Im Dickicht der Sichtachsen - Gerry Linda - E-Book

Im Dickicht der Sichtachsen E-Book

Gerry Linda

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Beschreibung

Was kann zeitgenössische Fotografie zum aktuellen Kunstdiskurs und zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Befunde beitragen? Das Künstlerkollektiv bonnataxi, bestehend aus Maura Ecco und Gerry Linda und benannt nach einer unverhofft inspirierenden Begegnung mit einem Bonner Taxifahrer, hat sich auf die Suche gemacht. Herausgekommen ist ein Bildband, der manchmal aufrüttelt, hin und wieder verstört und bisweilen tröstet, jedoch nie kaltlässt. Sachlich-nüchterne Bilder treffen auf opulent interpretierendes Textwerk. So eröffnen sich ungeahnte Blickwinkel auf fotografische und philosophische Fragestellungen, denn inhaltliche oder ästhetische Beschränkungen sind dem Duo fremd. Die Resultate dieser einzigartigen Symbiose erscheinen seit jüngerer Zeit im »Stadtkind Hannover«. Anlässlich des hundertsten gemeinsamen Werkes sind die Arbeiten des Künstlerkollektivs nun auch erstmals in einem Bildband versammelt, in dem das Augenzwinkern stets sicht- und lesbar ist.

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Dieses Buch ist dem Bonner Taxifahrer gewidmet, der uns 1999 in Köln unwissentlich die Inspiration für den Namen unseres Künstlerkollektivs geliefert hat.

bonnataxi

VorwortLars Kompa

Paris, eine Begegnung …

Wie könnte ich meine erste Begegnung mit Maura Ecco und Gerry Linda je vergessen – es sind genau solche Tage, die sich tief in die eigene Lebensgeschichte einbrennen, die radikal einschneidend und nachhaltig wirken, die für immer einfach alles verändern. Es war ein heißer Sommer, ich hatte viel zu verarbeiten, die Trennung von Amélie, die Trennung von Céline, die Trennung von Sébastien, die harte Zeit in der Fremdenlegion und als Eisverkäufer in der Normandie am Strand von Deauville, ich saß auf einer Bank in Saint-Germain-des-Prés, vor mir ein alter, verwunschener Baum, ich genoss den Frieden an diesem Ort, die Ruhe, die der Baum ausstrahlte, seine Aura, die sich wie eine warme, schützende Hand um meine Schultern legte. Das städtische Treiben nahm ich nur ganz entfernt wahr, dieser Baum hatte mich seltsam der Welt entrückt. Und so bemerkte ich nur ganz am Rande, dass jemand neben mir Platz nahm. Was für ein wunderschöner, alter Baum, habe ich gedacht. Zumindest bin ich noch heute davon überzeugt, dass ich das nur gedacht und nicht laut gesagt habe – trotzdem bekam ich eine Antwort auf meinen Gedanken: »Ceci n’est pas un arbre«, sagte jemand neben mir.

Es brauchte einige Sekunden, bis die Worte in meinem Hirn Sinn ergaben – und doch keinen Sinn ergaben. »Das ist kein Baum.« Was für ein Schwachsinn! Natürlich war das ein Baum! Genauso ist eine Pfeife eine Pfeife und bleibt eine Pfeife, da kann der Magritte so viel rumpinseln wie er mag. Mein alter Baum war ein Baum! Ein schöner Baum mit starken Ästen, der vielleicht schon das Blut der Revolution getrunken hatte.

Dann vernahm ich das Klicken einer Leica, darauf ein Seufzen. »Schlecht!«, tönte es neben mir. »Das war gar nichts! Das Licht! Ganz mies! Das geht hier nicht! Abbruch!«

Und plötzlich waren überall Menschen. Die Büsche ringsum wurden fortgetragen, jemand rollte ein Stück Rasen zusammen, vier kräftige Typen hievten sich den Stamm auf die Schultern. Die kleine Oase war in wenigen Minuten vollständig abgebaut. Übrig blieb nur ein leeres Stück Asphalt. »Dürfen wir?«, fragte jemand neben mir und deutete auf die Bank. Ich sprang auf. Mein Sitznachbar erhob sich ebenfalls und wandte sich mir zu. »Ceci n’est pas un arbre«, sagte der Typ mit der Leica noch einmal und lächelte. »Alles nur eine trügerische Chimäre, so wie vielleicht das ganze Leben.«

»Du kannst doch nicht einfach abbrechen!«, schrie nun jemand auf der anderen Straßenseite und stapfte auf uns zu. »Sechs Monate für nichts? Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Das Licht ist hier scheiße. Das passt nicht. Haken dran. Ich denke schon über eine neue Idee nach.«

»Aber wir könnten doch morgen noch einen neuen Versuch …«

»Nein! Komm jetzt von der Straße runter, Gerry, du wirst sonst überfahren.«

Und es stimmte, wo eben noch der alte Baum gestanden hatte, rollten nun Autos heran. Offensichtlich hatte man meine kleine Oase auf einer Straßenkreuzung aufgebaut. Ich muss sehr verwirrt ausgesehen haben, während ich dort stand und Maura Ecco und Gerry Linda nachsah, die im Gespräch vertieft (Gerry Linda wild gestikulierend) die Straße hinabwanderten, denn ich wurde gleich mehrmals gefragt, ob man mir irgendwie helfen könne.

Seit diesem Tag in Paris begeistere ich mich für das Schaffen des Künstlerduos Maura Ecco und Gerry Linda. Insbesondere die Kompromisslosigkeit, mit der Maura Ecco an seinen Sujets arbeitet, die oft Monate, ja manchmal Jahre dauernde akribische Vorbereitung seiner Kompositionen, fasziniert mich. Diese unbedingte Detailverliebtheit, diese entschlossene Ernsthaftigkeit und die geradezu absurde Konsequenz in der Beurteilung des eigenen Werkes bis hin zur vollständigen Verwerfung. (»Trügerische Chimäre« ist niemals umgesetzt worden.) Ecco sucht die Vollkommenheit, die Perfektion – und er hat sie sehr oft gefunden. Nicht umsonst gilt er als Speerspitze der europäischen Avantgarde, er hat die Fotografie ohne Zweifel revolutioniert. Man ist sich in der Kunstwelt mehrheitlich einig, dass man es hier mit einem dieser seltenen Genies zu tun hat, mit einer dieser Jahrhunderterscheinungen, die uns von Zeit zu Zeit besuchen, um den Menschen ganz neue Horizonte zu eröffnen.

Ich könnte hier diverse Superlative bemühen und würde sein Werk doch immer nur unzulänglich beschreiben. Es ist völlig klar, dass ein solcher Ausnahmekünstler wie Maura Ecco einen Übersetzer braucht, jemanden, der ihm erklärend zur Seite springt, um diese so ungewöhnliche Kunst herunterzubrechen für den »normalen« Betrachter. Und es ist ein schier unfassbares Glück, dass mit Gerry Linda ein solcher Dragoman an seiner Seite steht. Wie oft habe ich zweifelnd, ja skeptisch vor den Fotografien Eccos gestanden, um dann in den Texten Lindas Aufklärung zu finden. Wenn er z. B. zum Werk »Zementschleier (oder: Im Dickicht der Sichtachsen)« schreibt, es sei »die Prä-Determiniertheit der vorgefundenen Fluchtlinien, die ihre eigene Bildgrammatik schafft und die dem Motiv ihre ungewöhnlich lebendige Oberfläche belässt«, dann fühle ich mich abgeholt, dann kann ich ein wenig tiefer eindringen in den ganz eigenen und oft so hermetischen Kosmos Eccos. Linda findet Worte, die es immer exakt auf den Punkt bringen. Ich denke an einen Satz in seinem Text zu »Standkante«: »Die ästhetische Syntax wird zum Idiom und Antidot reflexhafter Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit.« Das ist ganz präzise seziert. Oder nehmen wir seine Ausführungen zu »155 CM Unendlichkeit«: »Das Sfumato und die Konturübergänge sind von nahezu prismatischer Stringenz.« Kann man das noch klarer auf den Punkt bringen?

Ich könnte hier diverse Superlative bemühen und würde sein Werk doch immer nur unzulänglich beschreiben.

Beeindruckend und erhellend ist für mich auch die wiederkehrende Einordnung der Kunst Eccos, wenn Linda Parallelen und Entsprechungen zu anderen Kunstschaffenden ausmacht. »Was Kristina Pilati-Borggreve für die Literatur und Vlado Stenzel für die Jazzmusik, das ist Maura Ecco für die postmoderne Fotografie«, schreibt Linda. Oder nehmen wir einen Auszug aus dem Text zu »Schöne neue Welt«: »Er wählte hierfür eine Bildsprache, die sich einerseits der ästhetischen Elemente des Retro-Futurismus eines Emporio Armani bediente, und die andererseits die rokokohafte Transzendenz der frühen anglo-amerikanischen Zwei-Wege-Fotografie aufgreift.« Wunderbar. So kann ich auch als Laie sehr leicht Zusammenhänge erkennen und Bezüge herstellen. Und wenn Linda schließlich zu »Akt, eine Rolltreppe hinabsteigend, eine Sekunde vor dem Abflug einer Biene um einen Granatapfel« das Folgende schreibt, dann erschließt sich mir augenblicklich die gesamte Konzeption des Werks: »Ganz im Stile der New Yorker Dadaisten um John Hillerman schafft er ein Amalgam, dessen Dichotomie in seiner Habitualität nicht überkontextualisiert wirkt, sondern an den Grundfesten unserer Rezeptionsmuster rüttelt.« Linda ist nicht weniger als ein Dichter, der seinen Wortschatz aus der Kunst Eccos saugt. Gemeinsam sind sie wahrscheinlich mit die bedeutendsten Akteure der Gegenwartskunst. Surreal, neo-dadaistisch, provokativ! Kubistisch und zirkular zugleich. Genau wie ich es mag.

Lars Kompa,

Herausgeber des Hannover-Magazins Stadtkind

VorwortLutz Hieber

bonnataxi:der Dada-Impuls als kritischer Stachel

Stadtkind ist ein monatlich erscheinendes Magazin für Hannover, das neben Rubriken für Kulturbereiche auch locker formulierte Informationen über Neues in der Stadt und selbstverständlich einen Veranstaltungskalender bringt. Das Künstlerkollektiv bonnataxi gestaltet eine Seite der Hefte, die jeweils ein Bild des Fotografen Maura Ecco mit einem Text von Gerry Linda kombiniert.

Der Fotoapparat wurde im 19. Jahrhundert als Instrument erfunden, das dazu dienen soll, Wirklichkeit objektiv wiederzugeben. Vor dieser Erfindung war es die Aufgabe eines Zeichners oder eines Malers, visuelle Eindrücke festzuhalten, und das gelang kaum, ohne dass das Können des Künstlers ebenso wie seine ästhetischen Vorlieben in die Darstellung einflossen. Der Apparat bot dagegen die Möglichkeit der sachtreuen Abbildung. Doch damit war es so eine Sache, denn dies zu realisieren, setzte angemessene Verwendung voraus. Bereits die Impressionisten wussten die neuen Seherlebnisse zu schätzen, die entstanden, wenn auf einem Bild neben der Hauptsache, auf die es der Fotograf abgesehen hatte, weitere unbeabsichtigte Einzelheiten abgelichtet waren. Die abgeschnittenen Figuren am Bildrand bei Edgar Degas, Auguste Renoir und Édouard Manet trugen diese Zufallskompositionen von der Fotografie in die Malerei. Andere Fotografiefehler, die von Malern aufgegriffen wurden, sind das zu dunkle oder das unscharfe Bild, das durch eine Blendeneinstellung zustande kommt, die nicht den vorhandenen Lichtverhältnissen entspricht oder die Tiefenschärfe missachtet. Derartige ›Fehler‹ können als ein individuelles Moment der technisch produzierten Aufnahmen verstanden werden.

Prinzipien, die mit den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Apparats verbunden sind, bestimmen auch die bonnataxi-Bilder. Das Foto »Tour de Tortur« zeigt etwas formatfüllend verschwommenes Rotes, das nicht auf Anhieb als dieser oder jener Gegenstand identifiziert werden kann, und »Yes, I doesn’t« die schemenhafte Aufnahme eines Kopfes. Aber auch wenn die Bilder deutlich Erkennbares zeigen, wie im Falle von »Ich knipse den Morgen an« eine Serie akkurat nebeneinander aufgereihter Liegen, bleibt das Foto enigmatisch – denn wo befinden sie sich und welchen Zweck werden sie möglicherweise erfüllen? Rätselhaft bleiben solche Abbildungen, weil sich die Gehalte nicht unmittelbar und ohne erläuternde Worte erschließen, weder im Falle der Unschärfen noch im Falle der detailtreu wiedergegebenen Gegenstände.

Zeitschriften, Bildbände und Museen versehen Bilder mit Titeln und begleitenden Texten, um den Zugang zu ihrem Gehalt zu ebnen. Diese Verfahren ahmt auch bonnataxi nach. Eine Fußnote unter jeder Bild-Text-Kombination betont, die präsentierte Fotokunst werde verständlich erläutert [1]. Doch beim Lesen der blumigen Worte drängt sich der Eindruck auf, dass genau das nicht der Fall ist. Alles könnte auch anders sein. Damit befolgt bonnataxi die konventionelle Vorgehensweise, um sie auf die Schippe zu nehmen. Darin steckt ein Moment, das mit dem Dadaismus entstanden war. Das Künstlerkollektiv bonnataxi entwickelt es weiter.

Der Dadaismus entstand 1916 in Zürich, während außerhalb der neutralen Schweiz der Erste Weltkrieg tobte. Bei der Gruppe, die sich dort zu Veranstaltungen im Cabaret Voltaire zusammenfand, handelte es sich um Kriegsdienstverweigerer. Sie waren verzweifelt an einer europäischen Kultur, die zwar humane Werte im Mund führte, die sich aber, als es tatsächlich darauf ankam, als völlig irrelevant erwies. Die Waffen, die zum Einsatz kamen, waren Meisterwerke des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts: Giftgas, Maschinengewehr, Flugzeug, Rundfunk. Allein im Stellungskrieg vor Verdun wurden etwa 600.000 Soldaten getötet. Dagegen regte sich in den kriegsführenden Ländern, die sich auf ihre Kultiviertheit viel zugutehielten, kein nennenswerter Widerstand. Zwar hatte der Staat, dank des Einflusses des tonangebenden Bildungsbürgertums, die Finanzierung der Theater, der Opernhäuser und der Kunstmuseen übernommen. Doch diese Institutionen kultureller Bildung hatten offensichtlich total versagt, als die humanitäre Katastrophe ihren verheerenden Lauf nahm. Die Kritik der Dadaisten zielte auf diese Kunstwelt, und sie hatten Vorläufer. Bereits der französische Autor Émile Zola hatte in seinem Roman »L’Œuvre« (1886) anschaulich am Beispiel der Inszenierungen von Ausstellungseröffnungen geschildert, dass es bei solchen Ereignissen nur am Rande um Kunst geht, sondern wesentlich um soziale Distinktion der ›Gebildeten‹, die solche Ereignisse zu nutzen verstanden, um sich vom einfachen Volk abzugrenzen. So hatte in Paris, der »kulturellen Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (Walter Benjamin), die Kritik an den Gepflogenheiten der Kunstwelt begonnen. Doch erst der Krieg mit seinen gewaltigen Problemen, in die er die wachen und sensiblen Intellektuellen stürzte, setzte Kräfte einer grundlegenden Erneuerung frei. Dada zog radikale Schlussfolgerungen. Diese Bewegung sagte den bürgerlichen Konventionen, und vor allem der Abgehobenheit der Kunstinstitutionen von der Lebenspraxis, den Kampf an.

Im Rückblick der späten 1920er-Jahre benannte Jan Tschichold zwei Varianten des Dadaismus: »In Deutschland äußert er sich politisch radikal (Grosz, Huelsenbeck, Heartfield), in der Schweiz und in Frankreich ist er mehr lyrisch (Arp, Tzara). Durch seine vollkommene Negation des Alten machte der Dadaismus die Bahn für das Kommende frei.« Dada öffnete die Tür, doch die alten Kräfte hielten weiterhin das Heft in der Hand. Die nationalsozialistische Diktatur vernichtete alle Ansätze der historischen Avantgarde mit roher Gewalt. Und nach dem Sturz des Regimes 1945 sorgte das konservative Bürgertum mit großer Energie dafür, dass die im Krieg zerstörten Museen, Theater, Opern- und Konzerthäuser in Deutschland wieder aufgebaut wurden und eine erneute Blüte erlebten, als ob eine kulturelle Neuorientierung angesichts der zivilisatorischen Katastrophe überflüssig sei und es um nichts anderes ginge als die althergebrachte Tradition weiter fortzusetzen. Aber der Dada-Impuls war nun in der Welt, und fortan blieb er unter den Bedingungen unterschiedlicher Länderkulturen aktiv. Denn die drängenden Probleme der sich rasch wandelnden Welt verlangten nach ästhetischen Ausdrucksformen, die weit über den Rahmen dessen hinausgehen, was die bürgerliche Hochkultur anzubieten hat.

[1] Wörtlich lautet dieser regelmäßige Hinweis am unteren Seitenrand: »bonnataxi – hinter diesem Künstlerkollektiv verbergen sich der Fotokünstler Maura Ecco und der Kunstvermittler Gerry Linda. Ecco, das Enfant terrible der Coming-of-Age-Fotografie, hat eine Phase der Selbstfindung durchschritten, die in eine radikale künstlerische Neupositionierung mündete. Das Destillat seines Schaffens sehen wir hier, wie immer verständlich erläutert von Gerry Linda.«

Jenseits des Atlantiks fanden die Avantgardisten mit ihren innovativen Ideen begeisterte Aufnahme. New York, das kulturelle Zentrum der westlichen Welt, verabschiedete sich bereits in den 1930er-Jahren weitgehend von den alten Konventionen. Die Emigranten, die das Nazi-Regime vertrieben hatte, wirkten daran mit. Darunter waren neben Dadaisten auch viele Bauhaus-Lehrende. Das Museum of Modern Art in New York hat als US-Leitmuseum ihre Ideen aufgesogen und damit die US-Kunstwelt geprägt: Es hat Departments nicht nur für die Beaux-Arts, also Malerei, Grafik und Skulptur, sondern auch für Gebrauchsgüterdesign, Architektur, Plakat, Buchgestaltung, Fotografie (einschließlich kommerzieller Fotografie), Film und Architektur.

Dagegen verharrt – um bei der bildenden Kunst zu bleiben – das Sprengel Museum in Hannover noch immer in der im 19. Jahrhundert verwurzelten Idee der Beaux-Arts. Doch daneben gedeiht in derselben Stadt die Monatszeitschrift Stadtkind als ortsspezifische Pflanze, die mit den bonnataxi-Seiten dem Dada-Impuls als kritischem Stachel ein Wirkungsfeld bietet. Damit sprudelt eine Stimme der Opposition gegen das von den alten Kräften am Leben erhaltene Kunstparadigma, aber selbstverständlich außerhalb des musealen Rahmens. Folgt man der Differenzierung Tschicholds, könnte man sagen, dass das Kollektiv den Pfad des lyrischen Dadaismus weiterentwickelt.

bonnataxi arbeitet seit neun Jahren für die hannöversche Kultur, und nach dieser Zeit ist es angebracht, die Pseudonyme der beiden Mitglieder aufzulösen. Maura Ecco heißt im bürgerlichen Leben Mario Wagner, und hinter Gerry Linda hat sich bisher Michael Richert verborgen.

Alles könnte auch anders sein.

Lutz Hieber,

Prof. em. Dr. rer. pol. habil Dipl.-Physiker.

Institut für Soziologie, Leibniz Universität Hannover.

Arbeitsgebiete: Soziologie der Künste, ästhetische Theorie, Wissenschaftssoziologie, außerdem tätig als Kurator für Ausstellungen.

VorwortGerry Linda

Being bonnataxi.Ein Bericht von ganz innen

Eine Einführung in den bonnataxi-Kosmos führt früh zu der Frage, was Kunst eigentlich ist. Ist Kunst schon dann Kunst, wenn der Künstler behauptet, ein Werk sei Kunst (so wie Marcel Duchamp es Anfang des 20. Jahrhunderts erstmals postulierte)? Oder bedarf es zuvörderst musealer Weihen, um anerkanntermaßen Kunst zu sein? Muss uns das überhaupt interessieren?

bonnataxi verfolgt einen eigenen Ansatz. Wir sind Grenzgänger, die sich das Ausloten künstlerischer Randbereiche auf die Fahnen geschrieben haben. Vielleicht dialektisch, manchmal surreal, aber immer provokativ und mit vielfältigen Deutungsmöglichkeiten. Das Je-nesais-quoi der Bild-Wort-Kombinationen lässt unser Publikum zugleich seine eigenen Positionen überprüfen, nach denen es ein Kunsturteil fällt.

Vielleicht nähert man sich bonnataxi am besten anekdotisch. Die Akribie und Inbrunst, mit der Maura Ecco beispielsweise an der Serie seiner Dampfskulpturen gearbeitet hat, zeigte viel von seiner kompromisslosen Schaffenskraft, geprägt von monatelangen künstlerischen Machbarkeitsstudien, immer die Balance zwischen Selbstvergewisserung und Selbstzerfleischung suchend. Es dauerte lange, ehe er mit dem Ergebnis der im Bild festgehaltenen, verdampfenden Objekte als Sinnbild des Flüchtigen und damit als Kern der Fotografie zufrieden war. Sich selbst stets in Frage zu stellen, seine Positionen unablässig zu überprüfen und jeden Tag bereit zu sein, besser zu werden – all dies ist ein Qualitätsmerkmal von Maura Ecco und bonnataxi.

Die bonnataxi-Werke sind nicht museal; sie sind dennoch keine Kunst zum Anfassen, denn dafür ist ihre Textur zu komplex. Sie bedürfen der Erläuterung und des Diskurses. Kunst also, nicht in erster Linie für Museen, sondern für Menschen gemacht.

Ist bonnataxi nun eher die bestäubende Biene im Blumenbeet oder der schmerzhafte Wespenstich in die Fingerkuppe? Geschenk oder Heimsuchung? Die Antwort lautet: beides. Und noch viel mehr. Mal schillernd wie in Goldlamé eingeschlagene Flitterplättchen, mal gerade heraus und schmucklos wie ein linker Haken von Muhammad Ali.

Aus berufenem Munde vernahmen wir, dass bonnataxi ein schwer vermittelbares Projekt sei. Wohlan, so sei es! Kunst muss schließlich wehtun.

INHALT

Spaziergänge zwischen Fiktion und Fraktur. Die Anfänge.

Tempo, Beschleunigung, Aufklärung. Das reife Werk.

Das Innere des Äußeren. Was bleibt?

Stabilität durch Störung. Was kommt?

Die Ordnung der Dinge

»Die Ordnung der Dinge« hat Maura Ecco sein Bild aus dem Jahr 1990 genannt. Die grobkörnige Aufnahme machte der Wahl-Londoner zur Zeit des ersten Golfkrieges in einer Automobilwerkstatt in Bagdad. Wir sehen Werkzeuge, Lötzinn, Pinsel und weiteres Handwerkszubehör. Wir sehen aber auch Gegenstände, die an diesem Ort irritieren, ja verstören: eine Seifenschale, CD-Rohlinge und ein Teppichmesser. Das Ensemble wirkt wie zufällig kumuliert; eine Ordnung, sei es als Takt- und Impulsgeber menschlichen Handelns, sei es als Leitmotiv der großen Weltreligionen, sucht der Betrachter vergebens.

Einzig der Draht, der in der oberen Bildhälfte von links oben nach rechts unten das Bild teilt, signalisiert Hoffnung und Aufbruch.

Ecco fühlt sich beeinflusst von den Scholastikern um Umberto Tozzi und ihren ubiquitären Eklektizismus. Sein Ziel ist es, ihre sozialphilosophischen Thesen zu visualisieren. Hierfür ist ihm das Mittel der großformatigen Farbfotografie gerade recht. Das hier gezeigte Werk ist exemplarisch für seinen Willen, mit überkommenen Sehgewohnheiten zu brechen. Ecco geht dahin, wo es wehtut, und er konfrontiert uns mit Wahrheiten, die wir gern, ja allzu gern, verdrängen.

Schöne neue Welt?

»Schöne neue Welt?« – so lautet der Titel des hier gezeigten Werks von Maura Ecco aus dem Jahre 1992. Es ist eines von insgesamt dreißig Bildern aus seinem Zyklus »Zwischen Okzident und Orient«, der nicht nur einen ersten Höhepunkt seines Schaffens markiert, sondern auch die Initialzündung für eine bis dahin unbekannte Form der Fotografie war.

Ecco besuchte Anfang der 90er-Jahre dreißig Städte in den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten, die sich wegen der politischen Umbrüche im Wandel befanden. Sein Ziel war es, diesen Wandel in unaufdringlichen und dennoch wirkungsmächtigen Bildern auf Zelluloid zu bannen. Er wählte hierfür eine Bildsprache, die sich einerseits der ästhetischen Elemente des Retro-Futurismus eines Emporio Armanis bediente, und die andererseits die rokokohafte Transzendenz der frühen anglo-amerikanischen Zwei-Wege-Fotografie aufgreift.

Es ist die Wucht des Widersprüchlichen, die dem Betrachter beim Anblick des Bildes schier den Atem raubt: Bei aller Leichtigkeit und Heiterkeit, die das Werk ausstrahlt, ist doch Eccos Intention, den Widerspruch zwischen glänzender Fassade und inhärenter Gedankenarmut anzuprangern, greifbar. Beredtes Beispiel hierfür ist das Motiv der Satellitenschüssel, das – als Symbol für Empfängnis und Fruchtbarkeit – in der linken Bildhälfte gleich zweimal auftaucht. Die Blumen dagegen, die bereits seit dem Alten Testament für den Garten Eden und damit für die irdischen Versuchungen stehen, sind lediglich in der rechten Bildhälfte zu finden. Hierdurch erhält das fragile Gleichgewicht der Bildkomposition seinen Halt und gelangt so zu seiner Trost spendenden Wirkung.

Im Gespräch sagt Ecco, es gehe ihm darum, mit seinem Zyklus die Ereignisse und Umbrüche in den Warschauer-Pakt-Staaten als Seismograf aufzusaugen, damit sie ihre erratische Wirkung entfalten können. Als schlichter Chronist der Ereignisse habe er sich nie begreifen wollen – eindrucksvoll, wie ihm dies gelingt.

Über allen Wipfeln ist Ruh’

»Über allen Wipfeln ist Ruh’ (Deus Ex Machina)« hat Ecco seine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus dem Jahre 2003, entstanden in Paris, betitelt. Wir sehen sechs Menschen, die auf den ersten Blick alltäglich anmutenden Verrichtungen nachgehen. Sie suchen in ihren Taschen, kratzen an ihren Nasen oder blicken, wie die Dame vorne rechts, skeptisch aus dem Bild hinaus. Wohin richtet sich der Blick? Ist er rückwärtsgewandt; skeptisch und grüblerisch dem Zeitenlauf der Dinge gewidmet, oder doch eher aufgeschlossen in die Zukunft gerichtet? Ecco gibt hierauf keine Antworten. Er will nicht interpretieren, sondern lediglich illustrieren. Er mahnt nicht, sondern zeigt nur, was ein wacher und aufmerksamer Geist tagtäglich vorfinden kann. Mit diesem Ansatz befindet er sich in Gesellschaft der zwei verbreitetsten kulturphilosophischen Strömungen: Er absorbiert sie jedoch nicht nur, sondern überführt sie in eine neue, eigene Denk-Osmose.

Vom ersten Moment an nimmt die Textur der Fotografie und ihre an frühe Formen des Schamanismus gemahnende Hermeneutik den Betrachter gefangen. Raffiniert spannt sich der Bogen von den durch die Bildkomposition mäandernden Schriftzügen »Coca Cola« über das geradezu grotesk falsch geschriebene Werbebanner »Delikatessen« bis zu den oben rechts im Bild befindlichen geschlossenen Jalousien als Symbol und Synonym für Schutzbedürftigkeit. Ein solches Maß an Entäußerung, wie es Ecco hier praktiziert, hat beinahe etwas Beklemmendes, und doch fühlen wir uns den gezeigten Menschen in all ihrer emotionalen Zerrissenheit sehr nah.

Perspektive Wiedereinstieg

Das hier gezeigte Werk »Perspektive Wiedereinstieg« stammt aus dem Jahre 2003. Das Bild hat seine ganz eigene Entstehungsgeschichte: Ecco befand sich zu der Zeit in Hamburg, um der Vernissage der ihm gewidmeten Werkschau mit dem Titel »Prometheus und Euklide – Spaziergänge zwischen Fiktion und Fraktur« beizuwohnen. Aus einem Seitenfenster der Ausstellungshalle heraus bot sich ihm der hier gezeigte Blick. Ecco ließ es sich nicht nehmen, stehenden Fußes seine Leica-Kamera aufzubauen, um die heitere Szenerie fotografisch festzuhalten. Lediglich punktuell hat er die Aufnahme anschließend in seinem heimischen Studio in Gera nachbearbeitet.