Im Jahr der Pappel - Sina Winter - E-Book

Im Jahr der Pappel E-Book

Sina Winter

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Beschreibung

Gitte Braun hat ein Ziel vor Augen. Sie will als Rentnerin von vorne anfangen und mit ihrer Vergangenheit abschließen. Das heißt auch, sich von ihrer großen Liebe, ihrem Mann Karl, zu trennen. Aber zunächst sucht sie wieder den engeren Kontakt zu ihrer Schwester Ruth. Früher waren sie unzertrennlich, doch diverse Lebensumstände haben die beiden entzweit. Als Gitte ihre Schwester das erste Mal wieder besucht, ist sie geschockt. Ruth hat sich völlig verändert - äußerlich wie innerlich. Sie sieht angeschlagen aus und ist ein Schatten ihrer selbst. Gitte macht sich große Sorgen und zugleich Vorwürfe. Erst durch den plötzlichen Tod ihres Schwagers Georg, kommt die Wahrheit ans Licht. Ruth wurde jahrelang von ihrem Mann physisch, als auch psychisch misshandelt. Fortan weicht Gitte ihrer Schwester nicht mehr von der Seite. Zusammen begeben sich die Schwestern mit einem alten Campingbus auf einen Roadtrip. Es ist eine Reise in die Vergangenheit, die zugleich einen Neuanfang ebnet. Natürlich verläuft nicht alles nach Plan. Erst recht nicht, als unverhofft Familienmitglieder und Exfreunde auftauchen und das Schicksal zuschlägt ...

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Seitenzahl: 368

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Die Autorin:

Sina Winter lebt mit ihrem Mann im schönen Unterfranken, direkt vor den Toren der Rhön. Schon früh entdeckte sie ihre Leidenschaft für Bücher. Zunächst kompensierte sie ihre Kreativität im Zeichnen und Gestalten, bis sie vor fünf Jahren mit dem Schreiben begann. »Im Jahr der Pappel« ist ihr fünfter Roman. Bereits im Self Publishing erschienen sind »Rosalie, weil es dich gibt«; »Ein Sommer auf Fiskmås oder die Kunst sich zu verlieben«; »Wette nie mit einem Anwalt« und »Magische Weihnachten«, ein Roman mit vier weihnachtlichen Kurzgeschichten.

Inhaltswarnung:

Dieses Buch enthält explizite Szenen von häuslicher Gewalt. Daher ist dieser Roman möglicherweise nicht für sensible oder traumatisierte Menschen geeignet.

Für alle, die neu anfangen wollen – es ist nie zu spät, um den ersten Schritt zu gehen. Jeder Moment zählt.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil I: Lebenslügen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil II: Freiheit

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil III

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Prolog

Mein Name ist Gitte Braun. Ich bin Mitte sechzig und ich habe mich dazu entschlossen, ein neues Leben anzufangen, denn dafür ist es ja bekanntlicher Weise nie zu spät.

Wie das Leben so spielt, brauchte es erst einen Paukenschlag, der mich aus meiner Tristesse befreite. Ich habe mein halbes Leben damit verbracht stillschweigend alles hinzunehmen, bis ich kapiert habe, dass ich etwas ändern muss. Heute weiß ich, wie es sich anfühlt, ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Dazu habe ich viele Hürden genommen und gegen so manche raue See gekämpft. Das Leben ist kein Spaziergang, für keinen von uns. Auch das habe ich auf meinem Weg gelernt. Ebenso, dass der erste Blick oft trügt und man beim genaueren Hinsehen die eigentliche Wahrheit erkennt. Doch man muss sich dessen bewusst sein, dass die Wahrheit manchmal erschreckend und verstörend sein kann.

Es heißt, jeder Mensch hätte eine zweite Chance im Leben verdient. Meine bekam ich im Jahr der Pappel. Die Pappel, eine Pflanzengattung aus der Familie der Weidengewächse, war zum Baum des Jahres ernannt worden. Das gefiel mir, denn ich liebe Pappeln. Ich liebe sie so sehr, dass zwei von ihnen in unserem Garten stehen. Im Sommer sitze ich gerne in ihrem Schatten. Höre dabei dem Wind zu, wie er sanft durch die Baumkronen weht. Je nach Intensität gleicht das Rascheln der Blätter einem prasselnden Regen oder dem leichten Rauschen des Meeres. Wenn ich dabei die Augen schließe, stelle ich mir den Schrei einer Möwe vor und rufe mir den Geruch des Meeres in Erinnerung. Wie von selbst beschleunigt sich mein Herzschlag. Freude und tiefe Sehnsüchte regen sich in mir. Das Verlangen nach grenzenloser Freiheit und der Drang, sorglos zu leben, werden übermächtig.

Trotz meines fortgeschrittenen Alters wünschte ich mir eine Veränderung in meinem Leben. Ich hatte genug von meiner Vergangenheit, die aus Schmerz und Leid bestand. Meine Zeit war gekommen, um loszulassen und zu vergeben. Warum? – Das erzähle ich euch mit dieser Geschichte. Eine Geschichte über zwei Schwestern, die sich verlieren und im dunkelsten Moment ihres Lebens wieder zueinanderfinden. Eine Familiengeschichte, deren Drama sich zu wiederholen droht. Eine Reise, die völlig anders verläuft, als sie geplant war. Eine Geschichte, die vom Mut zur Liebe und vom Glück erzählt.

Teil I

Lebenslügen

»Gewalt ist die Waffe des Schwachen; Gewaltlosigkeit die des Starken.«– Mahatma Gandhi –

1

Ruth

»Ruth Hahn, Hallo?«

»Guten Morgen Ruth, ich bin es, Gitte.«

»Gitte? Ähm, hallo … Guten Morgen.« Ruth sah kurz auf ihre Uhr. Es war Viertel nach neun. Ihre Schwester würde sich kurzfassen müssen.

»Ist etwas passiert?«, fragte Ruth.

»Muss erst etwas passiert sein, damit ich dich anrufen darf?«, konterte Gitte. Schweigen.

»Rufe ich gerade ungelegen an, Ruth?«

»Ja. Nein. Bitte entschuldige, Gitte. Ich habe um zehn einen Friseurtermin. Eigentlich war ich schon auf dem Sprung. Können wir heute Mittag telefonieren? Ich rufe dich an, sobald ich wieder zurück bin.«

»Hm…meinetwegen.«

»Bist du jetzt beleidigt?«, fragte Ruth.

»Quatsch. Geh nur. Wir reden später.«

»Ist alles in Ordnung mit dir, Gitte?«

»Ja. Und nun beeil dich, sonst kommst du noch zu spät.«

»Okay. Ach Gitte?«

»Ja?«

»Ich…« Ruth verstummte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Sie würden später reden.

»Ruth?«

»Ich muss jetzt wirklich los, Gitte. Tschüss, bis später.« Ruth legte schnell auf, bevor Gitte auf komische Gedanken kam. Sie war nicht dumm, würde eins und eins zusammenzählen und bohrende Fragen stellen. Ruth würde ihrer Schwester bald die Wahrheit sagen. Nur nicht heute. Forsch zog sie die Haustür hinter sich zu und schloss ordnungsgemäß ab. Mit eiligen Schritten lief sie zur Garage, ging durch die Seitentür und drückte den Schalter vom Garagentor. Zu ihrem Leidwesen öffnete sich das Tor quälend langsam. Sie stieg in den Wagen. Bevor sie rückwärts vom Grundstück in die Straße einbog, betätigte sie eine Fernbedienung. Das Garagentor setzte sich erneut ächzend in Bewegung. Sie wartete, bis das Tor vollständig geschlossen war. Erst dann fuhr sie los. Sie musste ihrem Mann unbedingt sagen, dass er das Garagentor bei nächster Gelegenheit ölte. Besser wäre es, das Tor komplett zu erneuern. Georg legte großen Wert auf Sicherheit und dass sie das Haus immer vorschriftsmäßig verließ. Das brachte sein Beruf mit sich. Als Kriminalhauptkommissar wusste er, wovon er sprach. Die Menschen waren viel zu nachlässig mit ihrem Hab und Gut. Kein Wunder, dass die Kriminalitätsrate immer weiter in die Höhe schoss. Einmal hatte sie vergessen, die Haustür abzuschließen. Er war darüber so verärgert gewesen, dass er sie angeschrien hatte, sie hätte gleich ein Schild an die Tür hängen können, auf dem stand: Bitte hier einbrechen!

Nervös sah sie auf die digitale Uhrenanzeige im Armaturenbrett des Wagens. Das kurze Telefonat mit ihrer Schwester hatte sie kostbare Minuten gekostet. Hoffentlich komme ich nicht zu spät, dachte sie und gab ein wenig mehr Gas. Ihr Mann würde sie jetzt der Raserei bezichtigen, doch Georg war nicht hier. Sie holte einmal tief Luft und atmete langsam aus. Sie sollte sich besser beruhigen. »Reiß dich zusammen«, murmelte Ruth und bog in die Straße ein, in der ihr Friseur lag. Ihr Blick streifte die Uhr. Es war zehn Minuten vor zehn. Gott sei Dank, habe ich es noch rechtzeitig geschafft.

***

Ruth blinzelte gegen das helle Licht an, als sie ins Freie trat. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und lief die drei Stufen des Friseurladens herab. Ein rascher Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie in ihrem Zeitplan lag. Mit großen Schritten lief sie zu ihrem Wagen.

Der Termin beim Friseur hatte circa eineinhalb Stunde gedauert. Es blieb ihr also noch genügend Zeit, um das Mittagessen herzurichten, ehe Georg nach Hause kam. Er richtete es oft ein, dass er die Mittagspause zu Hause verbrachte. Heute hatte er sich sogar einen halben Tag Urlaub genommen. Ruth lächelte versonnen. Sie war gespannt, was Georg zu ihrem neuen Haarschnitt sagen würde. Sie hatte sich zu einem kinnlangen Bob hinreißen und die Haare in einem natürlichen Blond färben lassen. Ihrer Meinung nach sah sie jetzt um Jahre jünger aus. Für eine Frau mit Anfang sechzig war das mehr als schmeichelhaft. Sie neigte leicht ihren Kopf zur Seite. Die Friseurin meinte, dass der Pony und die Haarfarbe ihre blauen Augen zum Strahlen brachten. Das Kompliment zauberte ihr ein Lächeln auf die Lippen. Ihre schulterlangen Haare zu kürzen war eine gute Entscheidung. Mehr noch, es war ein erster Schritt in ihr neues Leben. Doch alles zu seiner Zeit. Zunächst einmal würde heute die Verlobungsfeier ihrer Tochter stattfinden. Der zukünftige Mann, Achim Schäfer, vergötterte Sophie. Er war charmant und elegant, dazu sah er umwerfend aus. Außerdem war er finanziell abgesichert. Er besaß ein Schmuckgeschäft, und nach Ruths Informationen, lief sein Geschäft gut.

Darüber hinaus war Achim ein Einzelkind und stammte aus einer wohlgesitteten Familie. Ihr zukünftiger Schwiegersohn war eine gute Partie. Wenn da nicht dieses Unbehagen wäre, das sie jedes Mal in seiner Nähe empfand. Doch sie wollte ihr Urteilsvermögen über Männer nicht als Maßstab hernehmen. Wichtig war, dass Sophie glücklich wurde. In voller Vorfreude auf den heutigen Tag schaltete Ruth das Radio ein. Einer ihrer Lieblingssongs, Dancing Queen von ABBA, wurde soeben gespielt. Sie drehte die Musik auf und sang laut mit. Bilder von früher, als sie noch jung und unabhängig war, tauchten vor ihr auf.

Die Energie, die sie durchflutete, ließ sie wagemutig werden. Vorsichtig gab sie Gas, nicht viel, nur so weit, dass sie die Kontrolle über den Wagen behielt. Durch die heruntergelassene Fensterscheibe wehte der Fahrtwind ihr frisch gestyltes Haar durcheinander, doch das war ihr in diesem Moment egal. Für sie gab es im Augenblick nur die Musik und die Erinnerung an unbeschwerte Tage. Mit den letzten Tönen des Liedes bog sie in die Auffahrt ihres Hauses ein. Ein flüchtiges Stirnrunzeln huschte über ihr Gesicht. Rasch drosselte sie die Lautstärke des Autoradios. Georgs Wagen stand vor der Garage. Ein schneller Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihr Mann zu früh dran war. Bevor Ruth aus dem Auto stieg, richtete sie ihre vom Wind zerzausten Haare. Ein letzter Blick in den Rückspiegel, einmal tief durchatmen und sie griff nach der Handtasche und stieg aus. Sie schloss die Haustür auf, tauschte ihre Straßenschuhe gegen ein paar Hausschuhe und hängte ihre Tasche an die Garderobe. Ein letzter prüfender Blick in den Wandspiegel im Flur und sie rief: »Du bist ja schon zu Hause, Georg.« Als sie keine Antwort bekam, sah sie in das Wohnzimmer, das nahtlos in das Esszimmer überging. Doch ihr Mann war nirgends zu sehen. Sie betrat über den Wohn- und Esszimmerbereich die angrenzende geräumige Küche. Dort entdeckte sie ihn, wie er sich gerade ein Glas Apfelsaftschorle einschenkte. Sie blieb stehen. »Hallo Georg. Das Essen ist gleich fertig. Setz dich doch so lange ins Wohnzimmer und mach es dir gemütlich.« Hastig band sie sich ihre Schürze um.

»Wo hast du gesteckt?«, fragte er und musterte sie über den Rand seines Glases hinweg. Seine Frage enttäuschte sie. Ihre neue Frisur war ihm gar nicht aufgefallen, obwohl die Veränderung nicht zu übersehen war. Dennoch sagte sie nichts dazu. »Ich war beim Friseur«, antwortete sie stattdessen. Fragend zog er eine Augenbraue in die Höhe. »Das hab ich dir doch heute Morgen beim Frühstück erzählt, dass ich einen Termin habe. »Es ist es zwanzig nach elf«, stellte er mit sachlichem Ton fest.

»Bei Frauen dauert ein Friseurtermin länger, Georg. Aber …«

»Aber! Aber! Ich kann dein Palaver nicht mehr hören. Und wie siehst du überhaupt aus? Wie ein Flittchen!« Seine harten Worte trafen sie wie eine schallende Ohrfeige. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Dennoch bemühte sie sich, ruhig zu bleiben. Doch das leichte Zittern ihrer Hand, als sie sich verlegen durchs Haar strich, ließ sich nicht verbergen.

»Es tut mir leid, wenn …« Das Glas, das er eben noch in der Hand hielt, landete krachend vor ihren Füßen. Die Apfelsaftschorle spritzte ihr bis an die Knie und tropfte zum Teil vom Küchenschrank herunter. Ausgerechnet Saft, hätte es nicht ein Glas Wasser sein können? Die Flüssigkeit wäre zumindest schneller wieder saubergewischt. Ihr Unbehagen wuchs.

»Ich erwarte, dass du zu Hause bist, wenn ich von der Arbeit komme. Du wusstest, dass ich heute früher Schluss mache.« Seine Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an. Dabei zog sich seine Stirn unheilvoll zusammen. Der Blick, den er ihr zuwarf, ließ sie einen Schritt zurücktreten. »Ich weiß nicht, was in deinem Spatzenhirn vorgeht«, zischte er. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du zu Hause zu sein hast!«

»Aber … ich habe dir heute Morgen von dem Termin erzählt …«, verteidigte sie sich erneut. Doch das interessierte Georg nicht. Die Schnelligkeit mit der er sich auf sie zubewegte, ließ Ruth erstarren. Ein Blick in seine Augen und ihr Magen krampfte sich zusammen. Die Angst, die sie überrollte, verursachte ihr Übelkeit. Sie glaubte zu ersticken. »Georg … bitte …« Ihre Stimme war brüchig. Ruth zitterte. »Hör auf zu betteln! Du bist so erbärmlich. Ich könnte kotzen!« Eine Ader an der Stirn quoll hervor. In seinen Augen lag der blanke Hass. Ruth wusste, dass sie ihn nicht aufhalten würde. Dennoch flehte sie ihn an, sie zu verschonen. Instinktiv trat sie einen Schritt zurück, was dazu führte, dass er sie mit voller Wucht gegen das hohe Eckregal, das neben der Tür in der Küche stand, stieß. Die kleinen Vasen und Nippesfiguren, die sich darauf befanden, fielen scheppernd zu Boden. Der Schmerz, den sie beim Aufprall gegen das Regal verspürte, nahm ihr für Sekunden die Luft zum Atmen. Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. »Bitte nicht«, keuchte Ruth und sog gierig Luft in ihre Lunge.

»Glaubst du allen Ernstes, dass mich dein scheiß Termin interessiert?«, schrie er sie jetzt an. Sie sah in sein rot angelaufenes Gesicht und erschauderte. Seine kalten Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz schimmerten. Ruth wusste, dass sie keine Chance gegen ihn hatte. Mit seinem wutverzerrten Gesicht sah ihr Mann wie ein Geisteskranker aus. Ihr Verstand schrie sie an, das Weite zu suchen. Noch ehe sie reagieren konnte, hatte er ihren Arm gepackt und nach hinten gedreht. Ein Schmerzlaut entfuhr ihr, was Georgs Raserei nur weiter anstachelte. Mit einem animalischen Gesichtsausdruck rammte er ihr die Faust in den Unterleib. Ruth knickte ein. Tränen schossen ihr in die Augen. Ungeachtet dessen warf er ihr Undankbarkeit und Respektlosigkeit vor. Er wies sie darauf hin, dass sie von seinem Geld lebte. Alles was sie am Leib trug hatte er von seinem Geld bezahlt. Geld, wofür er jeden Tag schwer arbeitete. Das Einzige, was er von ihr verlangte war, dass sie da zu sein hatte, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Sie konnte und wollte ihm nicht mehr zuhören. Die Vorwürfe nahmen zudem kein Ende. Ihr Körper schmerzte und pochte und forderte seinen Tribut. Ihr wurde schwarz vor Augen. Das Letzte, was ihr durch den Kopf schwirrte, bevor sie bewusstlos wurde, war die Melodie von Dancing Queen.

2

Sophie

Der frühe Abendhimmel strahlte in einem hellen Blau, unterbrochen von kleinen Schäfchenwolken. Nicht mehr lange und der Himmel würde sich von seiner schönsten Seite zeigen, nämlich dann, wenn die Sonne unterging. Vor ihrem geistigen Auge malte sich Sophie das Himmelsspektakel in seiner ganzen Vollendung aus. Das Farbenspektrum würde von orangegelb und golden bis zu rotviolett reichen. Ihr verträumter Blick war in die Ferne gerichtet. Ein unverwechselbarer Männerduft stieg ihr plötzlich in die Nase und riss sie aus ihrem Tagtraum. »Nervös?«, fragte Achim und schlang seine Arme von hinten um ihre Körpermitte.

»Nein. Du?«, hakte sie nach und drehte ihren Kopf zur Seite, sodass sich ihre Blicke trafen.

»Sollte ich?«

»Ich wüsste nicht warum. Außer du bekommst kalte Füße.«

»Wegen einer Verlobungsfeier? Im Gegenteil, ich wünschte es wäre unsere Hochzeitsfeier. Ich freue mich einfach, dass du endlich meine Frau und meinen Namen tragen wirst. Ich freue mich auf ein Leben mit dir und unseren zukünftigen Kindern, meine Liebe.« Sophie lächelte. Achim sprach seit Monaten von nichts anderem mehr. Bisher hatte sie gezögert, ihn um etwas Zeit gebeten. Schließlich kannten sie sich erst wenige Monate. Wider alle Vernunft war sich Achim seiner Sache sicher und hatte ihr einen Antrag gemacht. Er wollte seine Traumfrau heiraten, besser heute als morgen. Sophie hatte ihn zunächst davon überzeugen können, es langsamer anzugehen. Doch jetzt war der Tag gekommen, an dem sie offiziell mit allen die Verlobung feiern würden. Das hieß im engsten Familienkreis, mit seinen Eltern, der Oma sowie ihre Eltern und ihr Bruder. Vorausgesetzt, er würde sich von seiner Arbeit frei machen können. Die Familien trafen sich heute zum ersten Mal persönlich. Sophie war gespannt auf das Kennenlernen, ein Grund, warum sie ein bisschen nervös war. Sie drehte sich in Achims Armen und sah lächelnd zu ihm auf. Aufmerksam musterte sie sein Gesicht und versuchte, in seinen strahlendblauen Augen eine Gefühlsregung zu erkennen, was leider nicht der Fall war. Manchmal kam es ihr vor, als besäße er keine Emotionen. Natürlich war Achim nett, freundlich und schenkte ihr alle Aufmerksamkeit dieser Welt. Doch etwas an seinem Wesen bereitete ihr Unbehagen. Es war nicht greifbar und sie konnte es nicht erklären. »Hey, was siehst du mich so an, als wäre ich der Teufel in Person«, neckte Achim sie und stupste ihr mit dem Zeigefinger über die Nase. Verwirrt blinzelte Sophie. »Bitte entschuldige, aber ich…«

»Stopp. Das war ein Scherz, meine Liebe. Du musst meine Worte nicht immer für bare Münze nehmen. Wenn wir erst verheiratet sind, wirst du das schon noch lernen.« Da war es wieder, dieses komische Gefühl. Obwohl Achim lächelte, erreichte es nicht seine Augen. Das klare Blau blieb kalt. Seine Worte wirkten auch nicht beruhigend. »Du hast recht. Ich bin wohl doch etwas nervös«, sagte Sophie. Sie lenkte sich und Achim ab, indem sie ihm einen Kuss gab. Ihre Hände schlangen sich um seinen Nacken. Automatisch vergruben sich ihre Finger in sein Haar. Achims Kuss wurde intensiver. Seine Hände waren überall gleichzeitig auf ihrem Körper. Sie kam sich vor, als läge sie in den Armen einer Krake. Ein Klopfen an der Zimmertür unterbrach den leidenschaftlichen Kuss. Schwer atmend lehnte Achim seine Stirn gegen ihre und rief: »Ja?«

»Kommt ihr zwei. Ich glaube, Sophies Eltern sind soeben in die Auffahrt gefahren.« Achims Mutter hatte die Tür einen Spaltbreit geöffnet und lugte mit dem Kopf herein. Sie lächelte, als sie die beiden sah. »Ihr zwei seid wie wir damals. Wir konnten auch keine fünf Minuten die Finger voneinander lassen.« Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich. Ein betretenes Schweigen senkte sich über den Raum. Sophie verharrte, unschlüssig sich von Achim zu lösen. Letztlich gab er sich einen Ruck und trat einen Schritt zurück. Lächelnd schob er sie ein stückweit von sich, hielt sie aber dennoch fest. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss und meinte: »Wir sollten jetzt wirklich nach unten gehen, bevor es vielleicht peinlich wirkt.« Sophies Stirn legte sich in Falten. »Na ja, du hast ja Mutter eben gehört und wenn wir nicht gleich nach unten kommen, wird sie wer weiß was denken. Das fühlt sich irgendwie unangenehm an. Findest du nicht?«

»Ja, natürlich«, lachte Sophie verlegen.

»Ich geh schon mal vor. Du willst sicherlich noch eine Minute für dich haben«, meinte Achim und sein Blick bohrte sich in ihren. Er hauchte ihr einen hastigen Kuss auf den Mund, dann drehte er sich um und verließ den Raum.

Für Sekunden blieb Sophie wie versteinert stehen. Eine Autohupe ließ sie zusammenzucken. Augenblicklich kam sie in Bewegung. Rasch trat sie an den Schminktisch und nahm den Lipgloss zur Hand. Sorgfältig zog sie ihre Lippen damit nach. Es war ein zarter Rosé-Ton, der ihren schmalen Lippen etwas Fülle verlieh. Kurz zupfte sie ihren Pony zurecht und strich sich über das Kleid. Zufrieden nickte sie ihrem Spiegelbild zu und murmelte: »Du schaffst das.«

***

»Herzlich willkommen Herr Hahn, oder soll ich Sie besser mit Kriminalhauptkommissar Hahn anreden?« Magdalena Schäfer schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Sie hielt dem zukünftigen Schwiegervater ihres Sohnes die Hand entgegen, damit er sie ergriff. »In Anbetracht der Umstände, würde ich vorschlagen, dass wir Titel und Höflichkeitsfloskeln überspringen. Georg ist völlig ausreichend«, entgegnete er nonchalant und hauchte ihr einen Kuss auf die Hand. Dabei sah er ihr tief in die Augen. Magdalena lachte verlegen. »Du bist mir ein schöner Charmeur, Georg. Bitte nenn mich Magdalena, besser noch Mady. Magdalena klingt so altbacken.«

»Dein Wunsch ist mir Befehl, Mady.« Dazu hielt er nach wie vor ihre Hand in seinen Händen. Mady lächelte steif.

»Komm doch herein, Georg. Mein Mann Richard und Achim warten im Esszimmer auf uns.« Mady sah an ihrem Gast vorbei und fragte: »Wo ist denn deine Frau, Georg?«

Bei der Frage huschte ein bedauerlicher Gesichtsausdruck über sein Gesicht. »Sie ist leider unpässlich und lässt sich entschuldigen. Ruth leidet schon seit Jahren an Migräneattacken. Kein Arzt konnte ihr bisher helfen. Sie ist untröstlich, dass sie heute nicht dabei sein kann. Aber glaube mir, es ist besser so für sie.«

»Ach die Ärmste. Das tut mir unendlich leid. Ich werde sie auf jeden Fall besuchen kommen, sobald es ihr wieder besser geht. Bis dahin richte ihr bitte gute Besserung von uns aus. Das ist echt schade, dass sie nicht bei der Verlobungsfeier dabei sein kann. Ich glaube, das wird Sophie gar nicht gefallen.«

»Was wird Sophie nicht gefallen, Mutter?«, fragte Achim, als diese mit Georg das Esszimmer betrat.

»Ach, stell dir nur vor, Sophies Mutter ist unpässlich. Sie hat eine Migräneattacke und liegt zu Hause im Bett. Ist das nicht schrecklich?«

»In der Tat, Mutter. Das wird Sophie nicht erfreuen.«

»Bitte, lasst uns jetzt nicht alle Trübsal blasen. Das wünscht sich Sophies Mutter bestimmt nicht«, mischte sich Richard ein, der das Gespräch verfolgt hatte. Während er redete, reichte er Georg und Mady ein Glas Champagner. »Auf die jungen Leute und die Liebe!«, sagte er und hob sein Champagnerglas zum Toast an. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, reichte er Georg die Hand. »Richard«, stellt er sich vor.

»Georg«, erwiderte dieser mit festem Händedruck. »Jetzt fehlt nur noch die Braut und deine Mutter, Mady«, sagte Richard.

»Wo bleibt Cecilie nur?«, fragte Mady.

»Du kennst doch Oma. Sie kommt immer auf den letzten Drücker, um sich in Szene zu setzten.«

»Achim! Was redest du da?«, entgegnete Magdalena indigniert.

»Es ist doch so. Hast du einmal erlebt, dass Cecilie pünktlich war?«

»Hallo, Papa.« Sophie verharrte im Türrahmen des Esszimmers und sah zu ihrem Vater. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie ließ sich nichts anmerken. Äußerlich ruhig wartete sie auf seine Reaktion. Sie hatte den ersten Tritt der obersten Treppenstufe betreten, als sie die bedauernden Worte ihres Vaters gehört hatte. Haltsuchend hatte sie sich am Geländer festgeklammert. Ihre Beine waren plötzlich weich wie Pudding und drohten ihr wegzuknicken. Langsam hatte sie sich auf die Stufe gleiten lassen. Damit sie ihr Entsetzen nicht laut herausschrie, hatte sie sich die Faust vor den Mund gepresst. Er hatte es wieder getan. Sie wusste es. Ihr Vater war nicht der Mann, für den ihn alle hielten.

»Hallo Sophie. Wie geht es dir, Liebes?«, fragte er fürsorglich und stellte das Glas Champagner auf die Seite. Mit großen Schritten eilte er zu ihr. Er nahm ihre Hände, die sie fest ineinander gefaltet hielt und legte sie sich an die Brust. »Es tut mir so leid. Deine Mutter ist untröstlich, aber du weißt ja, wie es ihr geht, wenn sie ihre Migräne hat. Sie hatte sich so auf den Abend gefreut. Sie war heute Morgen noch extra beim Friseur.« Bedauernd seufzte er.

In Sophie bebte alles. Sie musste sich zwingen, ihre Hände nicht wegzuzerren. Wie konnte er es nur wagen, ihr so ein Theater vorzuspielen. Dazu vor ihrem Verlobten und im Beisein ihrer zukünftigen Schwiegereltern. Sie hatte die ganze Zeit auf seine breite Brust gestarrt. Langsam hob sie jetzt den Blick und sah in seine emotionslosen Augen. Dieselben Augen, die sie jeden Morgen im Spiegel trafen, nur, dass ihre voller Wärme und Liebe waren.

Es klingelte an der Tür. Für Sekunden starrte ihr Vater sie warnend an. Letztlich trat er einen Schritt zurück, hielt aber weiterhin ihre Hand fest. Sophie blieb nichts anderes übrig, als näher an ihren Vater heranzutreten, damit Mady an ihr vorbeikam, um die Haustür zu öffnen.

»Cecilie! Endlich, wir warten schon alle auf dich.« Erleichtert und zugleich verärgert empfing Magdalena ihre Mutter. Sie hauchte ihr links und rechts einen Kuss auf die Wange und bot ihr ihren Arm an. Cecilie hakte sich bei ihr unter und sagte: »Entschuldige, Mady, aber der Verkehr heutzutage ist unberechenbar.«

»Ich wollte dich abholen lassen, aber das wolltest du ja nicht.«

»Kind, solange ich noch in der Lage bin selbst Auto zu fahren, werde ich das tun.«

Mady verdrehte im Geiste die Augen. Ihre Mutter war fünfundachtzig Jahre alt und für ihr Alter rüstig. Dennoch würde sie sich besser fühlen, wenn Cecilie kein Auto mehr fahren würde. Ihr Fahrstil ließ sehr zu wünschen übrig. Was sie immer wieder unter Beweis stellte, indem sie Strafzettel sammelte wie andere Menschen Briefmarken. Ihre Mutter winkte bei dem Thema stets ab. Sie war der Meinung, dass die Polizei nichts mehr mit den Beamten von früher gemein hätte. Die Staatsdiener wären alle nur noch kleinkarierte Korinthenkacker.

»Hallo meine Lieben. Bitte verzeiht die Verspätung. Aber wie ich bereits zu Mady gesagt habe, der Verkehr ist heutzutage unberechenbar.«

»Cecilie, schön dich zu sehen.« Richard lief auf sie zu und stellte ihr dabei Georg vor.

»Und Sie sind tatsächlich Kriminalhauptkommissar? Bei der Mordkommission?«, fragte sie. Man sah ihr ihre Aufregung an. Ihre Augen blitzten begeistert auf, als sie das Wort Mordkommission sagte.

»Betrugsdezernat. Und Sie können mich gerne duzen, Cecilie«, entgegnete Georg. Er schenkte ihr ein einnehmendes Lächeln, was sie bereitwillig erwiderte.

»Du musst mir unbedingt von deinen spektakulärsten Fällen erzählen.« Cecilie hakte sich vertraulich bei ihm unter.

»Aber bitte nicht heute, Oma«, mischte sich Achim ein. Er wusste, dass sie sich darüber ärgerte, wenn er sie so nannte. Cecilie konnte sich nicht eingestehen älter zu werden. Sie hasste es, als Großmutter betitelt zu werden. Dennoch rang sie sich ein Lächeln ab. »Du hast recht, Achim. Wir sollten heute über erfreulichere Dinge reden. Ich denke, die Kriminalfälle kannst du mir auch ein andermal erzählen, Georg.« Dabei zwinkerte sie ihm verschwörerisch zu. »Gerne, Cecilie. Es lässt sich viel schöner zu zweit darüber plaudern.« Sein Oberkörper näherte sich dem von Cecilie. Eine Attitüde, die vertraulich wirken sollte.

Sophie hörte dem Geplänkel ihres Vaters zu und hatte Mühe, ihre aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Was war er nur für ein Mensch?

»Sophie?«, fragte Mady. »Kommt dein Bruder noch? Sollen wir einen Moment warten oder fangen wir schon einmal an?«

Sophie sah kurz auf ihr Handy, das sie aus der Handtasche zog. Sie hatte keine Nachricht von Sascha erhalten. »Wir fangen an. Sascha hat ja gesagt, dass er nicht weiß, ob er es rechtzeitig hierher schaffen wird.« Achim legte fürsorglich seine Hand an ihren Rücken. Eine Geste, die zugleich Trost und Geborgenheit vermittelte. Sophie sah lächelnd zu ihm auf. Ihr Verlobter strich ihr mit der freien Hand über die Wange und hauchte ihr einen Kuss auf den Mund.

Die kleine Gesellschaft setzte sich an die festlich gedeckte Tafel. Ein alter Mann mit leicht vornübergebeugtem Oberkörper stand abwartend am Buffet. Erst als alle am Tisch saßen, setzte er sich mit einer Wasserkaraffe in der Hand in Bewegung. Er schlurfte von Platz zu Platz und schenkte ein. Das alles spielte sich in Zeitlupe ab, was weder die Hausherren noch den Bediensteten aus der Ruhe brachte.

Nachdem der Butler endlich den Wein kredenzt und die Vorspeise serviert hatte, zog er sich diskret zurück.

Sophie saß ihrem Vater gegenüber. Hin und wieder traf sie sein durchdringender Blick. Er fokussierte sie regelrecht, was sie nervös werden ließ. Zum Glück saß Cecilie neben Georg. Sie verwickelte ihn in ein Gespräch und lenkte seine Aufmerksamkeit von ihr ab.

Das Klirren von Besteck auf Porzellan riss Sophie aus ihren Gedanken. Sie machte sich schreckliche Sorgen um ihre Mutter. Zugleich plagte sie das schlechte Gewissen. Sie hielt schon viel zu lange die Augen vor der Wahrheit verschlossen. Gelähmt von ihrer Angst, fand sie keinen Mut sich gegen ihren Vater zu wehren. Seine subtile Art der Drohung schüchterte sie ein. Durch Blicke warnte und ermahnte er sie zugleich. Doch sie war kein kleines Kind mehr. Sie hatte einen Entschluss gefasst. Morgen. Morgen, wenn sie ihren Bruder eingeweiht hatte, würden alle die Wahrheit erfahren. Das Martyrium ihrer Mutter würde ein Ende haben.

3

Sascha

Ein rascher Blick auf seine Armbanduhr, und Sascha wurde klar, dass er zu spät kommen würde. Aus Gewohnheit trat er das Gaspedal seines Porsche durch. Ein paar Minuten würde er damit gewinnen, mehr nicht. Er hatte Sophie nichts versprochen. Doch er wollte unbedingt bei ihrer Verlobungsfeier dabei sein. Sollte wenigstens sie glücklich werden. Der Gedanke irritierte ihn. Als wäre ich nicht glücklich. Was für eine abstruse Eingebung. Automatisch flog sein Blick zur Seite. Seine adrette Beifahrerin, eine Blondine mit langen sexy Beinen und einem ausgefüllten Dekolleté, starrte teilnahmslos aus dem Seitenfenster. Ihr Name war Jennifer, Jennifer irgendwas. Ehrlich gesagt, war ihm ihr Nachname egal. Er kannte sie nur flüchtig. Sie hatte ihn ein paarmal zu einem Geschäftsessen begleitet und mit ihm geschlafen. Das legere Verhältnis zwischen ihnen beruhte auf Gegenseitigkeit. Zudem war sie die Einzige, die heute Zeit für ihn hatte. Zuerst hatte er mit dem Gedanken gespielt alleine zu der Verlobungsfeier zu kommen, doch wegen seiner Mutter hatte er die Idee schnell wieder verworfen. Kurzerhand war er seine Kontakte auf dem Handy durchgegangen. Jennifer war die Dritte, die er angerufen hatte, und sie hatte bereitwillig zugesagt. Das Wort zwanglos traf seinen Beziehungsstatus auf den Kopf, sehr zum Leidwesen seiner Mutter. Zugegeben, er entsprach nicht dem üblichen Klischee. In seinem Alter mit Ende dreißig, waren die meisten Männer verheiratet, hatten Kinder und besaßen ein Haus. Vorzugsmäßig mit Garten und Balkon. Er hatte nichts von alledem. Aber er vermisste auch nichts davon. Außerdem hatte er keine Zeit für eine feste Beziehung, Kinder oder ein Haus mit Garten.

Sein Blick wanderte erneut zur Seite. Für Sekunden bewunderte er Jennifers knallrotes Kleid und ihre langen Beine. Das Wort Familie kam ihm in den Sinn. Gedanklich schnaubte er. Seine Begleitung wäre die letzte Frau, mit der er eine Familie gründen würde. Sex ja, und wenn es nach ihm ginge so oft wie möglich. Aber Ehefrau und Mutter seiner Kinder – niemals.

Ruth lag ihm schon seit Jahren damit in den Ohren, endlich zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzten. Doch er sah keinen richtigen Zeitpunkt dafür. Die Arbeit und sein Zeitmanagement gaben weder Raum noch Möglichkeiten her. Zudem war es angenehmer, zwanglose Frauenbekanntschaften zu haben. Die Vorstellung, mit ein und derselben Frau über Jahre liiert zu sein, widerstrebte ihm. Sein Blick streifte den von Jennifer. »Was ist?«, fragte sie. »Hab ich Pickel im Gesicht?« Sie klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete ihr Profil in dem kleinen Spiegel. Makellose Haut, wohlgeformte, knallrote Lippen und sexy smokey eys, stachen ihr entgegen.

Kurz zupfte sie an ihrem Dekolleté. Dann klappte sie mit Schwung die Sonnenblende nach oben. Sie warf Sascha einen mürrischen Blick zu und widmete sich ihrem Handy.

***

Sascha und seine Bekannte wurden überaus freundlich empfangen. Nachdem sich alle begrüßt hatten und er Jennifer vorgestellt hatte, nahm er neben seiner Schwester Platz. Seine Freundin wurde ihm gegenüber platziert.

»Du bist also ein Broker?«, fragte Cecilie beim Hauptgang. Vorsichtig tupfte sich Sascha mit der weißen Stoffserviette den Mund ab, bevor er sprach. »Investmentbanker«, korrigierte er sie.

»Und wo liegt da der Unterschied?«, hakte Cecilie nach.

»Ganz einfach, ein Broker handelt mit Wertpapieren, wie Devisen, Aktien, aber auch mit Rohstoffen. Ziel dabei ist es, durch Käufe und Verkäufe eine möglichst große Gewinnspanne zu erzielen. Zudem muss ein Broker schnell handeln. Die Aufgaben eines Investmentbankers lassen sich nicht mit wenigen Worten erklären. Dazu sind die Einsatzmöglichkeiten zu vielfältig. Es gibt verschiedene Bereiche wie: Asset Management, Trading, Mergers & Acquisitions. Das sind nur Teilbereiche, es gibt noch weitere.«

»Das klingt ziemlich kompliziert. Und in welchem Bereich bist du tätig?«

»Ich fungiere als Managing Director. Meine Hauptaufgabe ist es, Geschäfte an Land zu ziehen. Dazu bin ich oft auf Reisen in aller Herrenländer.«

»Dann kommst du ja viel in der Welt herum«, unterbrach ihn Cecilie.

»Leider ist das nicht ganz so glamourös wie sich das viele vorstellen.«

»Das ist aber schade«, sagte Cecilie und steckte sich einen Bissen Fleisch in den Mund.

»Als MD habe ich die zusätzliche Funktion eines Abteilungsleiters«, fuhr Sascha fort. »Das heißt, ich trage die Verantwortung für alle Mitarbeiter in meiner Abteilung. Zudem muss ich die Zufriedenheit der Kunden sicherstellen. Das ist ein rund um die Uhr Job.«

»Hast du denn da überhaupt Zeit für ein Privatleben?«, fragte Cecilie und richtete den Blick auf Saschas Begleitung. Jennifer, legte ihr Besteck mit Bedacht auf den Teller und sagte: »Für gewisse Stunden haben wir immer Zeit. Nicht wahr, Darling?« Dabei umspielte ein sinnliches Lächeln ihre Lippen. Sascha warf ihr einen warnenden Blick zu. Cecilie verschlug es für den Moment die Sprache. Offenkundig musterte Georg die aufreizende Begleitung seines Sohnes, wobei seine Augen an ihrem Ausschnitt hängen blieben.

Jennifer, sich ihrer Aufmerksamkeit bewusst, setzte sich in Szene und ließ ihre weiblichen Reize spielen. Sophie, die im Stillen die zu Schaustellung beobachtet hatte, bemühte sich, die peinliche Situation zu retten. »Wann musst du wieder nach London, Sascha?« Kurz räusperte er sich und schenkte seiner Schwester ein bedauerndes Lächeln. »Morgen früh um neun geht mein Flieger.«

»Ach du meine Güte. Du bist wirklich nicht zu beneiden, Sascha«, sagte Cecilie. Sie wirkte wieder gänzlich aufgeräumter. Der kleine Schock durch Jennifers Bemerkung wurde behandelt, als wäre er nicht vorgefallen.

Nachdem der Butler den letzten Gang abgeräumt hatte, schlurfte er, auf den Servierwagen gestützt, aus dem Raum. Die kleine Gesellschaft begab sich in das angrenzende Kaminzimmer. Dort servierte der Hausherr für alle einen After Dinner Drink. Die Damen hielten sich an Likör und die Herren griffen nach einem teuren Tropfen Weinbrand. Sophie stellte sich ein wenig abseits. Mit ihrem Likörglas in der Hand sah sie aus dem großen Panoramafenster in die Dunkelheit. Ihr Gesicht spiegelte sich schemenhaft in der Fensterscheibe wider. Gedankenverloren hing sie ihren Sorgen und Ängsten nach. »Warum so traurig, kleine Schwester?« Ertappt drehte sie sich zur Seite und sah ihren Bruder tadelnd an. »Du kannst es einfach nicht lassen, mich zu erschrecken, Sascha.«

»Und du kannst es nicht lassen vor dich hinzuträumen«, neckte er sie. Für einen Moment sahen sie sich schweigend an. Sophie gab sich einen Ruck und schenkte ihm ein Lächeln. In einer vertrauten Geste legte sie ihre Hand an seine Wange. »Vorsichtig Schwesterherz. Ich glaube, dein Zukünftiger wird gerade eifersüchtig.« Verstohlen sah sie zu Achim. Seine Stirn lag in Falten und man sah ihm an, dass er nur noch halbherzig Georgs Gespräch folgte. Sein Blick hing an ihr wie Tapetenkleister. Sie sollte sich geehrt fühlen, doch dem war nicht so. Achim engte sie auf eine subtile Art und Weise ein. Seine Nähe erdrückte sie. Er nimmt mir die Luft zum Atmen, schoss es ihr durch den Kopf.

»Sophie? Alles okay?«, fragte Sascha. Besorgnis schwang in seiner Stimme mit. Aufmerksam musterte er seine Schwester. Sie wirkte aufgewühlt und zerstreut. Er selbst war noch nie verlobt, aber er hatte schon an vielen Verlobungsfeiern teilgenommen. Doch bei keiner Feier hatte die Braut so verloren und traurig ausgesehen. »Hey, Schwesterherz. Rede mit mir. Was ist los?«

Sophie hob den Blick und sah ihren Bruder an. »Es ist …« Sie verstummte. Fragend hob Sascha eine Augenbraue. »Wir müssen reden, aber nicht hier und jetzt. Wann kommst du aus London zurück?«

»Ich weiß nicht. In zwei, drei Tagen. Es kommt darauf an, wie schnell sich das Geschäft abwickeln lässt.«

»Melde dich bitte bei mir, sobald du zurück bist.« Eindringlich sah sie ihren Bruder an. »Du machst mir Angst, Sophie. Was ist los mit dir? Geht es um deine Verlobung? Ist Achim …«

»Was ist mit mir?«, fragte Achim und sah zwischen den beiden Geschwistern hin und her. Sophie lächelte ihren Verlobten an. »Sascha meinte, dass du ein Glückspilz bist.«

»So? Bin ich das.«

»Ja. Wer meine Schwester heiratet, kann sich glücklich schätzen.« Sein Blick ruhte auf Sophie. Vergebens suchte Sascha nach einer Antwort in ihrem Gesicht. Achim legte seinen Arm um sie. Automatisch schmiegte sich Sophie an ihn, doch sie sah nicht glücklich aus. Sobald er aus London zurück war, würde er mit ihr reden. Seiner Schwester lag etwas auf dem Herzen, das sah er ihr an.

***

Schweigend saßen Sascha und Jennifer im Auto. Die Stille wurde von klassischer Musik erfüllt. »Warum hast du mit meinem Vater geflirtet? Er ist glücklich verheiratet«, sagte er und warf seiner Beifahrerin einen grimmigen Seitenblick zu. »Bist du etwa eifersüchtig?«, gurrte sie.

»Nein, aber ich finde dein Benehmen nicht passend. Immerhin ist er mein Vater. Zudem befanden wir uns auf der Verlobungsfeier meiner Schwester.«

»Machst du jetzt einen auf Moralapostel oder was? Du bist doch derjenige, der jede vögelt, die ihm gefällt. Hast du dabei auch nur einmal an mich gedacht. Wie ich mich fühle oder was ich denke.«

»Wir sind nicht liiert, Jennifer. Wir treffen uns hin und wieder. Haben etwas Spaß, mehr nicht.«

»Du meinst, du hast Spaß.«

»Willst du jetzt behaupten, dass der Sex den wir haben, dir nicht gefällt?«

»Pff, denk doch was du willst.«

»Was ist eigentlich dein Problem? Erst gräbst du den ganzen Abend meinen Vater an, dann behauptest du, wir hätten schlechten Sex. Ich glaube, unter den gegebenen Umständen sollten wir zukünftig getrennte Wege gehen.«

»Dein alter Herr hat Gefallen an mir gefunden. Er konnte seinen Blick nicht von meinem Ausschnitt abwenden. Vielleicht sind deine Eltern ja gar nicht so glücklich verheiratet, wie du denkst.«

Sascha beschleunigte den Porsche. Je früher er Jennifer vor ihrer Haustür absetzte, desto besser. Zukünftig würde er die Finger von ihr lassen. Egal wie verführerisch sie war. Sie hatte sich den ganzen Abend unmöglich verhalten. Sophie hatte die ein oder andere peinliche Situation gerettet, was ihm sehr unangenehm war. Aber als sie dann auch noch anfing, mit seinem Vater zu turteln, war für ihn klar, dass er sie nicht mehr daten würde.

»Ich würde nicht mit deiner Mutter flirten, vor allem nicht im Beisein ihrer Kinder.«

»Du nervst, Sascha. Fahr uns einfach nach Hause. Ich brauche keine Konversation und schon gar keine Belehrung von jemandem, bei dem das Wort Moral nicht im Wortschatz vorkommt.« Für Jennifer war die Unterhaltung damit beendet. Sie schnappte sich ihr Handy und schenkte ihm keinerlei Aufmerksamkeit mehr.

***

Endlich zu Hause angekommen, entledigte Sascha sich gleichzeitig seiner Schuhe und Strümpfe. Beides kickte er von sich. Die Krawatte ließ er achtlos über eine Stuhllehne fallen, gefolgt von seiner Anzugjacke. Barfüßig lief er in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, griff nach einer Wasserflasche und trank gierig daraus. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er schleunigst ins Bett sollte, um überhaupt ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Der Streit mit Jennifer hatte nicht vor ihrer Haustür geendet. Er war mit ihr in ihre Wohnung gegangen. Dort waren sie leidenschaftlich übereinander hergefallen. Dennoch war der Sex mit ihr emotionslos. Sie befriedigten lediglich ihre Triebe. Er fühlte sich mies, da er trotz allem den Sex mit ihr genoss. Seufzend betrat er das Schlafzimmer. Er entledigte sich seiner restlichen Kleidung und ließ sich, wie Gott ihn geschaffen hatte, auf das Bett fallen. Bevor er die Augen schloss, stellte er den Wecker seines Handys.

4

Gitte

Immer noch leicht verärgert darüber, dass ihre Schwester sie nicht angerufen hatte, wählte Gitte Ruths Nummer. Es klingelte eine Weile, ehe jemand abhob. »Hallo Gitte. Wie geht es dir, meine Gute?«, fragte Georg.

»Hallo Georg. Danke der Nachfrage. Mir geht es gut.« Im Geiste rollte sie die Augen. Der Mann war ein notorischer Schleimer. Instinktiv wusste sie, dass er über ihren Anruf nicht erfreut war. Aber das war ihr egal. »Könnte ich bitte mit Ruth sprechen?«, fragte sie, ohne sich groß auf eine Konversation mit ihm einzulassen.

»Es tut mir leid, Gitte, aber Ruth hatte wieder einen ihrer Migräneanfälle. Sie liegt im Bett und der Arzt hat ihr eine Spritze gegeben. Zudem hat er ihr Bettruhe verordnet.« Georg wartete. Als Gitte nichts erwiderte, fuhr er fort. »Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie nicht zum Friseur gegangen wäre. Das Herumzupfen an den Haaren, das ihr Frauen über euch ergehen lasst, kann nicht gesund sein.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus, so als läge die Last der Welt auf seinen Schultern.

»Das tut mir leid«, sagte Gitte, noch völlig verdattert von der Information. Der Anfall war sicherlich auch der Grund, warum sie gestern nicht angerufen hatte. »Moment mal, aber das heißt, dass Ruth gar nicht auf der Verlobungsfeier von Sophie und Achim war?«

»Richtig erkannt, liebe Schwägerin.«

»Das muss ja schrecklich für sie und für Sophie gewesen sein.«

»Mag sein.« Georg klang auf einmal ungeduldig. »Bitte sei mir nicht böse, Gitte, aber ich muss zur Arbeit. Du kannst ja gerne morgen nochmal anrufen. Vielleicht geht es Ruth dann besser.« Er hatte aufgelegt, bevor sich Gitte verabschieden und an ihre Schwester Grüße ausrichten konnte. Noch völlig erschüttert von der Nachricht, legte sie das Telefon neben ihre Kaffeetasse.

»Guten Morgen, Schatz.« Karl betrat gut gelaunt die Küche. Er steuerte die Kaffeemaschine an, nahm sich eine Tasse aus dem Regal und drückte die Taste für einen Cappuccino. Das Mahlwerk ratterte mit einem Höllenlärm los. Bis der Kaffee fertig war, holte Karl die Tageszeitung herein. Er nahm die Tasse und klemmte sich die Zeitung unter den Arm. Bevor er sich an den Frühstückstisch setzte, hauchte er Gitte einen Kuss auf die Wange. »Du siehst blass aus. Ist alles in Ordnung mit dir?« Aufmerksam musterte er ihr Gesicht. Seine Frau sah seiner Meinung nach noch genauso attraktiv aus wie früher. Zwar färbte sie sich inzwischen die Haare, aber ihre grünen Augen waren dieselben, in die er sich verliebt hatte.

»Ruth hatte wieder einen ihrer Migräneanfälle«, sagte sie. Karl sah sie fragend an. »Sie war nicht bei Sophies Verlobungsfeier dabei. Stell dir das mal vor!«

»Das tut mir leid für deine Schwester. Und erst recht für Sophie. Ich verstehe nicht, dass es keine Medikamente gibt, die so einer Schmerzattacke vorbeugen können. Es wäre doch einfacher, wenn es erst gar nicht soweit käme.«

»Da hast du recht. Aber nichtsdestotrotz mache ich mir Sorgen, Karl. Ich hatte sie gestern angerufen. Sie war kurz angebunden, da sie auf dem Weg zum Friseur war. Dennoch hatte ich den Eindruck, als wollte sie mir etwas Wichtiges sagen.«

»Dann besuch sie doch morgen.«

»Ich weiß nicht. Georg …« Sie verstummte.

Nach all den Jahren, die sie ihren Schwager kannte, war ihr klar, dass Georg sie nicht im Haus haben wollte.

»Früher wart ihr unzertrennlich. Da hat es euch auch nicht interessiert, wenn wir Männer die zweite Geige gespielt haben.«

»Das war einmal«, seufzte Gitte. Sie griff nach ihrem Kaffee, umklammerte die Tasse mit beiden Händen und trank einen Schluck. Ihre Gedanken drifteten in die Vergangenheit. Ja, sie waren wie Zwillinge gewesen. Der Riss zwischen ihnen kam, nachdem ihr klar wurde, dass sie keine Kinder haben würde. Sie vergrub sich in Arbeit und schottete sich von allem und jedem ab. Dabei hatte sie nicht bemerkt, wie Ruth sich immer weiter von ihr distanziert hatte. Erst recht, nachdem Sascha auf dem Internat war. Ab da fingen auch die Migräneanfälle bei ihrer Schwester an.

»Gitte?«, fragte Karl.

»Was? Bitte entschuldige, ich war gerade völlig in Gedanken.«

»Ja, das habe ich bemerkt.«

»Was hattest du gefragt?«

»Ich hatte nichts gefragt, Gitte. Ich wollte dir nur sagen, dass ich nicht zum Mittagessen da sein werde.«

»So?«, sagte sie. Ihr Blick ruhte auf Karl, der weiterhin in der Zeitung las. Bei ihrer Bemerkung sah er jedoch auf.

»Warum siehst du mich so merkwürdig an?«

»Tu ich das?«

»Gitte, bitte. Was ist nur heute Morgen mit dir los? Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht.«

Kein Wunder, dachte sie. Wir leben ja schon seit Jahren bedeutungslos nebeneinander her.

Ihre Gedanken behielt sie geflissentlich für sich. Sie hatte keine Lust, sich jetzt mit Karl zu streiten. Ihre Sorge galt ihrer Schwester und dem unguten Gefühl, das an ihr nagte. »Isst du im Golfclub?«, fragte sie.

»Ja … Ja, im Club. Ich muss auch los.« Mit einem raschen Blick auf seine Armbanduhr legte er geschäftig die Zeitung zur Seite. Ihr Mann erhob sich, beugte sich zu ihr und hauchte ihr einen weiteren Kuss auf die Wange. »Bis später«, sagte er. Mit eiligen Schritten und fröhlich vor sich hinpfeifend, verließ er das Haus.

»Von wegen Golfclub und Mittagessen«, brummte Gitte, als sie ihrem Mann hinterher sah.

***