten wie die von der Vila, einer bösen Nixe, die dem Baumeister der Brücke über die Drina in Višegrad erschienen war und verlangte, dass er zwei Kinder in einen Brückenpfeiler einmauern lasse. Der Baumeister gehorchte, da er wusste, dass die Nixe andernfalls alles, was am Tage gebaut worden war, in der Nacht wieder zerstören würde. Man entriss einer Mutter ihre neugeborenen Zwillinge und mauerte sie in den Mittelpfeiler der Brücke ein. Aus Mitleid wurden aber zwei Öffnungen eingefasst, durch welche die Kinder gestillt werden konnten. Noch Jahrhunderte später soll aus diesen Öffnungen eine weißliche Flüssigkeit getropft und die Bevölkerung selbstverständlich davon überzeugt gewesen sein, dass es sich um die Milch jener unglücklichen Mutter handele. Die am Gemäuer getrocknete Flüssigkeit wurde abgeschabt und zu einem Heilpulver für Stillende verarbeitet. Die Legende von der bösen Nixe war freilich keine bosnische Spezialität. Sie taucht auf dem ganzen Balkan auf. Alles in solchen Balkan-Legenden sei von einem poetischen Aberglauben durchdrungen, schrieb Goethe: „Rückkehrende Tote spielen große Rollen; auch durch wunderliche Ahnungen, Weissagungen, Vogelbotschaften werden die wackersten Menschen verschüchtert.“

Als nun an die 200.000 Soldaten des Habsburgerreiches in diese Heimat fremder Götter und Geister einmarschierten, sahen sie schon bald nach der Grenze seltsame Türme rank und weiß in die Höhe ragen wie riesige, zum Himmel weisende Finger. Zu diesen Himmelsfingern, Minarette genannt, gehörten Kuppelbauten, die Moscheen hießen und in denen zum Gott der Türken gebetet wurde. Er hieß Allah und war den aus allen habsburgischen Provinzen stammenden Soldaten des Kaisers ein wenig unheimlich. Unheimlich war aber auch den bosnischen Muslimen zumute, als sie nach Jahrhunderten der Türkenherrschaft die Armee eines christlichen Staates einmarschieren sahen. Es gab heftigen Widerstand gegen die Okkupation, der erst nach drei Monaten gebrochen wurde. Mehr als fünftausend habsburgische Soldaten fielen bei den Kämpfen. Wie viele bosnische Muslime ums Leben kamen, ist unbekannt.

Die gegenseitige Fremdheit blieb auch in Friedenzeiten. Bosnien, so der deutsche Historiker Holm Sundhaussen, sei der Öffentlichkeit der Donaumonarchie trotz der geographischen Nähe fast gänzlich unbekannt gewesen, „manche behaupten, unbekannter als das Innere von Afrika oder Asien. Unwissen und Neugierde, Faszination, Frustration und Misstrauen bestimmten die Wahrnehmung auf beiden Seiten.“ Die Bosnier waren aber auch einander fremd. Zwar sprachen sie dieselbe Sprache (und die Sephardim, zumindest zu Hause, auch Ladino oder „Judenspanisch“), aber sie schrieben, sofern sie schreiben konnten, in vier Schriften: Kyrillisch die Serben, Arabisch die Muslime, Lateinisch die Kroaten, Hebräisch die Juden. Einige bosnische Franziskanermönche beherrschten zwar auch eine Form des Kyrillischen, und jüdische oder muslimische Kaufleute wussten mit dem Lateinischen in der Regel etwas anzufangen, doch das änderte nichts an der Andersartigkeit ihrer Welten. Gebildete bosnische Muslime lasen arabische Bücher wie ihre Glaubensbrüder in Mekka oder Kairo, aber mit der geistigen Welt ihrer andersgläubigen Nachbarn hatten sie keine Berührung. Die Juden besaßen die berühmte Haggada von Sarajevo, eine Mitte des 14. Jahrhunderts im Königreich Aragonien entstandene Handschrift, die zu den wertvollsten Büchern des sephardischen Judentums zählt und auf nicht überlieferte Weise in die Stadt gelangt war. Doch nur für sie war dieses Unikat von Bedeutung. Bosniens Franziskanermönche lasen lateinische Schriften, die aus Rom und anderen Städten des Okzidents in ihre Klöster geschmuggelt wurden. Der orthodoxe Bischof der Serben empfing kirchenslawische Werke aus Moskau oder Kiew, die außer ihm kaum jemand in der Provinz verstehen konnte. Abseits der Marktplätze, wo in einer Sprache verkauft und gehandelt wurde, kamen die Konfessionen kaum miteinander in Berührung. Das Leben der Anderen blieb ein Buch mit sieben Siegeln.

Sarajevo war nach Saloniki die wichtigste Stadt im osmanischen Europa. Saloniki aber war schon vor der Eroberung durch die Osmanen berühmt gewesen, Bosniens Hauptstadt dagegen die Gründung eines muslimischen Heerführers. Er ließ im 15. Jahrhundert eine Brücke bauen über die Miljacka, die im Sommer kaum Wasser führt, zur Zeit der Schneeschmelze aber gewaltige Fluten talwärts stemmt und die Stadt oft überschwemmt, bis sie in habsburgischen Zeiten reguliert wird. Bald siedelten außer osmanischen Soldaten auch Handwerker und Händler in dem neuen Ort. Sarajevo wuchs so schnell wie das aufstrebende Reich, zu dem es gehörte. Die Krieger des Halbmonds drangen immer weiter nach Norden vor, eroberten Ungarn, standen vor Wien, bedrohten Venedig. Sarajevo wurde zu einem der Ausgangspunkte ihrer Feldzüge in Europa. Das Abendland zitterte. Sarajevo blühte.

Wohlhabende Muslime gründeten Stiftungen, schenkten der Stadt Bäder, Karawansereien, Markthallen, Bibliotheken, Moscheen. Allein im ersten Jahrhundert ihrer Herrschaft errichteten die Herren Sarajevos mehr als hundert Gebetshäuser in der Stadt. Als der osmanische Weltreisende Evliya Çelebi, ein Marco Polo der muslimischen Welt, 1660 nach Sarajevo kam, wollte er 277 Moscheen und mehr als 180 Medresen gezählt haben. Çelebi verglich den Bazar der Stadt, die auf Türkisch „Saray Bosna“ heißt, mit dem von Aleppo. Er schwärmte von kostbaren Waren aus Polen, Böhmen, Arabien, Persien und Indien, die Kaufleute über Venedig, Ragusa (Dubrovnik) und Split in die Stadt brachten. Es gebe viele Städte mit dem Namen „Saray“ (was im Türkischen „Palast“ bedeutet), Sarajevo aber sei prächtiger als alle anderen, hielt er fest und pries die Schönheit der serbischen, bulgarischen und kroatischen Sklavinnen in den Häusern der reichen Muslime. In Sarajevo, schrieb er, gebe es mehr als tausend Geschäfte und Brunnen, 17.000 Häuser und 26.000 Gärten. Zwar müssen die Angaben des im Umgang mit Zahlen notorisch ungenauen Çelebi übertrieben sein, denn träfen sie zu, hätte die Stadt schon zu Zeiten dieses muslimischen Weltreisenden an die 90.000 Einwohner gezählt – eine Bevölkerungszahl, die sie in Wirklichkeit erst viel später erreichte. Doch auch andere Zeitzeugen beschreiben das frühe Sarajevo als prachtvollen, blühenden Ort.

Die Eroberer brachten allerdings nicht nur Bibliotheken und Bäder nach Bosnien, sondern auch die Devşirme. Die Einheimischen nannten sie „danak u krvi“, wörtlich übersetzt „Blutgabe“. Im Deutschen ist meist von der „Knabenlese“ die Rede. Auf dem osmanisch beherrschten Balkan wurden christlichen Familien männliche Kinder entrissen und nach Istanbul entführt. Dort wurden sie beschnitten, mussten das islamische Glaubenskenntnis ablegen, die Sprache lernen und ihren neuen Herren dienen. Durch Männer wie den aus Kroatien stammenden Bartholomäus Georgievitz drang Kunde von dieser Praxis bis nach Nordeuropa. Georgievitz war 1526 in Ungarn in osmanische Gefangenschaft geraten. Unter verschiedenen Herren diente er im Osmanischen Reich, bis er fliehen konnte und über Jerusalem zurück nach Europa gelangte, wo er mehrere äußerst erfolgreiche Bücher über seine Zeit als Sklave der Türken verfasste. Zur Knabenlese schrieb er, den Christen unter türkischer Herrschaft seien regelmäßig ihre schönsten Kinder entrissen worden: „Die Türken trennten diese Kinder von ihren Eltern und unterwiesen sie in der Kriegskunst. Diese gewaltsam entführten Kinder kehrten nie wieder zu ihren Eltern zurück.“ In Istanbul (das man in Bosnien Carigrad nannte, Kaiserstadt) seien die geraubten Christenjungen gewaltsam zu Muslimen gemacht worden: „Ich finde nicht recht die Worte, um das Weh und Leid, das Jammern und Klagen der Eltern zu schildern, als ihnen die Kinder aus ihrem Schoße und aus ihren Armen seitens dieser Grausamen entrissen wurden.“ Am schwersten sei den Eltern der Gedanke gefallen, „dass es den Missetätern bald gelingen werde, sie ganz von der Religion ihrer Ahnen abspenstig zu machen und aus ihnen fürchterliche Feinde der christlichen Religion und der Christen zu machen“.

Alle fünf Jahre (zu manchen Zeiten auch häufiger) kamen die Kinderräuber des Sultans über den Balkan wie eine ägyptische Plage. Es gibt Schilderungen darüber, wie christliche Eltern ihre Söhne davor zu retten suchten. Reiche boten Geld und Gold. Arme sollen ihre Söhne zu Krüppeln geschlagen oder ihnen ein Auge ausgestochen haben, denn für Missgestaltete interessierten sich die Menschensammler nicht. Doch das ist nur eine Seite der Geschichte. Eine andere besagt, dass einige Eltern ihre Söhne keineswegs versteckten, sondern im Gegenteil alles daransetzten, sie über den Weg der Knabenlese nach Istanbul zu schicken. Bosnien war die einzige Provinz des Osmanischen Reichs, in der außer Kindern christlicher Familien auch Söhne muslimischer Eltern für den Sultan geerntet wurden – obwohl das nach islamischem Recht eigentlich verboten war. Einige muslimische Väter sollen die Beamten aus Istanbul sogar bestochen haben, damit sie einen Sohn der Familie mitnahmen – denn in Istanbul boten sich Möglichkeiten, von denen sich in Bosnien nur träumen ließ. Die meisten Jungen, die durch die Knabenlese für den Sultan gepflückt wurden, dienten entweder in der osmanischen Armee oder in vornehmen Häusern bis hinauf zum Hof des Sultans. Manche stiegen gar zu Großwesiren auf. Der Großwesir war nach dem Sultan der mächtigste Mann in einem Weltreich, das in seinen besten Zeiten von Europa über den Kaukasus bis nach Asien und Afrika reichte, von Budapest bis Bagdad, von der Donau bis zum Nil. War ein Sultan schwach, trank er oder fand mehr Gefallen an seinem Harem als an der Staatskunst, wurde der Großwesir sogar der eigentliche Herrscher dieses Reiches. Einige der mächtigsten Großwesire der osmanischen Geschichte stammten vom Balkan und waren erst durch die Knabenlese Muslime geworden.

Die große Zeit des Osmanischen Reiches und Bosniens als seiner nördlichsten Provinz währte gut zweihundert Jahre. Nachdem 1683 die zweite Belagerung Wiens misslungen war und Sultan Mehmed IV. seinen bei der Eroberung der Stadt gescheiterten Großwesir mit einer Seidenschnur hatte erdrosseln lassen, setzte die Zeit des Niedergangs ein. Zwar sollte es noch mehr als zwei Jahrhunderte dauern, bis die Türken fast gänzlich aus Europa vertrieben wurden, doch osmanische Siege auf dem Schlachtfeld wurden nun selten. Das Reich fiel militärisch, technologisch und wirtschaftlich zurück. Für Bosnien blieb das nicht folgenlos. Als die Truppen des österreichischen Prinzen Eugen1697 in Bosnien einfielen, versprach der Heerführer den Einwohnern Sarajevos Schonung bei einer friedlichen Übergabe der Stadt, drohte aber, noch das Kind im Mutterleibe niedermetzeln zu lassen, sollte es Widerstand geben. Es gab Widerstand, und der Prinz ließ noch das Kind im Mutterleibe niedermetzeln. Zwar zogen die Habsburger wieder ab, doch das zerstörte Land erholte sich lange nicht von dem Einfall, zumal aus dem verlorenen Ungarn vertriebene muslimische Großgrundbesitzer nach Bosnien strömten. Das Leben der leibeigenen bosnischen Bauern, der christlichen Kmeten, die nun noch mehr Herrenmäuler zu stopfen hatten, wurde härter. Sie mussten nicht nur Frondienste für ihre Grundherren verrichten und ihnen obendrein Abgaben zahlen, sondern auch noch Jahr um Jahr höhere Steuern an das nimmersatte Istanbul entrichten. Die Eintreiber setzten die Abgaben meist viel zu hoch an, doch die Kmeten konnten sich nicht wehren, denn vor Gericht galt die Aussage eines Christen gegen einen Muslim nichts. Außerdem ließen sich die Kadis, die muslimischen Richter, ihre Urteile ohnehin von den Landbesitzern bezahlen.

Bosniens Muslime waren eine späte Verstärkung der Umma, der Weltgemeinschaft des Islam. Sie waren erst nach der osmanischen Eroberung konvertiert, und zwar vor allem aus nüchterner Abwägung, wie Historiker vermuten – denn in der nunmehr osmanisch beherrschten Provinz konnten nur Anhänger der neuen Religion auf Dauer ihren Besitz retten. So bildete sich mit der Zeit eine neue Klasse von Großgrundbesitzern heraus – bosnische Slawen muslimischen Glaubens, auch Begs oder Agas genannt. Je schwächer der osmanische Staat wurde, desto stärker verfinsterte sich das Verhältnis zwischen den Agas und ihren Fronbauern. Das waren Katholiken oder Orthodoxe, in jedem Fall aber bosnische Slawen wie ihre Herren. Der britische Gelehrte Arthur Evans, der später durch die Entdeckung des Palastes von Knossos auf Kreta weltberühmt wurde, hat eindrucksvolle, wenn auch stark von seiner Abneigung gegen den Islam gefärbte Schilderungen vom Leid der Kmeten hinterlassen. Evans’ Berichte von seinen Wanderungen durch die Hercegovina in der Spätzeit der osmanischen Herrschaft wurden unter anderem im Manchester Guardian veröffentlicht. „Der christliche Kmet, der Ackerbauer, ist schlimmer dran als so manch ein Leibeigener in unserem dunkelsten Zeitalter und ist dem mohammedanischen Gutsherren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, als ob er Sklave wäre“, schrieb Evans. „Da die türkische Regierung weiß, dass ihre Herrschaft über die Hercegovina keine 24 Stunden währen würde, wenn sie ernstlich etwas gegen die einheimischen slawischen Mohammedaner unternähme, kann der Beg oder der Aga das Recht ungestraft brechen. Er macht vom Stock Gebrauch und schlägt den Kmeten ohne Erbarmen, in einer Weise, in der niemand sonst auch nur sein Vieh behandeln würde.“ Evans berichtete von grausamen Strafen. Im Sommer binde man Männer nackt an Bäume, beschmiere sie mit Honig und liefere sie den Insekten aus. „Im Winter kann man die Menschen bequemer foltern: Man bindet sie an einen Pfahl und lässt sie dort barfuß stehen, bis ihnen die Füße erfrieren.“

Im 19. Jahrhundert mehrten sich Aufstände christlicher Bosnier gegen die Agas. Als 1875 in der Hercegovina wieder einmal eine Rebellion ausgebrochen war, schrieb der österreichisch-ungarische Außenminister Graf Julius Andrássy: „Es gibt wirklich kein Gebiet der europäischen Türkei, in welchem der Widerstreit zwischen dem Kreuz und dem Halbmond gleich schroffe Formen angenommen hat.“ Auslöser für die Erhebung von 1875 war schiere Not. Die Ernte war mager gewesen, und dennoch sollten die Kmeten mehr Steuern zahlen als im Vorjahr. Ihr Widerstand dagegen breitete sich über den Balkan aus wie Feuer in einem ausgedörrten Wald. Auch die Bulgaren erhoben sich. Sie wurden unterstützt von Russland, das auf die Eroberung Istanbuls hoffte. Russlands Truppen rückten rasch vor, Istanbuls Vororte waren schon in Sicht. Der als Folge des Blutvergießens einberufene Berliner Kongress entschied, die Unruheprovinz Bosnien-Hercegovina, wo alles angefangen hatte, der Verwaltung Österreich-Ungarns zu übertragen.

Schon einige Jahre zuvor hatten die Osmanen unter dem Druck der christlichen Großmächte, insbesondere Russlands, dem Bau einer orthodoxen Kirche in Sarajevo zustimmen müssen. Als sie im Sommer 1872 geweiht wurde, sollen mehr als zehntausend Menschen daran teilgenommen haben. Es ertönte sogar Glockengeläut in der Stadt: „Zum ersten Mal konnte man das Christentum nun auch hören, und die Muslime trauten ihren Ohren nicht. Ein Geräusch wurde zur Machtfrage“, schreibt Sundhaussen. Ein Zeitgenosse hielt fest, wie sehr der Bau der Kirche die Muslime von Sarajevo bewegte: „Höher und höher erhob sich der Bau; die in ihrem heißesten Sehnen so lange unterdrückten Christen suchten in ihm ihre Genugtuung, die muhammedanische Einwohnerschaft aber sah es mit täglich steigender Erbitterung, wie die Kirche die Moscheen immer mehr und mehr überragte, wie sie schließlich selbst auf die Moschee des Sultans stolz herabsieht. Als der höchste Grad vermessener Beschimpfung erschien es ihr aber, als gewaltige Glocken in die Höhe der Türme emporgezogen wurden, um mit ihrem unerträglichen Dröhnen den frommen Rechtgläubigen in seinen stillen Betrachtungen gewaltsam zu stören, den heiligen Ruf des Muezzin zu übertönen.“

Auch ein anderes Phänomen beunruhigte die Muslime: Es kam jetzt mitunter zu Abfällen vom Islam. Das geschah zwar selten, aber da solche Fälle an Unvorstellbares rührten – ein Muslim sagt sich von der Religion des Propheten los! –, sorgten sie jedes Mal für so viel Aufsehen wie der Fall von Uzeifa Deliahmetović, die sich im August 1890 im Alter von sechzehn Jahren entschloss, zum Katholizismus überzutreten, und in einem Kloster vor dem muslimischen Volkszorn versteckt werden musste. Es kam zu einem Prozess. Die Familie der Konvertitin behauptete, das Mädchen sei sich über die Tragweite der eigenen Entscheidung nicht bewusst und womöglich zum Glaubensübertritt genötigt worden. Doch vor Gericht wiederholte die junge Frau den Wunsch, Katholikin zu werden. „Der Grund der Conversion ist in der Regel das Heiraten. Jeder Übertritt ist zwar ein kleiner Romanstoff, aber sein Motiv ist nicht der Zweifel an den Satzungen der Religion, sondern irgendein äußerer Grund“, hielt ein österreichischer Beamter fest.

Nicht nur die Hierarchie der Konfessionen geriet Ende des 19. Jahrhunderts ins Wanken. Es begann nun auch die Zeit der Fabriken. Im osmanischen Bosnien hatte es keine Banken gegeben, und so fehlte es an Kapital zum Aufbau einer Industrie. Während anderswo in Europa längst Schlote rauchten, Telegraphendrähte surrten, Dampfmaschinen stampften und elektrische Lampen glühten, war das spätosmanische Bosnien von der Industrialisierung fast unberührt geblieben. Immer mehr Eisenbahnen dampften durch Europa, aber in Bosnien gab es nur eine einzige Linie. Sie führte ab 1872 etwa hundert Kilometer lang von Banja Luka, einer Stadt im Norden Bosniens, zu einer Poststation an der osmanisch-habsburgischen Grenze. Doch als die Habsburger sechs Jahre später ins Land kamen, war selbst diese kurze Strecke schon wieder außer Betrieb. Auch die Straßen befanden sich in desolatem Zustand. Ihre erbärmliche Beschaffenheit schütze das Land besser vor fremden Einfällen als eine chinesische Mauer es könnte, hieß es. Manche Orte waren im Winter wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten. Eine Reise von Sarajevo nach Istanbul dauerte neun Tage, mindestens.

Das wichtigste Exportprodukt der osmanischen Provinz Bosnien waren getrocknete Pflaumen. Hatten die Bauern oder die Franziskanermönche nicht Sliwowitz daraus gebrannt, wurden Pflaumen aus dem ganzen Land nach Brčko gebracht, eine Kleinstadt im Norden Bosniens. Brčko liegt an der Grenze zu Kroatien, das damals zum ungarisch verwalteten Teil des Habsburgerreiches gehörte. In Brčko hatten Händler ihren Sitz, die bosnische Pflaumen nach halb Europa weiterverkauften. Zu den wenigen anderen Produkten, die zur osmanischen Zeit aus Bosnien exportiert wurden, gehörten Dauben für Eichenholzfässer, die als „merrain de Bosnie“ vor allem in den Weinbauregionen Frankreichs beliebt waren. Pflaumen und Dauben – viel mehr hatte Bosnien wirtschaftlich nicht zu bieten, als Österreich-Ungarn die Verwaltung übernahm. Doch das änderte sich rasch. Zunächst wurde das Verkehrsnetz ausgebaut. Das Militär forderte bessere Verbindungen, um bei Aufständen oder Angriffen rasch Truppen verlegen zu können. Also wurden Schienen verlegt, Straßen, Tunnel und Brücken gebaut. Kaum vier Jahre nach dem habsburgischen Einmarsch, im Herbst 1882, bestaunte Sarajevo die Einfahrt der ersten Eisenbahn. Die Züge fuhren mit kaum mehr als dreißig Kilometern pro Stunde, was selbst für damalige Verhältnisse langsam war – aber dennoch ein Fortschritt im Vergleich zu der Zeit, als die Menschen zu Fuß, auf Eseln oder Pferden unterwegs gewesen waren. Man konnte nun sogar mit dem Zug nach Wien fahren! Bosnien-Hercegovina, einst am nordwestlichen Rand des Osmanischen Reichs und nun am südlichen Rand Österreich-Ungarns gelegen, lag zwar immer noch hinter den Bergen, aber nicht mehr hinter dem Mond.

Mit der Eisenbahn kam auch die Industrie. Es entstanden Tabakfabriken und Papiermühlen, sogar ein Stahlwerk wurde gebaut. Sephardische Juden aus Sarajevo gründeten in Travnik die „Erste Bosnisch-Hercegovinische Zündwarenfabrik“. Im Norden Bosniens begann 1895 die „Erste Bosnische Ammoniaksodafabrik A. G.“ ihre Produktion und nahm rasch eine führende Stellung in der Monarchie ein. In Sarajevo eröffnete eine Teppichweberei, die einen persischen Maler für die Entwürfe der Muster einstellte. Die Fabrik beschäftigte vor allem Frauen. Das war eine unerhörte Neuheit für Bosnien, wo Frauen eine derart schlechte Stellung innehatten, dass ein von dort zurückgekehrter italienischer Händler einmal gesagt haben soll, er wäre lieber ein Pferd in Venedig als eine Frau in Bosnien.

Zur wichtigsten Einnahmequelle der Provinz wurde nun der Holzexport. Bosnien, dünn besiedelt und dicht bewaldet, verfügte über riesige Ressourcen. Konzessionen wurden vergeben, tausende Arbeiter holzten Bosnien ab. Die Bosnisch-Hercegovinische Forstindustrie A. G. aus Bayern, die deutsch-österreichische Bosnische Forstindustrie Eisler & Ortlieb und die Fratelli Feltrinelli aus Mailand beherrschten den Markt. Sägemühlen wurden errichtet und Schmalspurbahnen durch die Wälder gebaut, um das Holz abzutransportieren. Die Handelsstatistik der Doppelmonarchie dokumentiert, wie rasch sich das Geschäft entwickelte: 1886 wurden 2,5 Millionen Fassdauben aus Bosnien exportiert, vier Jahre später schon mehr als 25 Millionen. Der profitable Raubbau fand jedoch nach der Jahrhundertwende ein Ende. Schon 1904 stellten österreichische Beamte fest: „Es gibt keine Eichen mehr in Bosnien-Hercegovina.“ Arbeitslose Holzfäller gingen in die Städte. In den neuen Fabriken trafen sie Facharbeiter, die aus den Industrieregionen der Monarchie zugewandert waren. Manche Bosnier kamen nun mit sozialistischen, anarchistischen und anderen revolutionären Ideen in Berührung, die man in Bosnien noch eine Generation zuvor allenfalls vom Hörensagen gekannt hatte. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg gab es mehr als 65.000 Industriearbeiter in Bosnien – wenig im europäischen Vergleich, doch näherte sich die Provinz auch in dieser Hinsicht der europäischen Normalität an. Es gab erste Streiks und Arbeiteraufstände.

Während die Industrie sich recht schnell entwickelte, gab die Doppelmonarchie für Schulen und Lehrer kaum Geld aus. Schon das osmanische Bosnien war eine ungebildete Provinz gewesen. „Sieht man von den islamischen Gelehrten ab“, schreibt der bosnisch-kroatische Historiker Srećko Džaja, „war der Intellektuelle in der osmanischen Epoche in Südosteuropa rar, gehörte fast ausschließlich zum Kirchenbereich, lebte zumeist im Kloster und blieb oft halbausgebildet.“ Drei Jahrzehnte, nachdem die Provinz an Österreich-Ungarn gefallen war, übertraf Bosniens Analphabetenrate noch immer die fast aller anderen Länder Europas. Gut zwanzig Jahre nach dem Einmarsch der Habsburger – Bosniens Bevölkerungszahl war auf fast zwei Millionen Einwohner gestiegen – gab es nur fünf höhere Schulen in der Provinz. Noch 1910 waren fast neunzig Prozent der erwachsenen Bosnier Analphabeten. Bei den Katholiken konnte kaum jeder Vierte lesen und schreiben, bei den Orthodoxen nur jeder Zehnte. Die Analphabetenrate der Muslime betrug 95 Prozent. Ein belgischer Reisender glaubte bei den Bosniern eine „heilige Scheu vor Gedrucktem“ bemerkt zu haben. Die meisten lasen zwar begeistert den Kaffeesatz oder die Schicksalslinien einer Hand, Bücher oder Zeitungen aber nicht. Zwar gab es auch in Bosnien brillante Köpfe, die Shakespeare, Puschkin, Goethe (und zum Verdruss der habsburgischen Behörden auch Marx) lasen oder sogar übersetzten. Doch der Kreis dieser Gebildeten war winzig und gewann erst in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg stärker an Einfluss. Als in vielen anderen europäischen Staaten längst Schulpflicht herrschte, konnten in Bosnien auf den Dörfern selbst viele Popen kaum lesen oder schreiben. Alphabetisierte Frauen waren wie vierblättriger Klee. „Tamni Vilayet“ (finsteres Land) wurde Bosnien in einer Mischung aus Bosnisch und Türkisch genannt, übrigens durchaus auch von Bosniern selbst.

So schwer es das geschriebene Wort hatte in dieser Welt, so beliebt war das gesungene. „Die Bosnier haben keine Historiker, aber die Vergangenheit lebt in ihrer Heldendichtung“, schrieb der Brite Evans. Er war beeindruckt von serbischen Rhapsoden, die über die Dörfer fuhren und in Begleitung der Gusla, eines einsaitigen Streichinstruments, vielhundertstrophige Heldenepen von der Schlacht auf dem Amselfeld im Jahr 1389 vortrugen: „Epische Lieder vom schicksalhaften Tag von Kosovo werden von Vaganten fast jeden Tag vor bäuerlichen Zuhörern gesungen; die Rhapsodien, wie sie durch die Saiten der Gusla hervorgebracht werden, hallen im großen nationalen Klagelied über die engen Tälern Bosniens hinweg in die dunklen Schlupfwinkel des Balkans.“ Wo es weder Schulen noch Bücher gab, ersetzte das Lied den Geschichtsunterricht, auch wenn diese Tradition schon auf dem Rückzug war, als die Habsburger ins Land kamen.

In diese Welt, in der die Habsburger herrschen, die osmanische Vergangenheit aber noch lebendig ist, wo Menschen zu Göttern mit unterschiedlichen Namen beten, aber dieselben Teufel und Hexen fürchten, wird im Herbst 1892 Ivo Andrić hineingeboren. Die an Pflaumen, Liedern und Legenden reiche Provinz wird ihm lebenslang Stoff für Romane und Erzählungen liefern. Andrić wird Bosnien in Worte verwandeln.

Väter und Priester

Die Osmanen waren große Krieger, aber große Archivare waren sie nicht. Abgesehen von meist penibel geführten Steuerregistern haben sie auf dem Balkan in den Jahrhunderten ihrer Herrschaft kaum Schriftliches hinterlassen – zumindest im Vergleich zu dem, was in anderen Teilen Europas im gleichen Zeitraum geschrieben, gedruckt und bewahrt wurde. Der Schweizer Historiker Oliver Jens Schmitt hat den Mangel an schriftlichen Quellen in Südosteuropa mit der Bemerkung auf den Punkt gebracht, über das Schoßhündchen von Papst Pius II. sei mehr bekannt als über manchen Heerführer des Balkans.

Was für balkanische Heerführer gilt, trifft auf Ivo Andrićs Vorfahren erst recht zu. Seine Eltern waren katholische Kroaten aus Bosnien, das immerhin steht fest. Sie gehörten zur letzten Generation in Bosnien, die noch zu Zeiten der Osmanenherrschaft aufwuchs. Formal wird sogar Ivo Andrić 1892 noch als osmanischer Staatsbürger und Untertan des Sultans geboren, denn obwohl Österreich-Ungarn schon vierzehn Jahre zuvor die Verwaltung Bosniens und der Hercegovina übernommen hatte, blieb die Provinz völkerrechtlich zunächst Teil des Osmanischen Reiches. Erst 1908 annektiert die Monarchie das Gebiet, wodurch Andrić als Sechzehnjähriger formal vom „Türken“ zum „Österreicher“ wird. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Vater längst tot.

Antun Andrić wurde 1863 in Sarajevo geboren, als achtes von elf Kindern einer Familie, die aus der Umgebung von Sarajevo stammte. Erst um die Zeit der Französischen Revolution ließen sich die Andrićs in der Stadt selbst nieder. So wird es zumindest in der Familie erzählt. Laut einer Version der Familiengeschichte waren die Andrićs auf die Herstellung von Kaffeemühlen spezialisiert, bis ein Stadtbrand in Sarajevo ihre Manufaktur und das Wohnhaus vernichtete. Laut einer anderen Version konnte die Familie mit ihren handgemachten Kaffeemühlen der Konkurrenz billiger österreichischer Industrieware nicht mehr standhalten, die nach 1878, als Bosnien in das Zollgebiet der Monarchie eingegliedert wurde, den bosnischen Markt überschwemmte. Vielleicht stimmt die erste Variante, vielleicht die zweite, vielleicht stimmen beide zum Teil, vielleicht sind beide falsch. Sicher ist: Der Mann, den das Taufregister als Andrićs Vater ausweist, wird nicht als Kaffeemühlenhersteller, sondern als Gerichtsdiener geführt. So steht es auch unter dem Datum des 3. September 1888 im Kirchenbuch der römisch-katholischen Herz-Jesu-Kirche zu Sarajevo, in der Antun und Katarina Andrić geheiratet haben. Antun Andrić stirbt mit nur 33 Jahren an Tuberkulose. Weder das Sterbealter noch die Todesursache sind zu jener Zeit etwas Besonderes. Die Schwindsucht rafft in Europa Hunderttausende dahin, und in Andrićs väterlicher Linie ist sie besonders fleißig. Mit Ivo Andrićs Tod 1975 erlischt die Familie.

Andrićs Mutter Katarina, geborene Pejić, überlebt ihren Ehemann zwar um fast drei Jahrzehnte, doch auch über sie ist wenig bekannt. Geboren 1869 in Sarajevo, stammt sie wie ihr Mann aus einer katholischen Familie. Sie ist das einzige überlebende von fünf Kindern eines Handwerkers, der sich erhängt, als sein Enkel Ivo zwei Jahre alt ist. Was aus Katarinas Mutter Marija wurde, Andrićs Großmutter mütterlicherseits, ist unbekannt. Andrić hat seine Mutter als stille, fleißige, furchtsame und bescheidene Frau beschrieben, die kaum lesen und schreiben konnte, aber sehr gläubig war. In das Portrait der namenlosen Mutter in Andrićs 1918 erschienenem Erstling Ex Ponto scheinen Züge von Katarina Andrić eingeflossen zu sein: Die Mutter hat wie jeden Sonnabend auf einem Blech Wacholderbeeren und Zucker angezündet und das ganze Haus eingeräuchert. Während ein Mädchen im Hof beim Waschen singt, taucht sie trockenes Basilikum in Weihwasser und besprengt die Ecken des Zimmers. Sie ist alt geworden. Jetzt bleibt sie stehen. Als niemand sie sieht, bekreuzigt sie sich vor einem Kruzifix im Halbdunkel einer Ecke und nennt ihm alle Lasten, die sie schweigend durchs Leben trägt und die den ganzen Tag in den stolzen, ausweichenden Worten ruhen: „… gut, Gott sei Dank, und wie geht es Ihnen?“

Ivo Andrić hat oft von seiner Mutter erzählt, seinen Vater aber höchstens beiläufig erwähnt. Persönliche Erinnerungen konnte er ohnehin nicht haben, aber offenbar hat auch die Mutter nichts über den Vater erzählt – oder aber der Sohn behielt es stets für sich. Von der Mutter habe er mit großer Achtung gesprochen, berichtet Andrićs langjährige Sekretärin und Vertraute Vera Stojić nach dessen Tod:„Ich erinnere mich aber nicht daran, dass er den Vater je erwähnt hätte.“ Womöglich gab es da auch nicht viel zu erwähnen. Gestorben ist Antun Andrić laut Eintrag im Totenbuch im August 1896 in Banja Luka, während die Mutter weiterhin in Sarajevo ansässig war. Der Gedanke liegt nahe, Antun Andrić habe in Banja Luka eine besser bezahlte Arbeit angenommen, um die Familie zu unterstützen. Doch so scheint es nicht gewesen zu sein, wie sich noch zeigen wird. Vielleicht sprach Andrić auch deshalb nicht über den Vater, weil er die Gerüchte kannte, die spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg, vermutlich aber schon früher, in Belgrad kursierten. Ivo Andrić, so erzählte man sich nämlich, sei in Wirklichkeit Sohn eines katholischen Priesters, dem seine Mutter nicht nur im Haushalt zur Hand gegangen sei.

Dass solche Geschichten spätestens in den vierziger Jahren in Belgrad die Runde machen, ist unter anderem aus dem postum veröffentlichten „Tagebuch eines Niemands“ des serbischen Literaturkritikers Branko Lazarević ersichtlich. Lazarević, ein kluger, verbitterter, alter, einsamer, gesellschaftlich ausgegrenzter Mann, der im Krieg Frau und beide Söhne verloren hat, schreibt zwischen 1944 und 1947 wie besessen an diesem beeindruckenden Tagebuch. Da er ohnehin keine Chance sieht, es zu veröffentlichen, tut er sich keinen Zwang an und schreibt ganz offen. In vielen Einträgen befasst er sich mit Andrić und lässt in seine seitenlangen psychologischen Portraits einfließen, was in Belgrad über den Schriftsteller getratscht wird. Am 20. November 1946 hält er fest: „Seine Mutter war eine große Katholikin. Ich habe von jemandem gehört, dass Ivo das Kind eines Ordensbruders in einem Kloster bei Travnik sein soll.“ Andrić trage an einer schweren Last, notiert Lazarević und fragt sich, ob das an seiner Herkunft liege: „Ein Bastard ist in unserer Umgebung schweren Bedingungen und Beleidigungen ausgesetzt.“ An anderer Stelle heißt es: „Er ist ein außereheliches Kind. Er trägt den Nachnamen seiner Mutter. Sie ‚war‘ später ständig mit einem pensionierten Gendarmeriewachtmeister ‚zusammen‘, später Unternehmer in Višegrad, aber sie heiratete ihn nicht. Wessen Kind Ivo väterlicherseits ist, weiß ich nicht; ob von diesem Wachtmeister oder von irgendjemand anderem noch in Travnik, wo er auch geboren wurde?“ Ganz in diesem Sinne hatte der 1943 gestorbene Jovan Dučić, der bekannteste serbische Dichter der Generation vor Andrić, über solche Gerüchte notiert: „(Er ist) Sohn einer Bosnierin, die bis zu ihrem Tod bei irgendeinem Frater gedient hat. Es ist unbekannt, woher der Name Andrić kommt. Seine Freunde kennen nur seine Mutter.“

Noch ein halbes Jahrhundert später, auf einer Tagung in Zagreb 1994, befassen sich mehrere Wissenschaftler mit den Gerüchten über Andrićs Vater, der inzwischen sogar Vor- und Nachnamen hat. Es ist nun nicht mehr allgemein von einem „Ordensbruder aus einem Kloster bei Travnik“ die Rede, sondern von einem gewissen Alojzije Perčinlić, Franziskanermönch und Priester aus einem Dorf bei Travnik. Ein Konferenzteilnehmer zitiert Berichte, laut denen Andrićs Mutter vor ihrer Heirat bei Bruder Alojzije Hausmädchen gewesen und von ihm geschwängert worden sei. Dass es im Hause von Bruder Alojzije zu einer Liebschaft oder Vergewaltigung gekommen sei, aus der ein Kind hervorging, für das Antun Andrić die Vaterschaft übernahm, ist jedoch unwahrscheinlich. Denn Alojzije Perčinlić war kaum sechzehn, als Andrić geboren wurde. Er war gerade als Novize in den Franziskanerorden aufgenommen worden. Zur Vaterschaft könnte er zwar physisch fähig gewesen sein, aber Novizen haben keine Hausmädchen, und in der Regel auch keine um Jahre älteren Freundinnen. Zwar diente Katarina Andrić zeitweilig tatsächlich in Klöstern oder Pfarrhäusern als Haushälterin, und Andrić selbst schreibt einem Freund knapp ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, seine Mutter sei gezwungen, Wirtschafterin in einem Franziskanerkloster zu sein. Auch den Haushalt von Bruder Alojzije führt sie tatsächlich eine Zeitlang – aber da ist ihr Sohn schon ein junger Mann.

Es gibt aber eine weitere Auffälligkeit, die zu den Gerüchten um Andrićs Herkunft beigetragen haben könnte. Als er längst ein berühmter Schriftsteller ist, sagt Ivo Andrić über sich: „Ich bin eigentlich sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits aus Sarajevo.“ Entscheidend ist hier das Wort „eigentlich“ – denn geboren wurde Ivo Andrić nicht in Sarajevo, sondern genau dort, wo es die später aufkommenden Gerüchte wollten: in Travnik, einer katholisch geprägten Stadt in Mittelbosnien. Im Register der Kirche des heiligen Johannes des Täufers zu Travnik ist seine Geburt für den 9. Oktober 1892 eingetragen. (Andrić hat später manchmal den 10. Oktober als Datum angegeben, weshalb es so in vielen Lexika steht.) Der Pfarrer von Travnik schrieb neben das Geburtsdatum, dass die Eltern, der Gerichtsdiener Antun Andrić und dessen Frau Katarina, geborene Pejić, in Sarajevo ansässig seien. Doch warum kam Andrić dann in Travnik zur Welt? Er selbst hat später gesagt, er sei „zufällig“ dort geboren worden, da seine Mutter für einige Tage in diese Stadt gefahren sei. Über die Gründe für diese zufällige Reise zu einer Zeit, da einfache Menschen schon deshalb nicht ohne Not verreisten, weil sie sich das nicht leisten konnten, schwieg Andrić. Und je länger er schwieg, desto mehr zerrissen sich andere die Mäuler.

Hat Katarina Andrić Verwandte besucht? Oder den Kollegen und Trauzeugen ihres Mannes, der in Travnik ein Haus besaß und auch Taufpate wird? Aber warum ist sie ohne ihren Ehemann gefahren, als Hochschwangere? Oder war das Kind eine Frühgeburt, wurde die Mutter in Travnik also von den Wehen überrascht? Dazu ein Detail: 1923, als Andrić in Jugoslawien bereits zu einiger Bekanntheit gelangt ist, erscheint in Jugoslawien ein Schulbuch, das neben einem seiner Texte auch die falsche Angabe enthält, der Autor sei 1891 „als kroatischer Dichter“ in Sarajevo geboren worden. Andrić schreibt dem Verleger einen Brief: „Erlauben Sie mir bei dieser Gelegenheit, einige biographische Daten auszubessern: 1. Es gibt keinen Zweifel, dass ich ein geborener Kroate bin. Inwieweit ich dann als Autor ‚kroatisch‘ bin, das ist eine andere Frage, über die ich nicht sprechen werde, noch bin ich dazu berufen, dies zu lösen.“ Er weist auch darauf hin, dass er nicht 1891, sondern 1892 geboren wurde – doch den falschen Geburtsort korrigiert er nicht. War es ihm womöglich recht, als gebürtiger Sarajevoer zu gelten, um die Episode seiner „zufälligen“ Geburt in Travnik vergessen zu machen? Die Frage, ob ein Kind ehelich oder unehelich zur Welt kam, ist damals schließlich nicht nebensächlich, schon gar nicht im erzkonservativen Bosnien. Eine uneheliche Herkunft ist ein Stigma. Schon der Verdacht, das Getuschel, die böse Nachrede können Betroffenen schaden. Andrićs lebenslange Verschlossenheit in privaten Dingen könnte hier ihren Ursprung haben. Es gibt aber eine Stelle in seinem Werk, die womöglich mit Anspielungen auf die Vaterschaftsfrage gespickt ist. Zumindest enthält sie auffällige biographische Parallelen. In der 1951 veröffentlichten Kurzgeschichte Buffet Titanic, die in Sarajevo zur Zeit des Zweiten Weltkriegs spielt, steht Stjepan Ković im Mittelpunkt, ein bekannter Nichtstuer aus Banja Luka, über den es heißt: Seine Vorfahren waren einst gute Handwerker gewesen, und das Handwerk hatte sich vom Vater auf den Sohn vererbt. Nach der Österreichischen Okkupation, 1878, ging ihr Handwerk zugrunde, und die Ković zerstreuten sich über ganz Bosnien als Tagelöhner oder bestenfalls als kleine Subalternbeamte von Staat oder Gemeinde … Das ist, wenn die Überlieferungen zutreffen, ziemlich genau die Geschichte des Antun Andrić. Und die Parallelität geht noch weiter, denn sogar Gerüchte über eine uneheliche Herkunft finden sich in der Geschichte, wenn auch um eine Generation verlagert auf den Gerichtsdiener Augustin Ković, den (vermeintlichen) Vater von Stjepan. Der habe seine Frau plötzlich und überraschend geheiratet, heißt es in der Geschichte. Sie gebar ihm nur ein Kind, und das schon sieben Monate nach der Hochzeit. Die Nachbarinnen, die fremde Monate und fremde Schritte zählten, flüsterten, der Vater dieses Kindes sei ein Offizier. Natürlich ist das Literatur, also Fiktion. Auffällig sind die Parallelen zu den Gerüchten um Andrićs Herkunft aber durchaus. Deutet er hier versteckt seine Familiengeschichte an?

Doch selbst wenn Antun Andrić tatsächlich der leibliche Vater war, scheint er sich mit seiner Rolle im Zeugungsakt begnügt zu haben. Aus Banja Luka schickt er der Familie offenbar kein Geld, denn noch zu Lebzeiten ihres Mannes entschließt sich Katarina Andrić zu einem Schritt, den wohl kaum eine Mutter ohne Not unternimmt: Sie gibt ihren Sohn weg. Im Jahr 1894, als er zwei oder höchstens drei Jahre alt ist, noch zu Lebzeiten seines abwesenden Vaters, kommt Ivo Andrić in die Obhut von Ana und Jan Matkovczik. Ana ist eine Schwester von Andrićs Vater und hat recht gut geheiratet: Ihr Mann ist Wachtmeister und Vorsteher der Grenzgendarmerie in der bosnischen Kleinstadt Višegrad an der Drina. (Daher wohl das spätere Gerücht, Andrićs Mutter habe sich von einem Wachtmeister aushalten lassen.) Während Andrićs Mutter in großer Armut lebt, genießen die kinderlosen Matkovcziks einen bescheidenen Wohlstand. Sie haben eine Kuh und ein kleines Haus mit Garten an der Drina. Sie können sich sogar eine Küchenhilfe leisten.

So wird nach dem „zufälligen“ Travnik Višegrad zum „eigentlichen“ Geburtsort Andrićs. In diesem Städtchen an der Drina wächst er heran, lernt sprechen, lesen, schreiben. Hier hört er erstmals Legenden aus der Türkenzeit, die später in seine Romane einfließen. Hier gewöhnt sich sein Ohr an den Singsang des Bosnischen, dessen Poesie er später so treffend abbildet. Hier trifft er die noch von der ausgehenden Osmanenzeit geprägten Menschen, die später das Panoptikum seiner Literatur bevölkern. Hier findet sein Beobachtungsgenie frühe Nahrung.

Sava, raka, tikataka

Die Drina trennt über weite Strecken ihres Laufs Bosnien von Serbien und bildet in Andrićs Kindheit damit zugleich eine Grenze zwischen dem Kaiserreich der Habsburger und dem Königreich der Serben. Višegrad hatte seine Bedeutung aber schon mehr als drei Jahrhunderte zuvor erlangt, als die Drina kein Grenzfluss war, sondern an beiden Ufern die Osmanen herrschten. Seit Menschengedenken hatten Fährleute an der Stelle, an der später Višegrad entstand, Karawanen über den Fluss gesetzt. Ihre Zeit endete, als im Jahr 1571 die steinerne Brücke fertiggestellt wurde, die sich seither als regionales Weltwunder in elf wuchtigen Bögen 170 Meter von Ufer zu Ufer spannt. Um diese Zeit muss auch das Volkslied vom sagenhaft reichen Mehmed Pascha entstanden sein, das man in Višegrad noch sang, als Ivo Andrić dort aufwuchs: „Mehmed Pascha diente drei Kaisern / und häufte drei Türme mit Schätzen an / und saß da und sann / was er mit diesen Schätzen tun kann: / Ob er den Schatz den Armen geben wolle / ob er den Schatz in die Drina schütten solle / ob er in Bosnien gute Werke bauen wolle / So dacht’ er und entschied sich dann / ‚Ich werde in Bosnien gute Werke bau’n / und als Erstes über die Drina eine Brücke.‘“ Also ruft Mehmed Pascha einen berühmten Baumeister zu sich und befiehlt: „Geh’ Du in die Stadt Višegrad / über die Drina eine Brücke zu bau’n / nimm dreihundert Meister mit, / und tausend Kinder Arbeitsknechte / dass sie den kalten Stein behau’n.“

Doch das Vorhaben steht unter einem schlechten Stern, wie die Legende weiß: Als der Baumeister mit seinen dreihundert Meistern und tausend Kindersklaven in Višegrad ankommt, ertrinkt er fast in dem Fluss, über den er eine Brücke schlagen soll. Bei dem Versuch, mit seinem Rappen zur Prüfung der Wassertiefe in die Drina zu reiten, schlingt eine Wasserfee ihr Haar um ein Bein des Pferdes, um es samt Reiter in die Tiefe zu ziehen. Doch der Rappe kann sich entwinden, und der Baumeister zieht seinen Säbel gegen die böse Fee. Die verspricht ihm, wenn er sie ziehen lasse, wolle sie ihm bei dem Bau der Brücke helfen. Also lässt er sie ziehen. Als sieben Jahre verstrichen sind und die Brücke noch immer nicht steht, ruft der Baumeister die Fee um Hilfe. Die rät ihm, zwei Kinder lebendig in das Fundament der Brücke einzumauern, um sein Werk zu retten. So geschieht es, und tatsächlich scheinen sich die Dinge nun zum Besseren zu wenden. Kaum ist das doppelte Menschenopfer vollbracht, zerstören die Fluten den Unterbau der Brücke nicht mehr. Doch dann, die Brücke ist fast fertig, erhebt sich die Drina eines Tages doch noch einmal und droht, alles zu vernichten. Da die Fee sich nicht blicken lässt, rät der Baumeister seinem Auftraggeber, dem reichen Mehmed Pascha, er solle eine silberne Schaufel nehmen und die Drina mit einem Teil seiner Schätze besänftigen. Der Wesir folgt dem Rat, schaufelt seine Schätze ins Wasser – und von diesem Tag an bedroht der Fluss die Brücke nie wieder: „Sie blieb damals und blieb für alle Zeit“, heißt es im Lied.

Diese Legende vom Bau der Brücke über die Drina (es gibt viele weitere) hat einen wahren Kern, denn den reichen Mehmed Pascha gab es wirklich, und er hat tatsächlich den Bau der Brücke befohlen. Es war der Großwesir Mehmed Pascha Sokollu, einer der mächtigsten Männer des Osmanischen Reiches. Er wurde um das Jahr 1505 geboren und lebte bis zum 12. Oktober 1579. Mehmed Pascha Sokollu war Diplomat, Admiral der osmanischen Flotte und ein energischer Militärbefehlshaber, der viele siegreiche Feldzüge führte, bevor er schließlich drei Sultanen als Großwesir diente: erst Süleyman dem Prächtigen, der nach Belgrad auch Ungarn erobert und dem Reich damit zu seiner größten Ausdehnung in Europa verholfen hatte. Dann Selim II., der ein Trunkenbold war und sich um das Regieren ebenso wenig kümmerte wie sein Sohn und Nachfolger Murad III., der das Opium den Staatsgeschäften vorzog. Zu Zeiten Selims II. und Murads III. war Mehmed Pascha Sokollu der eigentliche Herrscher in Istanbul und auf den drei Kontinenten des Reiches. „Mehmed Pascha hat alle Macht im Reich in solchem Maß an sich gerissen“, berichtete ein Diplomat aus Dubrovnik, „dass Botschafter, die zum Sultan kommen, allein mit seinem Wesir verhandeln und mit ihm alle Geschäfte abschließen. Selim dient ihnen nur dazu, um ihm die Hand zu küssen.“

Diese Lebensgeschichte ist bemerkenswert genug, doch sie wird noch bemerkenswerter durch den Umstand, dass Mehmed Pascha Sokollu, der das islamische Weltreich der Osmanen regierte und eine Sultanstochter heiratete, aus einem christlichen Dorf bei Višegrad stammte. Er war durch die Knabenlese nach Istanbul gekommen. Ursprünglich trug er den Familiennamen Sokolović und hieß der Überlieferung nach Bajo oder Bajica mit Vornamen. Mit dem Islam nahm Bajica Sokolović dann seinen neuen Vornamen Mehmed an, während der südslawische Familienname zu Sokollu turkisiert wurde. Natürlich wurde nicht einmal aus einem von tausend geraubten Kindern ein so mächtiger und berühmter Mann wie Mehmed Pascha Sokollu, dessen prächtiges Grab in Istanbul noch heute in Ehren gehalten wird. Doch Bajica Sokolović alias Mehmed Pascha Sokollu, der selbst aus der Galerie der Großwesire noch als ein Großer herausragt, ist ein Beispiel dafür, dass die Knabenlese keineswegs nur ein Unglück für die Betroffenen sein musste. Bajica war schon fünfzehn, als er die Religion der Besatzer annahm. Für seine Sippe hatte das den Vorteil, dass er sich an seine Herkunft erinnerte, als er an der Spitze des Reiches stand. Er ließ nicht nur die Brücke über die Drina errichten, sondern finanzierte auch andere Bauten in seiner Heimat und versah seine Verwandten, die auf seine Aufforderung ebenso zum Islam übergetreten waren, mit einträglichen Ämtern. Einen seiner Brüder, der nicht zum Islam gewechselt war, setzte er zum Patriarchen der serbisch-orthodoxen Kirche ein, die mit Erlaubnis des Sultans neu entstanden war. Allerdings wurde dem bosnischen Großwesir seine enge Bindung an die Heimat auch zum Verhängnis. Sein Mörder, so wird berichtet, sei ein Landsmann aus Bosnien gewesen, der erbost darüber war, dass Mehmed Pascha ihm ein Lehen entzogen hatte. Er verkleidete sich als Derwisch, trat unter einem Vorwand an den Großwesir heran und erdolchte ihn.

Als Ivo Andrić 1894 nach Višegrad kommt, sind seit der Ermordung des Großwesirs schon mehr als drei Jahrhunderte vergangen, doch die Legenden über den Bau seiner Brücke sind noch lebendig. Jan und Ana Matkovczik, seine Pflegeltern, leben am linken Drina-Ufer, Andrićs Schule befindet sich am rechten. Auf seinem Schulweg überquert Andrić täglich zwei Brücken – die berühmte über die Drina und eine einfache, hölzerne über den Rzav, einen Nebenfluss, der zur Laichzeit so viel Fisch führt, dass die gesamte Stadt sich tagelang davon ernähren kann. Ende Februar und in der ersten Hälfte des März schwammen die Fische in dichten Geschwadern den Rzav herab. Gewöhnlich erschienen die Schwärme in drei großen Wellen im Abstand von einigen Tagen. … Diese drei Tage im Jahr gleichen drei Feiertagen, die sich regelmäßig und sicher jedes Jahr vor Frühlingsbeginn wiederholen. Dann riechen alle Häuser nach Öl, und es wird so viel Fisch gegessen, dass er die Leute anwidert und die Preise stark fallen.

Die Schule liegt direkt hinter der Brücke über den Rzav und ist, wenn der über die Ufer tritt, als eines der ersten Häuser betroffen, wovon bis heute die an dem Gebäude angebrachten Markierungen zu historischen Hochwasserständen zeugen. Von den Legenden über die Entstehung der Brücke über die Drina wird Andrić schon in frühem Alter gehört haben, auch wenn sein Onkel und Ersatzvater ihm nicht viel davon erzählen kann, denn Jan Matkovczik ist Ausländer. Er gehört zu den Beamten, die nach 1878 als Repräsentanten des Habsburgerreiches nach Bosnien gekommen sind. „Kuferaši“ (etwa: Kofferleute) werden die aus anderen Teilen der Monarchie Zugezogenen von den Einheimischen abschätzig genannt. Viele Österreicher, Ungarn und Polen, aber auch Tschechen, Slowaken und Slowenen sind unter den Fremden, die nach dem Abzug der Türken die Verwaltung des Landes übernehmen. Allein aus dem (damals als Staat nicht existierenden) Polen sind sechshundert Beamte im Dienste des Habsburgerreiches nach Bosnien gekommen. In der Geschichte Am Ufer lässt Andrić einen Koffermenschen auftauchen, der, an die österreichisch-serbische Grenze versetzt, in das ferne und unbekannte Višegrad, unübersehbare Parallelen zu seinem Onkel aufweist. Von der Bevölkerung werden die habsburgischen Beamten misstrauisch beäugt. Man traut ihnen nicht. Diese Fremden ruhten nicht und ließen auch niemanden in Ruhe; sie schienen entschlossen, mit ihrem unsichtbaren, aber immer stärker fühlbaren Netz von Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften das Leben selbst mit seinen Menschen, Tieren und toten Gegenständen zu erfassen und alles um sich herum zu verändern und zu verrücken … Die Einheimischen, die noch den osmanischen Schlendrian gewöhnt sind, fragen sich, was die neuen Besatzer wohl im Schilde führen: Jede Arbeit, die sie begannen, erschien harmlos, ja sogar sinnlos. Sie vermaßen irgendein Brachland, kennzeichneten Holz im Wald, besichtigten die Aborte und Abflusskanäle; schauten Pferden und Kühen ins Maul, prüften Maße und Gewichte, fragten nach Krankheiten im Volk, nach Zahl und Namen der Obstbäume, nach den Schaf- oder Geflügelrassen. (Es sah aus, als spielten sie. So unverständlich, unwirklich und unernst waren all ihre Arbeiten in den Augen der Leute.) Als dann die Rekrutierungen für die habsburgische Armee beginnen, eine Art Knabenlese auf Zeit, deren Einführung anfangs für Wut und Verunsicherung sorgt, geht den Leuten auf, dass die Fremden keinesfalls spielen, sondern dass ihr scheinbar sinnloses Tun immer ein Ziel hat. Verständnis haben sie dafür trotzdem nicht. Denn dieses ständige Bedürfnis der Fremden, zu bauen und abzureißen, zu graben und zu mauern, aufzurichten und umzugestalten, ihr ewiges Streben, die Wirkung der Naturkräfte vorauszusehen, um sie zu vermeiden oder zu steuern, verstand und schätzte hier niemand. Im Gegenteil, alle Stadtbewohner und besonders die älteren Leute sahen darin eine ungesunde Erscheinung und ein böses Zeichen. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte die Stadt ausgesehen wie alle orientalischen Städte. Was gerissen wäre, hätte man geflickt, was sich geneigt hätte, abgestützt, aber vorbeugend, und darüber hinaus hätte sich niemand ohne Notwendigkeit und mit einem Plan Arbeit gemacht, an die Fundamente der Gebäude gerührt und das gottgegebene Aussehen der Stadt verändert.

Einer dieser seltsamen Fremden, Jan Matkovczik aus Polen, wird als höflicher Mann und rechtschaffener Diener des österreichischen Kaisers geschildert. Er beherrscht neben seiner Muttersprache auch Deutsch und hat recht gut die Landessprache gelernt, sodass er sich trotz seiner eigenartigen Grammatik, die in einem seiner Briefe überdauert hat, mit den Bosniern verständigen kann. Manchmal nimmt er den ihm anvertrauten Jungen mit, wenn er zu einer Inspektion in die nahen Grenzdörfer ausreitet. Obwohl Jan Matkovczik Andrićs Ersatzvater wird, weiß man fast nichts über ihn. Es ist nicht einmal bekannt, aus welchem Teil Polens er stammte. Andrić hat später stets in wärmsten Worten von Polen gesprochen, insbesondere von seiner Lieblingsstadt Krakau. Rührte die Zuneigung zu Polen nur von seiner geistig und amourös offenbar äußerst anregenden Studienzeit in Krakau her, oder schwang darin auch eine Erinnerung an seinen Ziehvater mit? Welche Ansichten hat Jan Matkovczik dem jungen Andrić vermittelt? Kam es zwischen den beiden in späteren Jahren zu ernsthaften Gesprächen? War Matkovczik wirklich ein loyaler „Schwarzgelber“, also ein Habsburger durch und durch, oder hegte er Sympathien für den Kampf der Slawen gegen die Doppelmonarchie? Schließlich war Polen damals außer von Russland und Preußen auch von Österreich-Ungarn besetzt, dem Staat, dem Matkovczik diente. Zwar galt die Fremdherrschaft in den habsburgischen Gebieten Polens als die mildeste und liberalste, während die preußische als die strengste und die russische bei den Polen als besonders rückständig gefürchtet war – Besatzungsmächte aber waren alle. Was hielt Matkovczik davon? Da Andrić sich nur beiläufig über seinen Onkel geäußert hat, gibt es keine Antworten auf solche Fragen.

Ana Matkovczik gehört durch die Stellung ihres Mannes zu den ersten Damen in Višegrad und bringt das durch ihre Kleidung nach Wiener Mode auch zum Ausdruck. In den wenigen Aussagen, die es über sie gibt, wird sie als sanft, freundlich und stets um ihren Ivo besorgt beschrieben. Die lebhafteste Schilderung, die Andrić von ihr hinterlassen hat, ist eine Beschreibung ihrer nach einem genau festgelegten Ritus ablaufenden Verhandlungen mit einem Bauern namens Mitar, der einmal in der Woche mit seinem Pferdekarren nach Višegrad kommt und Ware in die Stadt bringt. Ana Matkovczik kauft immer bei Mitar, doch der Austausch von Ware gegen Geld vollzieht sich auch nach Jahren nie ohne eine rhetorische Zeremonie von einigem Aufwand. „Es war üblich, dass er zuerst beim Haus der Tante vorbeifuhr“, erinnert sich Andrić: „Sie war vermeintlich zufällig im Hof, auch wenn sie seit dem frühen Morgen auf ihn wartete. ‚Möge Gott helfen, gnädige Dame!‘, pflegte Mitar zu sagen. ‚Möge Gott dir helfen, Mitar. Was führst du da?‘, fragte die Tante. ‚Kürbisse.‘ ‚Warum kommst du nicht bei mir vorbei?‘ ‚Vielleicht bist du kein Kunde?‘ ‚Gott sei mit dir, Mitar!‘ ‚Du stehst mir näher als andere.‘ ‚Wie viel kosten sie?‘ ‚Ich weiß nicht, ich war noch nicht auf dem Markt‘, sagt Mitar weise, denn eigentlich weiß er ganz genau, wie hoch der Preis ist. ‚Bei Gott, ich weiß es auch nicht‘, nimmt meine Tante das Spiel an, obwohl sie sich heute Morgen nach dem Preis für Kürbisse erkundigt hat. ‚Wie viele hast du?‘, fügt meine Tante beiläufig hinzu. ‚59 Stück,‘ sagt Mitar. Irgendwie erwähnt Mitar, wie nebenbei, den Preis von acht Kreuzern, und dann wird ein langes und interessantes Gespräch geführt, bis sie sich am Ende auf sechs Kreuzer einigen. Ganz am Anfang der Verhandlung wussten beide, dass dieser Preis dabei herauskommen muss.“ Wenn Andrić ein Ohr für die Sprache der Menschen in Bosnien hatte und wie kein Zweiter die bildhafte, von Turzismen durchsetzte Melodie ihrer Sätze wiedergeben konnte, dann auch deshalb, weil er als Kind in Višegrad solche Gespräche belauschte und genau im Gedächtnis behielt. Besonders hatte es ihm die Sprache der bosnischen Muslime angetan. „Mein Gott, wie schön sprachen die muslimischen Frauen in Višegrad“, sagte er noch als alter Mann und konnte aus dem Stegreif Beispiele nennen. Wenn es später hieß, der gebürtige katholische Kroate Andrić sei „der beste muslimische Schriftsteller Bosniens“, war das höchstens halb im Scherz gemeint.

Der andere sprachliche Einfluss, der früh auf Andrić wirkte, war der des Deutschen. Die Matkovcziks vermieteten manchmal ein Zimmer an österreichische Offiziere, und obwohl Andrić keinen dieser Untermieter beschrieben hat, wird er von ihnen wohl erstmals muttersprachliches Deutsch gehört haben – wenn auch in österreichischer Klangart und nicht in jener preußischen Färbung, mit der er es später als Diplomat in Berlin zu tun bekommen wird. Deutsch wird die Fremdsprache, die Andrić mit Abstand am besten beherrscht. Er spricht es nahezu perfekt, schreibt es elegant und flicht in seine private deutsche Korrespondenz immer wieder Wortspiele ein, die eine muttersprachliche Vertrautheit mit der Sprache verraten.

Während Andrić in Višegrad in guten Händen ist, lebt seine Mutter in Sarajevo unter schwierigen Umständen. Sie arbeitet in einer Teppichfabrik in Sarajevo, ist eine jener unwissenden, ärmlich gekleideten und blutarmen Teppichmacherinnen, die Andrić später in einer Geschichte beschreibt. Trotz ihrer kümmerlichen Lebensumstände gelingt es ihr aber, zumindest im Sommer den Sohn in Višegrad zu besuchen. Bis das Städtchen 1906 an das Eisenbahnnetz angeschlossen wird, muss sie dazu eine zweitägige Reise auf sich nehmen. Die Wege waren noch aus der osmanischen Zeit, alte Karawanenrouten. In der österreichischen Zeit wurden sie zwar verbreitert, aber eine Fahrt an die Grenze nach Višegrad blieb abenteuerlich, zumal es in abgelegenen Gegenden mitunter zu Überfällen kam. Das Übel nahm so überhand, dass Postkutschen schließlich von einem bewaffneten Gendarmen begleitet wurden. „Wir sind immer am Morgen aus Višegrad losgefahren und kamen noch bei Tageslicht in Rogatica bei der Herberge an. Hier übernachteten wir und das Gespann, und am nächsten Tag setzten wir die Reise früh fort, um vor dem ersten Dämmern bis Bulog zu kommen und schon zu denken, wir seien in Sarajevo“, beschrieb Andrić eine dieser bosnischen Weltreisen von Višegrad nach Sarajevo. Als Višegrad an das Eisenbahnnetz angeschlossen wird, rückt die Welt über Nacht näher heran. Die Fuhrleute und Pferde, die gedeckten Reisewagen und altmodischen kleinen Fiaker, in denen man einst nach Sarajevo reiste, waren nun ohne Beschäftigung. Die Reise dauerte nicht mehr wie bisher zwei volle Tage mit Übernachtung in Rogatica, sondern nur noch vier Stunden. … Wie Wunderwesen wurden die ersten Städter angeschaut, die am Morgen nach Sarajevo gereist waren, dort irgendein Geschäft erledigt hatten und am Abend nach Hause zurückkehrten. Doch die Eisenbahn macht das Leben nicht nur bequemer, sie verändert auch die Lebensweise in Višegrad. Denn auch in dieser abgelegenen Stadt, in der das Leben zu zwei Dritteln noch vollkommen orientalisch war, begannen die Menschen zu Sklaven der Zahlen zu werden und an Statistiken zu glauben.

Außer Beamten gibt es in Višegrad auch eine Kaserne mit zweitausend Soldaten, denn das Städtchen liegt nahe der Grenze zu Serbien. Von seinem Zimmer aus kann Andrić den abendlichen Ruf des Militärhorns hören. Neben den Beamten und Soldaten leben im Ortskern von Višegrad sonst nur etwa 1500 Einheimische. Selbst mit den umliegenden Dörfern haben das Städtchen und seine Umgebung kaum mehr als dreitausend einheimische Einwohner. Die entsandten Beamten und Offiziere (nicht selten verkrachte, wegen irgendeiner Dummheit an die Drina strafversetzte Existenzen) verleihen dem Ort zwar eine Ahnung von Urbanität, doch letztlich ist Višegrad ein Kaff, gleichsam das bosnische Gegenstück zu Joseph Roths Brody in Galizien. Und genau wie Roth es in seinem „Radetzkymarsch“ für Brody beschreibt, wird auch in Višegrad am anderen Ende der Monarchie viel getrunken. Andrić, der, abgesehen von einigen studentischen Ausflügen in den Rausch, zeitlebens nur maßvoll trinkt, hat solche Exzesse meisterlich beschrieben. In Višegrad hatte er Anschauungsmaterial genug. In den serbischen Dörfern der Umgebung, wo jeder Bauer selbst brennt, kostet der Liter Schnaps (meist aus Pflaumen, manchmal aus Birnen, Aprikosen oder Pfirsichen, seltener aus Quitten) etwa so viel wie ein Kilo Obst. „Wo ist hier nur die Rentabilität, wenn für einen Liter Schnaps etwa fünf Kilo gutes Obst nötig sind?“, fragte ein Zugereister, der nicht verstanden hatte, dass die Ökonomie des Schnapses eigenen Gesetzen folgt. „Mir scheint, dass niemand so maßlos trinkt wie meine Višegrader“, erzählte Andrić als alter Mann. Als er bei einem Besuch in seiner Geburtsstadt einem Einwohner sagte: „Ihr trinkt viel, das ist nicht gut für euch“, antwortete der: „Auch du würdest trinken, wenn du hier leben würdest.“ Besonders berüchtigte Säufer sind die Višegrader Flößer. „Das ganze Flößerdorf ist voll mit Schnaps. Auf Schritt und Tritt trifft man auf wahre Jämmerlinge, mit zerrissenem Anzug, barfuß und ausgehungert, die in Buden und Hütten vor sich hin leben“, heißt es in einem zeitgenössischen Bericht. Vor allem arme Bauern, die von ihren Höfen nicht leben können, oder Knechte, die sonst keine Arbeit finden, nehmen den schweren und gefährlichen Beruf auf sich. Schon zu osmanischen Zeiten waren Kiefern, Tannen und Fichten aus den Wäldern um Višegrad zum Verkauf stromabwärts transportiert worden. Als sich in den habsburgischen Jahrzehnten mehrere Holzhandelsunternehmen in Višegrad ansiedeln, geben sie außer Flößern auch Holzfällern ein Auskommen. Auch der Viehhandel gewinnt an Bedeutung, denn auf der anderen Seite der Grenze, in Serbien, sind Rinder und Schweine billiger.

In Višegrad gibt es damals drei Moscheen, eine serbisch-orthodoxe Kirche, eine Synagoge und ein römisch-katholisches Gebetshaus. Die Mehrheit der Višegrader sind bosnische Muslime. Von Kindesbeinen an ist Andrić der Gebetsruf von den Minaretten ebenso vertraut wie das nächtliche Trommeln der Roma zum Ramadan, die vor Sonnenaufgang lärmend durch das Städtchen ziehen, um gegen ein Trinkgeld die Fastenden zu wecken, damit sie noch rechtzeitig vor Tagesanbruch etwas essen können. Außerdem gibt es orthodoxe Serben, die aber vor allem in den Dörfern der Umgebung leben, und einige Juden. Die meisten sind Sephardim. Viele sind Geldverleiher. Santo rechnet aus, wie viel Ibro ihm bereits schuldet und wie viel er demnach und unter welchen Bedingungen jetzt auf die neue Ernte erhalten kann. „Cincuenta, cincuenta y ocho … cincuenta y ocho, sesenta y tres …“, zählt Santo auf Spanisch flüsternd zusammen. Der Bauer sieht ihn erwartungsvoll und besorgt an, als handelte es sich um Hexerei und nicht um eine Rechnung, die er auf Heller und Pfennig kennt und sogar im Traum im Kopf hat. Als Santo zusammengerechnet hat und den Betrag der Schuld mit Zinsen nennt, presst der Bauer langsam durch die Zähne: „Ist es so?“, nur um dadurch Zeit zu gewinnen, seine eigene Rechnung mit der von Santo zu vergleichen. „So ist es, Ibraga, und nicht anders“, antwortet ihm Santo mit seiner für solche Fälle heiligen Formel.

Seit Bosnien zum Habsburgerreich gehört, siedeln sich aber auch aschkenasische Juden aus Galizien und anderen östlichen Landstrichen Österreich-Ungarns an. Zu ihnen gehört Lotika Zelermajer, die als junge Witwe nach Višegrad kommt und dort bis zu ihrem Tod 1938 bleibt. Sie führt, für eine Frau in jener Zeit nicht nur in der bosnischen Provinz sehr ungewöhnlich, allein das einzige Hotel am Platz. Ebenso energisch wie geschäftstüchtig, wird sie in der Stadt akzeptiert, als sei sie ein Mann. In der Brücke über die Drina, seinem berühmtesten Roman, hat Andrić Lotika Zelermajer portraitiert. Ein anderer polnischer Jude ist der Krämer Jankil Gutenplan, an den Andrić sich Jahre später erinnert. Im Jahr 1937, Andrić ist längst ein angesehener Diplomat, besucht er ein Konzert, als eine Frau hinter ihm husten muss. Dieses Geräusch löst in Andrić eine Assoziationskette aus, die ihn zurück nach Višegrad zu Jankil Gutenplan führt: