Zwischen Zeit und Ewigkeit - Richard Stiegler - E-Book

Zwischen Zeit und Ewigkeit E-Book

Richard Stiegler

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  • Herausgeber: Arbor
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Wie können wir uns im Dschungel der vielschichtigen inneren und äußeren Erfahrungen als Mensch zurechtfinden? Einerseits müssen wir im Alltag in unterschiedlichen Rollen bestehen, andererseits sind wir innerlich mit einer sich ständig verändernden Gefühlswelt konfrontiert, die oft so gar nicht zu unserer äußeren Identität passen will. Schließlich gibt es noch tiefe kontemplative Augenblicke von innerer Freiheit, in denen sich die persönliche Identität vollkommen aufzulösen scheint. Wer sind wir also? Diese Vielschichtigkeit lässt sich erst begreifen, wenn wir ­anerkennen, dass sich das menschliche Leben nicht nur in einer Welt abspielt, sondern auf drei parallelen Bewusstseinsebenen: in der ­Alltagsrealität mit ihren äußeren Notwendigkeiten, der inneren Welt einer Seelischen Realität und der allem zugrunde liegenden Absoluten ­Realität des SEINs. In diesem Buch unternimmt Richard Stiegler eine Entdeckungsreise in die Welt unseres Bewusstseins. Präzise und anschaulich beschreibt er die Gesetzmäßigkeiten der drei Realitätsebenen und zeigt, wie sie wirken. Eine solch differenzierte Landkarte hilft dabei, Missverständnisse zu vermeiden, und inspiriert gleichzeitig dazu, die Weiten und Potenziale dieser inneren Welten zu erkunden und mit dem eigenen Leben in Einklang zu bringen.

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Richard Stiegler

Zwischen Zeit und Ewigkeit

Eine Entdeckungsreise durch die drei Ebenen des menschlichen Bewusstseins

© 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2021

Lektorat: Thomas Böhmer

Titelfoto: ©pixel2013/S. Hermann & F. Richter

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-370-9

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind von der Autorin sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall eine Ärztin, Psychotherapeutin, Psychologin oder Heilpraktikerin Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Im Bemühen um einen Beitrag zu achtsamer Gendergerechtigkeit wechseln generisches Maskulinum und generisches Femininum im folgenden Text ab, stets beginnend mit dem Femininum. Ist dies sprachlich nicht möglich oder inhaltlich nicht präzise, werden auch bloßes Femininum, Alternativauszeichnungen oder ein Binnen-I verwendet. Ist nicht inhaltlich explizit auf eine Geschlechtsidentität hingewiesen, stehen beide Formen stets für Personen beliebiger, im jeweiligen Kontext irrelevanter Geschlechtsidentität.

Die Seele ist geschaffen an einem Ortzwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit,in die beide sie hineinragt.Mit ihren höchsten Kräftenrührt sie an die Ewigkeit,aber mit ihren untersten Kräftenberührt sie die Zeitlichkeit.

Meister Eckhart

Inhalt

Einleitung

Fragen über Fragen

Eine Entdeckungsreise

Kapitel 1

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Bewusstseinszustände und ihre Wirkung

Viele Rollen und die Frage nach der Identität

Wie die Dinge lebendig werden

Mit den Augen einer Libelle schauen

Nur eine Welt?

Die Schlüsselrolle des Bewusstseins

Kapitel 2

Die äußere Wirklichkeit – die Alltagsrealität

Eine Welt der Abstraktion

Wie wir eine äußere Wirklichkeit erschaffen

Die Fähigkeit der Zusammenarbeit

Wie die Alltagsrealität uns begrenzt

Ein kurzer Ausflug ins Gehirn

Ich und die Ich-Identität

Wo kommen unsere Ängste her?

Kapitel 3

Im Reich der Seele – die Seelische Realität

Der Fluss in uns

Eine innere Perspektive

Subjektivität und die Falle der Generalisierung

Erfüllung und das Verstehen

Das Wesen des Mangels

Was wir suchen, ist in uns

Die Tiefendimension der Seele

Motivation und Gestaltkraft

Eine fließende Identität

Ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Das Mysterium des Lebens

Kapitel 4

Am Grund aller Dinge – die Absolute Realität

Das Unermessliche

Phasen der Offenbarung

Die Ohnmacht im gegenwärtigen Moment

Wer wir sind

Nach innen fallen

Das Gewahrsein – eine eigene Welt

Losgelöst und frei

Unberührt und zeitlos

Einverstanden und heil

Empfangend und schöpferisch

Verbunden und allesdurchdringend

Demütig und dankbar

Kapitel 5

Vom Entstehen der Bewusstseinswelten

Die Verzahnung von individueller und kollektiver Entwicklung

Leben in der Einheit

Die Vertreibung aus dem Paradies

Wie die Welt entsteht

Sich in der Welt zurechtfinden

Wie wir zwei Welten erschaffen

Vom Funktionalen Ich zur Ich-Identität

Das Ich – ein Chamäleon

Innere Stabilität und Ich-Struktur

Primärerfahrungen der seelischen Entwicklung

Das erste und wichtigste Sinnesorgan

Das Hören als Tor zur Seele

Bewegung und Selbstausdruck

Natur als Seelenraum

Magische Phase und emotionale Kompetenz

Zusammenfassung und wie es weitergeht

Kapitel 6

Das Zusammenspiel der Ebenen

Das individuelle Bewusstsein

Eine dialogische Grundhaltung einnehmen

Wie wir uns auf Realitätsebenen fixieren

Das Anerkennen der Ebenen

Die Realitätsebenen im Tagesablauf

Projekte gestalten

Die Bedeutung des Absoluten für Projekte

Wenn wir krank werden

Der Ort, an dem wir heil sind

Es gibt nur ein Bewusstsein

Wie sich die Realitätsebenen durchwirken

Kapitel 7

Missverständnisse und Verwechslungen

Die Bedeutung von Gesetzmäßigkeiten

Das falsche Werkzeug benutzen

Kann der Glaube Berge versetzen?

Über das Missverständnis der Magie

Vom Wesen des Wunders

Sich in der Innenwelt verlieren

Ängste bei veränderten Bewusstseinszuständen

Gibt es Engel?

Als Jesus übers Wasser ging

Warum Gespräche manchmal so unbefriedigend sind

Zwischen Relativität und Fundamentalismus

Der Verlust der Bodenhaftung

Kapitel 8

Ein neuer Blick aufs Leben

Wachstum und Bildung

Sicherheit und Vertrauen

Wert und Vollkommenheit

Wissen und Weisheit

Freiheit

Verbundenheit und Liebe

Wer sind wir?

Zwischen Zeit und Ewigkeit

Anhang

Zitatquellen

Dank

Begriffsklärungen

Ergänzende und weiterführende Literatur

Zum Autor

Einleitung

Können wir Menschen wie Vögel fliegen? Ganz klar, natürlich nicht. Und doch kann ich mich an Träume erinnern, in denen ich mich auf wundersame Weise vom Boden lösen konnte und durch den Raum schwebte. Eine beglückende Erfahrung. Ist eine innere Erfahrung weniger wirklich als eine äußere?

Konnte Jesus übers Wasser laufen? So steht es doch in der Bibel geschrieben. Ist hier wirklich die physische Realität gemeint, oder ist die Geschichte eine Metapher für eine seelische Dimension? Oder beides?

Wenn in den heiligen Schriften steht, dass der Glaube Berge versetzen kann, heißt das, dass wir nur fest genug glauben müssen, um sogar große Berge verrücken zu können? Oder anders gefragt: Können wir aufgrund von Gedanken und Wünschen unser äußeres Leben oder das von anderen Menschen beeinflussen, ja vielleicht sogar erwünschte Situationen hervorrufen und kontrollieren? Können wir, wie es manche Menschen praktizieren, einen Parkplatz qua Gedankenkraft bestellen oder einen anderen Menschen heilen, wenn wir nur fest genug daran glauben? Mit anderen Worten: Haben wir magische Kräfte?

Sollen wir nicht auf der anderen Seite uns anvertrauen und hingeben? Heißt es nicht im Vaterunser: »Dein Wille geschehe«? Wenn sein Wille geschieht, wie kann es dann sein, dass ich versuche, ihm meinen Willen abzutrotzen? Wie weiß ich denn überhaupt, was sein Wille ist?

Gibt es Engel und geistige Wesen? Manche behaupten, dass sie Kontakt zu diesen Wesen hätten. Dass sie sie sehen und hören könnten. Sind diese Menschen schizophren, oder ist der Normalsterbliche, der nicht mit Engeln verkehrt, geistig blind?

Wenn ein Erwachter wie Sri Nisargadatta Maharaj, angesprochen auf das Leiden in der Welt, antwortet: »Nichts geschieht«, ist er dann erwacht oder herzlos und abgestumpft? Wenn Menschen in der Meditation in Räume eintauchen, in denen sie mit leuchtenden Augen schildern, dass alles zutiefst in Ordnung sei, spalten sie dann etwas ab, oder sind sie verrückt geworden? Gibt es für diese Menschen kein Leiden mehr? Würden sie das auch noch sagen, wenn sie in der Zeitung über die Kriege und Hungersnöte dieser Welt lesen?

Ist eine Person, die über viele Jahre an einem Trauma, also an einer seelischen Verwundung, leidet und dann plötzlich die Erfahrung macht, dass sie zuinnerst heil ist und sie hier niemals verletzt wurde und niemals verletzt werden kann, in Zukunft immun gegen Verletzungen? Und wenn sie doch wieder psychisch oder physisch verletzt wird und Schmerz empfindet, war dann die Erfahrung des Heilseins eine schöne Illusion?

Wie ist das zu bewerten, wenn Menschen in ein Meditationsretreat gehen und dann nach Tagen der Stille eine universale Liebe zu allen Wesen fühlen, lieben sie dann jeden Menschen gleich? Könnten sie jede Person heiraten? Oder können sie dann nicht mehr heiraten, da sie eine Person nicht mehr ausschließlich lieben können und daher eine Bindung zu einer Person nicht mehr möglich ist?

Wie ist das überhaupt mit den Bedürfnissen? Wir alle haben doch individuelle Bedürfnisse und brauchen Nahrung, Wärme, seelische Zuwendung und vieles mehr? Wenn, wie Buddha sagt, wir das Leiden überwinden können und in Räume der absoluten Freiheit und ­Verbundenheit ­eintauchen können, in denen es offenbar kein Leiden mehr gibt, oder vielleicht sogar nur noch Glückseligkeit, so wie manche Erwachte es ausdrücken, haben wir dann keine Bedürfnisse mehr oder sind sie dann alle erfüllt? Leben wir dann in einem inneren Schlaraffenland?

Ist nicht laut dem Buddhismus das Höchste, was ein Mensch verwirklichen kann, die nonduale Dimension des Gewahrseins? Wenn diese Art von spiritueller Verwirklichung die eigentliche Krönung des menschlichen Lebens darstellt, was bedeutet das dann für unsere Kinder? Sollen wir ihnen sagen: »Vergesst die Schule und das Lernen, gründet keine Familien, mischt euch nicht in die Politik ein und engagiert euch nicht in der Gesellschaft?«

Sagt nicht Buddha, dass es ein getrenntes, individuelles Selbst nicht gibt? Dass der Ich-Gedanke die Grundillusion des Menschen ist, die allem Leiden zugrunde liegt? Wenn unsere wahre Identität grenzenlose Verbundenheit ist, oder anders gesagt, wenn ich alles bin, was sage ich dann im Alltag, wenn ich nach meiner Identität gefragt werde? Soll ich weiterhin mit meinem individuellen Namen unterschreiben? Bin ich dann überhaupt noch persönlich verantwortlich, wenn es kein individuelles Selbst gibt? Auch dann nicht, wenn mir ein Fehler unterlaufen ist oder ich jemanden verletzt habe? Sagt nicht C.G. Jung andererseits, dass es um die Individuation – die Selbstverwirklichung – des Einzelnen geht? Gibt es also doch eine Individualität?

Fragen über Fragen

Wer sich diesen Fragen ernsthaft stellt und Erfahrungsdimensionen, die widersprüchlich sind, als menschliche Lebenswelten zulässt, wird wahrscheinlich zunächst in Verwirrung geraten. Betrachten wir nur einmal die letzte Frage: Wie kann es sein, dass wir uns einerseits so deutlich im Alltag als Individuum wahrnehmen und dieses sogar uneingeschränkt als das Zentrum unserer Welt behandeln? Ist es nicht sogar so, dass wir es verteidigen, falls es bedroht ist? Und was bedeutet es dann, dass wir andererseits in tiefer Meditation erfahren können, dass es kein Ich gibt? Ist das nicht zutiefst widersprüchlich?

Mein eigener Weg führte mich zunächst als noch junger Erwachsener in Selbsterfahrungsgruppen, in denen es viel um Gefühle und Bedürfnisse ging. Wahrhaftige Begegnung mit anderen schien mir damals ein Lebenselixier zu sein, das auf mich zutiefst sinnstiftend wirkte. Obwohl ich bereits zu diesem Zeitpunkt meditierte, war mir die Dimension des Gewahrseins mit seiner unbedingten Präsenz, seiner Freiheit und Verbundenheit noch nicht zugänglich. Entsprechend suchte ich die Erfüllung in tiefen Gefühlen und intensiven Begegnungen.

Doch dann vertiefte sich mein spiritueller Weg, und die Meditation führte mich in die Stille des Bewusstseins, in dem alle Gefühle und Bedürfnisse verstummten. In manchen Momenten verschwanden das Ich und die äußere Welt vollständig. Es blieb nur noch SEIN. Gefühle, Bedürfnisse und auch Begegnungen, die zuvor für mich so wichtig gewesen waren, waren zwar weiterhin da, verloren aber in der Folge dieser Erfahrungen für eine ganze Zeit an Bedeutung (obwohl ich weiterhin als Psychotherapeut arbeitete). Die Erfüllung suchte ich im Lauschen auf das SEIN.

Doch nach ein paar Jahren musste ich in einer Krise mit meiner damaligen Frau feststellen, dass die Gefühle und seelischen Welten und die Beziehungen sehr wohl eine Bedeutung hatten und mich wieder einholten. Dies war für mich eine andere Art des Erwachens. Das Erwachen aus der Leugnung von seelischen Kräften, denen ich mehrere Jahre keine große Bedeutung mehr gab und entsprechend kaum mehr Beachtung schenkte. Jetzt, in der Beziehungskrise, kamen die Gefühle mit Macht in mein Leben zurück und es war nicht zu leugnen, dass es in mir seelische Kräfte gab, die ich vernachlässigt hatte und die jetzt ihr Recht forderten und mein Leben bestimmten. Es kam zu einer Trennung von meiner damaligen Frau.

Mit der äußeren Krise ging auch ein innerer Umbruch einher. Jahrelang erschien mir das Heilbringendste und Erfüllendste das Lauschen auf das SEIN. Hier eröffnete sich mir eine Dimension, die frei von inneren und äußeren Bedingtheiten war. Hier erfuhr ich mich als zutiefst heil und konnte einen zeitlosen Frieden schmecken. Jetzt stand dies alles infrage. Wie konnte es sein, dass ich mich so getäuscht hatte und unbeachtet meines inneren Friedens starke seelische Schattenanteile in mir schlummerten, die bei nächster Gelegenheit dämonengleich ausbrachen und über mich herfielen? War der innere Friede, den ich jahrelang erfuhr, eine Illusion? War vielleicht sogar mein Meditationsweg ein einziger Irrweg? Eine Flucht vor dem Leben und den Gefühlen?

Aber nein. Das konnte auch nicht stimmen. Denn in der Lebenskrise, in all den aufwühlenden Gefühlen und mitten in der schwierigen äußeren Situation, hatte ich weiterhin einen Zugang zur Stille. Es gab weiterhin Momente von großer Freiheit und tiefem Frieden. Momente, in denen alles zutiefst in Ordnung war, obwohl mein Leben äußerlich wie innerlich offensichtlich in tiefster Unordnung war.

Mit der Zeit erkannte ich zunehmend, dass sich der Widerspruch zwischen meiner aufgewühlten Gefühlswelt und der Dimension des Friedens dadurch ergab, dass es sich um zwei verschiedene Lebenswelten handelte, die nebeneinander in meinem Menschsein existierten. Wenn ich den Gefühlen und der äußeren schwierigen Situation meine Aufmerksamkeit schenkte, hatte ich mit starken Emotionen und offensichtlichen Problemen zu tun. Wenn ich aber den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf die Stille lenkte und in den offenen Raum des Gewahrseins eintauchte, war alles friedlich und weiterhin in bester Ordnung.

Wie ein Schwimmer sich entscheiden kann, an der Oberfläche des Ozeans zu bleiben und dabei vielleicht mit starkem Wellengang zu kämpfen hat, oder aber hinabzutauchen, um dort in der Tiefe vollkommene Ruhe zu erfahren, so können wir kraft unserer Aufmerksamkeit die Ebene wechseln. Das bedeutet nicht, dass die andere Ebene nicht existiert, aber sie hat in dem Moment keine Wirkkraft auf uns. Beide Ebenen, die Oberfläche mit ihren Wellen und die Tiefendimension des Meeres, existieren parallel. Über kurz oder lang wird die Ebene aber, der wir gerade keine Aufmerksamkeit schenken und die wir damit ausblenden, uns wieder rufen und unweigerlich unsere Aufmerksamkeit fordern.

Diese Dynamik, die mir mit meiner Gefühlswelt widerfahren war, konnte ich auf eine andere Art bei manchen Meditierenden beobachten, die ausschließlich die Zurückgezogenheit der Meditation suchten und dabei der alltäglichen Welt mit ihren Verantwortlichkeiten immer weniger Bedeutung beimaßen. Am liebsten hätten sie die äußere Welt ganz abgestreift. Doch auch sie wurden über kurz oder lang von dieser wieder eingeholt und mussten sich ums Geldverdienen oder um andere äußere Belange kümmern. So wie ich von meiner Gefühlswelt gerufen wurde, wurden sie von der Alltagswelt mit ihren Notwendigkeiten gerufen und wachgerüttelt.

Was ist nun aber mit den Menschen, die keinen unmittelbaren Zugang zur Dimension der Stille haben? Oder den Menschen, die so stark in den Pflichten und Oberflächlichkeiten der Alltagswelt und im Funktionieren aufgehen, dass sie sogar ihre Gefühle als unvernünftige Störenfriede ansehen und im Grunde nichts damit zu tun haben wollen? Werden diese Menschen auch von den anderen Ebenen unseres Menschseins gerufen?

Wenn man sieht, wie häufig auch äußerlich höchst erfolgreiche Menschen, bei denen oberflächlich alles glatt läuft, in ihrem Leben irgendwann von einer Sinnkrise oder einem Burn-out heimgesucht werden, dann muss man diese Frage mit Ja beantworten. Immer wenn wir einer Realitätsebene (oder sogar mehreren) keine Aufmerksamkeit schenken oder sie übergehen, wird diese über kurz oder lang sich melden und mit Macht unsere Aufmerksamkeit einfordern.

Eine Entdeckungsreise

Diese Erfahrungen führten mich mit der Zeit zu der Erkenntnis, die Existenz von drei parallelen Lebenswelten anzuerkennen, die menschliches Leben ausmachen: die Alltagsrealität mit ihren äußeren Notwendigkeiten, die Seelische Realität der Gefühle und die Absolute Realität des Gewahrseins. Wenn man diese verschiedenen Aspekte des Menschseins erkennt und ihre Bedeutung für unser Leben anerkennt, ergibt sich daraus eine zwingende Aufgabe: Menschsein verlangt, dass wir alle drei Wirklichkeiten in den Blick nehmen und uns diese Welten erschließen.

Sich mit den Realitätsebenen des Menschseins zu befassen, ist dabei mehr als eine Notwendigkeit. Es ist ein großes Abenteuer – eine Entdeckungsreise –, bei der uns zunehmend bewusst wird, was unser menschliches Leben ausmacht, welche Kräfte hier wirken und welch beeindruckende Möglichkeiten unser Geist hat.

Wir werden feststellen, dass jede dieser drei grundlegenden Wirklichkeiten ganz eigene Potenziale beinhaltet, aber auch eigenen Gesetzmäßigkeiten und Begrenzungen unterliegt. Solange wir diese Welten mit ihren Besonderheiten nicht kennen und sie nur unbewusst nutzen, sind wir wie ein Wanderer in einem fremden Land, der die Sprache und Gebräuche nicht versteht. Wir leben zwar darin, können jedoch die Möglichkeiten in diesem Land nicht ausschöpfen und unterliegen zudem ständig Missverständnissen, die uns verwirren und verunsichern.

Wie tiefgreifend das Wissen um die drei Ebenen menschlichen Lebens sich auswirkt, merken wir erst, wenn wir uns längere Zeit mit ihnen befassen. Wir entdecken dann zunehmend, wie diese Welten immer anwesend sind und in jede Lebenssituation hineingreifen. So werden wir mit der Zeit erkennen, wie jede Frage, die uns bewegt, und jede Situation, die eine Antwort von uns fordert, aus den unterschiedlichen Realitäts­ebenen heraus vollkommen anders beantwortet werden würde. Wenn es aber mehrere Antworten gibt, dann kann es nicht darum gehen, nur eine Antwort zu leben und sie für die »einzig richtige« zu halten.

Genauso erhalten Begriffe, die auf den ersten Moment klar zu sein scheinen, wie »Gegenwart«, »Freiheit« oder »Liebe«, auf jeder Ebene eine neue Bedeutung, die vollkommen anders, ja sogar widersprüchlich sein kann. Missverständnisse lösen sich in Wohlgefallen auf, da wir erkennen, wie sich zum Beispiel in einem Gespräch zwischen zwei Menschen unbewusst die Ebenen kreuzen und es insofern zu keinem Verständnis füreinander kommen kann. Und alte spirituelle Texte, deren Bedeutung sich meist erst erschließt, wenn wir sehen, aus welcher Realitätsebene ­heraus sie geschrieben wurden, offenbaren sich auf eine neue Weise. Nicht zuletzt wird sichtbar werden, welche Schlüsselrolle das Bewusstsein in unserem Leben einnimmt.

Seit vielen Jahren begleitet mich nun das Interesse an der Relevanz der drei Realitätsebenen für unser Leben und es ergeben sich immer neue Facetten von Einsichten daraus. So hat sich zum Beispiel mein Verständnis eines spirituellen Weges, und daraus ergebend meine spirituelle Praxis, verwandelt. Zur Meditation des offenen Gewahrseins hat sich eine weitere zentrale Praxis etabliert: das Innere Erforschen, das sich mehr auf die Seelenrealität bezieht und heute fester Bestandteil all meiner Schweige­kurse ist. Beide Praxisformen habe ich in meinem zweiten Buch »Nach innen lauschen« beschrieben. Die Alltagsrealität hingegen, genauer die Relevanz einer spirituellen Grundhaltung für den Alltag, war das Thema meines dritten Buches »Im Einklang leben«.

Im vorliegenden Buch will ich nun endlich die Philosophie beleuchten, die seit vielen Jahren das Fundament meiner Arbeit und meines Lebens ist. Es ist mir ein echtes Anliegen, die drei Realitätsebenen in ihrem Facettenreichtum und in ihrer Relevanz für das menschliche Leben darzustellen, um ein differenziertes Verständnis dieser drei Ebenen zu ermöglichen. Letztlich geht es um nichts Geringeres als darum, in diesem Buch eine Landkarte des Bewusstseins zu erstellen.

Im ersten Kapitel werde ich zunächst die tradierte Sicht einer einheitlichen äußeren Welt, in der wir leben, infrage stellen und auseinandernehmen. Im Anschluss werde ich in Kapitel 2–4 die drei grundlegenden Realitätsebenen mit ihren Potenzialen und Grenzen beschreiben. Im Kapitel 5 will ich einen Geschmack davon vermitteln, wie diese Facetten unseres Menschseins in den ersten Jahren unseres Lebens entstehen und wie sie in dieser Zeit gefördert werden können. Danach in Kapitel 6 will ich darauf eingehen, wie die Ebenen sich wechselseitig beeinflussen und welche Haltung wir einnehmen müssen, damit sie auf eine konstruktive Weise für unser Leben wirkmächtig werden. In Kapitel 7 werde ich typische Missverständnisse und Schwierigkeiten erläutern, die sich ergeben, wenn wir die Ebenen nicht sauber auseinanderhalten. Und schließlich in Kapitel 8 werden noch einmal verschiedene zentrale Bereiche unseres menschlichen Lebens auf dem Hintergrund der drei Realitätsebenen betrachtet. Wir werden sehen, dass sie dabei in einem neuen Licht erscheinen.

Ich würde mir sehr wünschen, dass beim Lesen dieses Buches eine Lust geweckt wird, selbst die Weiten und Tiefen der inneren Welten zu erkunden und diese Dimensionen mit dem äußeren Leben in Einklang zu bringen. Und ich würde mir wünschen, dass das Wissen um die Realitätsebenen eine große Verbreitung findet. Mir scheint, dass dieses Wissen das Potenzial beinhaltet, viele Missverständnisse zu bereinigen und viele scheinbare innere und äußere Widersprüche aufzulösen. So kann dieses Buch eine Grundlage sein für einen integrativen und ganzheitlichen Bewusstheitsweg.

Richard Stiegler

Noch ein Hinweis

Zur besseren Lesbarkeit und um eine Sprache zu benutzen, die beiden Geschlechtern gerecht wird, wechsle ich meist zwischen der weiblichen und der männlichen Form ab. Sprache hat eine enorme Kraft, Bewusstheit zu fördern und uns für die Würde und Gleichwertigkeit aller Geschöpfe zu sensibilisieren.

Kapitel 1

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Wie kann es da draußen ein mechanisches Universum geben, wenn sich das Universum jedes Mal verändert, wenn wir unsere Betrachtungsweise ändern?

Fred Alan Wolf, Quantenphysiker

Seit vielen Jahren begleite ich Menschen in unterschiedlichsten Lebenssituationen. Manche von ihnen befinden sich in einer Lebenskrise, in der sie ein Strudel von heftigen Emotionen umtreibt. Oft stellen sie sich selbst und ihr bisheriges Leben infrage. Doch auch in diesen Phasen spüren sie die grundlegende Verunsicherung und die Gefühle, die damit einhergehen, meistens nicht rund um die Uhr. Wenn sie zur Arbeit gehen und in die gewohnten Tätigkeiten des Alltags eintauchen, sind sie plötzlich gelassen und kompetent. Wie weggeblasen sind alle Fragen und Unsicherheiten, die sie noch morgens vor der Arbeit bewegt haben. Doch abends, bei einem Gespräch mit einer guten Freundin, drängen die Fragen und die Gefühle wieder mit Macht an die Oberfläche. Ist das nicht erstaunlich, wie schnell selbst heftige Gefühle verschwinden und wieder auftauchen können?

Wie oft habe ich selbst bereits erfahren, dass sich im Laufe eines ganz gewöhnlichen Tages meine Befindlichkeit ändert? Wenn ich unter der Lupe der Achtsamkeit mein Leben betrachte, bin ich geradezu überrascht, wie oft und wie schnell sich innere Zustände abwechseln. Manchmal wache ich morgens mit einem verstörenden Traum auf, der mich benebelt und etwas ängstlich beim Frühstück sitzen lässt. Innerlich habe ich das Gefühl, noch nicht wirklich wach zu sein. Traumfetzen ziehen wie kurze Filmsequenzen durch mich hindurch und färben meine Stimmung ein. Doch bereits wenige Augenblicke später, wenn ich an den Schreibtisch gehe und mich auf die Arbeit konzentriere, treten diese Gefühle weit zurück und ich fühle mich klar, wach und handlungsbereit. Besonders wenn ich Menschen begleite oder Gruppen leite, erlebe ich immer wieder, dass fast augenblicklich alles verschwindet, was mich innerlich als Person in diesem Augenblick beschäftigt hat. In den Vordergrund rückt eine Präsenz, die eine große Klarheit und ein tiefes Einfühlungsvermögen ermöglicht, und in der ich viele innere Ressourcen ganz leicht abrufen kann. Alles, was mich persönlich ausmacht, hat hier keine Relevanz. Bin ich hier ein anderer Mensch?

Und dann gibt es da noch die Momente der Stille. Wenn ich mich nach innen fallen lasse, entsteht wieder eine ganz andere Art von Wachheit – eine innere Präsenz –, in der alles, was mich an der Oberfläche meines Menschseins bewegt, sich auflösen kann. Alltägliche Gedanken und Gefühle, aber auch alle Strukturen wie Zeit und Raum und selbst das Erleben einer klaren Ich-Identität mit einem Körper verflüchtigen sich, und für einen Augenblick lang gibt es nur ein zeitloses, offenes SEIN – Dasein pur. Vielleicht dauern diese SEINSmomente nur ein paar Augenblicke, vielleicht auch mehrere Minuten. Was spielt das für eine Rolle in einem Raum jenseits der Zeit?

Doch fast unmerklich tauchen wieder Gedanken und Gefühle auf und färben den inneren weiten Horizont ein, als ob sich ein Schleier darüberlegt. Und ehe ich mich versehe, beschäftigt mich eine bevorstehende Aufgabe. Plötzlich finde ich mich in Gedanken wieder, wie ich die Situation regeln kann, und mit diesen Gedanken geht eine gewisse Anspannung einher. Vorbei ist der Zustand einer friedlichen Stille jenseits aller Aufgaben und Verpflichtungen und auch jenseits allen Tuns. Oder doch nicht? Manchmal kann ich ihn trotz der Aktivität auf der Oberfläche noch weiterhin unterschwellig spüren.

Das kann sich aber sehr schnell ändern, wenn im weiteren Tagesverlauf etwas auftaucht, das meine ganze Aufmerksamkeit braucht, wie zum Beispiel ein Konflikt. Vielleicht flattert eine unangenehme E-Mail auf meinen Schreibtisch oder die Kinder verhalten sich ganz anders, als ich mir das vorstelle. Wie schnell kann sich hier ein Ärger oder eine Hilflosigkeit einstellen? Wo ist jetzt dieser friedliche konfliktfreie Raum hingekommen, der mich noch vor Kurzem so erfüllt hat?

Bewusstseinszustände und ihre Wirkung

Im Laufe eines ganz gewöhnlichen Tages durchlaufen wir unzählige Male verschiedene Bewusstseinszustände, ohne uns dessen in der Regel bewusst zu sein. Wir wundern uns vielleicht darüber, dass uns eine Zeit lang ängstliche Gefühle und eine körperliche Anspannung beschäftigen, die dann plötzlich, nachdem wir unsere professionelle Rolle übergestreift haben, wie weggeblasen sind. Jetzt spüren wir eine innere Sicherheit und fragen uns: Wo kamen diese Gefühle der Unsicherheit her? Und wo gingen sie hin?

Oder wir genießen immer wieder Momente von unbedingter Präsenz, in denen alles Tun und alles Wollen verstummt und sich eine innere Freiheit ausbreitet. Vielleicht sehnen wir uns danach, diese Momente auszudehnen und unser ganzes Leben in dieser Freiheit führen zu können. Doch schwups – kaum haben wir diese Freiheit geschmeckt –, schon ist sie wieder im Strudel von Gedanken und Alltagshandlungen untergegangen. Im Kontext von Familie und Beruf haben wir meist nicht das Gefühl, dass wir uns in einem Raum jenseits von Zeit und Tun bewegen, sondern empfinden deutlich Zeit- und Handlungsdruck. Wo ist diese Freiheit hin? Ist sie auch da, wenn wir sie nicht spüren? Was hilft es uns, zu wissen, dass sie da ist, wenn wir dazu keinen Zugang haben?

Manchmal reicht unsere Bewusstheit so weit, dass wir diese Vorgänge beobachten können. Verschiedenste Zustände in unserem Geist wechseln sich ab, und wir haben kaum eine Möglichkeit, diese zu beeinflussen, geschweige denn zu kontrollieren. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sogar zugeben, dass wir diese Vorgänge in unserem Geist nicht mal verstehen. Wieso gibt es morgens ein Gefühl der Ängstlichkeit in mir? Wie kann ich gleichzeitig in meinem Job ein kompetenter Profi sein, der sich seiner selbst sicher ist? Wieso kann ich nicht immer in der absoluten Freiheit des SEINS verweilen?

Vielleicht schleichen sich mit diesen Fragen auch Selbstzweifel ein: Ist meine Meditationspraxis tief genug? Ist mein Gefühl der Sicherheit im Job nur aufgesetzt? Sind die Gefühle der Ängstlichkeit nicht meine wahrhaftigen Gefühle und soll ich ihnen mehr Raum geben? Oder sind sie nur ein altes Gefühlsmuster, dem ich besser keine Aufmerksamkeit mehr schenke? Ist nicht das Freiheitsgefühl in der Meditation mein wahrhaftiges Sein? Oder verdränge ich hier nur meine Gefühle?

Selbstzweifel helfen uns beim Vorgang der Selbsterkenntnis meist nicht weiter, sondern verunsichern uns nur. Daher ist es hilfreicher, den Fragen und unserer Unwissenheit standzuhalten und unsere Bewusstheit dazu zu nutzen, tiefer und tiefer die Vorgänge in unserem Geist an einem ganz normalen Tag zu studieren. Dabei werden wir feststellen, wie häufig und fast unmerklich sich die Zustände ändern und regelrecht ineinandergreifen.

Jedes Mal, wenn ein bestimmter Zustand im Vordergrund unseres Erlebens unsere Aufmerksamkeit fesselt, verschwindet das, was uns kurz zuvor noch beschäftigt hat, aus dem Bewusstsein. Dabei ist dies kein rein gedanklicher Vorgang, auch wenn daran oft Gedanken beteiligt sind. Nein, der jeweilige Bewusstseinszustand, in den wir eintauchen, ist ein körperlich-seelisches Gesamterleben, das wie eine Wolkenstimmung am Himmel die gesamte Atmosphäre einer Szenerie einfärbt. Genauso verändert der aktuelle Zustand unser augenblickliches Dasein in einer Weise, dass er unser Lebensgefühl bestimmt.

An dieser Stelle ist es höchste Zeit, auf den Begriff »Bewusstseinszustand« näher einzugehen. Bewusstseinszustände sind der Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge in unserem Geist. Nur wenn wir begreifen, was Bewusstseinszustände sind und welche Wirkung sie entfalten, werden sich manche paradoxe Verhaltensweisen von Menschen und manche Fragen, die sich daraus ergeben, von selbst beantworten.

Um uns dem Begriff »Bewusstseinszustand« anzunähern, ist es hilfreich, sich zunächst ungewöhnliche Geisteszustände vor Augen zu führen und diese mit »normalem Alltagserleben« zu vergleichen. Betrachten wir zum Beispiel einen Menschen, der sich durch einen Autounfall im Schock befindet, dann sehen wir, dass sich diese Person höchst ungewöhnlich fühlt und verhält.

Obwohl sie starke Verletzungen hat, spürt sie keine Schmerzen. Doch nicht nur Schmerzen fühlt sie nicht, sie hat überhaupt keine Empfindungen im Körper und keine Gefühle. Der ganze körperlich-seelische Bereich befindet sich in einer außergewöhnlichen Taubheit. Entsprechend verhält sich eine solche Person trotz starker Verletzungen so, als wäre sie unversehrt. Nicht selten kommt es vor, dass sie zu den Sanitätern sagt: »Mir geht es gut. Ich gehe jetzt nach Hause«, obwohl sie blutüberströmt daliegt und vollkommen desorientiert ist.

Offensichtlich fühlt und verhält sich eine Person im Schock vollkommen anders als normalerweise. Wichtige Parameter, um eine Situation korrekt einzuschätzen, wie Körperempfindungen, Gefühle, Erinnerungen und geistige Zuordnungen, fehlen ihr in diesem Zustand. Das natürliche geistige Potenzial von Spüren, Denken, Erinnern, Vergleichen und Abschätzen, das ihr selbstverständlich im Alltag zur Verfügung steht, ist hier nicht oder nur stark eingeschränkt zugänglich. Gleichzeitig gibt ihr dieses geistige »Notprogramm« die Möglichkeit, trotz starker Verletzungen nicht von den Schmerzen und der Situation überwältigt zu werden und entsprechend eine gewisse Zeit empfindungslos agieren zu können. Es ist ein Überlebensmechanismus, der bei starken Verletzungen hilft, diese Extremsituation zu überstehen. Doch unabhängig vom ­biologischen Sinn eines Schockzustandes für das Überleben eines Menschen können wir feststellen, dass sich eine Person im Schock komplett verändert und sich verhält, als wäre sie ein vollkommen anderer Mensch. Sie befindet sich urplötzlich in einer anderen inneren Welt, in der es keine Empfindungen gibt.

Besonders tragisch wird dieses Phänomen, wenn eine Person aufgrund eines körperlichen oder seelischen Traumas in einen Schockzustand von emotionaler Taubheit fällt und dieser Bewusstseinszustand chronisch wird. Die Gefühllosigkeit wird zum Dauerzustand und die Unerreichbarkeit – ein Gefühl von »weit weg sein« oder von »abgeschnitten sein«  – führt dazu, dass die Person keine Nähe mehr zu nahen Menschen, zu sich selbst oder zum Leben überhaupt empfinden kann.

Diese innere Unerreichbarkeit ist für Angehörige oft unverständlich und kann bei ihnen eine große Irritation hervorrufen. Manchmal spüren sie sogar einen Verlust, als ob sie den geliebten Menschen verloren hätten. Sie fühlen deutlich, dass die Person nicht mehr die »gleiche« ist und versuchen meist verzweifelt, dem »alten«, vertrauten Menschen wieder nahezukommen. Doch solange sich die traumatisierte Person im Bewusstseinszustand einer seelischen Taubheit befindet, haben die Angehörigen keine Chance. Erst wenn sie, vielleicht durch eine Psychotherapie unterstützt, wieder einen natürlichen Zugang zu ihren Gefühlen bekommt, kann sie wieder in einen Bewusstseinszustand zurückfinden, der ihr die seelische Nähe mit ihren Angehörigen ermöglicht.

Bewusstseinszustände bestimmen und verändern uns völlig. Das geht so weit, dass wir uns in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen verhalten, als wären wir eine andere Person. In gewissem Sinne agieren wir nicht nur wie eine andere Person, wir sind es. Die Art, wie wir wahrnehmen, was wir denken, ob und welchen Zugang wir zu unseren Gefühlen haben, kann sich radikal verändern, wenn wir den Bewusstseinszustand wechseln.

Ein alltägliches Beispiel dafür ist der Alkoholkonsum. Wie stark verändern wir uns, wenn wir Alkohol zu uns genommen haben? Die anfängliche Gelöstheit und Entspannung weichen bei zunehmendem ­Alkoholspiegel einer Enthemmung, bei der wir impulsiv und ungefiltert unseren Gefühlen und Meinungen freien Lauf lassen. Mit der Kontrolle schwinden jedoch auch unsere geistige Klarheit und die Sensibilität für unsere Umwelt. Wir werden regelrecht zu Egomanen. Unsere Stimme wird lauter, vielleicht schreien und grölen wir sogar herum. Dabei haben wir selbst das Gefühl, dass es ein Ausdruck von Lebensfreude ist. Wir sind uns dabei aber nicht bewusst, dass wir Nachbarn damit stören könnten, und im Grunde ist uns das in diesem Zustand auch egal. Auf unser Umfeld wirkt unser enthemmtes Verhalten keinesfalls freudvoll, sondern erzeugt eine bedrohliche Wirkung. Und das zu Recht. Schließlich kann die Enthemmung jederzeit dazu führen, dass das Gefühl der Lebensfreude in Aggression umkippt.

Am Beispiel Alkohol sehen wir, dass aus einem Menschen, der normalerweise vielleicht ein großes Verantwortungsbewusstsein für sein Verhalten und sein Umfeld an den Tag legt, plötzlich ein Egomane werden kann. Er wird offensichtlich im Rausch zu einem anderen Menschen. Aus der Suchtforschung wissen wir, dass eine Person, die regelmäßig Alkohol zu sich nimmt, nicht nur im akuten Zustand des Rausches ihre Persönlichkeit verändert, sondern mit der Zeit eine sogenannte »Suchtpersönlichkeit« entwickelt. Das bedeutet, dass sich die innere Veränderung, die mit dem Alkoholkonsum einhergeht, nicht nur im betrunkenen Zustand zeigt, sondern zu einem dauerhaften Charakterzug wird.

Viele Rollen und die Frage nach der Identität

Was wir bei ungewöhnlichen Bewusstseinszuständen wie dem Schock oder dem Rauschzustand beobachten können, nämlich dass die Person sich vollkommen verändert und mal kürzer, mal länger zu einer anderen Person mutiert, lässt sich genauso in weniger »extremen« Lebensumständen beobachten. Da verhält sich eine selbstsicher auftretende Geschäftsfrau in ihrer Partnerschaft unsicher und abhängig. Da wird öffentlich bekannt, dass ein angesehener Stadtrat, der sich jahrelang für die Belange von anderen Menschen in der Gemeinde eingesetzt hat, gleichzeitig, gierig nur auf den eigenen Vorteil bedacht, den Staat um große Summen Steuern betrogen hat. Wenn diese Menschen äußerlich nicht in den verschiedenen Situationen den gleichen Körper hätten, würde niemand auf die Idee kommen, dass es sich um die gleiche Person handeln könnte.

Kennen wir nicht alle Beispiele von Menschen, die plötzlich eine Verhaltensweise an den Tag legen, die wir ihnen nie zugetraut hätten? Und wie oft hat uns bereits schockiert, wenn menschliche Abgründe bei scheinbar »normalen« und gut integrierten Menschen nach außen hin sichtbar wurden? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass es diese Widersprüche auch in unserem eigenen Leben gibt. Verhalten wir uns nicht immer wieder in verschiedenen Umgebungen sehr unterschiedlich? Und müssen wir nicht manchmal verschämt zugeben, dass wir nicht wissen, was uns gerade »geritten« hat?

Meistens nehmen wir diese Widersprüche zwar wahr und sind davon irritiert oder empören uns sogar darüber, wenn es andere Menschen betrifft, aber wir betrachten sie nicht genauer. Dann würden wir nämlich sehen, dass es nicht die Ausnahme ist, dass Menschen sich wie unterschiedliche Personen verhalten, sondern die Regel. Natürlich sind die Widersprüche oft nicht so krass wie bei extremen Bewusstseinszuständen durch Schock oder Alkohol. Aber im Kleinen sind sie im Alltag deutlich wahrnehmbar.

Die Wirkung auf uns ist in jedem Fall die gleiche: Der jeweilige Bewusstseinszustand – ob extrem oder nicht – färbt unsere Sinne, unsere Selbstwahrnehmung, unsere Gedanken, unsere Gefühle und unser Verhalten ein. Bewusstseinszustände wirken damit wie hypnotische Trancen, die unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte innere Erlebenswelt fixieren und gleichzeitig Potenziale, die uns in anderen Zuständen zugänglich sind, ausklammern.

Das Irritierende dabei ist, dass wir vordergründig nicht die Bewusstseinszustände sehen, in denen sich eine Person befindet, sondern weiterhin ihre äußere gewohnte Erscheinung. Nach außen scheint es immer die gleiche Person zu sein, die sich so unterschiedlich verhält. Doch das, was sie von innen her ausmacht – der jeweilige Bewusstseinszustand –, wirkt unsichtbar im Hintergrund. Könnten wir den Bewusstseinszustand sehen, der eine Person gerade bestimmt, und könnten wir sehen, wie Menschen Bewusstseinszustände wechseln, dann würde es uns nicht überraschen, dass sie sich nach außen plötzlich anders verhalten.

An dieser Stelle kann man sich natürlich fragen, was nun eine Person definiert: Ist es die äußere Erscheinung des Körpers, durch den das Lebendige einer Person wirkt? Oder ist es das lebendige Wirken eines Menschen, das durch den jeweiligen Bewusstseinszustand geprägt wird? Aus der gängigen Perspektive unserer Gesellschaft definieren wir den Menschen durch seine äußere Form und sind dann verwundert, wenn er sich plötzlich stark verändert oder sich widersprüchlich verhält. Wir könnten jedoch auch einen anderen Blickwinkel einnehmen und auf das Lebendige schauen, das durch einen Menschen zum Ausdruck kommt. Nicht der Körper definiert dann die Person, sondern das lebendige Geschehen und damit die jeweilige innere Welt – der Bewusstseinszustand, der durch die Person wirkt.

Diese zweite Betrachtungsweise findet sich auch in der Ursprungsbedeutung des Begriffes »Person« wieder. »Person« stammt vom griechischen Wort »prosopon« bzw. dem lateinischen »persona« ab, was sich auf die Maske einer Schauspielerin im antiken Theater bezieht, durch welche sie »hindurchtönt«. Es bezeichnet also die jeweilige Rolle, die die Schauspielerin gerade spielt. Diese Rolle wird durch die äußere Maske – also das Gesicht im Sinne von sicht-bar – durch das, was hindurchtönt, definiert.

Wie wir wissen, kann eine gute Schauspielerin sogar in einem einzigen Theaterstück verschiedene Rollen einnehmen und selbst beide Geschlechter glaubhaft verkörpern. Da wir als Zuschauende uns von der jeweiligen Rolle verzaubern lassen und nicht darauf achten, dass es immer der gleiche Körper ist, der die verschiedenen Rollen spielt, entsteht auch kein Widerspruch und keine Irritation. Für uns Zuschauende ist der lebendige Prozess, der durch die Schauspielerin in der jeweiligen Rolle zum Ausdruck kommt, das Wesentliche, welcher sie definiert, und nicht ihr Körper.

Spielen nicht alle Menschen unterschiedliche Rollen in dem einen Theaterstück ihres Lebens? Natürlich sind die alltäglichen Rollen, die wir einnehmen, meist nicht so markant und dramatisch wie im antiken Theater, sondern viel gewöhnlicher. Aber die Dynamik bleibt die gleiche. Wie eine gute Schauspielerin schlüpfen wir in verschiedene Bewusstseinszustände, die dann unser Erleben und unser Verhalten bestimmen, allerdings meist ohne uns dessen bewusst zu sein.

Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zum Schauspielberuf. Eine Schauspielerin stellt sich bewusst in den Dienst einer Rolle. Will sie überzeugend spielen, muss sie sich dabei vollkommen in die Rolle hineinversetzen und sich mit dieser Welt zeitweise identifizieren. Sprich, sie muss in der Rolle des Bösewichts zu einem Bösewicht oder in der Rolle des Opfers zu einem Opfer werden. Anders ausgedrückt, muss sie in den jeweiligen Bewusstseinszustand hineinwechseln, bis sie in eine Art Trance fällt, in der sie das authentische Erleben einer bestimmten Rolle selbst erfährt und lebendig zum Ausdruck bringt.

Schauspielerinnen nutzen damit bewusst die hintergründige Dynamik von Bewusstseinszuständen, die menschliches Leben ausmacht, und spielen damit. Das macht der gewöhnliche Mensch im Alltag meistens nicht. Auch wir nehmen verschiedene Bewusstseinszustände ein und wechseln sie, aber wir müssen uns nicht bewusst extra in den jeweiligen Zustand hineinversetzen. Im Gegenteil. Die verschiedenen Rollen greifen meist mit Macht nach uns, sodass wir keine Wahl haben und sie uns vollkommen gefangen nehmen. Wir sind mit ihnen so stark identifiziert, dass wir uns meist nicht einmal bewusst sind, dass wir eine bestimmte Rolle spielen, und auch nicht, welche Potenziale wir dabei ausblenden. Die machtvolle Dynamik der Bewusstseinszustände und ihre Bedeutung für uns läuft hinter dem nach außen hin sichtbaren Geschehen an der Oberfläche unseres Lebens permanent im Verborgenen und damit meist unbewusst ab.

Wenn wir betrachten, wie Menschen immer wieder Bewusstseinszustände wechseln und dabei unterschiedliche, wenn nicht sogar ­widersprüchliche »Rollen« spielen, kommt früher oder später die Frage nach unserer Identität auf: Wer sind wir, wenn wir uns in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen vollkommen anders verhalten? Wer sind wir, wenn wir als Mensch in so unterschiedliche Erlebniswelten eintauchen können? Das reicht von Zuständen, in denen wir hocheffektiv funktionieren, aber vollkommen abgetrennt von unseren Gefühlsbereichen sind, bis hin zu Zuständen, in denen uns schöne oder schmerzhafte Gefühle so stark ausfüllen, dass sie vollkommen unser Denken und Handeln bestimmen.

Offensichtlich sind wir nicht eine kohärente Einheit, so wie es die äußere Erscheinung unseres Körpers vielleicht vermuten lässt. Nach außen treten wir als eine Person in Erscheinung, aber die inneren Welten, in die wir eintauchen und aus denen wir leben und handeln, sind höchst unterschiedlich. Wenn wir uns auf das tatsächliche lebendige Geschehen beziehen, das sich durch unseren Körper ausdrückt, dann verschwindet das Bild einer einheitlichen Identität und wir können nur noch fragen: »Wer bin ich jetzt – in diesem Augenblick?« Oder anders ausgedrückt: »Welcher Bewusstseinszustand drückt sich jetzt durch mich aus?« Mit dieser Frage verschiebt sich die Sicht auf uns selbst, da wir uns immer weniger als eine feststehende einheitliche Person mit klar definierbaren Eigenschaften sehen.

Wie die Dinge lebendig werden

Doch nicht nur unser Identitätsbegriff, sondern auch unsere grundlegende Sicht auf die Welt verschiebt sich: Sogenannte Dinge wie ein Baum oder ein Stuhl fangen plötzlich an, lebendig zu werden und ihre Eigenschaften zu verändern. Hört sich das nicht verrückt oder esoterisch an? Kann ein Ding wie ein Stuhl wirklich lebendig werden? Ein Baum ist zumindest noch eine Pflanze, also ein lebendiges Wesen, obwohl wir ihn meist genauso als ein Ding behandeln. Aber ein Stuhl? Dieser ist doch wirklich ein feststehendes totes Objekt, oder?

Natürlich hat ein Stuhl kein Eigenleben wie eine Pflanze oder ein Mensch, aber aus der Perspektive unserer lebendigen Erfahrung gibt es keinen unabhängigen Stuhl. Daher kann sich unser Erleben des Stuhles, je nachdem in welchem Bewusstseinszustand wir uns gerade befinden, sehr unterschiedlich gestalten. Er kann für uns ein Gebrauchsgegenstand sein, den wir zwar nutzen, aber kaum wahrnehmen. Er kann sich für uns jedoch auch in einem Moment der Muße zu einer tiefen sinnlichen Erfahrung des Niederlassens und Getragen-Werdens verwandeln.

Machen wir nicht alle die Erfahrung, dass der »gleiche« Blick aus dem Küchenfenster unserer Wohnung, je nachdem in welchem Zustand wir uns befinden, eine sehr unterschiedliche Landschaft offenbaren kann? Manchmal rührt sie uns an und wir empfinden Vertrautheit, Schönheit und Dankbarkeit. Vielleicht sehen wir sogar eine vollkommen neue Landschaft. Manchmal sehen wir sie jedoch wie durch den Schleier der Gewohnheit und können nichts dabei empfinden.

Wenn wir die lebendige Erfahrung ernst nehmen und die Wirklichkeit nicht nur durch die äußere Erscheinungsform von Menschen oder Dingen definiert wird, dann bekommt der Wirklichkeitsbegriff eine völlig neue Dimension. Er wird vielschichtig und regelrecht lebendig. Plötzlich ist ein Ding nicht mehr nur ein Ding, sondern eine lebendige, sich verändernde Erfahrung. Da ist ein Nachbar kein von uns unabhängiges Objekt, sondern wir erfahren hier ein lebendiges Beziehungsgeschehen, welches immer die Chance bietet, neue und überraschende Facetten hervorzubringen.

Wenn wir also denken, dass die Wirklichkeit feststehend ist – oder anders ausgedrückt: dass ein Nachbar immer gleich ist und gleich bleibt –, liegt dies nur daran, dass wir uns gedanklich auf eine bestimmte Wirklichkeitsperspektive festgelegt haben und unserer lebendigen Erfahrung keinen Wert beimessen. Der Begriff »Wirklichkeit« wird hier auf eine materielle, objekthafte Beschreibung der Welt verengt. In dieser Beschreibung der Welt spiegeln sich wiederum grundlegende gesellschaftliche Übereinkünfte. In der westlichen Kultur ist die Sichtweise, Menschen und Dinge als voneinander unabhängige Objekte zu betrachten, tief verwurzelt. Die lebendige Erfahrung des Einzelnen wird grundsätzlich der objekthaften Beschreibung der Welt untergeordnet, wenn nicht sogar negiert.

Das hat weitreichende Auswirkungen auf die innere Erfahrung des Menschen. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, die uns ständig suggeriert, dass unsere lebendige Erfahrung unbedeutend ist oder keine Wirklichkeit besitzt, sondern nur die äußeren, materiellen Erscheinungen zählen, dann nehmen wir automatisch unsere inneren Erfahrungen nicht mehr so ernst. Sie verschwinden mehr und mehr aus dem Vordergrund unseres Bewusstseins, und das Denken, dessen Domäne die Beschreibung und Benennung von Objekten ist, gewinnt mehr und mehr an Bedeutung.

Leben wir nicht in einer Gesellschaft, in der Gefühle als unbedeutend und subjektiv betrachtet und vernachlässigt werden? In der die Seele der Effektivität und Produktivität untergeordnet wird und entsprechend nicht selten als Störenfried erscheint? Wir geben Unsummen für die psychotherapeutische Behandlung von »seelischen Störungen« aus, aber fördern in unseren Schulen hauptsächlich kognitive Fähigkeiten. Ist es da ein Wunder, dass Menschen emotional verarmen, zu Suchtmechanismen neigen und irgendwann in der Psychotherapie als gesellschaftlich anerkanntem Zufluchtsort der Seele landen?

Ein typisches Beispiel dafür, welche Auswirkungen verschiedene Realitätsbegriffe haben können, findet sich in der Medizin. Das vorherrschende Modell der modernen westlichen Medizin hat sich aus der Sichtweise einer materiellen Welt von unabhängigen Objekten heraus entwickelt. Hier werden menschliche Organe meist unabhängig vom übrigen Körper und auch relativ unabhängig vom energetischen System, den seelischen Einflüssen und den Lebensumständen betrachtet und behandelt. Der Medizin des Ostens, wie zum Beispiel der Akupunktur, liegt eine ganz andere Weltsicht zugrunde: Hier wird Körper und Seele als ein ganzheitliches, lebendiges Geschehen gesehen. So haben sich die Methoden der östlichen Medizin nicht aus dem Sezieren und dem Studium von Organen entwickelt, die toten Menschen entnommen wurden, sondern aus der Beobachtung des lebendigen Menschen.

Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, eine Bewertung verschiedener medizinischer Sichtweisen und Methoden vorzunehmen. Wie wir wissen, können beide medizinische Systeme wertvolle Beiträge zur Gesundheit des Menschen beisteuern. Es geht mir im Moment lediglich darum, aufzuzeigen, wie stark sich ein bestimmter Wirklichkeitsbegriff als kollektive Hypnose auf eine Gesellschaft stülpt und welch drastische Auswirkungen dies auf die Entwicklung der Gesellschaft und auf die Erfahrung des einzelnen Menschen hat.

Bei diesen Betrachtungen wird deutlich, dass der Wirklichkeitsbegriff sich nicht auf eine feststehende und allgemeingültige Entität bezieht, da es diese in ihrer Absolutheit und Allgemeingültigkeit gar nicht gibt. Sowohl subjektive Bewusstseinszustände als auch kollektive Beschreibungen der Wirklichkeit können völlig unterschiedliche Welten hervorbringen. Insofern muss man den Wirklichkeitsbegriff auf seine ursprüngliche Wortbedeutung zurückführen: Wirklichkeit ist das, was wirkt und damit unsere Welt bestimmt. Dieser Wortsinn weist auf eine Vielschichtigkeit von Realität hin und lässt zu, dass sich Wirklichkeiten ändern können.

Mit den Augen einer Libelle schauen

Bei aller Vielschichtigkeit von Bewusstseinszuständen, die unser Erleben einfärben, gibt es nicht doch eine feststehende, materielle Welt um uns herum? Ist ein Tisch nicht ein Tisch und ein Baum nicht ein Baum, unabhängig davon, aus welchem Bewusstseinszustand wir ihn gerade betrachten? Sieht nicht jeder Mensch den gleichen blauen Himmel über sich und die gleiche bunte Blumenwiese, auf der er steht?

Ja, es gibt eine gewisse kollektive Verlässlichkeit unserer Erfahrung, wenn wir als Menschen unsere sinnliche Wahrnehmung vergleichen. Wahrscheinlich sieht eine Gruppe von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen den Himmel tatsächlich in der Farbe Blau und die Blumenwiese dagegen bunt. Natürlich gibt es hier bereits Abweichungen, da manche Menschen nur schwer Braun- und Grüntöne differenzieren können. Aber diese Abweichungen werden kollektiv als Fehlentwicklung ihrer Wahrnehmungsorgane abgetan, sodass sie die kollektive Sichtweise einer feststehenden materiellen Welt nicht infrage stellen.

Wenn wir uns aber jetzt vergegenwärtigen, dass das menschliche Auge nur einen sehr kleinen Bereich der elektromagnetischen Wellen – wir nennen ihn »Licht« – aufnehmen und ans Gehirn weiterleiten kann, das wiederum aus den Sinnesreizen eine farbige Welt konstruiert, dann wird deutlich, dass die Art, wie wir die Welt sehend erfahren, eine menschliche Konstruktion von Auge und Gehirn ist. Infrarotstrahlungen, UV-Strahlen, Röntgenstrahlen und viele andere niedere oder hohe Wellenbereiche des Lichts werden nicht dargestellt. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn wir diese Strahlungsbereiche auch sehen könnten?

Wie sieht beispielsweise eine Libelle mit ihren Facettenaugen die Welt? Ein Facettenauge einer Libelle besteht aus bis zu 30.000 Einzelaugen. Sie sieht also gar nicht eine einzige Welt, sondern unzählig viele. Wir können eine Ahnung davon bekommen, wie die Libelle die Welt sieht, wenn wir einen Blick in ein Kaleidoskop werfen. Hier fächert sich das Sehfeld durch eine Anordnung von mehreren Spiegeln auf und es entsteht eine vielschichtige, aufgelöste und faszinierende »Spektralwelt«. Allerdings besteht diese nur aus wenigen Spiegelfeldern und nicht aus 30.000.

Oder betrachten wir die Sinnesorgane einer Fledermaus. Hört sie nicht den Ultraschallbereich, der unseren Ohren verschlossen bleibt? Auf der anderen Seite können ihre Augen nur Schwarz-Weiß sehen, aber wiederum die UV-Strahlen erkennen. Sie verfügt sogar über einen Magnetsinn, der ihr hilft, ähnlich wie bei Zugvögeln die Orientierung zu behalten.

Man kann sich kaum vorstellen, wie eine Libelle oder eine Fledermaus die Welt konstruiert und damit erfährt, aber wir können sicher sein, dass Menschen und Tiere die Welt, in der sie leben, so unterschiedlich beschreiben würden, dass wir nicht auf die Idee kämen, dass sie den gleichen Planeten bewohnen. Das bedeutet nicht weniger, als dass es keine äußere feststehende Welt gibt, sondern nur innere Konstrukte der Welt, abhängig vom jeweiligen Lebewesen und seinen Wahrnehmungsorganen und seiner Art, die Wahrnehmungsreize zu verarbeiten.

Doch die Unterschiedlichkeit der Welten, in denen Lebewesen leben, endet nicht mit der Wahrnehmung, also der inneren Konstruktion einer äußeren Welt. Sie geht weit über die Wahrnehmung hinaus, da das Lebewesen mit seiner Art zu leben diese Welt, in der es lebt, mitgestaltet. So ist ein lebendiges Geschöpf nicht nur »Empfänger« einer äußeren Welt, sondern erschafft diese auf zweifache Weise: zum einen durch seine individuelle Art der sinnlichen Konstruktion, zum anderen aber durch sein Handeln, also seine Art, sich aktiv auf die von ihm konstruierte Welt zu beziehen.

Nehmen wir zum Beispiel einen Frosch, der als Amphibie perfekt an das Leben im Teich angepasst ist. Seine Sinne helfen ihm, das Leben im Teich zu meistern, Feinde durch kleinste Erschütterungen wahrzunehmen und Beute, wie zum Beispiel Fliegen, im Flug zu erkennen. Der Frosch ist aber nicht nur Wahrnehmender, sondern gleichzeitig auch »Gestalter«. Er prägt durch sein Leben das Milieu im Froschteich mit und wird so auch der Mitschöpfer der Welt, in der er lebt.

Beim Menschen können wir besonders deutlich erkennen, wie stark er seine Welt, in der er lebt, miterschafft. Nehmen wir zum Beispiel seine Fähigkeit, ein bestimmtes Spektrum an Schallwellen zu hören. Innerhalb dieses Spektrums kann er Töne in seinem Erleben konstruieren und damit auf seine spezifisch menschliche Weise erfahren, sprich hören. Dabei bleibt es aber nicht. Er hört diese Töne nicht nur als empfangendes Wesen, er erschafft sie auch. Durch seine Fähigkeit, zu hören, konnte er die sprachliche Kommunikation entwickeln und perfektionieren. Und, was vielleicht noch erstaunlicher ist, er hat Musikinstrumente erschaffen, mit denen er in diesem Hörspektrum Töne und sogar komplexe Symphonien erzeugen kann, die es vorher auf dieser Erde nicht gab. So erschafft der Mensch durch seine Art der Wahrnehmung und seine Art zu leben eine ganz eigene Welt, von der ein Tier, das nicht hören kann, ausgeschlossen ist.

Wie stark der Mensch seine Welt selbst erschafft, können wir daran ermessen, dass Geologen inzwischen davon ausgehen, dass wir erdgeschichtlich in ein neues Zeitalter eingetreten sind, in dem der Mensch das Antlitz der Erde, also die natürliche Beschaffenheit der Oberfläche der Erde, unwiederbringlich verändert hat. Diese Tatsache ist natürlich erschreckend, da sich der Mensch mit seiner ungeheuer mächtigen Gestaltkraft von allen anderen Lebewesen auf der Erde unterscheidet und wir nicht wissen, ob sich der Mensch nicht dadurch langfristig seiner eigenen Lebensgrundlage beraubt. Nichtsdestotrotz ist die grundsätzliche Dynamik, dass jedes Lebewesen die Welt, die es mit seinen Sinnen erfährt, schöpferisch mitgestaltet, dagegen ein natürlicher Prozess.

Nur eine Welt?

Jedes Lebewesen ist also Empfänger und Schöpfer in einem. Wobei man sich auch das Empfangen nicht als passives Abbilden einer äußeren Realität vorstellen darf, sondern als eine aktive Konstruktion, die Sinnesreize zu einer individuellen Erfahrung verdichtet. Dieser Vorgang findet vollkommen automatisch und unbewusst statt, sodass wir die Welt, die wir konstruieren, nicht mehr hinterfragen und wir selbstverständlich davon ausgehen, dass es nur diese eine Welt gibt, die wir erfahren. Oder anders gesagt: dass alle Lebewesen in einer Welt leben – nämlich der unseren – und sie genauso erfahren wie wir selbst. Welch ungeheure Fehleinschätzung!

Diese Grundannahme stimmt nicht einmal, wenn wir im menschlichen Bereich bleiben. Wenn Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen aufeinandertreffen, wird es manchmal geradezu offensichtlich, dass sie aus verschiedenen »Welten« stammen. Die Folge sind eklatante Missverständnisse, die zu Irritation, Befremdung und Ablehnung führen können.

Wenn zum Beispiel ein deutscher Mann in Ägypten höflich die Frau des Gastgebers grüßt und sie dabei anschaut, ist dies im deutschen Verständnis ein Ausdruck von Höflichkeit und eine Selbstverständlichkeit. In der ägyptischen Kultur jedoch ist diese Handlung eine außerordentliche Respektlosigkeit. Umgekehrt, wenn eine ägyptische Frau einen deutschen guten Bekannten auf der Straße keines Blickes würdigt, ist dies im Sittenkodex der arabischen Welt ein Ausdruck von Respekt, für den Bekannten aus einem europäischen Kulturkreis kommend allerdings das Gegenteil.

Manchmal genügt bereits eine bestimmte Art des Humors, um die Kluft zwischen den kulturellen Welten sichtbar werden zu lassen. Was für den einen ein Witz ist, kann für einen anderen Menschen aus einer anderen Gesellschaft eine Peinlichkeit oder sogar eine Beleidigung darstellen. Natürlich sind kulturelle Schranken nicht unüberwindbar, aber um ein echtes Verständnis füreinander zu bekommen, müssen wir zunächst die Unterschiedlichkeit der Welten, aus denen wir kommen, anerkennen. Das bedeutet, dass wir uns bewusst machen, dass uns der Kulturkreis, in dem wir leben, tiefer prägt, als wir uns das normalerweise eingestehen.

Besonders in unserer westlichen Gesellschaft sehen wir uns selbst als aufgeklärt, modern und weltoffen. Damit einher geht das Gefühl, anderen Kulturkreisen überlegen zu sein. Gleichzeitig übersehen wir völlig, dass wir ein Kind dieser Kultur sind und damit unsere Sicht- und Lebensweise stark von der westlichen Gesellschaft geprägt wird. Wir sind daher in unseren Meinungen und Verhaltensweisen genauso wenig unabhängig und frei wie Menschen in anderen Kulturen. Unsere sogenannte Weltoffenheit kommt sehr schnell an ihre Grenzen, wenn wir mit für uns unverständlichen Lebensformen anderer Kulturen konfrontiert werden und diese als gleichwertig akzeptieren sollen.

Doch auch innerhalb einer Kultur leben Menschen in unterschiedlichen Welten. Lebt ein Mensch, der in sich tiefe Ängste hat, und dessen Grundgefühl das der Bedrohung ist, in der gleichen Welt wie ein Mensch mit einem großen Vertrauen ins Leben? Mit Sicherheit nicht. Eine Person mit Grundängsten wird auf allen Ebenen mehr mit Absicherung beschäftigt sein als mit Lebenslust. Das wird ihre Sichtweisen genauso prägen wie ihre Gefühle und Verhaltensweisen. Vielleicht verhält sie sich in Kontakten vorsichtig, geht bei Entscheidungen keine Risiken ein, bleibt im vertrauten Rahmen der Tradition, fährt immer wieder an den gleichen Urlaubsort und ist allem Neuem oder Fremdem gegenüber skeptisch. Ein lebensverändernder Schritt kann für eine ängstliche Person eine ungeheure Herausforderung darstellen, die sie mit tiefen Ängsten konfrontiert und an den Rand der Erschöpfung bringt.

Ganz anders verhält sich da ein Mensch mit Grundvertrauen. Neues wird als belebend erfahren und entsprechend gesucht. Das bekannte und vertraute Terrain kann hinterfragt und erweitert oder zurückgelassen werden. Ein Mensch mit Grundvertrauen hat eine Freiheit und eine Abenteuerlust, von der eine Person mit Ängsten nur träumen kann.

Man könnte jetzt denken, dass eine ängstliche Person auf die Freiheit eines Menschen mit großem Vertrauen neidisch ist. Doch das ist ein Irrtum. Im Gegenteil kann sie ein risikobereites Handeln unverständlich oder sogar erschreckend finden. Eine ängstliche Person sucht nämlich zuinnerst Sicherheit und nicht Freiheit. Man kann sich vorstellen, dass Menschen, die in derart unterschiedlichen Welten leben und so widersprüchliche Sehnsüchte haben wie den Wunsch nach Sicherheit, bzw. Freiheit und Abenteuer, sich manchmal begegnen wie Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen – mit großem Unverständnis füreinander. »Wie kann man nur immer an den gleichen Urlaubsort fahren?«, fragt sich da die eine Person und die andere schüttelt den Kopf bei dem Gedanken, »wie man sich nur so damit ›stressen‹ kann, ständig neue Dinge auszuprobieren«.

Wie unterschiedlich diese beiden Welten tatsächlich sind, kann man nur ermessen, wenn man begreift, dass auch die Wahrnehmung der Menschen unmittelbar betroffen ist. Unsere Wahrnehmungsorgane sind eben keine neutralen »Empfangsgeräte«, sondern verarbeiten die ­äußeren ­Sinnesreize in Abhängigkeit zu unserer inneren Verfassung. Wenn eine Person chronisch in einer Welt der Angst und der Bedrohung lebt, »schärfen« sich ihre Sinne und bilden daher eine ganz andere Welt ab als bei einem Menschen mit Grundvertrauen. Die innere Haltung, »immer auf der Hut zu sein«, führt zu einer generellen Anspannung und einer Überbetonung der äußeren Wahrnehmungsorgane.

In der Anspannung arbeiten unsere Sinnesorgane anders als in der Entspannung. Wir kennen dieses Phänomen partiell alle: Bei Gefahr fahren wir unsere »Antennen« aus und werden hochsensibel für äußere Reize, die uns schaden könnten. In diesem »angespannten Schauen und Hören« können uns kleinste Reize in Alarm versetzen, die wir in einem entspannten Grundzustand kaum wahrnehmen würden. Gleichzeitig ist hier die Wahrnehmung nach innen – also das Spüren des Körpers und das Fühlen – deutlich eingeschränkt. Ein angespannter Zustand ist also anstrengend und führt zusätzlich zu einer Überaktivität unserer äußeren Sinne, sodass wir überempfindlich auf äußere Reize reagieren und entsprechend eine reizarme – also vertraute – Umgebung suchen.

Gleichzeitig nimmt im akuten, aber genauso im chronischen Zustand der Bedrohung die Fähigkeit zum Genießen ab. Genießen können wir nur in der Entspannung und durch innere Muße. Hier beginnen wir die Dinge von innen her zu spüren und unsere Sinne öffnen sich für eine Feinheit und Unmittelbarkeit, die uns im Zustand einer Überschärfe durch Gefahr nicht zugänglich ist. Da aber ein Mensch mit Grundängsten nur in einer vertrauten Umgebung einigermaßen entspannen kann, ist es nicht verwunderlich, dass jede neue Situation als anstrengend empfunden und vermieden wird.

Der ängstliche Mensch erfährt also tatsächlich eine andere Welt als ein Mensch mit Grundvertrauen. Beide Menschen konstruieren ihre Sinneserfahrung entsprechend ihrer Grundhaltung und erschaffen durch ihr Verhalten aktiv das Milieu ihrer Umwelt mit. Man kann daher durchaus davon sprechen, dass sie in unterschiedlichen Welten leben, genauso wie zwei Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen oder wie eine Fledermaus und ein Mensch. Die weitverbreitete Vorstellung, dass alle Wesen in einer Welt leben, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Trugbild.

Die Schlüsselrolle des Bewusstseins

Wenn wir uns jetzt noch vor Augen führen, dass auch der einzelne Mensch in verschiedenen Bewusstseinszuständen und damit inneren Welten zu Hause ist, dann zerfällt die gängige Idee einer einzigen Welt, die unsere Wirklichkeit ausmacht, vollständig. So kann ich mir gut vorstellen, dass manche Leserin oder mancher Leser bei der Lektüre dieses Kapitels das Gefühl hat, schwindelig und zunehmend unsichererer und verwirrter zu werden. Diese Reaktion wäre durchaus berechtigt und sehr natürlich. Schließlich ist es in diesem Kapitel meine Absicht, den Schleier der gewohnten und allgemeingültigen Wirklichkeit, die uns eine kohärente, äußere Welt vorgaukelt, zu lüften. Ja, sogar die gängige Vorstellung, dass wir selbst eine einheitliche Person sind, wird hinterfragt. Damit rüttle ich an dem Grundgerüst, auf dem das persönliche und gesellschaftliche Leben aufgebaut ist.

Wenn uns daher diese Betrachtungen verwirren oder verunsichern, können wir sicher sein, dass wir über den Schleier einer gewohnten einheitlichen Wirklichkeit hinausgetreten sind und dort einer neuen, vielschichtigen und vor allem lebendigen Wirklichkeit begegnen. Hier sind die Dinge nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, nämlich als in sich bestehende, unabhängige Entitäten. Vielmehr wird uns zunehmend bewusst, dass die äußere Welt nicht unabhängig von der betrachtenden Person existiert und es damit keine allgemeingültige Erfahrung einer äußeren Welt gibt, sondern nur unendlich viele Betrachtungsperspektiven.

Wenn wir uns jetzt im nächsten Schritt bewusst machen, dass auch der sogenannte Betrachter keine unabhängige Gegebenheit ist, sondern wiederum von der Betrachtungsperspektive, also dem jeweiligen Bewusstseinszustand, abhängt, verlassen wir endgültig die Vorstellung einer verlässlichen äußeren und inneren Welt. Was bleibt, ist eine vielschichtige Realität der totalen Bezogenheit und vor allem eine Wirklichkeit, die sich in jedem Augenblick verändern kann. Oder anders gesagt, die nicht feststeht. Es genügt, dass die betrachtende Person einen anderen Bewusstseinszustand einnimmt und damit eine andere ­Perspektive, schon gerät die Welt in Bewegung und zeigt neue Facetten. Wie beim Blick durch ein Kaleidoskop, bei dem die geringste Bewegung des Betrachters neue Farbspiele erzeugt, so kann uns eine neue Betrachtungsweise die Welt, einschließlich unserer selbst, in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen.

Ist das nicht gespenstisch und ein wenig verrückt? Ja, im eigentlichen Wortsinn ist es »ver-rückt«, denn unsere übliche Sicht einer äußeren statischen Welt, in der eine klare Ordnung herrscht, wird hier erschüttert. Das bedeutet aber nicht, dass wir im psychiatrischen Sinne verrückt werden und damit nicht mehr alltagstauglich leben können, sondern dass wir die Möglichkeit bekommen, durch den Schleier der gewohnten Wirklichkeitsperspektive hindurchzuschauen und uns damit befassen können, wie Wirklichkeit – oder besser Wirklichkeitsperspektiven – entstehen.

Unser Blick geht dabei vom äußeren Schein der Dinge weg und wendet sich immer mehr nach innen. Wir fragen uns, was in unserem Geist geschieht, dass bestimmte äußere Erfahrungen zutage treten. Was ist der Grund dafür, dass sich innere Perspektiven und damit einhergehend die äußere Weltsicht verändern? Welche Bedeutung haben dabei Bewusstseinszustände und können wir diese für unser Leben nutzbar machen?

All diese Fragen führen uns von der Oberfläche des Lebens zum Hintergrund des Bewusstseins, aus dem heraus sich unsere Erfahrungen bilden. Denn zuinnerst und zuerst steht hinter allen äußeren und inneren Erfahrungen das Bewusstsein als der Erfahrungsraum, in dem sich unterschiedlichste Erfahrungsdimensionen abbilden. Das Bewusstsein ist das Subjekt, in dem sich alle Phänomene spiegeln. Sogar die Erfahrung der eigenen Person, die in einem Körper erscheint, ist nichts weiter als ein Objekt im Spiegel des Bewusstseins.

Kein Objekt, keine Erfahrung, kann unabhängig vom Subjekt in Erscheinung treten, da es ein Objekt ohne Subjekt nicht gibt. Daher ist für das jeweilige Zustandekommen einer Erfahrung entscheidend, welche Perspektive das Subjekt einnimmt und welche Beschaffenheit es hat. Oder anders gesagt: Auf was richtet sich unser Bewusstsein und wie ist es gerade beschaffen? Diese Frage steht am Anfang aller Erfahrungen und entscheidet letztlich darüber, wie wir das Leben konstruieren.

Um die Bedeutung dieser Frage anschaulich zu machen, kann es helfen, sich mit Fotografie zu befassen. Fotografieren ist die Technik, Objekte in der äußeren Welt abzulichten. Jede Fotografin weiß aber, dass das jeweilige Bild in Abhängigkeit zum Subjekt der Fotografin und zur Beschaffenheit der Linse ihres Fotoapparats entsteht. Was bewegt die Fotografin gerade? Was sieht sie? Welchen Fokus auf das Objekt nimmt sie dadurch ein? Welchen Bildausschnitt wählt sie? Wie stellt sie die Brennweite und die Schärfe der Linse ein? Wenn wir den Fotoapparat als Verlängerung des Bewusstseins und der Wahrnehmungsorgane einer Fotografin betrachten, dann ist das jeweilige Bild eben nicht nur ein Produkt des Blickwinkels, den die Fotografin einnimmt, sondern auch der Beschaffenheit ihres Bewusstseins.

Jedes Foto weist uns damit auf das im Hintergrund stehende Bewusstsein der Fotografin hin, aus dessen Beschaffenheit heraus das Bild entstanden ist. Sichtbar ist aber zunächst nur das Foto, nicht das Subjekt, das es geschaffen hat. Genauso wenig, wie wir unser eigenes Bewusstsein wahrnehmen, wenn wir ein Foto anschauen. Und doch gibt es die Erfahrung des Fotos ohne unser Bewusstsein und ohne das Bewusstsein der Fotografin nicht.

Wenn wir diese Welt und unser menschliches Leben tiefer begreifen wollen, dann ist es unumgänglich, dass wir in den Blick nehmen, was hinter allen Dingen steht: das Bewusstsein und seine Beschaffenheit. Es ist der Kristallisationspunkt, aus dem heraus verschiedene Welten nebeneinander und ineinander in Erscheinung treten. Nur wenn wir diese grundlegende Dynamik und ihre Gesetzmäßigkeiten tiefer begreifen, werden wir das Wunder der Schöpfung nochmals neu erfassen und lernen, kreativ als Mensch darin zu leben.

In den nun folgenden Kapiteln werde ich die drei grundlegenden Bewusstseinszustände und ihre Gesetzmäßigkeiten darstellen – die äußere Welt der Alltagsrealität, die innere Welt der Seelischen Realität und unser Innerstes, die Absolute Realität.

Kapitel 2

Die äußere Wirklichkeit – die Alltagsrealität

Die Wirklichkeit, oder die Welt, wie wir sie alle kennen, ist nur eine Beschreibung. Sie ist ein endloser Strom von Interpretationen von Sinneswahrnehmungen, die wir, die Einzelnen, die eine besondere Gruppenzugehörigkeit teilen, übereinstimmend zu deuten gelernt haben.

Carlos Castaneda

Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, wenn ein Mensch, der im Urwald aufgewachsen und nie der Zivilisation begegnet ist, plötzlich in eine moderne Großstadt kommen würde. Die meisten Vorgänge, die das Leben eines modernen Menschen ausmachen, wären ihm wahrscheinlich fremd und unverständlich.