Im Heuschreck - Heinz Emmenegger - E-Book

Im Heuschreck E-Book

Heinz Emmenegger

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Beschreibung

Es wird viel passieren im Universum. Herr Berchtold wird zu Fuß nach Afrika gehen und im Weltall landen, die fesche Frau Meier wird eine Altersliebe finden, der afrikanische Nachbar Josef wird einen Pajero kaufen, der Geheimdienstmann Herr Sessouma wird eine geheime Mission haben, sein ehemaliger Lehrer Herr Yussuf wird aus einem philosophischen Buch zitieren, und Metzger Schwegler wird ein Raumschiff besorgen müssen. Am Ende werden sich Zeit und Raum wieder einrenken, und Pfister und seine Frau Heidi werden sich Fetisch sein. Krimi, surreale Komödie, Fetischroman, philosophisches Kabinett, Reiseroman – dies alles und noch viel mehr ist der dritte Roman von Heinz Emmenegger.

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HEINZ EMMENEGGER

IMHEUSCHRECK

ROMAN

Für Klara, Anton und Pius

Heinz EmmeneggerIm Heuschreck

lectorbooks, ein Imprint der Torat GmbH, Zü[email protected]

Lektorat: Patrick SchärKorrektorat: Ina SerifGestaltung Umschlag: André GstettenhoferUmschlagbild: iStock.com/bartystewart

©2017, lectorbooks/Torat GmbHAlle Rechte Vorbehalten

ISBN 978-3-906913-06-3

Inhalt

Im Heuschreck

ZUM AUTOR

Eines Tages wird Pfister mit seiner Frau Heidi zum Begräbnis von Herrn Kummer spazieren. Dieser Tag wird ein trauriger Tag sein. Ein Vegetarier wird abgedankt werden, ein Verlust an ökologischer und moralischer Verseelung. Die Asche eines bescheidenen, schlanken und immer noch gesunden Mannes von dreiundsiebzig Jahren wird in einer hübschen, einfachen Urne aus afrikanischem Ebenholz in Form einer übergroßen Heuschrecke zu Grabe getragen werden. Dieser Ebenholzheuschreck wird Herrn Kummers letztes Reisesouvenir sein, heimgebracht aus einem afrikanischen Land voll begabter Sarg- und Urnenschnitzer. Herrn Kummers Reste werden im Magen des Heuschrecks liegen, eingefüllt über den dünnen Hals, auf den der Kopf geschraubt ist, geschmückt mit ebenholzschimmernden Augen.

Auch Herr Berchtold wird zu diesem Begräbnis spazieren. Herr Berchtold, der Herrn Kummer die Reise nach Afrika vermittelte. Herr Berchtold, der eines der Motivationsteile gewesen ist, die Herrn Kummer im Alter noch beinahe zum Fleischfresser gemacht hätten und ihm immerhin einen erheblichen Konsum an Insekten ermöglichten. Herr Berchtold wird vielleicht der traurigste Trauergast sein, hat er doch Herrn Kummer die letzten Jahre sehr lieb gewonnen. Beide, Herr Kummer und Herr Berchtold, haben sich lieb gewonnen, ihr Alter Ego im anderen entdeckt und aufs Alter hin schätzen gelernt.

Hier und jetzt wird er gehen, der Herr Berchtold mit seiner Legionärsvergangenheit, seiner Zuneigung zu fröhlich feschen Frauen, seinem täglichen Fleischkonsum, am liebsten Rind und Kalb, seinem gepflegten, mehrere Jahrzehnte alten Ford Granada, seinem entschlossenen Auftreten als Hausbesitzer und ehemaliger Versicherungsdetektiv.

Weit weg wird Herr Kummer selig und zerstäubt liegen, ehemals gesegnet mit seinem Hang zu Askese, Fußgängertum, Nacktbaden, empfindsamen, ausweichenden Damen, pflanzlicher Nahrung und im Alter der Einnahme von Heuschrecken sowie auch gern ein paar gesammelten Hirschhornkäfern, denen man mit Vorteil erst das Horn bricht und es als Trophäe sammelt, bevor man sie zu sich nimmt.

Beiden gemeinsam wird das Faible für Gesundheit, Schlankheit und Sport sowie eine erkämpfte Sanftmut gewesen sein, welche es solchen Herren erst erlaubt, sich näherzukommen und auszutauschen, und es Herrn Berchtold ermöglichen würde, bei der Bestattung von Herrn Kummer Tränen zu vergießen.

Pfister und seine Frau Heidi werden Herrn Berchtold auf dem Trottoir beim dick aufgemalten Zebrastreifen treffen, um Abschied zu nehmen von ihrem gemeinsamen Freund und Nachbarn Herrn Kummer. Pfister als Vater und nun endlich multifunktionaler Fernsehangestellter wird aus seinem Status als überaus sinnvolles Mitglied der Gesellschaft viel Trost schöpfen. Heidi wird sich diesem Trost anschließen. Beide werden keine Tränen vergießen, aber der Trauergemeinschaft etwas von ihrem Glück abgeben.

Es wird ein schönes, würdiges und anregendes Trauermahl geben, gestiftet vom Metzger Schwegler, zwar nicht ohne Rücksicht auf die zahlreichen Vegetarier, aber halt doch im Sinne des Vegetariers Kummer, der kurz vor der Schwelle zum Fleischkonsum gestanden und über Herrn Berchtold auch ein freundschaftliches Verhältnis zum Metzger Schwegler aufgebaut haben wird.

Ein Salatbuffet wird den Mittelpunkt bilden, etwas kaltes Fleisch vom Rind, Schwein und Schaf, dazu diverse Käse, Brote und Brötchen, abgerundet mit einer Handvoll frischen, kurz gedünsteten und ungewürzten Alpenheuschrecken, von Schwegler vor Ort zubereitet.

Herrn Kummers Vegetarierfreunde werden verwundert sein, werden etwas ungläubig erstmals zur Kenntnis nehmen müssen, dass Herr Kummer aufs Alter hin offenbar schwach geworden ist, werden seinen eigentlich frühen Tod in Erwägung von Herrn Kummers äußerlich gesunder Erscheinung womöglich auf diesen offenbar in die Wege geleiteten Fleischkonsum zurückführen, auch wenn er bei den Heuschrecken stecken geblieben ist, denn das Hirn isst mit und disponiert schon mal um in Erwartung möglicher Änderungen im Verdauungswesen. Solche Überlegungen werden sich selbstverständlich nicht nur auf die Vegetarier beschränken, sondern beinahe alle Mitessenden und Mittrauernden befallen. Änderte Herr Kummer seinen Lebensstil angesichts des nahenden Todes oder überhaupt des Todes, oder führte der sich ändernde Lebensstil zum Kollaps? Weise und langweilig, wie das Publikum ist, wird es beiden Möglichkeiten Platz einräumen.

Zuvor aber werden Pfister, seine Frau Heidi und Herr Berchtold sich spazierenderweise beim immer noch neu scheinenden und etwas dick aufgetragenen Zebrastreifen an der Kreuzung beim Quartierladen treffen und sich gegenseitig in ihrer Kleidung begutachten.

Herr Berchtold wird schon seit längerer Zeit bedauern und dieses Bedauern auch bei Herrn Kummers Bestattung mit sich tragen, dass eine gewisse Verluderung im Tragen der adäquaten Trauerkleidung eingekehrt ist. Nicht dass ein Trauergast nur in Schwarz daherkommen muss, doch wenigstens für diesen Anlass gehörte eine anständige, saubere und vor allem nicht vom Alltagsgebrauch gekennzeichnete Kleidung unbedingt zur respektvollen Ausstattung eines jeden Trauergastes. Was Herrn Berchtold besonders stört und stören wird, sind Daunenjacken anstatt Mäntel, Jeans anstatt richtiger Hosen, Turnschuhe sowie alle Art abgelaufenes und vor allem billiges Schuhwerk. Die Köpfe verdienten oftmals auch ausgetauscht zu werden, keine Würde, keine Wertschätzung des besonderen Anlasses ist im Gesicht abzulesen.

Obwohl nur durch romantischen Fehl in die Fremdenlegion gelangt und von all dem blutigen, eitrigen und psychiatrischen Elend der Truppe sowie dem sozialen und kulinarischen Elend der zu traktierenden Bevölkerung ein für alle Mal zum größten Teil vom Militarismus befreit, erinnert sich Herr Berchtold auch zukünftig doch immer gern der hübschen militärischen Begräbnisse, die auch unter widrigen Umständen durchzuführen waren. Soldaten schätzen den Tod. Herr Berchtold selbst wird braun erscheinen mit schwarzer Krawatte und schwarzen Schuhen, Pfister dunkelblau mit ebenfalls schwarzer Krawatte und schwarzen Schuhen, Heidi schwarz mit blauem Foulard und schwarzen Schuhen. Herr Berchtold wird zufrieden sein, auch mit dem Zustand der Kleidung, und sich ohne Scham nun dem Paar anschließen können.

Heidi wird sich ebenfalls an Herrn Berchtolds gefälliger Erscheinung erfreuen, auch mit jener ihres Mannes zufrieden sein und sich dabei vorstellen, wie die beiden im pflegebedürftigen Alter zu handhaben und anzuschauen wären; Herr Berchtold wohl früher, viel früher, wenn überhaupt noch, der ihr zur Pflege anvertraute Pfister erst in ein paar Jahrzehnten, wenigen Jahrzehnten, Herr Berchtold aber schon bald, auch wenn er jetzt noch drahtig daherkam. Wenige Jahre trennten ihn vom Totsein und zuvor vom Hilflossein, und sei es nur für Tage oder Minuten. Bei Herrn Kummer wird dies nicht der Fall gewesen sein, als Vegetarier stirbt man unverblödet, rasch, selig und gesund, so jedenfalls wird sich nicht nur Heidi das vorstellen. Die beiden Fleischfresser Pfister und Herr Berchtold dagegen würden sicher zuvor etwas abbauen in ihren geistigen und mentalen Fähigkeiten, ja, werden teilweise jetzt schon so weit sein. Doch Heidi wird wissen oder auch ahnen, dass blöde Männer einen gewissen Sexappeal haben, der tiefer und unerklärlicher gründet, als oft gewünscht.

Pfister wird sich bei Herrn Berchtolds Anblick auf der anderen Seite des dick aufgemalten Zebrastreifens ebenfalls nicht enthalten können, einige Gedanken an die Endlichkeit ihrer aller drei zu verschwenden. Er wird sich vorstellen, wie er auch bei Herrn Berchtolds Beisetzung zu einem sicherlich schmackhaften Leichenschmaus geladen werden wird, wohl ohne Heuschrecken, aber mit Rinderbraten. Die Vorstellung des eigenen Abgehens wird Pfister darob hübsch verstecken können.

Herr Berchtold wird Pfisters über die Straße gereichten stummen Vorschlag zwiespältig aufnehmen, ihm selbstverständlich ein deftiges Leichenmahl nicht verwehren wollen, aber dem eigenen Ableben etwas widerborstig entgegensehen. Zwanzig Jahre wird er sich schon noch gönnen wollen, in bestem Zustand natürlich. Zwar wird ihn Herrn Kummers Tod nachdenklich stimmen, beinahe nachdenklicher als der alltägliche Tod während seiner Legionärszeit, der ausweichlicher war, freier gewählt als das unweigerliche Alterssterben. Doch Herr Berchtold wird entschlossen sein, Haltung zu bewahren, auch wenn er zunehmend einzigartiger sein wird in seiner Generation und bald jeden Monat zu Begräbnissen geladen werden wird.

So werden sie sich begegnen am dick aufgemalten Zebrastreifen und zusammen zum Friedhof spazieren, während Pfisters und Heidis Kind von den Klötzen weg sich in eine von der Krippenleiterin herbeigerufene Kinderrunde begeben wird, um bei einem Singspiel mitzumachen.

Herr Kummer wird in der Heuschreckurne warten, geduldig, staubig, nicht bei Sinnen. Es war nicht nur schön gewesen in Afrika, faszinierend und beeindruckend zwar schon, aber auch anstrengend und bedrückend. Doch der Sargmacher in Ghana hatte es Herrn Kummer angetan, und so ließ Herr Kummer sich die Urne fertigen.

Afrikanische Heuschrecken, fliegende Crevetten, fantastisch in Geschmack und Biss, derentwegen war er überhaupt gegangen. Für den Anfänger waren sicherlich die kleineren mitteleuropäischen Kaliber geeigneter, um die erste Scheu zu überwinden. So eine afrikanische Heuschrecke dagegen, da sah man mehr und spürte auf der Zunge, was in den Magen gelangen sollte. In Afrika lernte Herr Kummer nicht nur Riesenheuschrecken kennen. Töpfe voller lebendiger Maden, groß, saftig und absolut deliziös, zierten manchen Marktstand. Aber Herr Kummer mochte die Heuschrecken am liebsten, sie waren schöne Tiere, sauber und knackig. Käfer waren schwieriger, der Panzer doch etwas fester und oft nicht ohne Schälen oder Vorbehandlung wirklich genießbar, geschweige denn die Geweihe der Hirschhornkäfer, die andernorts achtlos im Abfall landeten, bei Herrn Kummer jedoch lose angesammelt in Zigarrenkisten lagen, um bei Gelegenheit präsentabel hergerichtet zu werden. Dies würde vielleicht eine Aufgabe für den Metzger Schwegler werden, als Kompensation für dessen abgebrannte Modellbahn und die damit hingegangene Möglichkeit, seinem feinmotorischen und überväterlichen Drang nachzugehen.

Schwegler wird sich ja nur schon als Ausrichter des Buffets zur Trauerfeier von Herrn Kummer begeben, eines Vegetariers, der zeitlebens nie einen Kauf in Schweglers Metzgerei getätigt hat, aber in seinen letzten Lebensjahren Schwegler immer nähergekommen ist. Die Vorbereitungen für einen Engrosladen für Insektenesser in Schweglers zuerst ehemaligem Schlacht- und danach auch ehemaligem Modellbahnraum, der nach dem Brand nun wiederhergestellt ist, werden schon weit gediehen sein. Nun aber wird Herr Kummer sein Alterswerk nicht persönlich weiterführen dürfen, sondern als Asche lediglich darauf hoffen, dass Schwegler daran festzuhalten gedenkt und dabei vielleicht auch die Hirschhornkäfergeweihsammlung zur Ausstellung bringen wird. Schade nur, dass nicht auch Herr Kummer selbst als Urneninhalt zur Schaustellung gebracht werden kann, eine schöne Urne, zu schade, um in einem Urnenloch versenkt zu werden. Die schweglersche Metzgerei wäre der adäquate Platz und würde Herrn Kummer das richtige Andenken vor allem im Quartier bescheren. Die Lebensmittelverordnung aber wird dem wohl im Wege stehen. Zum Insektenesser wird noch mancher werden, doch Herrn Kummers Urne in Schweglers Metzgerei grenzt an Kannibalismus, verschlossen oder offen.

Herr Berchtold wird denken während des mit Pfisters gemeinsam absolvierten Ganges zu Herrn Kummers Abgangsfeierlichkeiten. Herr Berchtold tut das nicht immer, denn schon seit einigen Jahren hat er sich angewöhnt, hin und wieder nicht zu denken. Erst ganz bewusst, inzwischen auch spontan und etwas unkontrolliert. Er denkt dann: »Nun denke ich nicht.«

Dies hat Herrn Berchtold das erste Mal sehr verwundert, was den Sachverhalt recht genau trifft, denn anstatt zu denken, wunderte er sich.

Dieses Wundern war Herrn Berchtold recht angenehm und er mochte es gar nicht mehr missen. Herr Berchtold hatte als Versicherungsinspektor sehr viel gedacht und sich nur selten gewundert. Ja, es war seine Aufgabe gewesen, dem Wundern den Garaus zu machen. Nach der Pensionierung jedoch gelang es ihm, sich zu wundern.

Nun war aber das Wundern Herrn Berchtold nicht ganz unbekannt, schließlich war er aus Liebeskummer in jungen Jahren in die Fremdenlegion eingetreten, kaum ein sehr gedankenvoller Akt, und hatte in Afrika doch einige Wunderlichkeiten erlebt, Wunderlichkeiten, die er im Nachhinein sicher weniger wunderlich empfindet oder beurteilt, je nach Modus, Denk- oder Wundermodus, der eben sein Hirn regiert. Und so wurde Herr Berchtold im damals für den jungen Legionär so wunderlichen Afrika zum Versicherungsinspektor und damit zum Denkenden, Wunderbegreifenden, um es als Pensionär wieder abzulegen, eine zweifellos beachtliche Leistung für einen Pensionär, der im Allgemeinen ja dazu neigt, in gewohntem Tritt weiterzudenken, bis es einfach aufhört.

Herr Berchtold aber hat es geschafft, hin und wieder nicht zu denken und dabei anstatt in der Art der Jugend, sich in Un- oder Übermut zu verlieren, angenehme Ausgeglichenheit zu finden. Beinahe ließe sich vielleicht sagen, Herr Berchtold sei über das Erlebnis Fremdenlegion und die darauffolgende Meditation als Versicherungsinspektor zu einem Buddha geworden. Allerdings lässt es Herr Berchtold dann doch nicht ganz zu, diese Fähigkeit des gewollten Nichtdenkens allzu stark nach außen zu tragen. Er hat auch Spaß am Denken und an sich selbst als Figur. Die Figur Pensionierter Versicherungsinspektor Herr Berchtold ist ihm sympathisch und regt ihn zum Schmunzeln an. Dann schmunzelt er im Denkmodus einfach so über sich und denkt hübsch weiter, um weiteren Stoff fürs Schmunzeln zu haben. Er hält etwa vor sich selbst ein kleines Referat über Schmorbrandfälle und schmunzelt dazu oder nebenher oder darob. Man mag das Narzissmus nennen, Herr Berchtold schmunzelt trotzdem.

Es ist ja so, dass Herr Berchtold nicht der einzige Nichtdenkende sein wird. Außer einigen darauf zu prüfenden Bestattungsteilnehmern wird vor allem Herr Kummer der große Nichtdenkende sein. Zerstäubt in der afrikanischen Heuschreckurne liegend, wird er das für alle erreichbare und leider Gottes auch unbedingte Vorbild sein, ob denkend oder nicht denkend. Herr Kummer wird jedoch sehr wohl denken, wie ja alle Toten noch etwas weiterdenken in den Köpfen der Trauernden, wenn man das Denken nur auf die Köpfe von menschlichen Wesen reduzieren will und nicht auch auf Friedhofsamseln, die durch den Anblick eines übergroßen Heuschrecks zum Denken angeregt werden, um der Irritation Herr zu werden, die eine solche Heuschreckurne bei Amseln bewirkt. Ganz nervös werden sie das Gewicht ihres grauschwarz befiederten Amselkörpers von einem Amselfuß auf den anderen gerade daneben verlagern.

Doch noch wird es nicht so weit sein, denn Herr Kummer und seine Urne werden in der Aufbahrungskapelle auf die Trauernden warten und die Amseln draußen in den Büschen der Friedhofshecke. Die Hinterlassenschaft von Herrn Kummer wird in geordneter Weise beglücken.

Afrika ist ein geordneter Kontinent, mitten im Dschungel und auf Elefantenrücken des Hochlandes entzweigeteilt durch den Äquator, gesäumt von Steppe und Wüste.

Schwegler hat wieder eine geordnete Metzgerei.

Pfister lebt in einem von seiner Frau geordneten Haushalt.

Herr Berchtold hatte ein geordnetes Leben, beginnt aber nun doch langsam etwas zu verwahrlosen. Oh welch schöne Ordnung zuweilen in Herrn Berchtolds Kopf anzutreffen war. Früher aber und auch heute wieder und auch auf Herrn Kummers Beerdigung steht der vorhandenen Ordnung zu viel an Masse entgegen. Herr Berchtold wäre denn in lichten Momenten auch froh um etwas weniger Hirn, um der schrumpfenden Kraft des Ordnens etwas mehr Überblick und so effizienteres Denken im Kleinen zu verschaffen. In der Jugendzeit wurde dieses Missverhältnis von der Lehrerschaft und den Offizieren der Fremdenlegion zurechtgestutzt. Im Alter aber finden sich nicht immer zur rechten Zeit die richtigen Leute, Hirngärtner sozusagen, die einen adäquat stutzen und frisieren. Nicht alle Herren dieser Welt haben wie Pfister eine Frau wie Heidi zu Hause, die den Herrn schon in jungen Jahren gut beobachtet. Allerdings darf sich Herr Berchtold recht glücklich schätzen mit dem Verlauf seiner Altersverdummung, die, gewissen Menschen als Altersweisheit ausgelegt, sogar eine letzte Blüte ermöglicht. Generell lässt sich sicher sagen, dass die Vorbereitung auf die Verdummung in jeder Lebenslage äußerst angezeigt ist. Diese Art Vorbereitung ist von größerer Bedeutung als jede finanzielle und materielle Vorsorge. Die finanzielle und materielle Vorsorge sollte lediglich genau diesen Aspekt, eben den finanziellen und materiellen, abdecken oder schlicht erledigen und ist ja nicht gar so schwer wie eben die Vorbereitung auf die Verdummung. Die Verdummung aber bedroht uns immer, die Physiker reden von Entropie. Die Verdummung von Herrn Kummer wird bei seiner Bestattung den Höhepunkt erreichen, wie das so üblich ist, wenn man eingeäschert in der Urne liegt.

Metzger Schwegler nun wird von der anderen Straßenseite her verhalten rufen: »Guten Morgen«, um sich dem Trauerzug anzuschließen, denn der Trauerzug Pfister Fredi, Pfister Heidi und Herr Berchtold wird etwas in sich gekehrt dahingehen. Nicht dass sich Schwegler unbedingt diesem Trauerzug wird anschließen wollen, es wird ihm in gewisser Weise sogar lieber sein, allein zu Herrn Kummers Urne zu gehen, aber er kann ja auch nicht unbemerkt auf der anderen Straßenseite bleiben. So wird Schwegler in den Zug aufgenommen werden, wird die Straße überqueren und alle mit etwas traurig gestelltem Blick per Handschlag begrüßen. Zu Hause wird währenddessen ein halbes Kalb im neu errichteten Kühlraum hängen.

Schwegler ist immer wieder entsetzt über seinen Beruf, denkt aber nicht ans Aufhören. Die kalte Platte des Leichenmahls wird er spendieren. Herr Kummer wird es ihm danken, in der Urne drin. Schwegler wäre so gern Vegetarier geworden wie Herr Kummer Fleischfresser, gern und ambivalent. Schwegler schloss, schließt und wird nicht ausschließen, dass er aufs Alter hin tatsächlich noch zum Vegetarier wird.

Das Kalb ist ein glückliches und weidet zurzeit noch zusammen mit seiner Mutter, Elsa gerufen, auf einer schönen Wiese, geziert mit Nuss- und Apfelbäumen. Auf dieser Wiese weiden achtzehn weitere Kühe, sieben Kälber und der Stier Anton. Anton ist von mildem Gemüt und lässt sich vom Bauer brav führen. Einen Nasenring hat er trotzdem. Anton ist noch jung und hat dank seines sanften Gemütes und gewissen genetischen Eigenschaften ein recht langes Leben vor sich. Er ist gut gebaut, gesund und wenig krankheitsanfällig, aber mit dem Austragen von Kälbern und deren Aufzucht kennt er sich nicht groß aus. Elsa aber, mit Anton nicht verwandt, ist schon recht routiniert in diesem Geschäft und stellt Kalb um Kalb auf die Welt.

Es ist ein grausames Schauspiel, das Ende von Elsas Kälbern. Nicht für Elsa, nicht für die Kälber, vielleicht auch nicht für den Schlachter, für den unbeteiligten Besucher allerdings schon. Junge Kälber, hängend, tot, denen das Fell mit Ketten vom Leib gezogen wird. Schwegler hat es gemacht in seiner Lehrzeit, ja. Alles nicht so schlimm, auch das Töten, doch die Ketten, diese Ketten am Kalb. Für Schwegler nach wie vor das Schlimmste an der Schlachterei, die Ketten, nicht der Bolzenschuss, nicht die Messer, nicht die Säge, nicht das Abhacken der Kalbsfüße, nichts von dem, nur an die Ketten konnte er sich nie gewöhnen. Schwegler trägt Schweins- oder zumindest Rindsleder, Kalbsleder wenn möglich nicht.

Pfister zieht es nach Afrika zu den Heuschrecken, Sahel vielleicht. Es wird ihn beim Promenieren dahinziehen, etwas abweichen wird er vom gemeinsamen Kurs, nach Süden abweichen. Dabei wird er Schwegler touchieren, der eben wieder das Kettenmotiv im Hirn schwenkt. Das Kettenmotiv bringt sich immer ein, wenn Schwegler eine Fußgängerkette sieht, wie sie als Abschrankung bei Tramhaltestellen montiert sind. Schwegler schätzt es nicht, wenn ihm einer zu nahe kommt, auch damit hat er seine Mühe, nicht nur mit den Kälberfellketten, auch ein etwas aufdringlicher Pfister, den er ansonsten ja recht gern mag, auch den wird er deshalb bös anschauen. Pfister wird zwar lachen wollen, aber es dann im letzten Moment unterlassen, bevor er in Schweglers missgünstigen Blick fällt. Pfister wird vor dem Berühren sein Lächeln einstellen, wie ein Vogeljäger seine Flinte etwas vorhält. Wie ein Vogeljäger stellt sich auch Pfister auf die anzunehmende Flugbahn von Schweglers Laune ein. Schließlich kennt er Schwegler besser als der sich selbst, wie auch der Vogeljäger den Vogel besser kennt als der sich selbst und wie auch der Kälbermetzger das Kalb ja besser kennt als jenes sich selbst und wie auch der Menschenmörder sich derselben Überheblichkeit zu rühmen meint, bis es eben passiert und sich die Begegnung tatsächlich ereignet, dann wird Pfisters Lachen weit weg sein und er den Eindruck haben, in Schwegler einen vollkommen unbekannten und nicht beherrschbaren Mitspaziergänger und Mittrauernden gerade empfindlich gereizt zu haben. Angst wird er haben, der Pfister, und sich sogleich dieser Angst wegen schämen, vor allem seiner Heidi gegenüber, die es ja wohl spüren wird. Oder gibt es doch noch Bereiche, für welche die Frauen nicht ganz das Gespür haben, das die Männer sonst so oft entlarvt und verlächerlicht?

Doch Herr Berchtold, der wird es sehr wohl mitbekommen haben, gibt sich aber Mühe, es zu vergessen, und wird darum den Müllmännern zuschauen, ja sogar sagen: »Seit der Änderung der Abholdaten liegt der Dreck tagelang rum. Bis die Leute sich an die neuen Abholtage gewöhnen, das dauert.« Ein hilfreicher Satz, der in den Pulk der Friedhofsgänger wieder Ruhe bringen und mit meckernder Zustimmung quittiert werden wird.

So wird man sich dem Friedhof nähern, vertieft in etwas pietätlose Gespräche übers Abfallwesen. Gerade Herr Berchtold wird hier weiterhin brillieren können mit einigen Aperçus aus seiner langjährigen Tätigkeit als Versicherungsinspektor. Dazu kommt der geschulte Blick auf die anzutreffende Situation, sprich das Verhalten des einzelnen Entsorgers. Dabei wird Herr Berchtold noch nicht einmal den Blockwart heraushängen oder gar sein. Oh nein, Herr Berchtold weiß sich ohne moralisches Werturteil durch das Abfallverhalten seiner Mitbürger durchzuhangeln und selbstverständlich auch Afrika mit einzubeziehen, wo wahre Recyclingakrobaten einen wesentlichen Teil zur jeweiligen Volkswirtschaft beitragen und es auch in Zukunft noch tun werden.

Afrika ist effizient. Dies ist nicht die herkömmliche Meinung, noch nicht einmal vieler Afrikaner selbst, eine Meinung, die sich hinter technischem Fortschritt versteckt, der eigentlich nur das Ergebnis von gelangweilten Europäern ist und Dinge beschleunigt, deren Wirbelschleppen für ziemlich viel Unordnung sorgen können.

Afrikaner verstehen sich aufs Sargmachen so gut wie auf das Spiel mit dem Rhythmus, der Verortung der Zeit. Das wird Herr Berchtold auch an Herrn Kummers letztem Empfang zu schätzen wissen. Es stirbt sich in Afrika für europäische Augen zwar etwas rascher, für afrikanische aber wird es sich umgekehrt verhalten. So wird der afrikanische Geschäftsabschluss von Europäern als Resultat langwieriger und undurchschaubarer Verhandlungen jeweils mit großer Erleichterung aufgenommen. Diese Langwierigkeit haben die Europäer in Paragrafenwäldern institutionalisiert. Was der Afrikaner bespricht, füllt der Europäer ins Formular. So sieht das Herr Berchtold, der es ja wissen muss. Denn was anderes war seine Arbeit gewesen, als Geschichten mit Formularen zu versöhnen?

Auf dem Weg zum Friedhof wird die Gruppe der Trauergäste eine Fußgängerbrücke über die Eisenbahn begehen, und Pfister als Außengehender wird auf dem Areal neben den Gleisen die Autos betrachten, die von libanesischen Autohändlern zum Verkauf nach Afrika da geparkt sein werden, eng nebeneinanderstehend, wie Sardinen in deren Büchsen, manche demoliert, manche zumindest äußerlich gut erhalten. Und wenn Pfister mit diesem Auge so über den farbigen Autoteppich schweben wird, wird er seinen auch nicht mehr so neuen Nachbarn erkennen, den Josef, Mann der Sieglinde, ja, einen derart altmodischen Namen hatte die eigentlich noch junge Frau von ihren deutschen Eltern erhalten, und sie ließ sich auch Sigi nennen. Josef wird bei Pfisters Blick mit einem der libanesischen Autohändler diskutieren, um einen Dieseltransporter etwas billiger zu erstehen. Er wird ihn füllen mit allerlei technischen Geräten, die hier ausrangiert, da aber begehrt sind. Da, das ist dort, wo Herr Berchtold sowohl als Fremdenlegionär als auch als Versicherungsinspektor tätig und zu Ruhm gekommen war.

Pfister wird nicht ganz überrascht sein, Josef bei den Libanesen vorzufinden, schließlich hat er ihm auch schon seinen alten Computer zugetragen, aber die Details waren ihm nicht bekannt. Pfister wird Heidi anstupsen und auf den Marktplatz unter ihnen zeigen.

»Schau, Josef.«

»Ah ja. Was macht er denn da?«

»Wahrscheinlich einen Bus kaufen, für Afrika.«

»Ja so, dein alter Computer.«

»Genau.«

Schwegler wird sich nicht allzu sehr interessieren, Herr Berchtold dagegen schon und so die kleine Gesellschaft zum Stehen bringen. Herr Berchtold wird sich an die Brüstung drängen und neugierig hinunterschauen, was Pfister eigentlich hatte vermeiden wollen, denn Josef soll seinen Geschäften ungestört nachgehen können, gerade jetzt, wo er doch offensichtlich am Feilschen ist. Herr Berchtold aber wird sich nicht zieren.

»Ihr Nachbar, Pfister?«

»Ja, schickt altes Zeugs nach Hause.«

»Mmh.«

Zu Pfisters Erstaunen wird sich Herr Berchtold wieder von der Brüstung lösen, um weiterzugehen, die Trauergruppe mitziehend, während Schwegler nun bald das langsam herannahende Schaufenster des Berufskollegen Schnitzler ins Visier nehmen wird. Es wird eine erwartungsvolle Ruhe herrschen, bis Herr Berchtold als anerkannter Afrikaexperte endlich einige Worte zum Gesehenen von sich geben wird.

»Ja, Afrika. Ist es nicht wunderbar, wie uns unsere Herkunft wieder einholt? Da sind unsere Vorfahren vor Jahrmillionen aus Afrika weggeflüchtet, und nun hat es uns wieder eingeholt. Herr Kummer hat das gewusst, und bei all seiner Vegetariernaivität, der Mann hat den Bogen ganz gemacht, Chapeau.«

Schwegler wird vom Schaufenster des Konkurrenten erst glücklich, wenige Sekunden später aber unglücklich enttäuscht sein, da ein solch schlechtes Schaufenster der ganzen Metzgerzunft in ihrem Kampf gegen die Großverteiler nur schaden kann. Herr Berchtold wird in seinem momentanen und universalen Gespür Schweglers Gedanken lesen können.

»Dieses Schaufenster da, schrecklich. Die Metzger sollten sich wehren gegen die Großverteiler, das geht nur mit etwas Profil, so wie Sie, Schwegler. So ein Schaufenster tut eurer Zunft nicht gut. Bald wird er eingehen und dafür Platz machen für eine Insektenhandlung. Wenn man sich mal überwunden hat, sind zum Beispiel die Larven des Sagokäfers etwas vom Besten, was diese Welt an Kulinarik zu bieten hat, und in zwanzig Jahren wird das bei uns gang und gäbe sein. Ja, Schwegler.«

Heidis Interesse wird nun auch geweckt werden. Nach den immer etwas langfädigen und breit ausgeführten Erkenntnissen der Herren wird sich in der Käferfrage doch noch ein interessantes Thema ergeben. Heidi gehört nicht in die Kategorie der »Wäh«-Frauen.

»Kann man so was denn heute schon kaufen?«

Pfister wird diesbezüglich mehr Bedenken haben und geistig sehen, wie sein beglückender Blick und Griff in den mit Bierflaschen gefüllten Kühlschrank von mit dicken Maden gefüllten Tupperwareschalen arg beschädigt werden wird. Er wird die Tupperwareschalen genau vor sich sehen, die blaue und gelbe mittelgroße, Deckel zwar drauf, die Maden unterkühlt, aber immer noch etwas lebendig, schattenhaft zu sehen durch das halbtransparente Tupperwareplastik. »Hoffentlich nicht«, meint er deshalb etwas angewidert.

»Ich weiß gar nicht, was Sie haben, Pfister«, wird Herr Berchtold fordernd meinen. »Herr Kummer war auf dem besten Wege, eine solche Einrichtung hier zu installieren. Und das mithilfe von Schwegler, nicht?«

Schwegler wird nicken.

»Was?«, wird Pfister aus seiner Ahnungslosigkeit heraus erschreckt kommentieren.

»Ja, Herr Kummer wollte in Schweglers Metzgerei Insekten verkaufen.«

»Die fressen ja das schöne Kalbfleisch, das geht doch gar nicht, das erlaubt kein Lebensmittelinspektor«, wird Pfister jetzt schon recht enerviert einwenden müssen.

»Wissen Sie denn beide nichts von Herrn Kummers Plänen?«, wird Herr Berchtold nun fragen und im zweiten Teil der Frage etwas vorwurfsvoll Schwegler anschauen.

»Nichts, nein, gar nichts«, wird Heidi sagen.

Pfister wird es Schwegler übel nehmen, nicht eingeweiht worden zu sein. Schwegler wird grinsen, verlegen grinsen, und dazu brummen: »Ja … Also … Es sollte noch ein Geheimnis bleiben. Ist ja doch etwas heikel. Aber ich hätte es dir nächstens gesagt, Fredi. Schmeckt ganz gut, das Zeugs, ehrlich. Gesund, und vor allem die dicken Maden sind sehr schön im Biss.«

»Wäh. Aber das ist doch wohl nun gestorben. Ich meine nicht Herrn Kummer, die Idee, dieses Projekt. Meinst du, ich komme bei dir noch einkaufen mit so Viechern überall?«

Heidi kneift ihrem Pfister in den Arm. »Wenn du nicht gehst, geh ich halt. Wir werden uns dran gewöhnen.«

»An was?«

»Ans Madenessen.«

»Nie, nie, nie.«

Hier wird sich Herr Berchtold einmischen wollen. »Aber Pfister, die schmecken wirklich gut. Ist bloß eine Sache der Gewohnheit. Als ich noch in Afrika war …«

»Bin ich denn hier in einem Horrorfilm, wie heißt der schon wieder, aus den Siebzigern, wo alle mit den Puppen der Außerirdischen rumlaufen?«

»Körperfresser, ah, die Körperfresser kommen«, wird Schwegler sofort zu ergänzen wissen.

»Genau, furchtbar!«

Mit »Vor allem die Vorstellung, dass die eigene Frau sich umwandelt, ist schlimm, gell, Fredischatz« wird Heidi ihren Pfister anlachen.

Pfister wird erschrecken, für alle ersichtlich. Eine Sekunde lang wird sein sonst so heiteres Gesicht erstarren, einfach tot sein, und so die Wandlung als Schreck an die Trauergänger weitergeben.

Herr Kummer, ebenfalls im Schreck, im Heuschreck drin, kann da nicht mithalten, eine lebende Totenmaske ist mehr Erinnerung an das Unvermeidliche als ein farbig glasierter Holzheuschreck. Doch das Unvermeidliche ist nicht der Tod, sondern die Wandlung, jene, die man sich nicht wünscht, die Wandlung in eine Insektenlarve und später einen Käfer in Schweglers künftiger Auslage. Da ist Gregor Samsa noch ein harmloser Fall. Pfister dagegen würde seine eigene Frau in Schweglers Auslage entdecken müssen, als Riesenmehlwurm, von Schwegler hochgezüchtet, zum Verzehr gedacht vor der Wandlung in eine Larve mit anschließendem Schlüpfen des flugfähigen Insekts, Flügelspannweite fünfzig Zentimeter, so groß wie Herrn Kummers Gemach. Der Heuschreck als Buddha, Herr Kummer als Asche mittendrin in scheinbar karmischer Verruhung oder Materialisierung abendländischer Seelenträume, resistent gegen Befraß und Wandlung. »Was ist Asche?«, würde Sokrates fragen und vom Chemiker die für ihn falsche, aber ehrlich gemeinte Antwort erhalten, es sei der anorganische Rest verbrannten organischen Materials, vornehmlich Metall- und Carbonatoxide.

Pfister wird zu seiner Beruhigung an den Gartengrill denken, den er noch nicht von der Asche des vorgestrigen Grillens befreit hat, um damit die Thujahecke zu düngen.

Aber wir schwenken vielleicht besser zu den Schleichenlurchen. Schleichenlurche finden sich in den Tropen, sie sind keine Froschlurche und auch keine Schwanzlurche, sondern, um es platonisch zu sagen, die Verkörperung der Schlangenidee unter den Amphibien. Man kennt sie kaum, weil sie im dunklen tropischen Wasser und Schlick herumschleichen. Der unbedarfte Beobachter wird sie mit Würmern verwechseln, doch spätestens bei einem einmetrigen Schleichenlurch wird das etwas unheimlich. Das größte Verbreitungsgebiet der Schleichenlurche findet sich in Südamerika, doch auch Herrn Berchtolds Afrika bietet gewisse Verbindungen an, auch hier leben Schleichenlurche im tropischen Sumpf, und Herr Berchtold hat sogar während seiner Legionärszeit mit einem Schleichenlurch ein Gespräch geführt.

Den Schleichenlurch traf Herr Berchtold in der Höhle mit der toten Giraffe an. Die Giraffe war, wie Herr Berchtold selbst, durch ein mit Buschwerk verwachsenes Loch in die Höhle gefallen und konnte sich nicht mehr daraus befreien, Herr Berchtold dagegen schon. Doch bevor Herr Berchtold, seinen Schreck und Ekel überwindend, am leichenstarren Hals der Giraffe hochkraxelte, deren Kopf knapp aus der Höhle ragte, traf er auf den Schleichenlurch. Herr Berchtold hatte wie neunundneunzig Prozent aller Menschen noch nie etwas gehört von Schleichenlurchen und hielt das Tier für eine Schlange. Nun war die Höhle doch recht groß, und wenn sie schon einer Giraffe Platz bot, war da auch genügend Platz für einen Schleichenlurch. Doch Herr Berchtold, der eigentlich keine Angst vor Schlangen hatte, war trotzdem stark irritiert, ja vom Schleichenlurch fast stärker angewidert als von der leblosen Giraffe, deren Hals immerhin sein Weg aus diesem Verließ war. Der Schleichenlurch nämlich sah genauso aus, wie man sich eine Schlange fälschlicherweise vorstellt, wenn man diese Tiere nicht kennt und nie kennenlernen will, weil nur Ekelgefühle das Hirn füllen. Der Schleichenlurch war feucht glänzend und wand sich ungeschickt und plump im feuchten Boden auf Herrn Berchtold zu. Glücklicherweise war Herrn Berchtold bei seinem Fall seine Maschinenpistole, eine MAT 49, entfallen, ansonsten hätte er den Schleichenlurch noch erschossen. So aber schlich sich der Schleichenlurch zu Herrn Berchtold hin und stoppte erst kurz vor dessen Stiefel. Herr Berchtold gab ein »Äh« von sich.

Der Schleichenlurch rülpste und sagte kurz und mit überraschend kristalliner Stimme: »Sie sind hier wohl am falschen Ort?«

Herr Berchtold staunte nicht schlecht und dachte an sein eigentlich noch junges Herz, das ob all dieser erst einfach unglücklichen, dann ekligen und nun fantastischen Ereignisse heftig pochte und vielleicht doch einmal abschalten würde. Herr Berchtold schaute schnaufend, zitternd und verkrampft auf den Schleichenlurch hinab, nicht genau wissend, ob er wegen des Lurchs oder seiner eigenen Verrücktheit sterben sollte.

»Ja«, sagte Herr Berchtold schließlich leise.

Der Schleichenlurch meinte nun: »Ich habe einen Freund, den haben sie verschleppt, dahin, wo du herkommst.«

»Aha, einen Freund?«, fragte Herr Berchtold vorsichtig.

»Einer wie du hat ihn gefangen und mitgenommen.«

»Nun gut, ich kenne keine Zoologen.«

»Zoologen?«

»Ja, Leute, die Tiere erforschen.«

»Tiere erforschen?«

»Ja, Zoologen, kenne ich keinen, tut mir leid.«

»Aber du scheinst mir dem Entführer recht ähnlich zu sein«, meinte der Schleichenlurch und sabberte sich noch näher an den erneut erstarrenden Herrn Berchtold heran.

Die beiden blieben ratlos, der Entführer des Schleichenlurches war nämlich Herrn Kummers Vater gewesen, der tatsächlich Zoologe gewesen war, insbesondere Lurchspezialist, und sich unter anderem mit den wenig erforschten Schleichenlurchen beschäftigte. Unter diversen von ihm gefangenen Schleichenlurchen war auch der Freund unseres schon bekannten Lurchs. Beide hatten sich in der nahe gelegenen Hauptstadt unter einem Laubhaufen kennengelernt. Herr Kummer Senior musste dann seine Expeditionen abbrechen, da Krieg nicht sein Interesse war, dafür war die Fremdenlegion zuständig und der junge, liebeskranke Herr Berchtold, der nun mit dem Schleichenlurch im Dialog stand.

In der Zukunft werden sich die afrikanischen Wege von Herrn Berchtold wieder vereinen. Der Gang mit den Nachbarn zum toten Sohn des schon lange toten Schleichenlurchforschers über die Brücke mit dem darunter Lieferwagen kaufenden Sohn des schon seit Längerem toten afrikanischen Kapitäns von Herrn Berchtolds Flussdampfer, der den jungen Herrn Berchtold einst zum Meerhafen fuhr, wo er in einen französischen Truppentransporter stieg, um endlich wieder zurückfahren zu können, nach Hause, geläutert, voller Afrikaerlebnisse, noch lebend, Glück gehabt, beinahe vorbildlich, tipptoppes Abenteuer.

Doch der Schleichenlurch prägte Herrn Berchtold mehr, als ihm lieb war. Das dunkle Bild vom Schleichenlurch mit seinen fahlen Äuglein, der sich ihm penetrant nähert und ihm die Verantwortung für den verschwundenen Freund auferlegt, hatte sich tief drinnen in Herrn Berchtolds Amphibienhirn festgesetzt. Eine richtige Schlange hätte bei ihm weniger Eindruck hinterlassen, aber dieses ihm unbekannte Zwischentier versetzte Herrn Berchtold fußlos den Tritt fürs Leben. Der Schleichenlurch nagte an Herrn Berchtolds Geschichten-Ich, formte es und würde ihm schlussendlich bei seiner eigenen Trauerfeier die rechte Würze geben können. Die Trauergemeinde erhielt ein Bild von Herrn Berchtold, das maßgeblich vom Schleichenlurch geprägt sein würde. Doch noch wird es nicht so weit und erst Herr Kummer an der Reihe sein.

Herrn Kummers Asche wird ja in seinem Insekt drin liegen, diesem metamorphisierten Wurm, aus Holz geschnitzt, bald Nahrung für seinesgleichen, und da drin staubig der Geschichten harren, die über ihn erzählt werden sollen, begleitet von Schweglers exquisitem Buffet. Und Herr Kummer wird nur noch wenig denken, Asche ist dumm, aber nicht zu unterschätzen, Asche hat Form und Farbe, das ist was, und es ist Intelligenz, so auch Herrn Kummers Asche. Sicherlich denkt Herrn Kummers Asche nicht so komplex wie Schweglers Hirn, wenn er Schweinefilets in die Auslage legt. Und sicherlich falsch wäre es, den Anspruch, dass Herrn Kummers Asche doch auch ein wenig intelligent ist, als bloßen Animismus zu verstehen, auch wenn es diesen damit durchaus etwas stützt und zugänglich macht. Sind Wissenschaftler rückkehrende Animisten, Techniker moderne Fetischisten? Herr Schwegler, was meinen Sie dazu?

Herr Berchtold wird Schwegler fragen: »Wie halten Sie es denn eigentlich mit der Religion, Schwegler?«

Schwegler, immer noch vom Vorbeimarsch am Laden des Konkurrenten absorbiert, wird aufschrecken und feststellen, dass dieses Thema in ihm drin schlummert und jederzeit virulent werden könnte. Schwegler wird nicht denken: »Oh je, dieses Thema könnte virulent werden«, Schwegler wird eine Sehnsucht verspüren, und Sehnsüchte zu verspüren ist nicht das, was ältere Herren ab vierzig sich gern antun. Herr Berchtold wird das wissen. Herr Berchtold würde durchaus das Wort »virulent« verwenden können in seinem Denken über Schwegler. Doch beim Stellen der Frage wird es weniger Herrn Berchtolds Wissen sein als das Spüren, welches ihn nach der Traversierung der afrikanischen Brücke scheinbar spontan diese Frage stellen lassen wird.