Im Einklang leben - Richard Stiegler - E-Book

Im Einklang leben E-Book

Richard Stiegler

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  • Herausgeber: Arbor
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Fünf zentrale spirituelle Grundhaltungen stehen im Zentrum dieses Buches: Präsenz, Annahme, Offensein, Einssein und innere Führung. Diese Grundhaltungen lassen sich direkt aus dem Gewahrsein - unserer Seinsnatur - ableiten und haben die Kraft, unser alltägliches Leben und unsere Beziehungen zu verwandeln. Spirituelle Praxis, wie zum Beispiel die Meditation, kann uns tiefe Erkenntnisse und Erfahrungen bescheren. Aber nur wenn wir daraus Grundhaltungen ableiten, die unser ganzes Menschsein durchwirken, wird unser Leben auf natürliche Weise Ausdruck des inneren Friedens, der Verbundenheit und der inneren Freiheit sein und entsprechend in die Welt und in unsere Beziehungen hineinstrahlen. Anschaulich beschreibt Richard Stiegler in fünf Kapiteln die Grundhaltungen und vermittelt, welche Auswirkungen diese sowohl auf unsere Innenwelt als auch auf unser Handeln und unser Bezogensein haben. So ist mit diesem Buch ein Leitfaden für ein spirituelles Leben in all unseren menschlichen Lebensbezügen entstanden.

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Seitenzahl: 395

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Richard Stiegler

Im Einklang leben

Richard Stiegler

Im Einklang leben

Spirituelle Grundhaltungen und Alltag

© 2016 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

E-Book 2020

Lektorat: Thomas Böhmer

Titelfoto: Rainer Frauenfeld

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-308-2

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge zur Selbstbehandlung in diesem Buch sind von dem Autor sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei ernsthafteren oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall einen Arzt, Psychotherapeuten, Psychologen oder Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung des Autors oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

INHALT

Vorwort

Einleitung

Zum Umgang mit diesem Leitfaden

TEIL 1 PRÄSENZ

Schlafen und Erwachen

Sein oder „Ich bin“

1.1 Zugänge zu Präsenz

Schauen ins Nichts

Schauen auf die Totalität

1.2 Präsenz und Bedürfnisse

Sich aushalten lernen

1.3 Präsenz im Alltag

Erst mal sein

Etwas sein lassen

Sich mit dem Ego versöhnen

1.4 Präsenz und ihre Wirkung

Die Intensität des SEINS

Sinn und Routine

Das kreative Nichts

Die Mächtigkeit des SEINS

1.5 Präsenz in Beziehungen

Das Grundbedürfnis nach Bestätigung

Der Leidenskreislauf der Persönlichkeit

Mit Kindern sein

Mit der Not von Kindern sein

Das Wesen der Liebe

TEIL 2 ANNAHME

Anerkennen, was ist

Annahme und Gegenwärtigsein

2.1 Ablehnung und Ego

Die Ablehnung annehmen

Verantwortung übernehmen

Woran wir die Ablehnung erkennen können

Vorstellungen, Vorlieben und Selbstbilder

Die Leichtigkeit des Seins

2.2 Selbstannahme

Bedingte und unbedingte Liebe

2.3 Die Kraft der Annahme in Beziehungen

Empfangen und umfassen

Konflikte entschärfen

Das heilende Feld der Annahme

Der eigenen Ohnmacht zustimmen

Zuhören als Praxis der Annahme

2.4 Annahme und Handeln

Reaktion und Antwort

Die Antwort reifen lassen

Antworten und das Leben gestalten

Mach kleine Schritte!

TEIL 3 OFFENSEIN

Der innere Himmel

Offenheit und Hingabe

Das Wesen der Spiritualität

3.1 Nicht-Tun

Abstand und Unmittelbarkeit

Stolz und Demut

Ziele und Absichtslosigkeit

Zeit und Muße

Ehrgeiz und Bescheidenheit

Wissen und Vertrauen

3.2 Den inneren Horizont weiten

Die Grenzen der Identität

Schritt für Schritt – die alltägliche Bewusstheitsarbeit

Zeichen erkennen

Identifizierungen mit Bewusstheit umarmen

3.3 Friedensarbeit

Sich öffnen für die Pole

Öffnen heißt sich einlassen

„Liebt eure Feinde“

Licht ins Dunkle bringen

TEIL 4 EINSSEIN

Wie die Dinge sich verschränken

Die Logik des Egos

Auseinanderfließen

Einssein und wechselseitige Bezogenheit

4.1 Das Herz öffnen

Angst als Gegenspieler der Liebe

Die Angst umarmen

Verbunden oder verklebt?

Mitgefühl kann uns transformieren

4.2 Beziehungen im Geiste der Verbundenheit

Vom Ich zum Wir

Konflikt und Vielfalt

Die Waffen ablegen

Geschwisterlichkeit

Opfer, Täter und das Mitgefühl

4.3 Dem Leben dienen

Arbeit als alltäglicher Dienst

4.4 Innerer Reichtum

Nichts ist selbstverständlich

In der Schatzkammer des Lebens

4.5 Nur das Herz zählt

Falsche Propheten

TEIL 5 INNERE FÜHRUNG

Die Krone der Schöpfung

Motivation und Entfaltung

Wie uns das Leben ruft

Wissen und innere Weisheit

5.1 Der innere Kompass

Was stimmt?

Die Entfaltung des Wesens

Bestimmung heißt nicht Vorbestimmung

Der Körper als Spiegel der inneren Wahrheit

Resonanz und Innenschau

Das Instrument stimmen

5.2 Im Spannungsfeld von innen und außen

Sich mit dem Alleinsein anfreunden

Rebellion und innere Freiheit

Moses und seine Ängste

Im Spiegel unserer Gefühle

Gegründet und nicht starr

5.3 Die konkreten Schritte im Alltag

Innehalten und Zurücktreten

Auf den Ruf lauschen

Sich führen lassen

Werkzeuge des Friedens

Das Buch vollenden

Dank

Begriffsklärungen

Gewahrsein – Stille, Achtsamkeit, Sein, Seinsnatur

Ego – Selbstgrenzen, funktionales Ich

Seele – Psyche, Geist, Alltagsrealität, seelische Realität, absolute Realität

Wesen – transpersonaler Raum, Essenz

Schatten – personaler Entwicklungsschritt

Anmerkungen

Ergänzende und weiterführende Literatur

Zum Autor

Vorwort

Meditative Praktiken wurden über Jahrhunderte hinweg vor allem von Mönchen und Nonnen in Klöstern praktiziert. Dort wurde ein Rahmen geschaffen, der es den Praktizierenden erlaubte, sich in ihren Geist zu versenken, diesen zu erforschen und Qualitäten wie innere Stille, Achtsamkeit und Mitgefühl zu kultivieren. Es ist nachvollziehbar, dass es leichter ist in einen Zustand des Seins einzutreten, wenn wir nicht ständig etwas zu tun, zu erledigen oder zu entscheiden haben und wenn wir uns nicht mit dem Verdienen unseres Lebensunterhalts und den Herausforderungen des Familienlebens auseinander setzen müssen. Diese ungestörten Rahmenbedingungen vergleiche ich gerne mit einer Art Außenskelett, das uns einen äußeren Halt gibt, so dass wir uns leichter und ungestörter durch tägliche Herausforderungen unserer Innenwelt zuwenden können.

In den letzten Jahrzehnten und vor allem in den letzten Jahren sind diese meditativen Praktiken zu uns in den Westen gekommen – in eine Welt, die sich fundamental vom Leben in einem Kloster unterscheidet. Noch dazu befinden wir uns in einer Zeit, in der durch die neuen Medien und digitalen Möglichkeiten alles noch schneller und verrückter geworden ist. Wenn sich Menschen schon seit tausenden von Jahren in Klöster zurückgezogen haben, um ein kontemplatives Leben zu führen, was bedeutet das dann erst für die heutige Zeit? Der bekannte amerikanische Meditationslehrer Jack Kornfield beschreibt sehr anschaulich, wie er nach Jahren des Aufenthalts und der Praxis in buddhistischen Klöstern wieder in die USA zurückkam. Vor allem in Beziehungen und ganz besonders als er Vater wurde, musste er feststellen, dass sein Geisteszustand wieder von hohen Wellen gekennzeichnet war und – wie er es beschrieb – er zuschauen konnte, wie alles aus dem Fenster flog, was er an Geistesqualitäten glaubte erworben zu haben. So war er einer der ersten, der sich über seine kontemplative Praxis hinaus mit westlicher Psychotherapie befasste, um Wege zu finden, wie buddhistische meditative Praktiken auch für uns Menschen mit einem normalen täglichen Leben zu Einsicht und mehr Weisheit führen kann.

Ich selbst war Mitte zwanzig, als ich mein erstes zehntägiges Schweigeretreat besuchte und kann mich noch heute gut erinnern, dass dies eine richtungweisende Erfahrung für mein Leben war. Ich erlebte Zustände des puren Seins und einer inneren bedingungslosen Zufriedenheit, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Am Ende des Retreats war ich richtiggehend euphorisiert – in gewisser Weise high. Auch ein solches Retreat ist eine Art Außenskelett, das es uns erlaubt, uns jenseits unserer persönlichen Muster und Rollen sinken zu lassen und völlig neue innere Räume zu betreten. Aber wenn wir dann nach Hause kommen, wartet unsere Persönlichkeit auf uns: „Hallo! Schön, dass Du wieder da bist!“ Da dauert es meist nicht lange, bis wir in alte Muster zurückfallen. So geschieht es leicht, dass gewissermaßen zwei Welten entstehen – die Retreatwelt und die „wirkliche“ Welt – und diese beiden Welten sind weitestgehend getrennt voneinander. So wurde ich zu einer Art Retreatjunkie, was mir aber auch nicht viel dabei weiterhalf, die dort erlebten Qualitäten und Einsichten in den Alltag zu tragen.

Mein wichtigster „Lehrer“ wurde schließlich mein Sohn. Meine Liebe zu ihm und seine Unerbittlichkeit darin, er selbst zu sein, zwangen mich sozusagen ein Innenskelett zu entwickeln. Besonders hilfreich waren mir dabei auch die Begleitung durch meine Gestalt-Lehrerin Katharina Martin und die Praxis der Achtsamkeit, wie ich sie durch Jon Kabat-Zinn kennengelernt habe. Ein Innenskelett zu entwickeln – oder um es noch anders auszudrücken – einen Weg zu finden, Zustände, die wir nur unter bestimmten Bedingungen erfahren, zu einer Eigenschaft werden zu lassen, die uns grundsätzlich zur Verfügung steht, ist vielleicht die größte Herausforderung bei dem Versuch, meditative Praktiken in unser tägliches Leben zu integrieren.

In diesem Zusammenhang ist das neue Buch von Richard Stiegler ein wahrer Glücksfall! Mit Feingefühl und der Weisheit seines reichen Erfahrungshintergrundes zeigt er auf, wie wir den Zugang zu unserem inneren Kompass gewinnen und unser Leben mehr und mehr in Einklang mit unserem wahren Selbst bringen können. Ein zutiefst inspirierendes Buch und ein zuverlässiger Wegbegleiter bei der immensen Herausforderung, Achtsamkeit, Liebe und Mitgefühl in unser tägliches Leben zu bringen.

LIENHARD VALENTIN

 

Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,

du mein tieftiefes Leben;

dass du weißt, was der Wind dir will,

eh noch die Birken beben.

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,

lass deine Sinne besiegen.

Jedem Hauche gib dich, gib nach,

er wird dich lieben und wiegen.

Und dann meine Seele sei weit, sei weit,

dass dir das Leben gelinge,

breite dich wie ein Feierkleid

über die sinnenden Dinge.

RAINER MARIA RILKE

Einleitung

Viele Menschen bewegt die Sehnsucht nach Stille. Es zieht sie in die Einsamkeit der Wälder, in die Ursprünglichkeit der Berge oder ans Meer mit seiner unendlichen Weite. In der Natur finden sich immer wieder Momente von innerem Frieden. Augenblicke, in denen sich unsere Seele weitet und uns eine Freiheit durchweht, die wir in den alltäglichen Sorgen und Pflichten häufig vermissen.

Nicht selten entsteht hier der Wunsch, den inneren Frieden und die innere Freiheit noch tiefer kennenzulernen, und wir begeben uns auf den spirituellen Weg. Meditation, achtsame Selbsterforschung und Räume der Innerlichkeit gewinnen an großer Attraktivität. Die äußere Welt mit ihren gesellschaftlichen Verlockungen verliert an Bedeutung und wir tauchen tiefer und tiefer in die innere Welt unserer Seele ein.

Mit der Zeit entdecken wir am Grund unserer Seele einen grenzenlosen und zeitlosen Bewusstseinsraum, den Raum der Stille. Dieser innere Raum der Bewusstheit wird das Gewahrsein genannt. Hier erfahren wir einen unbedingten Frieden, eine tiefe Verbundenheit mit allem und eine vollkommene Freiheit. Allmählich kann uns bewusst werden, dass dieser weite und offene Bewusstseinsraum keine angenehme Erfahrung ist, sondern unsere innerste Identität, die Quelle allen Seins. Die Verwirklichung der Dimension der Stille mit all ihren Facetten und Stationen war das Thema meines ersten Buches „Kein Pfad – aus der Stille leben“.

Doch so nährend und intensiv ein Weg der Innerlichkeit und Erfahrungen von Stille auch sein mögen, sie sind nicht das Ziel eines spirituellen Lebens. Unweigerlich wird das äußere, alltägliche Leben unsere Aufmerksamkeit wieder einfordern. Menschliches Leben kann nicht bedeuten, sich in einen inneren Raum der Stille zurückzuziehen, sondern will, dass wir uns auf die äußeren Anforderungen beziehen. Auch Gefühle und seelische Regungen kehren nach einem Moment der Stille zurück und brauchen unsere Aufmerksamkeit und einen bewussten Umgang. Selbst wenn wir so tief in die Stille eingetaucht sind, dass die materielle Welt sich kurzzeitig auflöst oder traumgleich erscheint, kehrt sie unweigerlich in unser Bewusstsein zurück, solange wir in einem Körper leben.

Spätestens hier wird uns bewusst, dass es auf dem spirituellen Weg nicht nur darum gehen kann, die inneren Räume der Stille zu verwirklichen, sondern dass wir einen Weg finden müssen, aus der Erfahrung der Stille im Alltag zu leben. Der innere Weg führt uns aus der Innerlichkeit wieder ins normale alltägliche Leben zurück. Die Fragen, die sich hier stellen, sind: Wie kann es geschehen, dass unser ganzes Leben Ausdruck von Stille wird? Wie können wir im Einklang mit den alltäglichen Herausforderungen leben? Oder wie Rilke es fast beschwörend formuliert: „Und dann meine Seele sei weit, sei weit, dass dir das Leben gelinge.“

Genau von dieser Herausforderung eines spirituellen Lebens im Alltag handelt das vorliegende Buch. Ausgehend von der Einsicht in die Natur von Stille, werde ich die Grundeigenschaften des Gewahrseins aufzeigen und deutlich machen, was es bedeutet, wenn diese Eigenschaften unser inneres und äußeres Leben durchdringen und zu Grundhaltungen unseres Lebens werden. In fünf Kapiteln werden die zentralen spirituellen Grundhaltungen – Präsenz, Annahme, Offensein, Einssein und innere Führung – beschrieben, die ein Leben aus einer inneren Weite heraus möglich machen. So ist mit diesem Buch ein Leitfaden für ein spirituelles Leben in all unseren menschlichen Lebensbezügen entstanden.

Die große Veränderung auf dem spirituellen Pfad ist nicht die Einsicht in die spirituelle Dimension, sondern das vollständige Aufgehen darin, das Durchdrungenwerden von ihr und damit eine Metamorphose unserer gesamten Persönlichkeit. Erst wenn wir die spirituellen Grundhaltungen verinnerlichen und damit gleichsam verkörpern, werden sich unsere Egostrukturen mit der Zeit verwandeln. Erst dann wird unser menschliches Leben auf eine natürliche Weise und ohne Anstrengung ein Ausdruck des inneren Friedens, der Verbundenheit und der inneren Freiheit sein und entsprechend in die Welt und in unsere Beziehungen hineinstrahlen.

Zum Umgang mit diesem Leitfaden

Wenn ich im vorliegenden Buch fünf spirituelle Grundhaltungen und ihre Relevanz für unseren Alltag beschreibe, geht es mir nicht darum, ein neues Ideal zu beschwören. Wie schnell geschieht es, dass wir uns mit einem Ideal identifizieren und entsprechend damit vergleichen? Die Folge ist, dass wir uns oder andere Menschen verurteilen, wenn wir oder andere diesem Ideal nicht entsprechen. Das ist es aber genau nicht, was dieses Buch will. Abgesehen davon würde es sowohl der Grundhaltung der Annahme als auch der Grundhaltung einer Herzensperspektive (Einssein) widersprechen.

Dieses Buch will vielmehr einen Bewusstheitsprozess anstoßen, der unser Leben tiefgreifend durchdringen und verändern kann. Bewusstheit ist ein Raum jenseits von Wertung und Vergleich. Bewusstheit sieht einfach, wie es ist. Im Spiegel unserer Bewusstheit darf alles erscheinen, das Angenehme wie das Unangenehme, das Weite wie das Enge. Erst durch diese annehmende Form der Bewusstheit entsteht die Möglichkeit, dass aus einer inneren Freiheit heraus spontane Entwicklungen geschehen. Solange der Versuch einer Entwicklung oder Veränderung an unser Wertesystem geknüpft ist, führt er nicht wirklich in die Freiheit.

Daher ist es von Bedeutung, dass wir beim Lesen dieses Buches wachsam sind, ob sich neue Ideale oder Werte ausbilden. Sobald sich ein neues spirituelles Über-Ich bildet, verlassen wir die Grundhaltung der Annahme und können nicht mehr unsere Ganzheit als Mensch umfassen. Wenn wir uns jedoch dieser Gefahr bewusst sind, können wir uns jedes Mal wieder an die bedingungslose Annahme der Bewusstheit erinnern und die scheinbar unperfekten Anteile unseres Menschseins liebend umfassen. Nur dann kann ein Bewusstheitsprozess in Gang gesetzt werden, der eine natürliche Entfaltung in Freiheit bewirkt und unser ganzes Menschsein durchdringt.

Vielleicht ist es auch hilfreich, sich daran zu erinnern, dass die beschriebenen Grundhaltungen selbst nicht einer persönlichen Vorstellung oder einer Moral entsprechen, sondern sich unmittelbar aus der Einsicht in die Dimension des Gewahrseins ergeben. Sie sind damit ein folgerichtiger Ausdruck der innersten Natur von Gewahrsein und dienen der Bewusstheit, dem Frieden, der Verbundenheit und der Freiheit – aber keiner wie auch immer gearteten Moral.

Mit jeder Moral wird einer unmittelbaren Einsicht, die aus der Bewusstheit geboren ist, eine Wertung aufgestülpt. Wir koppeln uns von der bedingungslosen Offenheit des Gewahrseins ab und es entsteht eine Trennung in unserem Geist zwischen dem, was „gut“ und „erwünscht“ ist und dem, was „böse“ oder „unerwünscht“ ist. Spätestens hier hat sich unser Ego, das immer in den Kategorien von Gut und Böse denkt, unserer Einsicht bemächtigt und bestimmt uns wieder. Offenheit kennt jedoch kein „Gut“ und „Böse“ und keine Trennung.

Immer wieder lassen sich einzelne Menschen und spirituelle Gemeinschaften dazu verführen, eine neue Moral zu erschaffen, die sich dann letztlich gegen das Menschliche in ihnen und anderen wendet. Wenn uns der eigene Frieden und der Frieden zwischen Menschen am Herzen liegt, braucht es hier eine besondere Wachsamkeit.

Zur Orientierung sei noch vorangeschickt, dass die Anordnung der fünf Grundhaltungen im Buch keiner Hierarchie entspricht. Die Grundhaltungen sind zwar mit einer gewissen Folgerichtigkeit im Buch dargestellt, aber keine ist wesentlicher als eine andere. Letztlich bedingen sie sich alle wechselseitig.

Als Leserin oder als Leser muss man sich daher nicht an die vorgegebene Reihenfolge der Kapitel halten. Es ist genauso möglich, sich vom Interesse leiten zu lassen und sich zuerst mit der Grundhaltung zu beschäftigen, zu der es die größte Resonanz gibt.

Und noch ein letzter Hinweis: Zur besseren Lesbarkeit und um eine Sprache zu benutzen, die beiden Geschlechtern gerecht wird, sind Kapitel 1, 3 und 5 in der weiblichen Form und Kapitel 2 und 4 in der männlichen geschrieben. Sprache kann Bewusstheit fördern und die Gleichwertigkeit von Mann und Frau betonen. Das wiederum entspricht der Grundhaltung der Verbundenheit (siehe Kapitel 4 zum Thema „Geschwisterlichkeit“).

 

Wenn dein Herz wandert oder leidet, bring es behutsam an seinen Platz zurück und versetze es sanft in die Gegenwart Gottes. Und selbst dann, wenn du nichts getan hast in deinem Leben, außer dein Herz zurückzubringen und wieder in die Gegenwart Gottes zu versetzen – obwohl es jedes Mal wieder fortlief, wenn du es zurückgeholt hattest –, dann hat sich dein Leben wohl erfüllt.

HL. FRANZ VON SALES (1567–1622)

TEIL 1

Präsenz

 

Hat die Natur nicht eine eindrückliche Präsenz? Wenn wir an einem Bach sitzen, auf das Spiel der Wellen schauen und dem Geräusch der Blätter im Wind lauschen, kann sich uns ein zeitloses Dasein offenbaren. Hier gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur die schlichte Gegenwart. Jeder Fluss, jeder Baum und jede Wolke kann uns als Gefährt dienen, um in diese zeitlose Präsenz einzutauchen. Unsere Seele kommt zur Ruhe und lässt sich nieder. Wir sind da.

Wie anders ist doch oft unsere Alltagserfahrung als Mensch? Wir verreisen zum Beispiel mit dem Auto oder dem Zug, steigen nach Hunderten von Kilometern aus und sind angekommen. Aber sind wir wirklich angekommen? Oft dauert es Stunden, manchmal sogar Tage, bis wir uns in der neuen Umgebung angekommen fühlen. Bis wir sagen können: Wir sind anwesend, wir sind da.

Geben wir uns die Zeit, am neuen Ort anzukommen? Meist geht das Leben sofort weiter. Wir begrüßen in der neuen Umgebung Menschen, erledigen die äußeren Alltagserfordernisse ungeachtet unseres Gefühls, noch gar nicht da zu sein. Wir sind innerlich noch nicht angekommen, aber funktionieren und handeln bereits äußerlich weiter.

In diesen Situationen haben wir kein Gefühl für uns. Wir fühlen uns fremd und merkwürdig leer und ausgehöhlt. Es ist ein Gefühl, als ob wir in der neuen Situation nicht „drin“ sind und sie erscheint uns seltsam unwirklich, wie ein Film. Und auch innerlich fühlen wir uns seltsam distanziert von uns selbst. In diesen Momenten spüren wir sehr deutlich, wie unangenehm es sich anfühlt, wenn wir seelisch nicht präsent sind.

Eigentlich sind diese Momente kostbar. Es sind Augenblicke der Bewusstheit. In ihnen werden wir an die grundlegende Kraft der Präsenz, des Daseins, erinnert. Wir spüren hier einen grundlegenden Mangel an SEIN.

Das ist durchaus wertvoll. Denn wie oft sind wir im Leben nicht anwesend und sind uns dessen nicht bewusst? Wie oft verlieren wir uns in Gedankenschleifen – eine innere Geschichte jagt die nächste –, ohne uns unserer inneren Entfremdung bewusst zu sein? Oder wir sind emotional aufgewühlt und Stunden oder Tage davon vereinnahmt und spüren in unserer Angst oder dem Schmerz nicht mehr, dass es etwas Grundlegenderes gibt als diese Emotionen – unser Dasein. Oder wir sind völlig mit Pflichten und Alltagsaufgaben identifiziert und merken oft erst nach Tagen oder Wochen des Funktionierens, dass wir in dieser Zeit mit unserem grundlegenden Lebendigsein nicht in Kontakt waren.

Was für ein völlig anderes Lebensgefühl ist es doch, wenn wir anwesend sind. Wenn wir in Augenblicken der Muße ankommen, wo der Verstand schweigt und wir entspannt am Bach sitzen und den Wellen und dem Geräusch der Blätter im Wind lauschen. Wir fühlen uns wieder. Da ist das Empfinden von Raum und Lebendigsein, ohne etwas zu tun. Wir sind angekommen.

Experimentiere:

Nimm dir Zeiten der Muße und gehe in die Natur. Tauche in die Sinnesempfindungen ein – ganz Schauen sein, ganz Hören sein, ganz Spüren sein, ohne Denken und ohne Verstehen.

Schlafen und Erwachen

SEIN ist absolut grundlegend, die Grundlage unseres Lebens. Wie können wir unseren Alltagsgeschäften nachgehen, wenn wir nicht existieren? Wie könnten wir denken und Gefühle haben, wenn wir nicht sind? Wie könnten wir die Sonnenstrahlen genießen ohne die Grundlage unserer Existenz? Und doch ist uns dieses grundlegende SEIN sehr oft nicht bewusst. Es ist so selbstverständlich wie der Boden, der uns trägt, und die Luft, die wir atmen. Es ist selbstverständlich und genau dadurch wird es im Alltag kaum mehr wahrgenommen.

Dabei ist SEIN keine Idee, keine Vorstellung und auch keine Schlussfolgerung, nach dem Motto: „Ich denke, also bin ich.“ SEIN ist keine gedankliche Realität, sondern die grundlegende Basis unseres Daseins als Mensch und diese Basis ist erfahrbar. Sie muss nicht erdacht oder geschlussfolgert werden. Erst wenn sie für uns zu einer erfahrbaren Realität wird, jenseits von Gedanken und Schlussfolgerungen, entfaltet sie ihre Wirkkraft und kann uns und unser Leben spürbar durchdringen und bereichern.

In einer Legende von Buddha wird erzählt, dass er nach seinem grundlegenden Erwachen übers Land wandert und zwei Mönche trifft. Den Mönchen fällt sofort die außergewöhnliche Ausstrahlung von Frieden auf, die den Buddha umgibt. Also fragen sie ihn: „Wer bist du? Bist du ein Gott?“ Buddha antwortet mit einem schlichten: „Nein.“ – „Bist du ein Zauberer?“ Und wieder antwortet Buddha mit: „Nein.“ – Die Mönche fragen weiter: „Bist du ein Mann?“ – „Nein.“ – „Bitte sag uns doch, wer bist du?“ Und Buddha antwortet: „Ich bin wach.“

Was meint Buddha, wenn er sagt: „Ich bin wach“? Es klingt, als ob er uns darauf hinweisen wollte, dass wir alle normalerweise schlafen. Unsere normale Lebenswirklichkeit scheint für Buddha also ein Traum zu sein. Das, was wir als Wachzustand und als Wirklichkeit bezeichnen, ist für ihn ein Traum, aus dem man erwachen kann.

Ein Traum ist eine bunte subjektive Welt, in die wir eintauchen können und die unser Erleben einfärbt. Wir können uns aber auch des Traumes bewusst werden und daraus erwachen, vergleichbar mit einem Kinobesuch. Wir tauchen in eine bunte Welt ein und freuen uns oder leiden mit den Figuren mit, aber dann treten wir wieder ins Freie und erwachen zu einer anderen Wirklichkeitsperspektive.

Genauso erleben wir diesen Vorgang bei nächtlichen Träumen. Obwohl wir sie als äußerst intensiv und real erleben können und vielleicht sogar dabei vor lauter Angst ins Schwitzen kommen, wachen wir irgendwann auf und es bleibt nur noch eine schwache Erinnerung. Ein flüchtiges Spiel. Wir sind erwacht in eine andere Wirklichkeit, in die des Alltagsbewusstseins, und diese erscheint uns jetzt viel realer.

Solch eine Art von Erwachen scheint Buddha erfahren zu haben, allerdings kein Erwachen aus einem nächtlichen Traum, sondern aus dem Traum der normalen Lebensrealität mit Gedanken, Sorgen, Plänen, Emotionen und Vorlieben. Plötzlich erscheint ihm diese normale menschliche Realität, in der wir mit Rollen und Vorstellungen identifiziert sind, als traumgleich. Aus diesem Grund verneint er auch die Frage: „Bist du ein Mann?“, obwohl er offensichtlich männlich ist. Für Buddha ist sogar die menschliche Identität als Mann ein flüchtiges Spiel. Er ist erwacht zu einer anderen Lebenswirklichkeit.

Reflektiere:

Welche Vorstellung hast du vom Erwachen? Glaubst du, dass du dann über den Dingen stehst oder dass du übernatürliche Fähigkeiten gewinnst? Hoffst du, dadurch einen besonderen Wert als Mensch zu bekommen? Denkst du, dass du dadurch keine unangenehmen Gefühle oder Schmerzen mehr haben wirst?

Sein oder „Ich bin“

In welche Wirklichkeit ist er erwacht? Was hält Buddha für realer und grundlegender als unser menschliches Denken, Fühlen und Handeln? Es ist die allem zugrunde liegende Lebensrealität – das SEIN.

Das ist leicht zu sehen. Betrachten wir noch einmal die Geschichte. Da fragen die Mönche Buddha nach seiner Identität: „Wer bist du?“, und er antwortet: „Ich bin wach.“ Buddha meint also, das, was er im Innersten ist, ist Wachheit. Dies ist keine Aussage über sein momentanes Empfinden oder seinen momentanen Zustand, sondern über seine grundlegende Identität, über das, was er zutiefst ist – Wachheit oder Bewusstsein.

Damit will Buddha nicht ausdrücken, dass es Gefühle und Gedanken für ihn nicht mehr gibt. Die ganze Welt der Erscheinungen, der Rollen und Beziehungen und Alltagsaufgaben, ist weiterhin da. Auch sein männlicher Körper ist noch da. Alles, was menschliches Leben ausmacht, kann auch Buddha in seinem erwachten Zustand erfahren. Aber er identifiziert sich damit nicht. Er hat erkannt, dass das, was er ist, also seine grundlegende Identität, viel grundlegender ist als alle Erscheinungen dieser Welt. Und diese Identität ist Wachheit.

Wach zu sein, verbinden wir normalerweise damit, mit klaren Sinnen denken, hören oder sprechen zu können. Wenn wir wach sind, sind wir uns der augenblicklichen Situation bewusst. Wachheit braucht Bewusstheit. Genauer: Wachheit ist nichts anderes als Bewusstheit. Wenn sich beim Lesen des Buches jetzt eine Wachheit einstellt, dann ist sich der Lesende des Lesens bewusst. Das ist bereits ein kleines Aufwachen. Nicht unbewusst zu lesen, zu atmen und zu denken, sondern sich des Lesens und Atmens und Denkens bewusst zu sein. Dieses Aufwachen nennt man Achtsamkeit und wird in den meisten spirituellen Schulen als Grundlage des Weges in der Meditation eingeübt.

Doch Buddha spricht hier nicht von Achtsamkeit. Er meint nicht, dass er sich gerade der augenblicklichen Erfahrung bewusst ist, sondern er spricht über seine Identität. Er sagt: „Ich bin wach.“ Oder anders ausgedrückt: „Ich bin Bewusstsein.“

Was ist die Grundlage dafür, achtsam sein zu können? Die Grundlage dafür, sich jetzt des Atmens bewusst zu sein? Es ist das Bewusstsein selbst. Auch diese Fähigkeit des Bewusstseins kann uns bewusst werden. Das ist keine Frage von Reflexion oder von Schlussfolgerung, sondern von unmittelbarer Aufmerksamkeit. Wir können uns des Bewusstseins unmittelbar bewusst werden als die innerste Dimension unserer menschlichen Wirklichkeit.

Am leichtesten ist dies möglich in Situationen, in denen wir völlig unabgelenkt von unseren Sinnen und Gedanken aufmerksam sind. Stellen wir uns vor, wir sitzen alleine in einer stillen, großen Kirche. Die Atmosphäre von Stille und einem sakralen weiten Raum umfängt uns. Wir werden innerlich ganz ruhig und schließen die Augen. Wir lauschen der Stille. Wir hören nichts, lauschen mit einer immer feiner werdenden Aufmerksamkeit. Wir sind nur noch Lauschen. Wir sind Aufmerksamkeit. Kein Geräusch, kein Gedanke, kein Gefühl. Nur reines Aufmerksamsein.

In einem solchen Moment verdichtet sich unser Erleben. Wir erfahren eine reine, intensive Form des Aufmerksamseins, des Lauschens. Und wir werden uns unseres Seins bewusst. Eines Seins, das noch unbedingt ist, frei von Gedanken und Gefühlen, frei von dem, was wir normalerweise sind und womit wir uns immer beschäftigen. Hier herrscht ein klares Erleben von SEIN, von „Ich bin“, ungeformt und ungerichtet.

Das ist ein Erwachen in die Lebenswirklichkeit von SEIN. Eine Wirklichkeit, die unserem In-der-Welt-Sein zugrunde liegt. Eine reine ungeformte Wirklichkeit, aus der alle menschlichen Erfahrungen und Formen erst entstehen. Es ist die Urerfahrung, frei von Konditionierung und Konzepten die Urerfahrung „zu sein“, oder anders ausgedrückt, die unmittelbare Erfahrung von „Ich bin“, von Existenz.

Auch in der Bibel wird auf diese Urerfahrung hingewiesen, als Gott Moses im Alten Testament seinen geheimnisvollen Namen offenbart: „JAHWE“. Übersetzt bedeutet dies: „Ich bin der Ich-bin.“ Die Mystikerinnen aller Zeiten suchten die Verwirklichung dieser direkten Erfahrung von Gott oder SEIN. Der Schlüssel zu diesem unbedingten SEIN ist reines Aufmerksamsein.

Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zum SEIN. Aber nicht fokussierte Aufmerksamkeit, sondern reines, ungerichtetes Aufmerksamsein. Je unmittelbarer wir in dieses unfokussierte Aufmerksamsein – wir könnten es auch Lauschen nennen – eintauchen, desto klarer entsteht die Erfahrung von Existenz, von „Ich bin“. Diese Erfahrung von SEIN wird Präsenz genannt. Es ist ein klares, intensives Erleben einer dichten immateriellen Substanz – ein Feld von SEIN.

Je deutlicher diese Präsenz, dieses Bewusstseinsfeld auftaucht, umso klarer erkennen wir, dass dieses Feld die Grundlage allen Seins ist. Sie ist die Grundlage unseres Seins als Mensch, unseres Körpers und unseres gesamten Erlebens. Ganz allmählich, je öfter wir die Erfahrung von Präsenz machen, fängt unsere Sichtweise von uns selbst an, sich zu ändern. Wir erkennen immer mehr, dass wir nicht ein Mensch mit bestimmten Eigenschaften sind, der die Erfahrung von Präsenz macht, sondern dass unsere innerste Natur SEIN ist, die die Erfahrung eines Menschen mit bestimmten Eigenschaften hervorbringt.

Plötzlich geht es uns wie der Nonne, die davon träumte, ein Schmetterling zu sein und beim Aufwachen nicht mehr wusste, ob sie, die Nonne, geträumt hatte, oder ob sie nicht in Wirklichkeit der Schmetterling ist, der gerade von einer Nonne träumt. Unsere Welt steht kopf und für eine gewisse Zeit kann dies sehr verwirrend sein. Doch letztlich wird sich immer mehr im Erleben von Präsenz das Erkennen durchsetzen, dass unsere grundlegende Identität das SEIN ist und nicht unsere begrenzte vorübergehende Form als Mensch. Jetzt verstehen wir auch die Aussage Buddhas: „Ich bin wach.“ Er hat seine wahre Identität erkannt: ungeformtes SEIN, das erfahren wird durch reines, ungerichtetes Aufmerksamsein.

Experimentiere:

Erinnere dich in Alltagbezügen immer wieder an das Aufwachen. Wache dabei immer wieder aus der Automatik und Unbewusstheit einer alltäglichen Verrichtung auf und sei dir des Vorgangs bewusst. Wie verändert sich dabei dein Erleben?

1.1 Zugänge zu Präsenz

Präsenz ist die Urerfahrung unserer Existenz, unseres Seins, und insofern eine andere Art von Erfahrung als unsere üblichen Alltagserfahrungen. Normalerweise nehmen wir immer innere und äußere Objekte wahr, Gedanken, Empfindungen oder Geräusche und visuelle Eindrücke. Aber in der Erfahrung der Präsenz richtet sich der Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Aufmerksamsein selbst. Hier gibt es kein Objekt, sondern nur SEIN, ungeformt und ungerichtet.

Obwohl dieses SEIN uns immer begleitet – es ist schließlich die Grundlage unseres Daseins –, braucht es dennoch unsere Aufmerksamkeit, dass es als Präsenz erfahrbar und dadurch für uns zur unmittelbaren Wirklichkeit werden kann. Es gilt zu lernen, unsere Aufmerksamkeit auf das SEIN auszurichten. Das ist kein Tun und braucht keine Anstrengung. Wir müssen dazu kein anderer werden, als wir sind, und es braucht keinerlei Entwicklung.

Der Zugang zu Präsenz ist mehr ein Sich-Erinnern als ein Tun. Wir erinnern uns ans SEIN und richten den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Aufmerksamsein selbst und nicht auf den Inhalt unserer Erfahrung. Je ausschließlicher das geschieht, desto intensiver tauchen wir in die Erfahrung von Präsenz ein.

Da es für uns Menschen aber eine ungewöhnliche Perspektive ist, nicht auf die konkreten Erfahrungen zu schauen, sondern ungerichtet zu lauschen, erscheint es zunächst gar nicht leicht, das zu vollziehen. Doch so schwer es im ersten Moment erscheinen mag, so selbstverständlich und leicht kann diese Perspektive mit der Zeit werden. Um sich auf diese Art des ungerichteten Lauschens einzustimmen, ist es hilfreich, wenn wir zwei Grundübungen machen: „Das Schauen ins Nichts“ und „das Schauen auf die Totalität der Erfahrung“.

Schauen ins Nichts

Beim Schauen ins Nichts wenden wir ein sehr einfaches Prinzip an, das für viele Menschen sofort umzusetzen ist. Wir richten unsere ganze Aufmerksamkeit und unser Interesse auf die Leere. Das ist leichter, als wir zunächst denken. Wir nutzen dazu die Zwischenräume zwischen den Erfahrungsobjekten: Wir lauschen zum Beispiel auf die Pausen der Lautlosigkeit zwischen den Geräuschen. Wir schauen auf die Räume zwischen den tanzenden Schneeflocken oder zwischen den Blättern am Baum. Wir achten auf die Räume der Stille zwischen den Gedanken oder konzentrieren uns auf den Moment der Bewegungslosigkeit in der Atempause zwischen Ausatmen und Einatmen.

In all diesen Fällen richten wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf das Nichts aus. Unsere Sinne können in der Leere nichts Greifbares wahrnehmen, doch wenn wir vollständig aufmerksam sind ohne eine Wahrnehmung, dann bleibt eine intensive reine Form des Aufmerksamseins. Hier stellt sich die Erfahrung des SEINS ein. Denn Aufmerksamsein ohne etwas wahrzunehmen ist nicht nichts oder etwas Totes, sondern lebendige Präsenz, ungerichtet und formlos. Aus diesem Grund nennt man diesen Zugang in manchen Traditionen „Schauen ins nackte Sein“.

Allerdings ist es notwendig, um diese Erfahrung zu machen, dass wir ein wirkliches Interesse für das Nichts, das SEIN selbst entwickeln. Ohne Interesse wird unser Geist sich nicht auf das Nichts konzentrieren können. Und erst in Momenten von vollständiger Konzentration erfahren wir im Nichts eine intensive Präsenz – das SEIN.

Diese Präsenz ist eine Oase der Reinheit und Ruhe zwischen den Stürmen des Lebens, die uns immer offensteht. Doch dass sie für uns zur Lebenswirklichkeit wird, ein ruhender tragender Pol im Auf und Ab des Lebens, hängt davon ab, wie viel Liebe und Hingabe in uns für das Nichts entsteht. Menschen, die eine tiefe Liebe zum Nichts entwickeln, werden sich auf eine natürliche Weise immer wieder danach sehnen und darauf ausrichten.

Das ist nicht anders bei einer Liebesbeziehung zwischen Menschen. Eine Person, die wir lieben, suchen wir. Wir spüren förmlich einen Sog von ihr ausgehen und wir wollen sie kennenlernen und ihr nahe sein. Liebe richtet unsere Aufmerksamkeit auf eine natürliche Weise auf den oder das Geliebte aus. Lieben wir das Nichts und die Stille darin, ist uns das SEIN nah.

Reflektiere:

Welche Beziehung hast du zur Leere?

Welche Momente von Leere kennst du, die du liebst?

Experimentiere:

Lausche auf die Stille zwischen den Geräuschen.

Konzentriere dich auf die Pause zwischen Ausatmen und Einatmen und spüre den Frieden darin und die Präsenz.

Achte auf Gedankenpausen und genieße den Raum darin.

Schauen auf die Totalität

Wenn wir über den Zugang des Schauens ins Nichts das SEIN aufsuchen, haben wir manchmal den Eindruck, dass SEIN eine Dimension jenseits der normalen Erfahrungen und der Erscheinungen der Welt ist. Aber SEIN ist umfassend und schließt nichts aus. Besonders deutlich wird das in der Metapher von Welle und Wasser. Wie auch immer Wasser in Erscheinung tritt, als Welle, Bach, See oder Wolke, es ist und bleibt formloses Wasser. Und so ist jede Erscheinung, jede Erfahrung und jede Handlung im Grunde durchdrungen von SEIN. Nur weil wir Menschen in der Regel immer sehr fokussiert auf die Oberflächendimension der Phänomene schauen, erfassen wir das Ganze, die grundlegende Dimension des SEINs darin nicht.

Wenn wir das Umfassende am SEIN erfahren wollen, ist es daher hilfreich, einen anderen Zugang zu wählen: Wir schauen dabei auf die Totalität, auf die Ganzheit der augenblicklichen Erfahrung. Auch das ist kein Tun, sondern nur eine besondere Art der Aufmerksamkeit, bei der wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit ganz weit lassen.

Wir öffnen zum Beispiel die Augen und schauen mit einem „weichen Blick“. Dabei wird zwar das Sehen unscharf, aber wir erfassen das ganze Sichtfeld. Unser Schauen wird umfassend. Oder wir hören nicht mehr fokussiert auf die einzelnen Geräusche und deren Bedeutung, sondern auf die Ganzheit der Geräusche ohne Verstehen und ohne die üblichen Zuordnungen. Wir fühlen uns dabei vielleicht wie ein kleines Kind, das sich zutiefst sicher und geborgen fühlt, wenn es die Stimmen und Geräusche der Eltern im Hintergrund als Gemurmel hört. Der Inhalt der Worte hat keinerlei Bedeutung dabei. Oder wir spüren die Gesamtheit unserer augenblicklichen Körperempfindungen, ohne genauer zu differenzieren, welche Empfindung wohin gehört.

Das Prinzip ist immer das Gleiche. Wir sind auf eine unscharfe, unfokussierte Weise aufmerksam und erfassen die Ganzheit der augenblicklichen Wahrnehmungen. Je tiefer wir in die Wahrnehmung der Totalität des augenblicklichen Erlebens eintauchen und je vollständiger unsere Aufmerksamkeit dabei ist, desto mehr verschwinden alle Differenzierungen und damit auch alle Trennungen, die unser Verstand in der Alltagswahrnehmung erzeugt. Es bleibt ein einheitliches dichtes Feld von SEIN, das alle Wahrnehmungen einschließt. Präsenz wird hier in einer umfassenden Dimension erfahren.

Experimentiere:

Gehe in der Natur spazieren und schaue dabei mit einem „weichen Blick“.

Nimm dir Augenblicke, in denen du auf die Gesamtheit deiner Wahrnehmung achtest und lausche auf das SEIN darin.

1.2 Präsenz und Bedürfnisse

Aufmerksamsein ist der Schlüssel zum SEIN. Würden wir die Bedeutung des Aufmerksamseins in unserer Gesellschaft erfassen, würden wir uns viel mehr damit beschäftigen und vielleicht schon unseren Kindern in der Schule beibringen, dass der Schlüssel zum Glück nicht im Tun, im Erfolg, im Darstellen, im Wissen oder Haben zu finden ist, sondern im schlichten Aufmerksamsein.

Unsere ganze Kultur lenkt unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge: auf Leistung und das Erreichen von Zielen, auf oberflächliche Bedürfnisbefriedigung und auf Prestige, das sich in Aussehen und Statussymbolen zeigt. Doch das meiste Glück, das von unseren Medien erfolgreich beworben wird, ist sekundär und bedingt. Die gesellschaftliche Vorstellung von Glück führt zu einer tiefen Unzufriedenheit mit dem augenblicklichen Leben und stachelt uns dazu an, uns wieder und wieder anzustrengen, um äußere Ziele und materiellen Reichtum zu erreichen.

Natürlich leben wir auch in einer äußeren Welt und haben als Mensch körperliche, seelische und auch soziale Bedürfnisse. Wir tun gut daran, diese ernst zu nehmen und wenn möglich uns darum zu kümmern, wie eine gute Mutter sich um die wahren Bedürfnisse des Kindes kümmert.

Sich aushalten lernen

Doch welches sind unsere wahren Bedürfnisse? Mutter sein ist eine große Kunst. Wenn wir uns wirklich als Eltern um die Bedürfnisse unserer Kinder kümmern wollen, schließt das auch ein, dass wir auf das Kind schauen und unterscheiden lernen zwischen natürlichen Bedürfnissen, deren Erfüllung das Kind zufrieden macht, und Ersatzbefriedigungen, deren Erfüllung das Kind letztlich noch unzufriedener werden lässt. Wenn ein Kind momentan nicht in sich ruht und unzufrieden ist und sich dabei auf eine materielle Ersatzbefriedigung wie den Kauf eines Spielzeuges fixiert, braucht es unsere Klarheit und unsere Begrenzung als Eltern. Erst dann kann es nach einem Augenblick des schmerzhaften Loslassens wieder zu seiner inneren Ruhe finden und seine wahren Bedürfnisse entdecken.

Genauso ist es bei uns Erwachsenen. Viele Menschen fühlen in sich eine große Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit, die sie mit Ersatzbefriedigungen, mit Streben nach Erfolg, Reichtum, Schönheit oder Konsum, zu übertünchen versuchen. Auch hier braucht es unsere Unterscheidungsgabe und unsere Klarheit, uns selbst zu begrenzen und unsere Unzufriedenheiten auszuhalten und ganz zuzulassen. Wie können wir unsere natürlichen Bedürfnisse entdecken, wenn wir unseren Mangel sofort mit Ersatzbefriedigungen zustopfen? Wie können wir uns innerlich finden, wenn wir unsere Ruhelosigkeit und unsere Unzufriedenheit nicht zulassen?

Die Gründe für Unzufriedenheit und ruheloses Suchen nach Ersatzbefriedigungen sind nicht unsere unerfüllten Bedürfnisse, sondern mangelnder Kontakt und mangelnder Friede in uns – letztlich ein Mangel an SEIN. Dieses grundsätzliche Missverständnis kann unser Erleben und unser Verhalten bestimmen. Wir fühlen uns einsam und setzen vielleicht alles daran, diesen Zustand nicht fühlen zu müssen: Wir gehen einkaufen oder bekommen „Hunger“ oder versuchen verzweifelt eine Freundin am Telefon zu erreichen. Doch was uns unruhig macht, ist nicht die Einsamkeit, sondern unser Widerstand gegen diese Einsamkeit. Wenn wir dagegen das einsame Gefühl vollständig in uns zulassen können, dann entsteht Ruhe und ein tiefer Kontakt nach innen. Es entsteht mehr SEIN. Wir sind dann mit der Einsamkeit. Die Folge ist, dass sich ein innerer Frieden ausbreitet und wir ein inneres Angebundensein spüren.

Reflektiere:

Welche natürlichen Bedürfnisse gibt es in deinem Leben?

Wie kümmerst du dich darum?

Welche typischen Ersatzbefriedigungen kennst du von dir?

Wie fühlst du dich, nachdem du ihnen nachgegeben hast?

Damit ein innerer Kontakt entstehen kann, müssen wir lernen, uns auszuhalten, wie eine starke Mutter ihr unzufriedenes, unglückliches Kind. Wir „halten“ uns in unserer Unzufriedenheit und erlauben uns dadurch, sie ganz zu fühlen und ganz damit zu sein. Das ist oft nicht einfach und erfordert eine große Bereitschaft, unangenehmen Zuständen nicht auszuweichen. Haben wir die Kraft und Offenheit, mit dem Unangenehmen zu sein? Mit der Unzufriedenheit? Mit der Hilflosigkeit? Mit dem Schmerz und dem Widerstand dagegen?

Oft wehren wir uns wie ein kleines Kind, wenn die Mutter sagt, dass es das Spielzeug jetzt nicht gibt. Widerstand ist eine natürliche Phase im Prozess des Loslassens. Das müssen wir wissen, sowohl als Eltern, wenn wir unser Kind begrenzen, als auch wenn wir uns selbst „halten“. Widerstand, der sich durch Festhalten, Diskussionen oder Wut ausdrückt, wird mehr oder weniger immer auftreten, wenn wir ein Kind oder uns selbst begrenzen, da dieser schon vorher da war. Er ist ja der Grund dafür, warum wir nach einer Ersatzbefriedigung suchen. Wird uns diese genommen, fühlen wir den eigentlichen Motor für unser Verlangen, den Widerstand.

Mit dem Widerstand zu sein ist eine hohe Kunst. Wer Kinder hat, weiß das. Der Widerstand ist manchmal massiv und wird sich zeitweise gegen uns Eltern wenden. Wenn wir versuchen, den Widerstand zu brechen, wird das Drama noch größer, da wir dem Kind dann die Botschaft vermitteln, dass der Widerstand nicht in Ordnung ist. Aber der Widerstand ist ein natürlicher Prozess und zutiefst richtig, und alles, was es in diesem Moment braucht, ist, dass wir dem Widerstand Raum geben und das Kind darin „halten“. Dann wird es zunächst den Widerstand ganz fühlen und dann den eigentlichen Schmerz, der im Widerstand abgewehrt wird.

Wenn wir den Widerstand als natürliche Phase des Loslassens begreifen, wird es uns leichter fallen, unsere Kinder und uns selbst mit unseren Widerständen „halten“ zu können. Wir werden dann nicht „vernünftig“ auf uns einreden, dass wir jetzt annehmen sollen, sondern werden uns erlauben, die Phase des Widerstandes ganz zu fühlen. Das wird uns von selbst ruhiger machen und uns mit dem darunterliegenden Schmerz oder Mangel in Kontakt bringen.

Reflektiere:

Wie bist du als Kind von deinen Eltern „gehalten“ worden?

Wie kannst du dich selbst „halten“ in Momenten der Unzufriedenheit?

Experimentiere:

Achte auf typische Momente von Unruhe und Unzufriedenheit.

Gib den Gefühlen dabei ganz Raum und bleib dabei. Umfasse sie mit deiner Präsenz.

Unser Urbedürfnis

Betrachten wir diesen Prozess, „uns zu halten“, genauer, werden wir erkennen, dass die transformatorische Kraft das SEIN – die Präsenz – ist. Wir sind zunächst präsent mit der Unzufriedenheit und agieren sie nicht aus. Dann sind wir präsent mit dem Widerstand und schließlich mit dem darunterliegenden Mangel oder Schmerz. In jeder Phase braucht es lediglich unsere Präsenz, kein Tun, keine Vorschläge und keine Veränderungsversuche, damit sich der Prozess in seiner natürlichen Weise entfalten kann.

Schließlich wird der eigentliche Mangel an SEIN für uns sicht- und fühlbar. Und auch hier braucht es nur unsere Präsenz, unsere Fähigkeit, mit dem Mangel ganz zu sein, damit sich mit der Zeit mehr SEIN und damit mehr innere Verbindung einstellt. Der Mangel füllt sich von innen her auf, durchs SEIN, und wir sind wieder friedlich. Kinder zum Beispiel, die auf diese Weise „gehalten“ werden, finden oft bereits nach kurzer Zeit des Dramas wieder zu sich und spielen friedlich. Sie ruhen in sich und folgen ihren natürlichen Bedürfnissen.

So ist es auch mit uns Erwachsenen. Ruhen wir im SEIN, werden wir unsere natürlichen Bedürfnisse erkennen und ihnen Raum geben. Wir sorgen für uns und leben unser Leben von einem „Ort“ der Ruhe und des Erfülltseins aus. Dadurch entfaltet sich eine völlig andere Wirkung auf uns und unser Leben, als wenn wir von Unzufriedenheit und Unruhe getrieben sind. Im einen Fall jagen wir der Erfüllung unserer Bedürfnisse nach und finden selbst dann keine wirkliche Ruhe, wenn sie erfüllt werden. Im anderen Fall sind wir bereits erfüllt von SEIN und unsere Bedürfnisse werden unser Leben zusätzlich bereichern. Wenn sie einmal nicht erfüllt werden, können wir uns sehr leicht dem augenblicklichen Lebensfluss hingeben, da etwas anderes in uns trägt – das SEIN.

Was erfüllt, ist das SEIN. SEIN trägt und nährt uns auf geheimnisvolle Weise. Oft sind wir uns dessen nicht bewusst und glauben, dass die Erfüllung eines Wunsches uns nährt. Aber wenn wir es genauer betrachten, werden wir sehen, dass in einem Moment der Erfüllung eines natürlichen Bedürfnisses ein Loslassen stattfindet, eine Entspannung und damit ein Einsinken – ein mehr SEIN können. Auch hier erfüllt das SEIN, nicht das Stillen eines Bedürfnisses. Wie wäre es sonst erklärbar, dass es viele arme Kulturen auf dieser Erde gibt, deren Menschen oft größere Zufriedenheit ausstrahlen als die Menschen in den reichen westlichen Industrienationen?

Sind wir im SEIN gegründet, werden Bedürfnisse auftreten und Handlungen geschehen wie die Bewegung der Blätter im Wind, aber das, was trägt, ist viel grundlegender und umfassender. Wie bei einem Baum, dessen Saft aus den Wurzeln aufsteigt, um jedes Blatt zu nähren, werden auch wir genährt aus dem SEIN und nicht aus dem Tun oder der Erfüllung unserer Bedürfnisse. Das können wir auch daran sehen, wie wichtig für uns Menschen der Schlaf ist. Er nährt uns auf eine geheimnisvolle Weise. Haben wir gut geschlafen, sind wir entspannt, zufrieden und voller Energie. Schlafen ist unsere natürlichste Meditation als Mensch. Schlafen verbindet uns mit SEIN und lässt uns auftanken.

Insofern ist das grundlegendste aller Bedürfnisse – unser Urbedürfnis – das Bedürfnis nach SEIN, und jeder Moment von Präsenz, in dem wir uns des SEINS bewusst sind, verbindet uns mit unseren Wurzeln und nährt uns. Gelingt es uns, das SEIN in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen, werden wir unabhängig von den äußeren Lebensumständen ein erfülltes und friedliches Leben führen.

Reflektiere:

Erinnere dich an intensive Momente von SEIN?

Was erfüllt dich in einem solchen Moment?

Wie erlebst du in diesen Momenten deine Bedürfnisse?

1.3 Präsenz im Alltag

Je tiefer wir begreifen, wie wesentlich das SEIN für unsere Erfüllung und unseren inneren Frieden ist, desto mehr werden wir unsere Sehnsucht und unsere Aufmerksamkeit auf das SEIN ausrichten. Das gilt nicht nur für die Meditation, sondern ebenso für unseren Alltag, fürs Gemüseschälen, fürs Arbeiten, für das Gespräch mit einem Freund. Das bedeutet nicht, dass wir ständig in stiller Versenkung sind, was im Alltag gar nicht möglich und nicht angemessen wäre, sondern dass wir zuerst darauf achten, zu SEIN, bevor wir handeln oder sprechen. Unser Ausgangs- und Ankerpunkt ist die Präsenz – das bewusste SEIN.

Erst mal sein

Stellen wir uns vor, wir besuchen einen Freund und freuen uns darauf. Wir kommen in seiner Wohnung an und sofort reden wir aufgeregt aufeinander ein und teilen uns unsere Erlebnisse mit. Doch sind wir schon seelisch an diesem neuen Platz angekommen? Nehmen wir uns die Zeit, auch in der vertrauten Beziehung wieder neu anzukommen? Sind wir schon wirklich da? Wie anders würden doch der Kontakt und das Gespräch verlaufen, wenn wir uns die Zeit ließen, erst anzukommen.

Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass unser Leben immer aus Übergängen besteht. Nicht das Gleichbleibende ist das Natürliche, sondern der ewige Wandel der Situationen, auch wenn wir manchmal denken und hoffen, dass es andersherum ist. So wie die Jahreszeiten kommen und gehen, besteht auch unser Leben aus ständigen Übergängen. Nicht nur große Lebensabschnittsübergänge wie der Übertritt ins Berufsleben, Mutter oder Vater zu werden oder der Verlust einer Beziehung fordern von uns eine seelische Verdauungs- und Reifungsphase. Auch die vielen kleinen Übergänge des Tages, vom Frühstück in die Arbeitssituation und wieder zurück, vom Alleinsein zum In-Beziehung-Sein und zurück, erfordern ein ständiges seelisches Ankommen und sich neu Einstellen.

Reflektiere:

Betrachte einen einzigen Tagesablauf. Wie viele kleine und große Übergänge finden darin statt?

Wie viel Zeit zum Ankommen nimmst du dir bei den Übergängen?

Ankommen bedeutet, als Erstes zu spüren, wie wir uns gerade seelisch in einer neuen Situation fühlen und dieses innere Erleben bewusst zuzulassen. Wenn wir uns erlauben zu fühlen, dass wir zum Beispiel noch nicht da sind oder uns fremd fühlen, und diese Empfindungen ganz zulassen, werden wir mehr und mehr ankommen. Wir können dann mit dem, wie es ist, sein und darin ankommen. In dem Moment, in dem es uns möglich ist, wirklich da zu sein, können wir auch die Aufmerksamkeit auf das SEIN selbst richten und Präsenz erfahren.

Ist Präsenz erlebbar, sind wir da. Wir sind innerlich im Kontakt und ruhig. Ein inneres Erfülltsein breitet sich aus. Von diesem „Ort“ aus gestaltet sich die Beziehung zu einem Freund anders, entspannter und offener. Von hier aus haben wir die Freiheit, jenseits von Gewohnheiten und Vorstellungen zu schauen, welche Art von Kontakt zwischen uns und unserem Freund tatsächlich gerade wirkt und können dem augenblicklichen Beziehungspotenzial Ausdruck verleihen.

Das gilt für alle Beziehungen und alle Situationen. Können wir zuerst SEIN, entfaltet sich die jeweilige Situation natürlich. Eine besondere Art von Freiheit macht sich bemerkbar. Die Freiheit, dass sich die Situation oder die Beziehung auf ihre augenblickliche, natürliche Weise entfalten kann. SEIN ist unbedingt und frei von Vorstellungen und Vorlieben. Frei von Vergangenheit und Zukunft. Frei von allem. Kein Wunder, dass wir aus der Präsenz heraus uns anders beziehen können als aus unserem alltäglichen Verstand, der unbewusst durch Gewohnheiten, Vorstellungen und Vorlieben bestimmt ist.

Wenn ich Menschen einzeln begleite oder wenn ich Gruppen leite, nehme ich mir zuerst immer einen Moment des SEINS. Präsenz ist die Basis meiner Arbeit mit Menschen und macht sie leicht und wirkungsvoll. Als ich anfing als Therapeut zu arbeiten, hatte ich noch viele Vorstellungen darüber, wie eine Gruppe ablaufen muss, damit Heilung geschieht. In dieser Zeit war mein Beruf manchmal für mich und die Gruppenteilnehmerinnen und -teilnehmer anstrengend. Doch heute sehe ich deutlich, dass der Grund für die Anstrengung meine therapeutische Vorstellung war, nichts weiter. Seit ich mich am SEIN orientiere und damit mich und alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sein lasse, ist meine Arbeit anstrengungslos und intensiv gleichzeitig.

Experimentiere:

Nimm dir bewusst Zeit, bei Übergängen in eine neue Situation erst seelisch anzukommen.

Verweile, bis du SEIN kannst und die Präsenz spürst und handle erst dann.

Reflektiere anschließend, wie sich daraus die neue Situation oder der Kontakt entwickelt hat.

Etwas sein lassen