Im Iran - Kate Millett - E-Book

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Kate Millett

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Beschreibung

Kate Millett erzählt von ihrem abenteuerlichen Aufenthalt Im Iran gleich nach dem Sturz des Schahs: während einer Zeit, in der es schien, als könnten die Frauen erstmals Einfluß auf die Geschicke eines ganzen Landes nehmen. Kate Millett hat mit den aktivsten und bewußtesten Iranerinnen gelebt – und mit ihnen über die Fragen gesprochen, die Frauen überall auf der Welt nicht zur Ruhe kommen lassen –, bis sie ausgewiesen wurde. Das sehr persönliche Buch einer begabten Erzählerin: voll lebendiger Porträts und Szenen, die uns in Erinnerung bleiben müssen.

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Seitenzahl: 694

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Kate Millett

Im Iran

Aus dem Englischen von Uta Goridis

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Kate Millett erzählt von ihrem abenteuerlichen Aufenthalt im Iran gleich nach dem Sturz des Schahs: während einer Zeit, in der es schien, als könnten die Frauen erstmals Einfluß auf die Geschicke eines ganzen Landes nehmen.

Kate Millett hat mit den aktivsten und bewußtesten Iranerinnen gelebt – und mit ihnen über die Fragen gesprochen, die Frauen überall auf der Welt nicht zur Ruhe kommen lassen –, bis sie ausgewiesen wurde. Das sehr persönliche Buch einer begabten Erzählerin: voll lebendiger Porträts und Szenen, die uns in Erinnerung bleiben müssen.

Über Kate Millett

Kate Millett (1934–2017) studierte in Oxford und an der Columbia University. Ihre literaturwissenschaftliche Doktorarbeit «Sexus und Herrschaft» wurde zu einem der bedeutendsten theoretischen Bücher der Frauenbewegung.

Inhaltsübersicht

Allen Frauen im ...Erster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelZweiter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. KapitelDritter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. KapitelVierter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel

Allen Frauen im Iran ihrer Freiheit ihrer Hoffnung der iranischen Revolution

Erster Teil

1

Verdammt, das Telefon. Das Harz ist fertig angerührt, der Katalysator ist auch schon drin. Die Dickmadam, die ich gestern aus der Garage geholt habe, nimmt auf ihrem Platz unter dem Baum ein Sonnenbad. Noch zwei Schichten auf die Vorderfront; es macht Spaß, ihre Brüste und ihren Bauch zu bestreichen, der Zement bewährt sich, ein gutes Anstreichmittel, nicht dieses fürchterliche plastikartige Aussehen, das ich schon seit zwei Jahren zu vermeiden trachte. Und wenn sie auch noch wetterfest ist. Ja – es ist das Telefon. Noch mehr Harz auf Deanas weißes Hollywood-Telefon, ein schlechter Lohn für ihre Gastfreundschaft.

Wahrscheinlich ist es nicht einmal für mich. Ich bin in Deanas Haus, ein wunderschönes altes spanisches Bauernhaus in einer ruhigen Umgebung, eine Terrasse, die Skulpturen. Und obwohl ich nur die Garage als Werkstatt gemietet habe, kann ich in einem freien Zimmer schlafen, und meine Miete bezahle ich mit Zeichnungen. Ich nenne es das Studio West, der ideale Platz zum Arbeiten; ich komme deshalb auch immer gern hierher, um meine Dickmadams, diese unberechenbaren Skulpturen, die ständig um Hilfe kreischen, wieder instand zu setzen. Aber seit ein paar Tagen, seit es sich herumgesprochen hat, daß ich hier bin, werde ich dauernd durch Telefonanrufe bei meiner friedlichen Alchimie gestört. Das Harz wartet nicht gern. Endlose Unterbrechungen, Vorbereitungen für meine nächsten Unternehmungen, die ich für die Rückreise an die Ostküste geplant habe, die ständigen Anrufe von der Universität Pitsburgh und Ohio, und die Flüge sind immer noch nicht gebucht; sie rufen sogar bei Sophie zu Hause in der Bowery an. Zwei Vorträge auf der Rückreise.

Zuerst jedoch der Abstecher nach St. Paul, eine Familienangelegenheit, eine Versöhnung mit meiner Tante nach all diesen Jahren. Vor zwanzig Jahren schickte sie mich nach Oxford. Ich hatte versprochen, allein zu gehen, nicht mit dieser «Geschiedenen», eine heimliche, perverse Affäre, die Romanze einer Studienanfängerin mit einem höheren Semester, die beide Seiten der Familie vor Entsetzen erschauern ließ. Beide, die meiner Mutter und die der Milletts. Das höhere Semester war nämlich weiblichen Geschlechts, etwas Unerhörtes für St. Paul. Mutter weint, die Milletts bereiten ein Gipfeltreffen vor. Ich soll nur unter der Bedingung, daß ich «diese Frau» aufgebe, Geld für mein Studium in Oxford bekommen. Okay, sage ich, die arme Verwandte, die Chance meines Lebens vor Augen, ich würde eben für die Fahrkarte meiner Freundin jobben. Ich gehe also nach Oxford. Aber mit ihr. Die Sache wird ein paar Jahre später von einem netten Besucher, der überraschend bei uns auftauchte, entdeckt. Der große Krach mit den Milletts, sie explodieren vor Wut und zerfleischen mich förmlich. All das liegt nun schon zwanzig Jahre zurück, sowohl die Affäre mit meiner Freundin wie auch die Geschichte mit meiner Tante. Die eine hatte mich für immer verlassen, und die andere würde nie wieder zu mir zurückkommen. Nur wenn ich mich irgendwie mit ihr versöhnen könnte, zu ihr gehen, mich entschuldigen, mich bedingungslos unterwerfen, meine Schuld zugeben und ihren Segen empfangen würde. Sie ist alt. Und krank, sagte mir meine Schwester. Ich muß nach St. Paul, so sehr ich mich auch davor fürchte. Ihre frostige Stimme, diese Tante, die ich als Kind vergötterte und die mich jetzt in einem Restaurant treffen will, nicht in dem Haus, das ich so liebe; keine Gelegenheit, die geliebten Räume wiederzusehen, das chinesische Pferd auf dem Kaminmantel, die Bilder. Räume, von denen ich immer noch träume und von ihr in ihnen.

Nun, vielleicht am Tag darauf, du bleibst doch eine Woche. In einem Motel. Ihre Stimme, als sie das begriff.

«Warum nicht bei deiner Mutter?» Es mußte auch komisch klingen. Weil ich deine Gunst wieder erringen will und weil ich dir damit beweisen will, daß ich ganz zu deiner Verfügung stehe und sogar meine Mutter deswegen vernachlässige. Weil eure beiden Familien schon seit meiner Kindheit Klassenkämpfe untereinander austrugen. Weil mir meine Mutter wahrscheinlich auch verzeiht, daß ich nach St. Paul komme und nicht bei ihr wohne, während du mir wahrscheinlich nie verzeihst, daß ich mit einer Freundin, einer Lesbierin, nach Oxford ging. Ich erwähnte es wieder, als ich sie wegen diesem Treffen anrief – die Stimme meiner großen Tante Christina, die von Mayo County im Westen Irlands kam, wurde immer vorwurfsvoller und erstarrte dann plötzlich zu Eis. All das liegt noch vor mir. Und es bleiben mir noch anderthalb Tage, um mit meiner Dickmadam fertig zu werden – jede Minute zählt, wenn ich sie draußen liegen lasse, um die neue Schicht zu testen; all diese Flüge, wo ich doch einfach nur ungestört meiner Arbeit nachgehen möchte … das Telefon.

Ich höre eine Stimme. Deanas auf Band gesprochene Durchsage ist zu Ende. Der Fremde fängt an zu reden. Ein Mann. Deutlicher Akzent.

«Khalil aus New York, CAIFI.»

Wenn «Caifi» spricht, muß ich antworten. Das Harz ist dabei, hart zu werden, ich muß wieder neues anrühren, Caifi hat jedoch Vorrang. Caifi, das Komitee für die Freiheit der Künstler und Intellektuellen im Iran, gehört zu den wichtigsten Dingen, die mich in den letzten Jahren beschäftigten. Angela Davis’ Gefängnistrafe bedeutete für mich bald Gefangene überhaupt, politische Gefangene, in Chile und den übrigen südamerikanischen Staaten; aber irgendwie, ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wie es begann, schilderte mir jemand die Lage der politischen Gefangenen im Iran so eindringlich, daß ich nicht darüber hinweggehen konnte. Es war sowohl ein Appell an mein Vorstellungsvermögen als auch an mein ethisches Empfinden – wie eben ein Engagement zustande kommt –, und die Beschreibung kreiste um Folterungsmethoden, um Folter im allgemeinen. Je länger ich zuhörte, desto empörter wurde ich, eine Empörung, die vom Magen ausging und der Empörung glich, die ich bei Sylvia Likens Tod empfunden hatte, die einen dumpf vor sich hinbrüten läßt, wenn man nichts tun kann oder die einen zur Tat schreiten läßt, wenn alles noch offensteht. Wir haben seit Jahren getan, was wir konnten. Manchmal erschien uns das Ganze so sinnlos, all diese College-Studenten, zu denen wir sprachen, denen wir die Schandtaten des Schahs beschrieben. Ungläubigkeit, Erstaunen, Unfähigkeit, es emotional aufzunehmen, und eine totale intellektuelle Gleichgültigkeit. Entweder sie glauben uns nicht oder es ist ihnen gleichgültig.

Wie eine Schafherde glauben sie einfach immer noch: Man gehorcht dem Staat. Bei einem totalitären Regime wartet man auf bessere Zeiten. In Amerika haben wir unsere demokratischen Rechte, die meisten zumindest; wir verdienen sie. In anderen Ländern verdienen sie sie wohl nicht oder legen gar keinen so großen Wert darauf, finden sie eher absurd. Sie haben nun einmal diesen Kerl, und in den Zeitungen heißt es immer nur, er wäre toll. Glanzvolle Uniformen im Wochenendmagazin, die schönsten Farbfotos. Mich haben sie auch verführt. In ihrem Alter hing ich auf den Skipisten herum, kellnerte im Sun Valley, Idaho, und einmal mußte ich auch seiner Hoheit das Mittagessen servieren. Noch zur Zeit Sorayas. Ich versuchte sogar, seine Hoheit in meinem Schulfranzösisch anzureden, der Sprache, die, wie ich dachte, an Höfen gesprochen wurde. Fünf bullige CIA-Gorillas, die mit dem Revolver in der Tasche Ski fahren mußten. Und ein Typ vom Außenministerium. Seine Majestät würde sich nicht mit dem Personal unterhalten, erklärte mir einer seiner Leute in verletzendem Englisch und ich lief schamrot in die Küche zurück. Dessert bitte? «Dessert» ist ein komisches Wort. Aber ich genoß trotzdem seine königliche Aura; wir hielten ihn alle für sehr gutaussehend damals, ein königlicher Playboy, ein höllischer Skifahrer (in jeder Beziehung, er schoß senkrecht, ohne zu wedeln, die Hänge hinunter und seinen Gorillas, die alle professionelle Skiläufer waren, aber durch die Revolver in ihren Taschen und durch seine Art und Weise, Ski zu laufen, in eine gefährliche Situation gebracht wurden, standen die Haare zu Berge). Und wenn er sich an einen Tisch setzte, der zu meinem Revier gehörte, so war das ganz schön aufregend, als hätte man Gary Cooper zum Frühstück, Cary Grant die Woche davor.

Die amerikanischen Studenten mit ihren perplexen Gesichtern muß man wohl erst daran erinnern, daß wir eine Republik sind und Könige als Tyrannen betrachten, daß der Schah von Persien nicht einfach nur zum internationalen Jet-set gehört wie die Filmstars oder die Sportler, die sie bewundern. Die Allmacht der Medien – Fernsehen ist für sie immer noch ausschlaggebender als ihre Lehrbücher. Sie haben nichts mit den Studenten der späten sechziger Jahre gemein, mit uns damals, als wir uns an der Columbia University radikalisierten und der SDS alle Fakten parat hatte. Man denke nur an seine Freunde, die gähnen, wenn man mit ihnen über die politische Entwicklung im Iran, dem CIA-Coup von 1953 spricht, durch den Mossadeghs konstitutionelle Demokratie gestürzt wurde. Vorangegangen war ein Oberst, ein Analphabet, der sich selbst zum Schah erhoben hatte, brutal und kriminell den Thron an sich gerissen und sich später mit den Nazis verbündet hatte. Die Alliierten ersetzten ihn also durch seinen eigenen Sohn, den jetzigen Schah. Auch ein Emporkömmling, der jedoch dank der Ölmagnaten (Mossadegh war nicht «zuverlässig» gewesen, er fing an, die Ölgesellschaften zu verstaatlichen) und der amerikanischen CIA nun der Schah der Schahs genannt wurde, der Schatten Gottes.

Wie ihn wohl die vor Schmerz aufheulenden Insassen seiner Gefängnisse nannten? Neben mir, am selben Tisch, spricht Reza Baraheni mit den Studenten über die Geschichte seines Landes, sehr geduldig, ein Dichter, der hundert Tage Folter ertragen hatte und nun voll Sorgfalt und Liebe die verlorene Konstitution erklärt. Die Studenten schauen zu, unfähig, sich ein Leben ohne die Freiheit und deren Garantien vorzustellen, die er mit seinen Worten liebkost, und sind deshalb auch eher gelangweilt. Sie wissen nicht genau, wo sich der Iran befindet. Sie haben sich nie Gedanken über seine Verfassung gemacht. Wird die CIA erwähnt, so schauen die einen etwas betreten, die anderen ungläubig. Nemat oder ein anderes Caifi–Mitglied wird demnächst sprechen oder hat schon gesprochen. Sie wirken präzis, informativ, aber völlig unfähig, die Anteilnahme ihres Publikums zu erwecken. Rezas Beredsamkeit bewirkt mehr, allein die Tatsache, daß er gelitten hat; sie haben noch nie Einzelheiten über Folterungen gehört und schon gar nicht von jemand, der sie am eigenen Leib erfahren hat. Aber seine Zurückhaltung, seine Vornehmheit, sein exquisiter literarischer Geschmack hindern ihn daran, mit solchen Schockmethoden ihr Verständnis zu erzwingen. Würde er diese schrecklichen, komplexen, ambivalenten Gedichte lesen – wie privat einmal mit Ginsberg zusammen an einem literarisch sehr interessanten Abend, der eher einer iranischen Party glich, obwohl man ihm die hochtrabende Bezeichnung einer «Benefizveranstaltung» für Caifi verliehen hatte –, es würde sie nur noch mehr verwirren; die Beziehung zwischen Folterknecht und Gefoltertem, eine Intimität, die man beinahe als sexuell bezeichnen kann, Zeit, die fraglos ewig erscheint, eine surreale Welt, in der Angst und Schrecken zu etwas Alltäglichem, Routinehaften werden. Sie würden nie verstehen, immer ratloser würden sie eine Art sadomasochistischer Neugierde entwickeln, die ihr nur mit Mühe erweckbares ethisches Empfinden absorbieren würde. Okay, ich werde es tun. Ich werde über Folterungen sprechen, wenn ich an der Reihe bin – ich weiß, daß man sonst nicht an sie rankommt. Daß man diese neue apolitische Haltung, diese neue glatte Oberfläche, diese imperialistische Anomie anders nicht durchstoßen kann. Nur noch ihr Berufsziel vor Augen, haben sie keine Zeit mehr, sich zu engagieren, und sprechen von Resignation; Zeitvergeudung, meinen sie, weil sie keine Lust haben, diese ungeheuere Macht, die sie immer noch besitzen, auszuüben. Die privilegierteste Klasse des Landes, die sowohl über die Zeit wie auch unerklärlicherweise über die Macht verfügt, Universitäten lahmzulegen, in einen Krieg einzugreifen und das Verhältnis zwischen Rassen, Klassen und Geschlechtern zu beeinflussen. Es waren nur ein paar Tage nötig, um eine der wirtschaftlichen Hauptquellen, das amerikanische Kapital, aus Südafrika abzuziehen. Wenn sich auch dafür niemand einsetzt, wie können wir uns dann einbilden, ihr Interesse für politische Häftlinge im Iran erwecken zu können. Sie wurden wahrscheinlich im Verlauf dieser Woche schon von vier andern Gruppen mit den politischen Häftlingen vier anderer Länder bombardiert. Deren Meetings waren sogar noch spärlicher besucht als unseres.

Und unseres besteht zum größten Teil aus iranischen Studenten. Die wahrscheinlich innerhalb der nächsten zwei Minuten losbrüllen. Reza einen Verräter, einen CIA-Agenten, einen Savak-Spitzel nennen. Als es das erste Mal passierte, wußte ich überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. Ich war noch nie so überrascht. «Was sind das für Typen?» flüsterte ich den andern am Tisch zu, als die Buhrufe die Rede unseres Sprechers unterbrachen. Rezas ruhiges, wohlgesetztes Englisch, seine Vornehmheit, die unter dieser brutalen Attacke immer aristokratischer wirkte. Schließlich hörte man nur noch das Geschrei seiner Verfolger. Sie übertrafen die Zaps der Sechziger, übertrafen die Störaktionen gewisser linker Gruppen, die das Recht auf freie Rede oder eine eigene Meinung einfach zur Seite schoben. Aber selbst damals konnte man noch etwas vernehmen, die Zuhörer verlangten, daß zuerst der eine sprach und dann der andere; im Vergleich zu diesem Spektakel war es ein Dialog. Hunderte von wütenden, männlichen Gesichtern, die uns mit Schimpfworten bespien.

Waren es Savak-Leute? Begab sich der iranische Geheimdienst nach South Bend oder Austin oder Bloomington, nur um unser Komitee für die Freiheit der Künstler und Intellektuellen niederzuschreien, eine straffe, engagierte, auf ihre Weise sehr nützliche kleine Organisation, jedoch kaum eine Gefahr für das großangelegte Netz aus Gefängnissen, Agenten, Denunzianten, über das der Schah verfügte?

«Die Savak hat wahrscheinlich doch etwas damit zu tun», meinte Nemat. «Wahrscheinlich gehören manche dieser Typen dazu. Beobachte sie. Vor allem die Gesichter, die zu alt für Studenten sind, die nicht so aussehen. Versuch mal, ob du etwas Typisches an ihnen entdecken kannst.»

«Der da drüben, der sie zu dirigieren scheint.»

«Vielleicht.»

«Der in dem Mantel.»

«Höchstwahrscheinlich.»

«Nemat, ich habe noch nie einen Studenten mit einem solchen Mantel gesehen.»

«Manchmal kleiden sie sich auch ganz unauffällig.»

«Der mit dem Sweatshirt?»

«Wahrscheinlich. Aber ich bin überzeugt, die meisten sind doch Studenten. Manche wurden vielleicht von Savak-Agenten angestiftet und handeln auf Befehl, aber alle übrigen haben ihre eigenen Überzeugungen. Sie bilden eine politische Fraktion. Es gibt sie auf diesem Campus und auch auf andern, auf den meisten mit einer größeren Gruppe persischer Studenten. Es gibt verschiedene Fraktionen, und diese hier nennt sich die kommunistische Revolutionspartei.»

«Ich habe noch nie von ihnen gehört.»

«Sie selbst nennen sich Maoisten.»

«Sind sie das?»

«Soweit ich das beurteilen kann, lesen sie kaum Maos Schriften, und was sie hier anstellen, ist kaum konstruktiv zu nennen; sie hassen den Schah, zumindest behaupten sie das; wenn sie jedoch unsere Veranstaltungen stören, verhindern sie nur, daß wir vor einem größeren Publikum, vor den amerikanischen Studenten und Fakultätsmitgliedern aufdecken, was im Iran geschieht. Sie machen uns viel zu schaffen. Häufig fangen sie auch Schlägereien an.»

Nemat versuchte fair zu sein, aber er sah auch die Gefahr: «Es ist durchaus möglich, daß einige von ihnen Reza niederbrüllen, weil sie tatsächlich glauben, daß er Kompromisse schloß, um aus dem Iran rauszukommen, und er kann sagen, was er will, es interessiert sie überhaupt nicht. Gelingt es ihnen jedoch, ihn als Verräter zu brandmarken … ihn, unsern besten Sprecher, der sowohl hier wie auch im Iran als Schriftsteller einen Namen hat und durch dieses Interview mit Barbara Walters ins Fernsehen kam und außerdem von der Presse …»

«Ja, der lange Artikel über Folter in der New York Times ist der größte Coup, den wir bis jetzt landen konnten.»

«Sicher, und wenn sie seinen Ruf schädigen können, gefährden sie unsere ganzen Erfolge.» Reza hat es nämlich auch geschafft, die PEN-Leute, die Leute um die New York Review of Books, engagierte Schriftsteller wie Arthur Miller, Kurt Vonnegut zu mobilisieren. Doctorow schrieb eine glänzende Einführung zu dem Buch, das Reza hier veröffentlichte.

Als Schriftstellerin konnte ich hier sehr viel weniger Erfolge verzeichnen. Das einzige, was ich je dazu veröffentlichte, war ein Aufsatz über das Einverständnis zwischen dem Schah und den Universitäten, die enorme Summen von ihm angenommen hatten; derselbe Grund jedoch, der mich veranlaßte, ihn zu schreiben, ließ mich auch die akademischen Institutionen dazu aufrufen, von dieser Großzügigkeit keinen Gebrauch zu machen – Folter. Ich war außer mir an dem Tag, als ich in Berkeley zusammenfassend schrieb:

Die London Sunday Times berichtet, daß zwei französische Rechtsanwälte, die gerade aus dem Iran zurückgekommen waren, wo sie durch Zufall an einem der normalerweise nicht öffentlichen Prozesse gegen politische Häftlinge teilnehmen konnten, gehört haben, wie der Angeklagte ihnen auf Englisch «Mister, Mister» zuflüsterte und seinen Pullover hochzog, um ihnen zu zeigen, daß «sein mittlerer Brustkorb und sein Bauch nur noch ein Gewirr von Narben waren, die von schweren Verbrennungen herrührten.» Die Rechtsanwälte, Henry Libertalis und Nuri Albala, erklärten Philip Jacobson von der Sunday Times, daß der Gefangene die Spuren erlittener Folterungen aufgewiesen habe: «Sie sahen fürchterlich aus … und der Rücken war sogar noch schlimmer. Man hatte ein perfektes Rechteck in seine Haut geätzt, und er fiel daraufhin in Koma. Er wurde wieder losgebunden, niemand kümmerte sich jedoch um die Wunde, und die Haut wies später wieder lauter glänzende Brandnarben auf.» Die Geheimpolizei, die direkt dem Schah untersteht, dieser «einnehmenden Persönlichkeit mit dem starken Charakter, die in den letzten fünfzehn Jahren enorm viel für die gesellschaftliche Entwicklung des Irans getan hat» (Präsident Young von der University of Southern California), hat anscheinend einen eisernen Rahmen mit einem Drahtgeflecht, den «Grill» erfunden, auf dem die Opfer dann «gegrillt» wurden. Ein weiterer Bericht über die Taten dieser «einnehmenden Persönlichkeit» stammen von einem Augenzeugen, dem Mitgefangenen des gefolterten Asgar Badizadegan: «Er wurde langsam durch elektrisch erzeugte Hitze verbrannt, seine Hände und Füße waren am Bett festgebunden. Die Verbrennungen in der Lendengegend waren so tief, daß sogar die Wirbelsäule davon betroffen wurde. Er fiel in Koma. Daraufhin wurde er wieder losgebunden und mit seinen eiternden Wunden allein gelassen: der Gestank von verfaulendem Fleisch erfüllte unsere Zelle, alle machten einen Bogen darum. Schließlich wurde er in ein Gefängniskrankenhaus gebracht und mehrere Male operiert. Er kann jedoch nicht mehr aufrecht gehen, sondern nur noch auf allen Vieren kriechen.

Ich bin als Feministin zu Caifi gestoßen. Und ich habe immer bedauert, daß auf feministischer Seite so wenig Interesse für den Iran bestand. Vor kurzem hat sich jedoch NOW um den Fall Vita Tabrizi gekümmert, eine politische Gefangene, die sieben Jahre lang gefoltert wurde, bis sie schließlich aufhörte zu menstruieren, in den Händen und Füßen jede Empfindung verlor, einen schweren Herzschaden entwickelte. Schlaganfälle, Depressionen, Verzweiflung – wie häufig werden die Opfer von Folterungen davon heimgesucht? Vita Tabrizi verschwand vor sieben Jahren, als sie von der Universität nach Hause ging. So läuft das dort. So passiert das. Man geht gegen sieben Uhr weg, es wird gerade dunkel. Ein Auto hält. Entführt einen, ohne großes Aufsehen zu verursachen. Man verschwindet, wird nie wieder gesehen. Die Familie wird nicht benachrichtigt. Sie geht zur Polizei, betrachtet einen als vermißt. Vielleicht geben sie zu, daß sie einen festgenommen haben, vielleicht auch nicht. Im letzteren Fall gerät man häufig in die Hände von Privatleuten, wie zum Beispiel in Argentinien, wo Ultrarechte ihre eigenen Gefängnisse eingerichtet haben, um ihre Opfer ungestört foltern und hinrichten zu können. Es ist sogar möglich, daß die Polizei überhaupt nicht weiß, was die politische oder die Geheimpolizei mit ihren Gefangenen anstellt, oder es erst später erfährt. Wenn es zum Prozeß kommt. Bis dahin ist der Angeklagte nur noch ein Schatten seiner selbst. Vitas Prozeß fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Ein Militärgericht. Ihre Angehörigen konnten nicht kommen, niemand konnte kommen. Das Urteil wurde im geheimen gefällt, wahrscheinlich auch von Richtern, deren Identität geheim blieb. Sie wurde für schuldig befunden – «der Verbrechen gegen den Staat und seine Sicherheit.»

Vita Tabrizi war Soziologieprofessorin an der Universität von Teheran. Ihr Spezialgebiet waren die nationalen Minderheiten, Türken, Turkmenen, Kurden, die, wenn man sie zusammenzählt, die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen; man hat sie ihrer Sprache und ihrer Kultur beraubt, gezwungen, Farsi (Persisch) zu sprechen, und einer persisch sprechenden Minderheit unterstellt. Der Schah selbst spricht besser Französisch als Farsi; Farsi ist jedoch die obligatorische Landessprache. Für alles, was an Bildung noch übriggeblieben ist nach fünfundzwanzig Jahren Schahherrschaft, einer Herrschaft, die ihr gründlich den Garaus machte. Auch dem gedruckten Wort; während er an der Macht war, hatte der Schah fünfundneunzig Prozent aller Publikationen sowie auch sämtliche Oppositionsparteien verboten. Welche Vorstellungen brachten Vita Tabrizi mit den Machthabern in Konflikt? War es einfach ihr Fachgebiet, das als subversiv betrachtet wurde? Reza, ein Türke, bekam schon Schwierigkeiten, als er sich in einem Essay für das Türkische einsetzte, für das Recht der türkischsprechenden Bewohner, sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen und «sogar» in ihr zu schreiben und zu lesen. Hatte Vita an ihrer Universität etwas unterschrieben, eine Petition oder etwas Ähnliches? Es muß einen Konflikt gegeben haben, selbst unter diesem Mantel des Schweigens. In den Bergen gab es sogar Guerilleros. Jedoch nur wenige, und es ist kaum anzunehmen, daß man sie zu ihnen rechnete.

Vielleicht war sie auch nur eine von den Tausenden, die in einem Polizeistaat «irrtümlich» verhaftet werden. Ein Nachbar, der sie anzeigte, ein Nachbar, mit dem sie sich gestritten hatte, der sie nicht mochte, ihr irgend etwas nachtrug. In einem Staat, der auf Denunziation beruht, kann jeder jeden denunzieren. Die Savak wurde auf eine Stärke von hunderttausend Leuten geschätzt. Und zählt man die Denunzianten noch dazu – das kann jeder sein – so läßt sich mit Reza daraus folgern, daß jeder Achte ein Anhänger des Regimes sein muß. Die Savak ist überall, beinahe jeder kennt jemanden oder ist sogar mit jemanden verwandt, der dazugehört. Wie bei uns zur Armee.

Und dann eines Tages, nach all unsern Bemühungen, nach sechs Jahren Caifi, spürten wir, wie etwas in Bewegung geriet. Wir hofften sogar, wir hätten dazu beigetragen, hätten über die Universitäten, durch unsere Veröffentlichungen und unsere Auftritte im Fernsehen den Westen aufgeklärt und vom Schah ein anderes Bild entworfen als die Medien, die praktisch jahrelang nur die Bestrebungen unseres eigenen Geheimdienstes, einer Diktatur in den Sattel zu helfen, unterstützt hatten. Hätten durch all diese Aufklärungsarbeit doch etwas bewirkt. Vielleicht sogar den Protest der in den USA, Frankreich und England lebenden persischen Studenten. Da waren unsere Streikposten in New York und Washington während des Schah-Besuchs, Farahs unvorhergesehene Stippvisite in New York, was Sicherheitsvorkehrungen für über zweieinhalb Millionen Dollar kostete, eine Summe, die wir mit Vergnügen auf den Straßen diskutierten; Streikposten, zu denen ich mich in einer kalten Winternacht zusammen mit Arthur Miller gesellte; auch andere Schriftsteller tauchten auf und ein paar Feministinnen, die bei allem dabei waren.

Und Tausende von empörten, maskierten Studenten, in deren Reihen ich eine Stunde lang mitlief – aus Neugierde und weil ich meine Caifi-Freunde verloren hatte. Caifi ist pazifistisch und vertritt keine bestimmte politische Richtung. Obwohl wir immer ein paar Mitglieder von der Sozialistischen Arbeiterpartei mit trotzkistischen Neigungen haben, sind wir doch ganz schlicht und einfach eine Gruppe, die sich ganz schlicht und einfach für die Menschenrechte einsetzt und deren Ziel es ist, politische Gefangene zu befreien und die Folter abzuschaffen. Wir hofften zwar, daß der Schah gestürzt und Persien wieder eine demokratische Verfassung bekommen würde, aber unsere eigentliche Mission waren die Gefangenen. Caifi klang nie so blutrünstig wie viele dieser Demonstranten, deren ganze Wut sich auf den Schah konzentrierte, die seinen Tod, sein Blut, sein Herz und seine Eingeweide forderten. Eine Zeitlang fand ich sie toll und mitreißend, dann fand ich sie etwas weniger toll, und als ich wieder auf meine alten Caifi-Kameraden stieß, war ich erleichtert – sie waren Freunde. Wenn sie «Nieder mit dem Schah» brüllten, wußte ich, was sie damit meinten.

Inzwischen hörte man es überall. Der Schah selbst bekam es zu hören bei seinem letzten Besuch in Washington. In Paris. Man konnte es schon beinahe im Iran hören. Bei aufsehenerregenden Dichterlesungen. Seltsam, daß die ersten Versammlungen, auf denen offen protestiert wurde, Dichterfeste an der Aryamehr-Universität waren. Ein riesiges Publikum hörte zu, wie immer rebellischere und aufrührerische Verse vorgetragen wurden. Dann wurde die Menge vom Militär überrumpelt, Leute wurden zusammengeschlagen, totgeschlagen. Aber es wurden immer mehr. Sie strömten zusammen, sammelten sich. Und das in einem Land, in dem Zusammenkünfte von mehr als drei Personen bereits verboten waren. In einem Land, das so sorgfältig jeden Protest unterdrückte, daß nur noch die Moscheen als Versammlungsorte in Frage kamen. Wo jeder hinging, wo die Innenhöfe zu Gesprächsforen wurden.

Und wo dann die Mullahs aus Revolutionären Reaktionäre machen konnten. Ich erinnere mich, wie ich mit einer Tafelrunde Caifi-Mitgliedern, meinen ältesten Freunden, dieses Thema beim Mittagessen diskutierte. Wir waren in dem Frühstücksraum irgendeines komischen Ramada Inns, einer dieser absurden Orte, die man in einer Universitätsstadt des Mittelwestens aufsucht, wo man neben seinem Motelbett und dem Flickenteppich Eiswasser, Papieruntersetzer und Hühnersalat bekommt. Schon damals erschien unser Gespräch von der Wirklichkeit losgelöst – auf den Straßen von Teheran verbluteten aufrührerische Studenten, die Truppen des Schahs waren in Aktion, vierhundert Menschen verbrannten in einem Kino in Abadan, wofür man die Rebellen verantwortlich machte. Nemat ist wütend – es war die SAVAK. Wie können wir es herausfinden?

«Wer sonst? Sie sind immer an allem schuld und machen die andern dafür verantwortlich.»

«Ich glaub dir das, aber was passiert, wenn die Mullahs an die Macht kommen?»

«Keine Sorge, es wird ihnen nicht gelingen.»

«Aber wenn es ihnen doch gelingt, was passiert dann mit den Frauen?»

«Keine Sorge, das ist ziemlich ausgeschlossen, die Moscheen sind nur die Revolutionsherde, die Revolution selbst wird vom Volk gemacht. Dem ganz gewöhnlichen Volk. Die Leute bei den Demonstrationen sind keine religiösen Fanatiker, sondern Arbeiter. Hast du schon gehört, daß sich auch die Ölarbeiter für die politischen Häftlinge einsetzen? Sie streiken, und das ist eine ihrer Forderungen.»

«Auch noch andere streiken, wußtest du das?» fragt mich Hamid, «die Postbeamten, die Bankangestellten. Und die Büroangestellten werden bestimmt auch nicht zu fanatischen Moslems werden. Sie fordern demokratische Freiheiten, keine religiöse Reaktion.»

«Ich weiß, ich habe das auch alles gelesen, aber ich frage mich doch. Die Frauen machen sich Gedanken. Sie haben Angst vor einem Wiederaufleben des Islams und den Folgen. Für die Frauen. Für das ganze Land. Was würde passieren, wenn die alten Sitten wieder eingeführt würden?»

«Das ist doch absurd, das würde nie passieren. Die Mullahs sind nur so einflußreich, weil die Moscheen die Organisationszentren sind. Sobald es das Komitee gibt, wird sich das ändern. Weißt du, was das Komitee ist?»

«Nein, erkläre.»

«Alle sollen, je nachdem wo sie wohnen, welchen Beruf sie haben, wo sie arbeiten, was sie können etc., organisiert werden.»

«Und was bedeutet das für die Frauen? Sie lassen sich nicht so klassifizieren.»

«Mach dir keine Sorgen. Es ist eine unmittelbare, volksnahe Demokratie. Es wird schon funktionieren. Es funktioniert auch schon.»

Zugegeben, es klingt nicht schlecht. Es klingt sogar ausgesprochen gut. Einer nach dem andern erklärt.

«Und die Leute bestimmen selbst. Auf diese Weise können wir auf all diese Bürokraten verzichten, die der Schah eingesetzt hat. Sie würden auch noch ohne ihn weiterbestehen. Das heißt, die Gesellschaft würde sich überhaupt nicht ändern. Bis die Verfassung in Kraft getreten ist und das Volk seine Vertreter gewählt hat, ist das Komitee die beste Möglichkeit, die Gesellschaft umzustrukturieren, sie aufzubrechen … total.»

Keiner von ihnen teilt meine Befürchtungen. Nemat schaltet sich ein.

«Es ist auch gar nicht unser Job. Wir sollten nicht vergessen, daß unsere Bemühungen den Gefangenen gelten, den Opfern dieser Gesellschaft. Solange sich die Gefängnisse nicht geöffnet haben, konzentrieren wir uns darauf. Bis wir die Verbrechen des Regimes enthüllt haben. In das übrige Geschehen können wir nicht eingreifen.»

«Aber wenn sich eine neue Reaktion breitmacht – die Frauen befürchten schon das Schlimmste», meine ich zögernd.

«Den Mullahs die Macht vorauszusagen, ist doch nur ein Trick der westlichen Presse. Sie würden nichts lieber berichten, als daß der Schah von ein paar augenrollenden, reaktionären fanatischen Mullahs abgelöst wurde.»

«Und du denkst nicht, daß das der Fall ist?»

«Nein, es ist das Volk, das jeden Tag demonstriert. Hast du nicht die Fotos gesehen?»

«Ja, schon. Ich halte sie für Studenten oder Linke oder Liberale; Leute, die arbeiten und in Mietshäusern wohnen und ihr Leben riskieren, wenn sie nach der Sperrstunde aus dem Haus gehen.»

«Richtig.»

«Aber siehst du nicht, auch das scheint schon nicht mehr so zu sein.»

«Bei den Demonstrationen waren auch Tausende von Frauen dabei.»

«Stimmt. Aber man sieht ihre Fotos kaum mehr in unsern Zeitungen.»

«Aber auf unsern könntest du sie sehen auf den Fotos, die wir abgedruckt haben.»

«Ja-ah. Und ich habe auch den Tschador gesehen.»

«Sie tragen ihn aus Solidarität mit der islamischen Kultur; sie wollen damit ausdrücken, daß sie gegen den westlichen Imperialismus sind.»

«Ich kann das verstehen. Aber daß ihn auch die Frauen auf den Universitäten wieder tragen, kommt mir komisch vor.»

«Ein Symbol.»

«Ich sehe das Symbol. Ich denke nur, es ist eine Falle.»

«Du gibst aber zu, daß er bei einer Demonstration sehr nützlich sein kann.» Hamid, dem der Witz und die Wahrheit seiner Aussage gerade bewußt wurden, lacht kindlich-entzückt. Sicher, er ist ideal, bietet Anonymität, Schutz – dramatische, eindrucksvolle Bilder. Ganze Aktenschränke davon.

«Kate, schau dir dieses Foto an. Die Frauen sind an der Spitze dieser Demonstration. Sie führen sie tatsächlich an.»

«Deswegen mache ich mir auch Sorgen.» Ich kann es jedoch nicht genau erklären. Sie sind so begeistert, diese Männer, sie sind so sicher, daß alles in bester Ordnung ist. Und ich, die westliche Frau, sollte brav sein und keine lästigen Einwände erheben, ich sollte tapfer den Kampf des Volkes unterstützen, obwohl ich schon den Verdacht habe, daß «das Volk» nur aus Männern und nicht aus Männern und Frauen bestehen wird. Es muß eine Erfindung der westlichen Presse sein – dieses plötzliche Aufkommen der Mullahs, der Frömmigkeit, diese Definition der Opposition als etwas, das mit Nationalismus, Islam und nationalem Kampf der Moslems gegen den Imperialismus zu tun hat. Niemand bestreitet den Imperialismus – ohne ihn hätte es keinen Schah gegeben. Aber eine Rückkehr zum Islam, dem Tschador; es als etwas Nützliches hinzustellen, daß dieser oder jener Heilige oder große Mann die Massen zum islamischen Glauben zurückführt … War doch das Ziel eine Verfassung, eine Demokratie gewesen, die sie unter Mossadegh schon einmal gehabt hatten, oder zumindest in ihren Anfängen erlebt hatten. Warum schlägt man nicht diese Richtung ein?

«Die Mullahs werden mit dem Schah verschwinden. Dann wählt das Volk seine eigene demokratische Regierungsform, sucht sich seine eigene Lösung. Wir werden das Komitee haben. Und die Armee wird sich der Revolution anschließen, sie kann das Volk bewaffnen. Glaub mir.»

«Ich hoffe es. Nur sehen es viele Frauen nicht ganz so rosig.»

Als wir uns eine Woche später bei Robin Morgan zum Abendessen trafen, sahen wir es noch düsterer. Ayatollah Khomeiny ließ sich von Frankreich aus vernehmen. Ich verteidigte ihn, wie mir meine Caifi-Freunde geraten hatten. Schließlich war er couragiert genug gewesen, den Schah anzugreifen. Während alle übrigen die ganzen Jahre hindurch nur kuschten. Und wir selbst hatten sogar Jahre darauf verwandt, den Ayatollah Tolerani aus den Gefängnissen des Schahs zu befreien. Alle religiösen Regimegegner waren politische Gefangene aus Gewissensgründen, auch wenn sie nicht im Gefängnis steckten. Und Khomeiny mit seinem eindrucksvollen Gesicht, seinem Prophetenbart, seinen brennenden Augen erschien uns zu diesem Zeitpunkt wie eine Wiederverkörperung Gandhis; er verfluchte den Schah, forderte einfach nur seine Abdankung, ließ sich auf keine Reformen oder irgendwelche Abmachungen mit ihm ein. Ein Mann mit Prinzipien und eigenen Vorstellungen, ein Mann, der über der Politik stand. Ein Heiliger. Die Monarchie mußte verschwinden – es gehörte zu seinen Überzeugungen, daß mit diesem Fluch nach zweitausend Jahren endgültig Schluß gemacht werden mußte; Demokratie wäre die logische Konsequenz. Solche Parolen hörten wir auch aus seinem Exil in Frankreich.

«Aber keine Demokratie für Frauen, das verspreche ich dir», prophezeite Robin. «Du wirst noch an mich denken.»

Und wir machen uns an das Soufflé. Sie hat auch einen Diplomaten, einen Iren von der UNO eingeladen. Er berichtigt mich: der Ayatollah hätte nichts mit Demokratie im Sinn, er wolle eine islamische Republik gründen. Und wie sieht das aus? frage ich ihn.

«Das große Rätselraten, aber fest steht eins, sehr demokratisch wird sie nicht sein. Haben Sie mal den Koran gelesen, die islamischen Gesetze studiert? Die sind ganz schön hart. Die rechte Hand eines Diebes und so weiter.»

«Wie in Saudiarabien?»

«Vielleicht nicht ganz so schlimm. Aber auf keinen Fall das, was sich die Linken und Studenten vorstellen.»

«Oder die Frauen. Man sieht sie scharenweise bei den Demonstrationen. Sie machen dieses Mal wirklich mit.»

«Ja, und wie immer haben wir das Nachsehen», sagt Robin. «Wie oft sind wir schon für männliche Revolutionäre auf die Barrikaden gegangen und stellten uns vor, wir würden unsere Freiheit zusammen mit der ihren erringen. Denk an Algerien!»

«Ja, aber das war etwas anderes. Hier würde das nicht passieren.»

«Eine Revolution kann jeden Ausgang nehmen, die Geschichte zeigt das», sagt unser Diplomat.

«Nein», widerspreche ich, «die Frauen haben schon zuviel riskiert, alle haben schon zuviel riskiert. Und der Generalstreik, der alte sozialistische Traum – hier hat er geklappt. Es ist wirklich eine Erhebung des ganzen Volks.»

«Und jeder kann der Nutznießer sein», bemerkt er. «Der Schah wird in wenigen Tagen das Land verlassen, Khomeiny wird aus Paris einfliegen.»

«Die Flughäfen sind geschlossen.»

«Sie werden sie schon öffnen. Es gab keine Einmischung von außen – Sowjetunion, China und sogar die CIA scheinen sie in Ruhe zu lassen. Alle wünschen ihnen das Beste und betonen ihre Verbundenheit mit dem Schah.»

«Von China hätte man ja mehr erwartet», brumme ich, «als die besten Wünsche für den Schah.»

«Politik, meine Liebe, dicke Brocken, internationale Grenzpolitik, vom Öl ganz abgesehen.»

«Das ist auch so eine Fata Morgana. Aber man muß nur mal mit den Leuten in Brooklyn über die Heizkosten in diesem Winter sprechen», wirft Robin ein.

«Der Ayatollah landet ganz einfach» – der Diplomat legt seine Serviette zusammen – «und setzt sich an die Spitze.»

«Wie kann er das? Das Volk hat den Schah vertrieben. Sie brauchen keinen Ayatollah.»

«Ja, aber er kommt in ein Vakuum, während all den Jahren der Unterdrückung konnte sich kaum eine Opposition bilden.»

«Sie können sich bestimmt soweit organisieren und jemanden wählen, jemanden, der allgemein angesehen und zuverlässig ist, eine Zivilperson, ein Liberaler.»

«Kein Charisma.»

«Aber ein Ayatollah, ein Bischof oder was dem entspräche, würde doch kein Staatsamt bekleiden.»

«Es wäre nicht einmal nötig, er würde es allein durch seine Willenskraft schaffen. Edikte. Päpstliche Bulle. Pronunciamento.»

Die Frau des Diplomaten schaltet sich nun auch ein. Religion ist für sie das Stichwort, um über den Papst herzuziehen, jedoch nur zum Spaß. Sie setzt sich für Geburtenkontrolle in Südamerika ein.

«In Irland ist der Papst noch schlimmer als das Wetter», gibt sie zum besten.

Die Gläser werden immer wieder gefüllt, Sophie schaut amüsiert zu, zu ihrer Rechten läßt sich Robins Ehemann, Kenneth Pitchford, über Poesie aus, zu ihrer Linken flirtet ein junger Mann mit ihr. Der Diplomat schiebt seinen Stuhl ran und nimmt mich aufs Korn. Und Robin.

«Was würden Sie tun, Sie sind doch die Strategen der Frauenbewegung, sagen Sie mir, was würden Sie tun, um die Frauen im Iran zu mobilisieren?»

Ich habe keine Ahnung. Diese Art von Fragen fand ich schon immer sinnlos. Selbst nur in der Theorie. Selbst nur beim Abendessen. Selbst wenn ein männlicher Diplomat sie stellt, dessen gute Absichten nie ganz seine unbewußte Herablassung kaschieren können. Robin wird sich seiner annehmen – sich einen Spaß daraus machen.

«Protestieren. Proteste sind unerläßlich. Massenproteste. Demonstrationen. Nur so erreichen wir jemals etwas.»

«Unmöglich, man wird sie daran hindern.»

«Sie sind schon in der Übung, sicher würden sie es schaffen. Seit Wochen demonstrieren sie, die beste Art und Weise, seine Rechte durchzusetzen.»

«Was halten Sie von Guerilla-Taktiken?» fragt er weiter. Es macht schon keinen Spaß mehr. Robin und ich sollten ihm eine Lektion erteilen, mehr trinken, das Thema wechseln. Ich frage mich, ob sie etwas tun könnten, die Frauen dort, wenn sich alles gegen sie richtet; die Selbstzufriedenheit, mit der die Männer ihre Revolution vorantreiben, gleichgültig ob sie nun Linke oder Reaktionäre sind, ihr Eifer, ihr Nationalismus, ihr Stammesdenken, ihre Fremdenfeinlichkeit, ihre ethnische und religiöse Engstirnigkeit.

«Ohne Organisation …» fange ich an, und es kommt mir immer hoffnungsloser vor. Sogar spontane Proteste können verhindert werden. All diese Frauen, die auf dem Land leben, die ihr ganzes Leben den Tschador getragen haben, den Geboten der Religion gehorchten. Trotzdem – sie haben gegen den Schah demonstriert, und sie können auch gegen andere Dinge demonstrieren. Wenn es die Männer zulassen:

«Wieviel Autonomie, wieviel Bewußtsein, wieviel Organisation kann eine kolonisierte Klasse haben …»

«Richtig. Genau das ist das Problem, auf das ich Sie aufmerksam machen wollte.»

Ich könnte diesen Mann einfach abblitzen lassen, wenn er nur nicht so dicht neben mir stünde, nicht so erdrückend wäre, politisch so viel erfahrener und so viel älter als ich. Und wenn er nicht so absolut ernsthaft wäre. Die Frage kann nämlich kaum ernsthaft gemeint sein. Wir sind Amerikaner. Wir können nichts für die getretenen Frauen im Iran tun. Es ist ihre Bewegung, falls sie eine Bewegung ins Leben rufen können. Auch nur darüber zu reden scheint mir absurd. Denn wir haben noch nie etwas von einer Frauenbewegung in diesem Land gehört. Ashraf, des Schahs fürchterliche Zwillingsschwester, gab sich als Feministin aus, allein ihre Art und Weise, sich darzustellen, hätte genügt, die ganze Sache in Verruf zu bringen. Wäre sie nicht eine so clevere Schwindlerin gewesen. Sie schaffte es doch tatsächlich vor Jahren, daß ihr die Leitung einer UNO-Kommission für die Rechte der Frauen übertragen wurde. Eine peinliche Angelegenheit. Dann versuchte sie die internationale Frauenbewegung zu einer zweiten Konferenz im Jahr der Frau nach Teheran einzuladen, im Anschluß an Mexico City. Eine Einladung, die abgelehnt wurde, noch bevor die Ereignisse ihren Lauf genommen hatten.

Aber wie sollen die Frauen im Iran zu diesem Zeitpunkt eine Bewegung aufbauen, auch wenn sie ihnen gerade jetzt verzweifelt fehlt? Wie, wenn all die freigesetzten Kräfte in ihrer Gesellschaft sie daran zu hindern versuchen. Zugegeben, der von oben aufoktroyierte Feminismus ist verschwunden, und das ist schon ein Fortschritt. Keine Ashraf mehr. Keine Vorspiegelung falscher Tatsachen mehr, keine Schein-Verwestlichung, Schein-Erziehung, Schein-Vertretung in den Berufen und sogar in der Regierung, die Frauen des Großbürgertums im Einverständnis mit dem System, dem Reichtum, der Familientradition, dem Hof, der Technokratie, der Modernisierung. Zwar gäbe es die jungen Frauen an den Universitäten, die sich ihre Bildung erkämpft haben, die Avantgarde. Aber im Augenblick haben sich gerade die Besten von ihnen in den Dienst der Revolution gestellt. Und es ist durchaus möglich, daß sie von ihr verraten werden. Aber Persien von dem Schah zu befreien, ist eine große Aufgabe und vielleicht sogar wichtiger als eine gesellschaftliche Umstrukturierung.

Die etwas älteren Frauen jedoch, mit denen Robin gesprochen hatte, sehen für die Zukunft die Beschneidung ihrer Rechte voraus: ihre Qualifikation, ihre Erziehung, ihre Erfolge, all das wird sich nur zu ihren Ungunsten auswirken. Man kann sie bourgeois, reaktionär, altmodisch nennen, aber die Tatsache, daß sie zumindest eine Form der Diskriminierung ihr ganzes Leben lang bekämpft haben, läßt vermuten, daß sie auch andere, offensichtlichere und brutalere Arten der Diskriminierung bekämpfen werden. Sie sagen, sie würden auch noch das Wenige, das sie errungen haben, verlieren. Die religiöse Reaktion werde sie in ihrer Existenz bedrohen. Sie würden zwar das alte System hassen, aber es wäre noch schlimmer, sowohl das neue wie auch das alte hassen zu müssen. Es würde sie am liebsten vernichtet sehen.

«Vergessen Sie nicht, es war der Vater des Schahs, der die Frauen vom Schleier befreit hat», meinte der Diplomat. «Hat ihn ihnen geradezu heruntergerissen, und sie riskierten während der ersten Zeit, vergewaltigt, angespuckt, verhöhnt, geschlagen und gesteinigt zu werden. Die Reaktion des Herrschers auf westliche Kultur und Sitten war sehr widersprüchlich.»

«Ich bin sicher, er hat es nicht für die Frauen getan», unterbricht ihn Robin.

«Warum wird über uns immer nach Lust und Laune verfügt? Warum Patriarchat, warum Macht, warum – und das scheint mir an erster Stelle zu stehen – diese eingefleischte Feindschaft, die man uns gegenüber an den Tag legt? Wir gehören doch auch nur zu den ewig Getretenen. Vielleicht liegt es an unserer unterschwelligen, bedrohlichen Magie», sinniere ich.

«Was mag der Schleier wohl ursprünglich bedeutet haben?» fragt sich Robin. – Haben wir ihn erfunden? Haben ihn die Männer einfach annektiert und seine ursprüngliche Bedeutung ins Gegenteil verkehrt, aus dem Rätselhaften eine Grausamkeit, ein Symbol unseres Falls gemacht? Unseres verächtlichen, besiegten Status?

Der Diplomat will eine Antwort auf seine Examensfrage: wie sollen sich die Frauen im Iran erheben und ihre Rechte wiedererlangen, wenn sie ihnen vorenthalten werden? Robin läßt sie demonstrieren, ich organisiere sie; Organisation als Basis für ein Bewußtsein. Methoden, die wir auch zu Hause gesehen und erfahren haben, die jedoch für Teheran im Augenblick völlig irrelevant sind, die keinen Bezug zu der Frauenbewegung dort haben und nicht einmal sehr aussichtsreich sind.

Ich bin deshalb ziemlich überrascht, als ich nach dem vierten Klingeln einen jungen Mann namens Khalil ernsthaft erklären höre, daß alle Caifi-Mitglieder zurückgefahren wären und nur ihn und einen andern jungen Mann namens Nersi dagelassen hätten, um das geschrumpfte New Yorker Büro zu betreuen, daß er mich jedoch wegen einer äußerst wichtigen Sache anrufe. Ob ich bereit wäre? Das Harz erstarrt gerade in der Schale. Natürlich.

«Es ist eine Mission. Glaub mir. Du hast den Iran noch nie gesehen?»

«Natürlich nicht, sie würden mir gleich auf dem Flughafen eine Tüte über den Kopf stülpen», antworte ich lachend. Aber ich bin schon ganz aufgeregt.

«Kate, deine Schwestern im Iran brauchen dich.»

Das klingt zwar etwas melodramatisch. Aber es klingt auch großartig. Brauchen einen die Schwestern überhaupt irgendwo? Natürlich nicht, sie schaffen es glänzend allein. Sie wollen einen vielleicht nur so zum Spaß dahaben, oder weil sie einen für eine Arbeit brauchen. Khalil ist jedoch ein sehr angenehmer junger Mann, ich habe mich bereits entschieden, und mit Begeisterung.

«Die iranischen Frauen feiern am achten März den internationalen Frauentag und sie möchten, daß du eine Rede hältst!»

«Toll, ich fühle mich geehrt. Wer sind sie?»

«Erinnerst du dich an Kateh?»

Ich versuche mich an Kateh zu erinnern. Zum Schluß gab es immer mehr Frauen im Caifi, sie traten immer häufiger in Erscheinung, waren aber sehr scheu. Zuerst nur als Ehefrauen/Freundinnen, später auch als Rednerinnen, Organisatorinnen. Ein paar. Ich erinnere mich an eine, die in der Southern Methodist University gesprochen hatte. Eine ausgezeichnete Rede. Sehr kompetent. Anschließend lernte ich dann auf einer Party mehrere kennen – entweder dort oder an einer anderen Universität; auf unsern Reisen von einem vielversprechenden Meeting zum andern gingen der Süden und der Mittelwesten für mich häufig ineinander über; die Frauen auf der Party waren immer noch sehr scheu, und es war schwer, an sie heranzukommen. War Kateh die Freimütige mit den hellen, scharfen Augen?

«Sie sieht sehr gut aus», meint Khalil, «du hast sie sicher schon einmal gesehen, vielleicht in Indiana oder in Chicago. Sie arbeitete auch im New Yorker Büro.»

Ich kenne unsere Reiserouten besser als das Büro.

«Kateh kümmerte sich um das New Yorker Büro. Als Nemat zurückflog, hielt er auf dem Flughafen in Teheran eine Pressekonferenz ab. Und er sagte, daß nun alle politischen Gefangenen befreit worden seien, da Quasr und Evin endlich ihre Tore geöffnet hätten …»Mir wird schwindlig vor Freude, als ich diese Neuigkeit höre. Evin und Quasr, zwei riesige Festungen, in denen Tausende von politischen Gefangenen gefoltert wurden; die Demonstranten strömten hinein und befreiten endlich die Opfer des Schahs. Ich beendete meine Reden mit den schrecklichen Schreien, die zur gleichen Zeit im Gefängnis von Evin zu hören waren; versuchte meine Landsleute wachzurütteln, sie sollten diese Schreie hören, sollten wissen, daß sie existierten – in meinem Kopf haben sie jahrelang existiert.

«Und Nemat sagte, daß Caifi in seiner Funktion als Bürgerrechtsorganisation die Lage der Frauen als das dringlichste Problem im Iran betrachtet, es würde von nun an im Mittelpunkt ihres Interesses stehen.»

Anerkennenswert. Männliche Feministen, eine gute Sache. Meine Caifi-Freunde waren schon immer etwas ganz Besonderes.

«Und Kateh will zusammen mit ein paar andern Caifi-Frauen eine Gruppe bilden. Ich meine die Frauen, die hier im Caifi waren und gegen den Schah arbeiteten – es sind auch noch andere Frauen dabei, aber nicht sehr viele.»

«Wieviele schätzst du?»

«Eigentlich sind es nur zwölf, ein Anfang. Aber sie haben eine Menge Erfahrung. Kateh ist toll. Die andern auch. Du wirst dich an sie erinnern. Resa und Asa. Sie fordern die Frauen auf, den Frauentag in offenen Veranstaltungen selbst zu organisieren. Dadurch werden auch andere auf sie aufmerksam.»

«Und wo soll das Ganze stattfinden?»

«Das wissen sie noch nicht genau. Sie hoffen, sie können es in einer Universität veranstalten.»

Ich stelle mir die Universität von Teheran vor, der Schauplatz vieler blutiger Kämpfe. Studentendemonstrationen, auf die geschossen wurde. Aber die Gefahr ist nun vorbei. Der Schah ist im Exil. Die Tore der Gefängnisse stehen offen. Und die Universitäten sind nun geweihter Boden; sie sind für mich die Schulen der Revolution, die ersten Veranstaltungen, die Dichterlesungen, die ersten Ausschreitungen – gegen das Regime und von dem Regime ausgehend; – wie passend, daß die Frauenbewegung dort ihren Ursprung nehmen soll.

Ich mache mir über unsern Status oder unsere Zahl keine Illusionen. Oder vielleicht doch. Wir werden angefeindet werden. Natürlich, es könnte auch gefährlich sein.

«Du wirst Begleitung haben», verspricht Khalil. «Entweder kommt Nersi mit oder ich.»

Es klingt so komisch galant. Ich habe dieses ritterliche Angebot seit den Tanzabenden in St. Paul, als ich noch ein junges Mädchen war, nicht mehr gehört und nicht mehr darauf zu reagieren gehabt. Meine Belustigung läßt jedoch etwas nach, als mir klar wird, daß ich diese Begleitung sogar brauchen werde wegen all der Schwierigkeiten, die mich erwarten; den sprachlichen Schwierigkeiten, den fremden Sitten und Gebräuchen; vielleicht halten sogar sie es für gefährlich. Es ist jedoch absurd, sich solche Gedanken zu machen. Es ist absurd, mich mit Khalil darüber zu unterhalten, wo ich doch schon am achten März an der Universität von Pittsburgh und am siebten an der Universität von Ohio einen Vortrag halten muß. Feministinnen sind begehrt in der Zeit um den internationalen Frauentag. Kann ich diese Termine abblasen, würden sie das zulassen oder würden sie mir Vertragsbruch vorwerfen, würde ich als Abenteurerin in Verruf kommen?

«Ich muß erst meine Freundin Sophie anrufen und sehen, ob sich die Dinge, die ich an diesem Tag vorhatte, wieder rückgängig machen lassen.»

«Ich habe schon mit Sophie gesprochen. Sie hält es für möglich.»

Ein schlauer Bursche, dieser Khalil, und sehr entschlossen. Seit Jahren hat mich nichts so begeistert wie diese Aussicht. Ich habe alles ruiniert. Das Harz zerfällt in der Schale, kaum bemerkt. Anderthalb Tage, um meine Dickmadam fertigzustellen. Es dauert achtzehn Stunden, bis sie getrocknet ist. Dann bleiben noch ein paar Tage, um nach St. Paul zu gehen, mit meiner Tante zu lunchen. Nicht die große Wiedervereinigung, die ich mir ausgemalt hatte; ganze Tage, die ich nur darauf verwenden würde, mich wieder mit dem Ort vertraut zu machen, die Entwürfe meines Vaters zu studieren, alte Freunde aufzusuchen, seine Ingenieurkollegen, Erinnerungen auszutauschen mit den tapferen Rechtsanwälten der Bürgerrechtsbewegung, die mir die Irrenanstalt ersparten, als meine Mutter, die andere «Auffassungen» hatte, mich auf die unverschämte Empfehlung eines Doktors, dessen Wissenschaftlichkeit sie beeindruckte, einweisen lassen wollte – all die Dinge, über die sich eine irische Familie rückblickend bei Whiskey amüsiert. St. Paul läßt nicht locker, schon seit Monaten zerrt und zieht es. Verdammt, ich bin gerade zur Hälfte mit einem Buch über meine Jugend in St. Paul fertig. Würde ich auf diese Reise, an der mir so viel liegt, verzichten müssen, um eine andere unternehmen zu können?

«Wann müßten wir abreisen, Khalil?»

«So bald wie möglich, eventuell schon in drei Tagen. Der Flughafen ist meistens geschlossen. Du mußt vielleicht in Karachi landen und zurückfahren. Wir wissen nicht, ob wir ein Flugzeug kriegen. Sie sind alle überbelegt und viele Fluggesellschaften haben ihre Flüge eingestellt. Alles geht drunter und drüber, wie du dir wohl vorstellen kannst. Wir schätzen, daß du am achten ankommst, wenn du mit dem PanAm-Flug am dritten fliegst.»

«Hmm, ich wollte eigentlich auf meiner Rückreise an die Ostküste in einem Ort, der sich St. Paul nennt, haltmachen. Ich bin dort geboren.»

«Ich bin in Isfahan geboren. Da mußt du unbedingt hin. Mein Bruder lebt dort. Er ist auch Caifi-Mitglied.»

«Wie heißt er?»

«Said. Du bist ihm schon einmal begegnet. Er trägt einen Schnurrbart.»

Ich versuche, mich an die Schnurrbärte zu erinnern. Es gibt so viele bei Caifi.

«Du kannst bei meiner Familie übernachten. Es ist eine wunderschöne Stadt. Said wird sich um dich kümmern. Du hast Zeit genug, um auch aufs Land zu fahren.»

Es klingt unwiderstehlich. Nach all diesen Jahren, in denen wir den Iran nur durch seine Gefängnisse kannten, plötzlich ein ganzes Land, Landschaften, Bilder, Musik, Teppiche, Moscheen; wir könnten Freunde sein, nicht nur Kameraden, die für dieselbe Sache kämpfen, und wir wären nicht nur in Motels oder auf einem College-Podium oder in einem Büro voller Flugblätter, sondern würden den errungenen Sieg feiern – endlich dort.

«Du mußt kommen. Du mußt mein Land sehen. Deine Freunde erwarten dich dort. Wir wollen dir alles zeigen.»

Richtige Mahlzeiten, persisches Essen, zusammen mit den Leuten, die dort leben, bei ihnen zu Hause. Es hat mich gepackt – ich will den Iran sehen. Eine Chance, die man nur einmal in seinem Leben bekommt. Und sogar – die listig insistierende Stimme im Unterbewußtsein eines Linken – eine Revolution miterleben. Das hast du dir gewünscht …

Ich habe das Ein-Liter-Gefäß mit dem Harz in die Küche gebracht und auf den Geschirrspülautomaten gestellt, den keiner benutzt, neben den kalten Kaffee von heute morgen; das Telefonkabel kommt aus dem Arbeitszimmer mit dem Glastisch und den blitzenden Chrom- und Ledersesseln (gefährlich, wenn man etwas so Klebriges wie Harz in den Händen hält). Ich schaue mich in Deanas angenehm altmodischer Küche um – sie ist geräumig, man kann gut in ihr arbeiten, wunderschön gekachelte Wände; ich bin sogar versucht, mir ein Glas Leitungswasser zu holen – dieser Telefonanruf verändert mein Leben. Ich muß die Fahrt nach St. Paul eben verschieben, vielleicht läßt sie sich an einem andern Wochenende unterbringen – die Möglichkeit, sie ausfallen zu lassen, brauche ich jetzt noch gar nicht zu erwägen. Zunächst einmal müssen die ersten Hürden genommen werden: Pittsburgh, Ohio.

«Khalil, hör zu, ich spreche mit Sophie. Wir werden sehen, was sich tun läßt, ob sich diese Termine rückgängig machen oder verschieben lassen. Ich werde nämlich dafür bezahlt, die Universitäten bezahlen für diese Vorträge, wie wir auch manchmal Geld für unsere Caifi-Veranstaltungen bekamen, wenn die Studenten die Verwaltung davon überzeugen konnten. Auf jeden Fall lebe ich davon, und wenn ich absage, verliere ich das Geld, von dem ich diesen Sommer leben wollte, so sieht es aus. Aber ich denke, es läßt sich machen. Sobald alles geregelt ist, rufe ich zurück. Oder noch einfacher, erkundige dich bei meiner Freundin Sophie in der Bowery.»

«Meine Freundin Sophie», meine komische, zurückhaltende Bezeichnung für Sophie Keir, meine Freundin, meine Geliebte, die Frau, die mit mir zusammenlebt, meine bessere Hälfte, organisierter, tüchtiger, erwachsener, rationaler, witziger als ich. Sie schreibt auch, die Arbeit an ihrem Buch, das während meiner Abwesenheit große Fortschritte machen sollte, wurde vor kurzem durch eine Überschwemmung auf dem Dach unterbrochen; es hatte geschneit und dann getaut, worauf all die undichten Stellen in der Bowery-Dachpappe, die wir gerade geflickt hatten, wieder platzten; das Wasser stand über einen halben Meter hoch und muß tonnenschwer auf dem alten Gebäude gelastet haben. Sie und Michael Bakaty, unser Nachbar, ein Bildhauer, der im vierten Stock wohnt, waren den ganzen Morgen oben gewesen und hatten es abgeschöpft. Die Frau, die im Auftrag der Stadt New York in unserm halbverlassenen Gebäude nach dem Rechten schaut, kam gerade zufälligerweise vorbei, und wir können vielleicht hoffen, daß ein paar Reparaturen durchgeführt werden. Als ob das nicht gereicht hätte, wachte Sophie vor zwei Nächten auf und hörte, wie ein Mann an dem Schloß der Wohnung herummachte. Ein Sicherheitsschloß, das meine Freundin Ruth für mich installiert hat. Sophie rief Michael an. Und die Polizei, die gleich eine ganze Schwadron schickte und den Typ auf dem Dach einfing.

«Das ist er», frohlockte einer der Polizisten.

«Wer?» fragte Sophie.

«Lady, dieser Kerl hat gestern nacht in Queens eine Frau vergewaltigt und getötet.»

Sophie sagte, sie habe nicht gefragt, auf welche Art und Weise. Ich erlebte zum erstenmal, daß Sophie Angst hatte; ihre Freunde leisteten ihr Gesellschaft, Ruth, die um die Ecke wohnt, Fumio. Nachbarn. Wie schändlich, sie nicht zu trösten, nicht bei ihr zu sein. Und nun das, wie sie wohl darauf reagiert?

Erstaunlich gut. Sie hat sogar den Entschluß gefaßt, mitzukommen. «Ich schreibe einen Artikel für Ms , Robin hält das auch für eine gute Idee. Sie könnten den Flug bezahlen, denkst du nicht? Caifi und die Frauengruppe im Iran kommen für dein Ticket auf. Ms  soll für meines aufkommen. Ich gebe ihnen dann das ganze Material, die Fotos, die Interviews, alles.»

Sophie ist Fotojournalistin, Berichterstatterin für wirtschaftliche und politische Angelegenheiten im Nahen Osten. Sie schreibt für kanadische und englische Zeitungen und hat Jahre in diesem Teil der Welt verbracht.

«Sophie, du hast mich überzeugt.»

«Mal sehen, was sich hier in New York tun läßt. Wetten, daß ich noch einen Auftrag kriege, bevor ich gehe. Im Augenblick wird kaum jemand in den Iran gelassen. Fotos sind bestimmt viel wert.»

«Und du kommst mit …»

Mir wird plötzlich bewußt, daß ich nur ungern allein gefahren wäre. Plötzlich sehe ich die Gefahren, das Ungewohnte, die Sprachbarrieren, die fremden Gebräuche – all das erscheint mir viel erfreulicher mit jemandem an der Seite. Der ideale Reisebegleiter, die großartige Sophie. Und sie kennt sich aus. Sie könnte die Bänder aufnehmen, alles würde so viel einfacher sein.

«Wir könnten auch einen Film machen.»

«Sachte. Erst mal hinkommen. Ohio und Pitt haben übrigens nichts dagegen.»

«Ich meine doch nur kleinere Sachen. Eine Versammlung oder so etwas. Für die Archive, diese Art von Filmen.»

«Schau mal zu, daß du zurückkommst und alles vorbereitest.»

«Ich könnte von allen Botschaften überbringen. Von Simone de Beauvoir, von Angela, von den französischen Gruppen. Ich rufe Sabatini in Italien an. Sie werden die iranischen Feministinnen begeistert begrüßen. Der Anfang einer Bewegung.»

«Wird auch Zeit.»

«Khalil sagt, daß es augenblicklich schlecht für die Frauen aussieht. Obwohl der Schah weg ist, das Wunder, auf das wir solange warteten, aber er weiß auch nichts Genaueres.»

«Was sagte Khalil über den Ayatollah?»

«Khomeinys Macht scheint enorm zu sein, so groß wie die der provisorischen Regierung, vielleicht sogar noch größer. Und er läßt sie sich auch nicht entreißen. Macht keinen sehr fortschrittlichen Eindruck.»

«Können wir denn unsere Sache überhaupt durchziehen?»

«Alles scheint noch unentschieden zu sein, hundert verschiedene Meinungen, meint Khalil. Die Linke kann sich anscheinend noch frei äußern. Ich denke, daß die Frauen jetzt ihre Forderungen stellen müssen. Jetzt oder nie.»

«Auf jeden Fall ist jetzt die beste Zeit, sich das Ganze anzuschauen.»

«Komm zurück und packe.»

«Ich bin dabei, einen Flug zu buchen, würde aber immer noch sehr gern meine Tante besuchen.»

«Darauf mußt du vielleicht verzichten.»

«Ich hoffe nicht.»

«Ich ruf zurück, wenn Khalil und Nersi einen Flug für uns haben. Du kannst dann disponieren.»

2

Spätnachmittagssonne. Meine Dickmadam ist bestrichen. Noch eine Schicht morgen früh, bevor mich die Studenten zu einer Diskussion an der UCLA abholen. Wie alles organisieren? Die vielen Zettel auf dem Glastisch. Flugbuchungen. Pittsburgh und Ohio mit ihren komplizierten Ankunfts- und Abflugzeiten und festen Themen sind verschwunden. Bleibt nur noch das Minnetonka Inn, optimistisch eingetragen, komplett mit Telefonnummer und Kosten für das Mietauto. Und unser Mittagessen am Freitag. «Mitten im Dorf», hatte sie gesagt, in dem Dorf, das nicht mein Dorf ist, ihr Dorf, das Wayzeta heißt. Das Haus am See. Ihr Rasen, ihre Bäume, die über den Winter entstandenen Schäden. Ich hatte gerade in meinem neuen Buch ein Gespräch mit ihr über ihre Bäume und meine Bäume beschrieben. Ich habe es, oder eine Stelle aus diesem Zusammenhang, sogar bei einer privaten Zusammenkunft von Frauen vorgelesen; eine kleine Premiere des Buchs, das eigentlich von meinem Vater und meiner Kindheit handeln sollte, das dann aber zu einem Buch über meine Tante wurde. Ich lebe wieder mitten in einem Buch. Seit Flying habe ich nicht mehr diesen Wahnsinn riskiert, ein Wahnsinn, der mich nicht im Anschluß, sondern während des Schreibens überfiel. Sita war fertig, bevor das Buch geschrieben war, obwohl die Hälfte davon simultan mit den Ereignissen aufgezeichnet wurde; es waren private Geschichten, Tagebücher etc. Das ganze Auf und Ab des Lebens in einem Buch – etwas, das ich nach Flying zu vermeiden suchte. Und nun lebe ich wieder in einem Buch, da ich meine Tante besuchen will, während ich über sie schreibe. Wenn sie mich zurückweist, so muß ich darüber berichten.

Und wenn ich nicht erreiche, was ich erreichen wollte. Ein Happy-End? Nein, aber wie schmerzlich, wenn sie mir nicht verzeiht und ich mich damit abfinden müßte. Man bleibt mit dem, was geschieht, sitzen. Sie hat ihre Gründe. Ihrer Meinung nach war ihr Unrecht zugefügt worden. Ich sah es jedoch anders: gute Studenten über einundzwanzig haben eine Ausbildung verdient, auch wenn sie mit jemanden ins Bett gehen, der ihren Alten nicht paßt. Aber das Geld wurde mir unter einer Bedingung gewährt. Gib diese Frau auf. Etwas, das ich nie beabsichtigte, ich arbeitete den ganzen Sommer, um ihr die Reise bezahlen zu können. Und ich log. Diese Lüge verfolgt mich bis an mein Lebensende. Und meine Tante Christina, meine geliebte Tante, ist inzwischen siebzig Jahre alt; wenn ich diese Gelegenheit nicht wahrnehme, gehe ich ein Risiko ein.

Der Iran ist ein Abenteuer, kein Buch. Ich möchte nicht als Journalistin dorthin. Wenn ich aber nach St. Paul fahre, lebe ich in einem Buch. Ein Buch, das dieses Frühjahr fertig werden sollte, das ich in kurzen, glücklichen Intervallen in der Bowery verfassen wollte – wäre es so weitergegangen wie bisher. Zu einem Drittel fertig. Und wenn ich jetzt in den Iran fahre, wann soll ich dann dieses Buch beenden? Das Ganze wird bedrohlich, Termine, die durcheinander geraten, ein Besuch zu Hause, der verschoben werden muß, und dann noch ein ganzes Buch, das nicht realisiert werden kann – mein Gott. Na ja, vielleicht kann ich es nächsten Herbst oder Winter in Angriff nehmen. Im Herbst stelle ich jedoch Im Basement vor und vielleicht gehe ich sogar nach Frankreich, wenn die Übersetzung fertig wird. Im Winter also. Ich halte mir den ganzen Winter frei. Aber wann besuche ich meine Tante Christina? Sie ist Wirklichkeit, nicht einfach ein blödes Buch. Eine Frau aus Fleisch und Blut, die immer älter wird, deren Gefühle ich vor zwanzig Jahren verletzt habe, die wütend auf mich ist. Und die mir höllische Angst einjagt, auch wenn ich sie vergöttere. Diese Iran-Sache …

Ein paar Stunden später, in Deanas Kamin brennt ein Feuer, reichliche Mengen von klarem Martini, die eingefangene Frische des Atlantiks – ein durchsichtiger Kringel Zitronenschale, der in dem kristallklaren Gin schwimmt, aufgetürmte Eiswürfel – der Atlantik bei Sonnenuntergang, wie ich es nenne, Provincetown im August jeden Abend, gleichgültig, wo man ist. Sie lachen über mich. Deana ist hier geboren, genoß vom ersten Augenblick an eine Hollywood-Erziehung; im Bad hängen Pin-ups, die noch aus ihrer Kindheit stammen. Ein anziehendes Wesen, eine erstaunliche Großzügigkeit und eine Musikliebe, die uns die ganze Nacht Fundador trinken und Flüge vergleichen läßt. Sally Fisk ist auch hier.

«Wenn ich in den Iran fahren würde, wäre ich völlig außer mir. Was für ein Auftrag.»

«Ich bin aber keine Journalistin, im Gegensatz zu dir.»

«Bis ich wieder einmal dem Faß den Boden ausschlage, warte nur, ich bin bald wieder zurück.»