Im Enddefekt - Josephine Frey - E-Book

Im Enddefekt E-Book

Josephine Frey

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Beschreibung

Ich versuche, weniger nach Einsamkeit auszusehen, schminke mir die Augen, lasse meine Haare glatt. Wenn ein Mann große Hände mit schlanken Fingern hat, darf er mich damit anfassen und neuerdings sieht man mir das an. "Es sind Momentaufnahmen von Gefühlen" Süddeutsche Zeitung Ein wunderbares Erstlingswerk von Josephine Frey in einer wunderschönen schweizer Bindung mit Farbschnitt

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1. Auflage 2017

©opyright 2017 by Autor

Cover und Illustrationen: Clara Deitmar

Lektorat: Denise Bretz

Satz: Fred Uhde, Leipzig (www.buch-satz-illustration.de)

ISBN: 978-3-95791-073-8eISBN: 978-3-95791-074-5

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet.

Hat Dir das Buch gefallen? Schreib uns Deine Meinung unter: [email protected] Infos jederzeit im Web unter www.unsichtbarverlag.de

Josephine Frey

Im Enddefekt

… Do You Want To Come Over And Kill Some Time?

Wenn die Mütter weg sind

Rabenkinder

Glückstreffen

… I Want A Lover I Don’t Have To Love

Co

Kriegserklärung

Tablettenerster

Die Wahrheit, Teil I

Lucky Strike

Kamasutra

Nachtnotizen

Alchemie

… The Best Parts of Lonely

Über die Zeit, die es braucht

Zuversucht

Gute Omen

… Hidden Track

Halim liegt wach

Wenn die Mütter weg sind

Wenn die Mütter weg sind, können die Mädchen früh aufwachen und Kaffee durchlaufen lassen. Sie können auf die Waage steigen, sich duschen und rasieren und sich nur aus Versehen schneiden. Sie werden sich schminken und später dann einen Zettel auf dem Küchentisch finden mit kleinen Botschaften wie: »Mittagessen steht im Kühlschrank« oder »Vergiss nicht deinen Zahnarzt Termin!« und manchmal noch »Ich hab dich lieb.«.

Wenn die Mütter weg sind, werden die Mädchen an alte Kinderbücher denken. Und sich wundern, ob es die noch gibt. Und ob es stimmt, dass man seinen Monstern nur ohne zu blinzeln in die Augen schauen muss, um über sie zu regieren.

Eigentlich bräuchten die Mädchen auch ein Wolfskostüm, um Tag für Tag zu funktionieren.

Die Mädchen wünschten, sie könnten auf dem Weg zu den Wilden Kerlen auch fast mehr als ein Jahr auf dem Meer verbringen, um all das wieder in Ordnung zu bringen, was irgendwie falsch gelaufen sein muss.

Das mit der Traurigkeit. Das mit dem ersten und das mit dem letzten Kuss, das mit dem Erwachsenwerden und wie es wäre, niemanden zu hassen und niemanden zu küssen, und wie es wäre, fast ein Jahr lang überhaupt keine Entscheidungen treffen zu müssen, und alle Zweifel wären verstreut, weil man wüsste, man müsste nicht wissen, was man später nicht bereut.

Wenn die Mütter weg sind, werden die Mädchen auf dem Weg noch eine rauchen und die erste Stunde verpassen.

Wenn die Mütter weg sind, nehmen die Mädchen Chancen wahr, und manchmal nehmen sie Pillen. Die Mädchen können über Barren springen, sie können ihren Willen mit einem Glas Wasser runterschlucken, die Mädchen können Männchen machen und sich auf Befehl ducken, die Mädchen können artig lachen. Die Mädchen können im Schlaf aufsagen: Das sind halt Jungs, die machen solche Sachen.

Sie werden sich ablenken lassen und in keinem Fach aufpassen, außer in dem, wo die Note nicht zählt. Sie werden sich über die Sachen Gedanken machen, die zu klein sind, um sie irgendjemandem anzuvertrauen. Dass sie es gerade geschafft haben, im Gespräch nicht als Erste wegzuschauen. Über den spöttischen Unterton in einem Gespräch, über eine Antwort, die nicht richtig war. Und ob sie immer so bleich aussehen oder ob das von dem Neonlicht und den weißen Kacheln im Hintergrund kommt. Wie sie die Pause auf dem Schulklo verbrachten und wie eine Freundin ihnen dort flüsternd und matt von ihren Armen erzählt hat und wie sie seit Jahren versuchte, fast durchsichtig zu werden und schöne Muster in dünne Haut zu wetzen.

Und dass sie immer noch hoffte, jemand würde kommen, um ein Teelicht in sie zu setzen.

In der Mittagspause können die Mädchen über Sex reden. Sie rücken dann enger zusammen, teilen sich Diät Cola und Gummibärchen. Sie kichern und vergleichen Schenkelbreite, Nasengröße, die gebleichten Haare. Wenn die Mütter weg sind, können die Mädchen auf dem Heimweg um die Schminkabteilung in der Drogerie schleichen. Sie werden den Duft von Vanille und Pfirsich vergleichen, sich so verhalten, als wären sie mehr Zucker und Zimt, und sich freuen, seit sie jeden Tag ein bisschen mehr wie Weihnachten sind.

Sie werden sich klein und niedlich machen und lernen, dass Komplimente wie süß und hübsch am bedeutendsten sind.

Die Mädchen können sich abends schick machen und sie werden es hassen. Sie werden nach einer Weile wissen, dass sie nicht ihre Mutter, sondern Mütterlichkeit vermissen.

Die Mädchen werden abends anzügliche Blicke bemerken und Worte, die nicht schlimm genug sind, um etwas zu erwidern, und wenn sie es dann doch einmal versuchten, ergäben sie sich matt bei: Wie, du bist jetzt nur wütend, weil er dich »Kleine« genannt hat?

Wenn die Mütter weg sind, können die Mädchen mal wieder lachen, mal wieder was wagen, mal wieder vergessen, mal wieder nicht Nein sagen. Sie werden Zigaretten am Straßenrand rauchen und über dumme Witze albern lachen und es wird sich gut anfühlen.

Sie werden später mit leisen Stimmen reden und den Kopf schräglegen.

Wenn die Mütter weg sind, können die Mädchen im Morgengrauen auf Zehenspitzen nach Hause schleichen, in ihr Zimmer eilen, sie können sich umschauen, aber da wird tatsächlich niemand sein. Sie können sich in ihr Bett legen und liegenbleiben, sehr aufgewühlt. Wenn sie alleine sind, können die Mädchen heimlich »Fotze« an die Zimmerdecke wispern.

Nur um zu sehen, ob sich das immer noch falsch anfühlt.

Wenn die Mädchen aufwachen, würden sie gerne jemandem Bescheid geben, auch einen Zettel auf den Küchentisch legen, etwas wie: »Hallo, ich bin noch am Leben«.

Sie überlegen, ob sie ihre Mütter anrufen sollen. Mit nichts Bestimmtem zu sagen, einfach weil sie sich schon seit einer Weile danach fühlen, in ihrer Einsamkeit.

»Hör zu, ich bin so alleine. Ich versuche es wirklich. Und es tut mir so leid.«

Rabenkinder

Weißt du noch, als wir eine ganze Packung geraucht haben, nur um zu sehen, ob ihnen der Geruch auffällt?

Ich glaube, unsere Eltern bereuen das Geld, das sie in unsere Zähne gesteckt haben, jetzt, wo wir immer mit geschlossenem Mund grinsen. Glaubst du, sie wissen von dem Straßenhundherz, das seine kalte Schnauze an unsere Rippen presst und winselt?

Sie verstehen nicht, dass wir uns Zucker von den Handflächen lecken müssen, bis wir süß genug sind, um uns wieder mit nach Hause zu nehmen. Wie wir manchmal vor Fenstern stehenbleiben, bis wir dahinter dunkel sehen, wie die Tage hart sind und wir härter. Wie wir immer enttäuscht sind von unseren Vätern.

Sie würden nicht fragen müssen, warum wir weinen, wenn sie wüssten, dass wir den ganzen Herbst lang versucht haben, so blau und leer wie der Himmel zu werden.

Und wenn in jeder Sekunde fünfzig Millionen Zellen in uns sterben, wie können sie dann behaupten, dass wir noch nichts über den Tod wissen?

Könnten wir noch einmal von vorne anfangen, würden wir sie, denke ich, fragen, ob es manchmal okay ist, nicht »Tschüss« zu sagen, und ob sie wirklich etwas von dem Wunsch verstehen, sich die Haare abzuschneiden, nur um zu sehen, wie weit wir uns reduzieren können, wie viel wir von uns abnehmen, abknibbeln, abführen, abtrainieren müssten, um uns wieder überall zu spüren.

Ich glaube, unsere Eltern wissen nicht, dass wir lügen, aber ich weiß, dass wir nur versuchen, uns mit den tödlichsten Mitteln so lebendig wie möglich zu fühlen.

Ich würde wetten, sie ahnen längst, dass hinter unserem Lächeln nach jeder gestellten Frage ein Stoppschild glänzt, aber sie glauben an die schönen Abende und an die netten Nächte und wissen nichts von den kalten Betten und von unserem Drang, die ausgelöschten Zigaretten immer noch mit einem Schuh zu zertreten.

Ich glaube, wir haben ihnen nichts erzählt von den Sektfeten und dem Warten auf ein Zeichen von Hauptsache-Irgendwem, dass er ohne uns nicht leben kann.

Vielleicht fragen sie sich immer noch, warum wir in der Nacht nicht nach Hause kamen und wie lange wir woanders wohl wachgelegen haben. Und warum wir schon wieder nach Geld fragen und nie, wie es ihnen wirklich geht. Wie wir selbst keine Art der Nachfrage ertragen und jedes ernsthafte Gespräch vermeiden, aber alle Umstände eingehen, um online zu bleiben.

Ich glaube, unser Eltern hätten keine Kinder gemacht, wenn sie nicht auch das Bedürfnis hätten, sich irgendwo zu hinterlassen, und wenn wir etwas geerbt haben, dann das: Es nicht fassen zu können, irgendwo gerade nicht zu sein, und wie verbissen wir versuchen, auf allen Haltestellen ein »ich war hier« verewigt zu wissen. Wie wir schöne Worte, Essen und Orte nur fotografieren, um uns zu vergewissern, dass wir wirklich dort waren. Wie wir die Leute hinter den ganzen Gefällt-Mir-Angaben kaum noch kennen, aber es wichtig ist, zu wissen, dass sie uns noch nicht vergessen haben.

Was wir ihnen nicht vergeben, ist, dass sie immer noch unsere Milchzähne aufheben, aber unsere größten Probleme kleinredeten, als sie selbst Angst hatten davor. Sie hätten zuhören sollen, wenn wir von dem Geruch von alten Turnmatratzen und Schwimmbadchlor erzählten und wie er sich über die Jahre in unseren Köpfen eingehämmert hat. Und von den Pausen, die wir auf den Schulklos verbrachten, von dem: »Nein danke, ich bin schon satt«, von den Hartplastiktischen, dem Kreischen von Kreide auf schwarzer Tafel.

Von der Angst, dass wir unser Parfüm zu stark aufgetragen haben und dass unsere Eltern zu viel von uns erwarten und dass sie recht haben könnten, wenn sie meinen, zu wissen, was das Beste für uns ist.

Während wir uns immer noch fragen, wie viel Trinkgeld angemessen ist und wie man mit Messer und Gabel wirklich richtig isst, in einem Restaurant, das drei verschiedene sorgsam nebeneinander legt, und ab wann man nicht mehr die Verantwortung für einen Menschen trägt und ob man »Nein« sagen darf, ohne es zu begründen, und ob es okay ist, sich nicht mehr zu melden und einfach so aus einem Leben zu verschwinden, und wir würden das nicht zugeben, aber manchmal lagen wir deswegen die ganze Nacht schon wach.

Wie wir nie unsere ganzen Namen nannten, aber uns immer angesprochen fühlten, wenn jemand im Gang von »hässlich« sprach.

Wenn unsere Eltern sich beschweren, dass wir etwas vor ihnen verbergen, vergessen sie, dass wir, seit wir sechs sind, nichts Anderes kennen, als von eins bis sechs bewertet zu werden.

Ich glaube, sie unterschätzen, wie sehr wir uns zuerst über unsere Fehler definierten und was wir daraus machten, sie unterschätzten die Zeit, die wir vor dem Spiegel brauchen, damit sie unsere Gesichter jetzt nicht mehr beachten.