Wette nie mit einem Anwalt - Sina Winter - E-Book

Wette nie mit einem Anwalt E-Book

Sina Winter

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Beschreibung

»Soll dieses Kleid mich provozieren oder verführen?« Rechtsanwaltsgehilfin Vivien Maas nervt nichts so sehr wie Staranwalt Thomas Klein. Der Scheidungsanwalt bringt mit seiner arroganten und kalten Art stets ihr Blut in Wallung und wird dadurch zum Ziel ihrer Vorurteile. Erst recht, wenn beide aufeinander treffen und verbal die Fetzen fliegen. Durch eine irrwitzige Wette sind plötzlich beide gezwungen, miteinander auszukommen. Dabei ahnen sie noch nicht, welche Rolle der jeweils andere in ihren Leben spielen wird. Vor allen Dingen, wenn die Presse davon Wind bekommt und Wahrheit und Lüge sich vermischen. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Sowohl beruflich als auch privat, steht mit einem Mal weitaus mehr auf dem Spiel als ein Wetteinsatz. Jetzt kann nur noch die Wahrheit und nichts als die Wahrheit Vivien und Thomas retten.

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Die Autorin:

Sina Winter lebt mit ihrem Mann im schönen Unterfranken, direkt vor den Toren der Rhön. Schon früh entdeckte sie ihre Leidenschaft für Bücher. Zunächst kompensierte sie ihre Kreativität im Zeichnen und Gestalten, bis sie vor vier Jahren mit dem Schreiben begann. »Wette nie mit einem Anwalt«, ist ihr dritter Roman. Bereits im Self Publishing erschienen sind »Rosalie, weil es dich gibt« und »Ein Sommer auf Fiskmås oder die Kunst sich zu verlieben«. Sina Winter schreibt nicht nur Romane, sondern auch Kurzgeschichten. Entdecken Sie hierzu über skoobe.de oder amazon.de ihren ersten Kurzkrimi »Die Neue«.

Eitelkeit und Stolz sind zwei verschiedene Dinge, obwohl die Wörter oft bedeutungsgleich verwendet werden. Ein Mensch kann stolz sein, ohne eitel zu sein. Stolz hat mehr damit zu tun, was wir von uns selbst halten, und Eitelkeit mehr damit, wie wir von anderen gesehen werden wollen.

Jane Austen (1775 - 1817), englische Romanschriftstellerin

Inhaltsverzeichnis

1.

Kapitel

Vivien

Thomas

Thomas

Simone

Thomas

2.

Kapitel

Vivien

Thomas

Thomas

Bernard

Vivien und Thomas

3.

Kapitel

Vivien und Thomas

Vivien

Thomas

4.

Kapitel

Thomas und Vivien

Vivien

Vivien und Thomas

5.

Kapitel

Thomas

Vivien und Thomas

Vivien

6.

Kapitel

Thomas und Vivien

Vivien

Vivien und Thomas

1. Kapitel
Vivien

Noch ehe Vivien Maas den Blick auf den Laptop gerichtet hatte, brachte die Stimme der Reporterin, des lokalen KP&T - Onlinesenders, ihr Blut in Wallung.

»Herr Klein, Sie haben es wieder einmal geschafft. Sie haben einen spektakulären Prozess gewonnen. Kein Scheidungsanwalt der Stadt hält mit Ihnen mit. Wir, vom KP&T-Sender, gratulieren Ihnen dazu.«

»Vielen Dank«, erwiderte Thomas Klein knapp und lief, gefolgt von der Reporterin, unbeirrt weiter. Die junge Frau ließ sich nicht abwimmeln und hastete im Laufschritt neben ihm her. »Herr Klein, finden Sie nicht, dass Ihr Familienname Ihrem Ruhm nicht annähernd gerecht wird? Wäre eine Namensänderung nicht passend?« Abrupt blieb der Anwalt stehen und sah in das Gesicht der Reporterin. Sie besaß ein makelloses Aussehen, ihre Lippen waren zu einem perfekten Lächeln verzogen und ihre blauen Augen fixierten ihn triumphierend.

»Blöder Anfängerfehler, Herr Klein.«, stellte Vivien mit einer gewissen Genugtuung fest. Die Reporterin hatte es geschafft, seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu erlangen.

Ein weiteres Reporterteam umringte Herrn Klein. Im Schlepptau eine Traube von Gaffern, die sensationslustig auf eine Antwort von ihm warteten.

Eingekreist von Menschen mit Kameras und Mikrofonen in der Hand, schweifte sein wütender Blick über die Menge. »Frau Dakarè - richtig?«, fragte er die junge Reporterin.

»Ja«, bestätigte sie lächelnd.

»Sie sind der Meinung, mein Nachname wäre meiner nicht würdig?«

»So drastisch würde ich es nicht betiteln, Herr Klein. Ich dachte… «

»Denken Sie besser nicht, Frau Dakarè«, unterbrach er sie harsch, »denn das Denken scheint keine Ihrer Stärken zu sein. Überlassen Sie das Denken Menschen mit Verstand.« Damit ließ er sie stehen und nutzte die Sekunden ihrer Verwirrung, um seinen Weg fortzusetzen.

»Zack, dies war soeben ihr Todesstoß, Frau Dakarè«, murmelte Vivien.

»Warum siehst du dir das an, Vee?«, fragte Eddi Bernard, ihr Chef, mit Blick auf den Laptop.

Ihr Arbeitgeber, ebenfalls Scheidungsanwalt, war afroamerikanischer Abstammung. Seine dunkle Hautfarbe sorgte bei seinen Klienten meist für eine gewisse Verunsicherung. Vivien ärgerte dieses oberflächliche Verhalten. Sie kommentierte das, indem sie fragte, in welchem Jahrhundert die Leute lebten. Ihr Chef winkte nur ab und meinte: »Gib Ihnen etwas Zeit, sich an mich zu gewöhnen, Vee.«

Er behielt recht, die anfängliche Unsicherheit legte sich. Dennoch, nach Viviens Geschmack, besaß Bernard mehr Einfühlungsvermögen, als für seinen Job nötig war. Seine dunklen Augen strahlten zu viel Verständnis und tiefes Mitgefühl aus. Wenn es jedoch darauf ankam, lag auch eine gewisse Härte in seinem Blick. Vivien konnte sein Verhalten nicht immer nachvollziehen. Hinzu kamen die äußere Gelassenheit und innere Ruhe, die er an den Tag legte. Ganz im Gegensatz zu ihrem eigenen, impulsiven Temperament, das soeben mit ihr durchging.

»Ich versuche, doch nur zu verstehen, warum Herr Klein ein derartiges Ansehen genießt. Er ist arrogant, herzlos und ein selbstverliebtes Ekel«, empörte sich Vee aufgebracht.

»Ach was, du interpretierst zu viel hinein. Der Mann hat genau richtig gehandelt«, entgegnete Bernard und deutete dabei auf den Laptop. Fassungslos sah Vee zu ihm auf. »Er wird gefeiert wie ein Popstar! Die Medien überschlagen sich mit Informationen über Staranwalt Klein. Und du findest es in Ordnung, wenn er Menschen vor laufender Kamera beleidigt.«

»Die Dame von der Presse ist selbst schuld. Sie hat ihn provoziert. Und wenn schon, sollen sie ihn feiern. Dennoch muss man nicht gleich alles glauben, was man über ihn hört.«

»Ich habe den Eindruck, dass du ihn verteidigst.«

»Vielleicht, meine liebe Vee, vielleicht. Wenn man bedenkt, wie blutrünstig die Presse sich auf jeden Happen stürzt, den man ihr hinwirft. Glaube mir, im Rampenlicht zu stehen ist kein Zuckerschlecken. Zudem ist er noch jung. In ein paar Jahren kräht kein Hahn mehr nach ihm.«

»Jung? Der Mann ist Anfang vierzig.« Nicht sonderlich verwundert darüber, dass Vee Kleins Alter kannte, zog er dennoch eine Augenbraue in die Höhe und brummte: »Aus meiner Sicht ist er jung.«

»Und aus meiner Sicht alt«, konterte Vee hitzig und ihr Temperament sprühte förmlich aus ihren bernsteinfarbenen Augen. Das entlockte Eddi ein Schmunzeln. Er hatte keine Ahnung warum, aber sobald der Name Thomas Klein fiel, brannten bei ihr sämtliche Sicherungen durch. Schlimmer war es, wenn sie persönlich auf den Staranwalt traf, was zu jederzeit passieren konnte. Gedanklich schüttelte er darüber den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. Verstehe einer das weibliche Geschlecht? Entweder sie liebten oder sie hassten einen. Ein Dazwischen schien es nicht zu geben.

»Würde es die junge Lady verkraften, mit einem alten Knacker auf ein Bier ins Hardt‘s mitzukommen?«, lenkte er das Gespräch geschickt in andere Bahnen.

»Bist du etwa eingeschnappt, Eddi?«

»Kommst du nun mit, ja oder nein?«, fragte er und seine dunklen Augen starrten Vee nach dem Motto: ›Schuldig im Sinne der Anklage‹ an.

»Klar komme ich mit«, grinste sie frech. »Und Mia mit Sicherheit auch.« Sie sah ihren Chef abwartend an.

»Gute Idee. Dann kann ich alter Mann, mich gleich mit zwei jungen Schönheiten an meiner Seite schmücken.«

»Eddi Bernard«, tadelte Vee ihn lachend, »du bist unmöglich. Hier war nie die Rede davon, dass du ein alter Knacker bist.«

Nachdem Vee ihrer Freundin Mia eine Nachricht geschrieben hatte, packte sie ihre Sachen zusammen und schlenderte mit Eddi zur S-Bahn.

Ihr Chef, von allen meist Bernard gerufen, war mehr als ein Arbeitgeber für Vee. Er war Mentor und Vaterfigur zugleich. Vivien war Vollwaise und wuchs in einem Kinderheim auf. Ihre Eltern starben bei einem Autounfall, als sie noch ein Baby war. Sie hatte zwar eine Tante mütterlicherseits, doch Tante Ottilie, kurz Tilli genannt, taugte in den Augen des Jugendamtes nicht als erziehungsberechtigte Person. Schuld daran waren ihr unsteter Lebenswandel und ihre schillernde Persönlichkeit. Sie war zu sprunghaft und hielt nichts von Regeln. Für Tante Tilli war das Leben ein großes Abenteuer. Mit achtzehn lebte sie in einer Kommune und war voller Aktionismus, bis sie sich, inspiriert durch eine neue Liebe, sich dem Tierschutz widmete und von da an gefährdete Tiere rettete. Durch einen Zufall lernte sie einen Maler kennen und entdeckte daraufhin die Liebe zur Kunst. Gemeinsam reiste sie mit ihm durch die Welt und landete irgendwo in Italien. Diese Sprunghaftigkeit zog sich durch ihr ganzes Leben, bis sie mit Anfang sechzig ihren Traummann kennenlernte. Die beiden heirateten sofort und erlebten glückliche Jahre zusammen. Nach dem Tod ihres Mannes erbte Tilli ein überschaubares Vermögen. Darunter ein kleines Haus mit Meerblick in Italien. Das Objekt hatte sie Vivien überschrieben, jedoch behielt Tilli ihr Wohnrecht auf Lebzeiten. Vivien liebte das Haus, und wenn es ihre Zeit zuließ, fuhr sie dorthin. Für sie war es der schönste Ort der Welt, um die Seele baumeln zu lassen. Doch genau da lag ihr Dilemma. Der Faktor Zeit bot ihr kaum die Möglichkeit. Denn als Bernards Rechtsanwaltsgehilfin arbeitete man ganz oder gar nicht. In ihrem Fall hieß das, stets erreichbar zu sein.

***

Die anhaltende Hitze des Sommers setzte nicht nur den Menschen und den Tieren zu, auch die Natur geriet zunehmend an ihre Grenzen. Viele Bäume ließen ihr vertrocknetes Laub fallen und gaben einem das Gefühl, dass mitten im Hochsommer der Herbst Einkehr gehalten hatte. Die sonst im Saft stehenden Rasenflächen der Vorgärten, ähnelten immer mehr einer Steppe. Und die Pegel der großen Flüsse waren so niedrig, dass teilweise der Schiffsverkehr zum Erliegen kam. Die anhaltende Trockenheit zeigte, wie machtlos der Mensch gegenüber der Natur war.

Träge saß Vee neben Bernard in der S-Bahn und hing ihren Gedanken nach. Eigentlich hatte sie vorgehabt, noch nach Hause zu fahren und zu duschen und sich umzuziehen, doch Bernard brummte: »Das kannst du dir sparen. Bis du im Hardt‘s ankommst, klebt sowieso wieder alles an dir.«

›Wahre Worte‹, dachte sie, als ihr der Schweiß über den Rücken lief. Vee liebte die Wärme, aber diese anhaltende Hitze war selbst ihr zu viel. Ihre Nerven und Synapsen waren aufs Äußerste angespannt. Mit anderen Worten: Sie war gereizt und übellaunig. Erst recht, als sie auf das Bild der Zeitung starrte, in der ein älterer Herr vor ihr blätterte.

›Thomas Klein, Staranwalt mit Charme!‹, stand dort in großen Lettern. ›Charme?‹, verächtlich schnaubte Vee. Da hatte eine Mülltonne weitaus mehr Charme als der Herr Anwalt. Sie betitelte ihn heimlich als Tiefkühlterminator, kurz TKT. Sein kaltes, arrogantes Auftreten ging ihr gehörig gegen den Strich. Dennoch ließ es sich nicht abstreiten, dass er exzellent in seinem Job war. Erbarmungslos und gerissen, dafür fähig. Vivien seufzte leise, woraufhin Bernard meinte: »Ich will wirklich nicht wissen, was in deinem Kopf vorgeht, aber ich wette, es hat etwas mit dieser Überschrift in diesem Käseblatt zu tun.« Seine Hand zeigte dabei auf die Zeitschrift, die der Mann vor ihnen las.

Viviens Kopf flog herum, in der Absicht eine Schimpftirade über Mr. TKT loszuwerden, doch Bernards wissentlicher Blick ließ sie abrupt verstummen. Wie von selbst klappte ihr Mund zu. Und unbewusst presste sie ihre Lippen zusammen. Verärgert über sich, wandte sie den Blick ab und starrte aus dem Fenster. ›Bernard hat ja recht‹, gestand sie sich ein. Sie fragte sich, warum sie so auf Herrn Klein fixiert war. ›Warum ignoriere ich sein Verhalten nicht? Es existieren noch mehr arrogante Idioten auf diesem Planeten und die störten mich doch auch nicht. Zumindest nicht in dem Ausmaß, in dem es dieser Anwalt tut.‹ Tief in ihrem Inneren kannte sie den Grund dafür. Ihre rationale Seite ignorierte dies jedoch wohlweislich.

Alles fing mit einem Zusammenstoß an. Bernard hatte eine Akte im Büro liegen gelassen. Und Vivien war rasch zum Gericht gefahren, um ihm die fehlende Unterlage vorbeizubringen.

Wie aus dem Nichts kam Herr Klein um die Ecke gestürmt und stieß mit ihr zusammen. Er hätte sie fast zu Boden gerissen, wenn er sie nicht geistesgegenwärtig am Arm festgehalten hätte. Sein Blick war kalt und anklagend. Erst als er sie näher heranzog, um ihr Halt zu geben, veränderte sich sein Gesichtsausdruck.

Vivien hatte in zwei hellgraue Augen gestarrt, die sie aufmerksam gemustert hatten. Für Sekunden war sie wie hypnotisiert gewesen. Wobei sie instinktiv mit ihrem Oberkörper zurückgewichen war. Daraufhin hatte TKT den Abstand verringert, so weit, dass sich fast ihre Nasenspitzen berührt hatten. Er war definitiv zu nahe in ihre Privatsphäre eingedrungen, was sie zunehmend verunsichert hatte. Dennoch hatte sie fasziniert bemerkt, wie sich seine Augen farblich verändert hatten. Angefangen bei den Pupillen, die sich kaum merklich geweitet hatten, bis hin zu seiner Iris, deren hellgrau ein paar Nuancen dunkler schimmerten. Ihr femininer Instinkt war alarmiert. Erst recht als sie bemerkt hatte, wie er ihren Duft in sich aufsog.

Um sich zu schützen, tat Vivien das, was ihr unter dem gegebenen Umstand am logischsten erschienen war: Sie hatte TKT verbal in seine Schranken verwiesen. »Können Sie nicht aufpassen? Haben Sie keine Augen im Kopf?«, hatte sie ihn angefaucht.

Irritiert war Herr Klein daraufhin zurückgewichen, ohne sie jedoch frei zu geben. Schweigend hatte er sie angestarrt. Erst als ein lauter werdendes Räuspern ihn aus seiner Starre gelöst hatte, war er einen Schritt zurückgetreten. Gleichzeitig hatte er ihren Arm losgelassen.

»Entschuldigen Sie, gehören diese Unterlagen Ihnen?«, hatte ein burschikoser Mann gefragt. Dabei war er von einem Bein auf das andere getreten.

»Fragen Sie die junge Dame. Sie kennt scheinbar nicht den Gebrauch einer Aktentasche«, hatte Thomas Klein geknurrt. Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte er sie und den jungen Herrn stehen gelassen und war weiter geeilt. Empört hatte Vee ihm hinterher gestarrt. Sie hatte sich geschworen, nie wieder ein Wort mit diesem Mann zu sprechen.

Was sich als reines Wunschdenken erwies. Denn seit dem Tag gaben sie sich beide einem Schlagabtausch hin, wann immer sie aufeinandertrafen.

Wieder seufzte Vee und hoffte, dass ›Mr. TKT‹ heute Abend nicht im Hardt‘s anwesend war.

Die Bar, eine Art Szenelokal, war der Treffpunkt für Anwälte und Polizisten, sowie vieler Persönlichkeiten in der Stadt. In dem kleinen Lokal bewegte sich jeder zwanglos. Es wurden keine Tische reserviert. Wer kam, war da und wenn die Sitzplätze belegt waren, tummelte man sich an der Theke. Das Interieur war schlicht und überschaubar gehalten und mit seinen dunklen Möbeln urig eingerichtet. An den Wänden hingen Bilder aus vergangenen Tagen von erfolgreichen Persönlichkeiten. Ein großes Schaufenster war der Blickfang des Lokals. An lauen Sommerabenden, so wie heute, wurde die Verglasung zu beiden Seiten aufgeschoben, sodass die Luft besser zirkulierte. Zudem wirkte das Lokal nicht mehr so beengt.

Die Stoßzeit im Hardt‘s war abends zwischen 20 Uhr und 22 Uhr, danach flaute es allmählich ab. Viele der Gäste kamen nach Feierabend um eine Kleinigkeit zu essen oder einen Aperitif zu sich zu nehmen. Die meisten ließen einen schweren Arbeitstag ausklingen. Bei den Gästen im Hardt‘s handelte es sich um eine große eingeschworene Gemeinde.

Der Inhaber des Ladens, Harry Hardt, war früher Anwalt. Nach seiner Scheidung beschloss er, Kneipier zu werden, und das mit Leib und Seele, was seine Gäste auch zu spüren bekamen. Harry hatte für jeden ein offenes Ohr. Er kannte die Probleme, Ängste und Sorgen vieler seiner Besucher.

Zudem ging Harry auf die Wünsche seiner Gäste ein. Er kreierte Longdrinks nach deren Geschmack und bot Superfood sowie Fingerfood an. Sich im Hardt‘s zu treffen hieß für viele, nach Hause zu kommen.

Das Piepsen ihres Handys riss Vivien aus ihrer Grübelei. Sie las Mias Nachricht: Bin da, wo bleibt ihr Zwei? Kurz sah Vee sich um und schrieb: Sind fast da. S-Bahn fährt soeben in die Station.

Okay, freue mich.

Ich auch, tippte Vee in ihr Handy.

Mia Wagner, ebenfalls Rechtsanwaltsgehilfin, war Viviens beste Freundin. Sie lernten sich während ihrer Berufsausbildung kennen. Obwohl ihre Charaktere gegensätzlicher Natur waren, stimmte sofort die Chemie zwischen ihnen.

Mia war die lebensbejahende Frohnatur und Vivien die Pessimistin. Zudem war Vee misstrauischer.

Der Grund dafür war, dass Vee in einem Heim aufgewachsen war. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, dass zu viel Optimismus nur zu bitterer Enttäuschung führte. Folglich war ihr Pessimismus ihr persönlicher Schutzschild. Ihr Misstrauen eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme.

»Da seid ihr ja endlich!«, rief Mia und lief den beiden freudestrahlend entgegen.

»Hallo Mia, schön das du gekommen bist«, sagte Bernard. Zur Begrüßung hauchte er ihr links und rechts einen Kuss auf die Wange.

»Die Freude ist ganz meinerseits, Bernard.«

»Seid ihr zwei endlich fertig mit euren Höflichkeitsfloskeln? Das ist ja nicht zum Aushalten«, brummte Vee.

»Bist du etwa eifersüchtig?«, fragte Mia. Dabei huschte ihr ein Schmunzeln über die Lippen.

»Gott bewahre«, stöhnte Vee.

»Hey, was soll das heißen, Frau Maas?« Empört sah er zu Vivien. »Reicht es nicht, dass du mich als alten Sack abstempelst? Bin ich es jetzt nicht einmal mehr wert ordentlich begrüßt zu werden?«

»Sei nicht kindisch, Eddi. Wir sehen uns jeden Tag. Stell dir vor, wir würden uns immer derart überschwänglich begrüßen! Wann sollten wir deiner Meinung nach unsere Arbeit erledigen?«

»Alter Sack? Hab ich was verpasst?«, fragte Mia und sah von einem zum Anderen.

»Nein«, winkte Vee ab, »Eddi ist heute etwas sensibel und jetzt lasst uns endlich rein gehen, bevor die Bar aus allen Nähten platzt. Außerdem hab ich Durst.«

»Das Thema ist noch lange nicht vom Tisch, junge Frau«, lamentierte Eddi, während Vee und Mia sich lachend bei ihm einhakten und ihn mit sich zogen.

Thomas

Mit sich und der Welt zufrieden lehnte sich Thomas Klein in seinem Bürostuhl zurück. Er hatte die aussichtslose Scheidung gewonnen. Der Prozess war die reinste Schlammschlacht gewesen. Und bot der hiesigen Presse mehr als eine Seite in der lokalen Zeitung. Gleichzeitig füllte die Story das Programm des örtlichen Radiosenders und sorgte für hohe Einschaltquoten. Thomas war überzeugt, dass jeder andere Anwalt gescheitert wäre, denn die Eheleute Van Broek ließen kein Klischee einer schmutzigen Scheidung aus. Der Rosenkrieg war schon im Gange, als Frau Van Broek zu ihm in die Kanzlei kam. Thomas liebte Herausforderungen und der Fall Van Broek bot mehr als einen simplen Konflikt. Das Paar war kinderlos. Es ging ausschließlich um Geld. Keiner der beiden war zu Kompromissen bereit. Jeder versuchte mit allen Mitteln, die Scheidung für sich zu gewinnen. Thomas war dies nur recht. Je schmutziger eine Trennung verlief, desto mehr verdiente er daran.

Die Anspannung der letzten Wochen und Monate fiel langsam von Thomas ab. Er überlegte, ob er heute Abend mit Lars auf ein Bier ins Hardt‘s vorbeischauen, oder doch lieber gleich nach Hause fahren sollte. Sicher war, wenn er in seine Stammkneipe ginge, käme er nicht vor 24 Uhr in sein Bett. Andererseits wartete dort niemand auf ihn. Zudem schadete es nicht, ein klein wenig seinen Sieg zu feiern. Sofort assoziierte er seine Gedanken mit den Worten seines Vaters, die ihn schon sein ganzes Leben lang begleiteten.

»Sohn, der Erfolg eines Mannes ist sein wahres Glück. Keine Frau der Welt wird dir je solch ein Glücksgefühl schenken. Das wirst du früher oder später noch lernen.« Dabei hatte er unbeholfen Thomas Kopf getätschelt. Er sah das Bild seines Vaters nur allzu deutlich vor sich. Ein massiger Hüne, mit großen, dickfleischigen Händen, die mehr einem Bauarbeiter glichen als einem Geschäftsmann. Meist waren die riesigen Pranken vor seinem üppigen Leib ineinandergefaltet. Vor allem dann, wenn er hinter seinem klobigen Eichenholzschreibtisch thronte und sein emotionsloser Gesichtsausdruck auf seinem Sohn ruhte.

Damals, als Thomas ein unerfahrener Anwalt war und seinen ersten Fall gewonnen hatte – es war nichts Spektakuläres gewesen, aber für ihn ein Erfolgserlebnis – war er stolz vor seinem Vater getreten. Doch anstatt ein Wort des Lobes von ihm zu hören, hatte ihm sein alter Herr einen Vortrag über Erfolg gehalten. »Zeige niemals wahre Gefühle, Junge! Die kleinste Regung und man wird dich zerfleischen. Emotionen sind ein Zeichen von Schwäche. Schwäche hindert dich daran, Erfolg zu haben.«

Die Gespräche liefen immer auf dasselbe hinaus. Zeige niemals Gefühle. Trete stets erhobenen Hauptes auf und lass niemanden in deine Karten schauen. »Stell dir vor, du spielst Poker.«

All diese Worte hatten sich in sein Gedächtnis gebrannt und waren somit eine der wenigen Erinnerungen, an seinem Vater. Sein alter Herr war vor drei Jahren gestorben. Herzinfarkt, lautete die Diagnose der Ärzte. Für ihn kam jede Hilfe zu spät. Seine Haushälterin hatte ihn zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer gefunden. Arthur Klein starb einsam, inmitten seiner Arbeit. Thomas empfand damals und bis heute keine Trauer. ›Sollte ein Kind beim Verlust eines Elternteils nicht leiden?‹, fragte er sich.

Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, da war er sechs Jahre alt. Sein Vater erhielt das Sorgerecht und Thomas wuchs bei ihm auf. Wobei er seinen alten Herrn nur selten zu Gesicht bekam. Arthur Klein war Geschäftsmann durch und durch. Er kannte weder ein Familienleben noch privates Vergnügen. Seine Disziplin war der Motor, der ihn antrieb und ihn darüber hinaus vergessen ließ, dass er ein Leben besaß und vor allem einen Sohn.

An seine Mutter erinnerte Thomas sich nur schemenhaft. Manchmal, wenn er von ihr träumte, glaubte er zu spüren, wie sie ihn als kleinen Jungen im Arm hielt und zärtlich hin und her wog. Aber vielleicht spielte ihm hier seine Fantasie einen Streich. Es war mit Sicherheit das ein oder andere Kindermädchen, das ihn getröstet hatte und er bezog es in seinen Träumen auf seine Mutter. Ein reines Wunschdenken. Welches Kind sehnte sich nicht nach der Liebe seiner Mutter. Ihm war bewusst, wieso sie sich von seinem Vater getrennt hatte. Dennoch verstand er nicht, warum sie ihr eigenes Kind zurückgelassen hatte. Thomas fragte sich insgeheim, ob er heute ein anderer Mensch wäre, wenn ihn damals seine Mutter zu sich geholt hätte. Wäre sein bisheriges Leben ebenso erfolgsorientiert verlaufen oder hätte er eine nette Frau an seiner Seite und Kinder?

Seufzend sah er auf seine Armbanduhr, eine Rolex. Ein weiterer Beweis dafür, dass er es in seinem Leben zu etwas gebracht hatte. Aber zu welchem Preis? Im Gegensatz zu seinem Vater besaß er Freunde und genoss hin und wieder das Leben, doch in Momenten wie diesen fühlte er eine unsägliche Leere in sich. Ein sehnsüchtiges Brennen, nach etwas, das sich nicht definieren ließ.

Abrupt stand er auf und sah aus dem Fenster. Die Aussicht half ihm, seine Gedanken wieder in normale Bahnen zu lenken, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

Seine Kanzlei lag in Neuhaus, einem Stadtteil von Derchen. Das Viertel bestand aus prächtigen Wohn- und Geschäftshäusern, deren Bild aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg geprägt wurde. Viele der Häuser standen unter Denkmalschutz und wurden von ruhigen Nebenstraßen umrahmt. Thomas hatte seine Kanzlei bewusst in diesem Viertel eröffnet, da der Stadtteil viele Grünanlagen besaß. Er liebte die Natur, doch seine Arbeit ließ es nicht immer zu, ins Grüne zu fahren. Aus diesem Grund begnügte er sich mit dem Park hier im Viertel. Hinzu kam, dass es abwechslungsreiche Kneipen und Restaurants gab, allen voran die Hardt‘s Bar. Selbst kulturell wurde einiges geboten. Kurz: Das Leben in Neuhaus war entspannter als in der Innenstadt von Derchen. Im Sommer lockten zudem viele Biergärten. Diese entschleunigten ein Stück weit das hektische Treiben der Großstadt.

Thomas hatte sich entschlossen. Er würde heute Abend in seine Stammkneipe gehen, um dort seinen Erfolg zu feiern. Erneut sah er auf die Armbanduhr. »Zeit für den Feierabend«, murmelte er. Rasch packte er seine Unterlagen zusammen und steckte alles in eine Aktentasche. Ein finaler prüfender Blick und er zog die Bürotür hinter sich zu. Im Hinausgehen gab er seiner Sekretärin, Frau Meierhofer, noch ein paar letzte Anweisungen.

***

Das grelle Sonnenlicht stach Thomas in die Augen und blendete ihn. Er griff nach seiner Sonnenbrille, die in der Brusttasche steckte und setzte sie mit einer fließenden Bewegung auf. Rasch stieg er die Stufen der Kanzlei hinab. Leichten Schrittes, aber dennoch zielstrebig lief er auf seinen Wagen zu, einem Porsche Caprio der Modellreihe Boxster. Lässig warf er die Aktentasche auf den Beifahrersitz, öffnete die Fahrertür und glitt geschmeidig hinter das Lenkrad. Er wusste, dass das Autofahren in einer Großstadt kein Vergnügen war. Im Gegenteil, es war zeitaufwendig und nervenaufreibend. Dennoch liebte Thomas das Gefühl hinter dem Steuer zu sitzen und die Kontrolle zu haben. Zudem achtete er darauf, außerhalb der Stoßzeiten zu fahren, somit war das Fahrvergnügen nicht allzu eingeschränkt.

Bevor er den Motor anließ, steckte er sich ein Headset ins Ohr und wählte die Nummer von Lars, seinem engsten Freund. Noch während er darauf wartete, dass dieser seinen Anruf entgegennahm, ließ er den Wagen an und fuhr los.

»Hallo?«, ertönte Lars atemlose Stimme.

»Was treibst du? Ich störe dich doch hoffentlich nicht beim Sex?«, fragte Thomas ungeniert und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Glaubst du allen Ernstes, dass ich heißen Sex für ein Gespräch mit dir unterbrechen würde?«

»Wenn dem so wäre mein Freund, dann würde ich mir ernsthafte Sorgen um dich machen. Kommst du heute Abend mit ins Hardt‘s, ein wenig feiern?«

»Dachte schon, du willst kneifen. Um wie viel Uhr?«

»Sagen wir so gegen neun. Soll ich dich abholen?«

»Gerne. Ich sorge auch für nette Begleitung.«

»Aber bitte keine heiratswütigen Frauen. Ich erinnere dich nur ungern an das letzte Mal. Der Abend endete im Desaster.«

»Wo denkst du hin, Thomas. Lass dich überraschen.«

»Bitte nicht, ich kenne deine Überraschungen.«

»Hey, was soll das heißen?«

»Bis später, Lars«, lachte Thomas und beendete das Gespräch. Sein Freund war in vielerlei Hinsicht ein Kindskopf, doch es war Verlass auf ihn, ebenso auf seine uneingeschränkte Loyalität. Der feierwütige Junggeselle und er waren seit Kindergartentagen befreundet. Nichts und niemand hatte je ihre Freundschaft in Frage gestellt. Lars war der Part in Thomas Leben, der ihn daran erinnerte, auch mal Spaß zu haben, nicht in seiner Arbeit zu versinken und die angenehmen Dinge zu verpassen. Im Gegenzug trat er seinem Freund imaginär in den Hintern, wenn er meinte, dass dieser sich im süßen Müßigsein verlor. Ihre Freundschaft bestand aus einem Geben und Nehmen.

Eigentlich machte es wenig Sinn, dass Thomas seinen Freund abholte, da der mitten in Derchen wohnte. Doch Lars residierte in einem großen Penthaus, das sein Vater ihm gekauft hatte. Allein die Aussicht war es wert von Neuhaus nach Derchen und wieder zurückzufahren. Zudem fuhr Thomas gerne in die Stadt, sobald es dunkel wurde. Der Anblick der abertausend tanzenden Lichter gaben ihm ein Gefühl von Freiheit und weckten die Abenteuerlust in ihm. Beide Empfindungen, die er sorgfältig in seinem Inneren verschlossen hielt. Es war die Stimme der Vernunft oder doch eher die Stimme seines Vaters, die es ihm nicht erlaubte, seine Träume auszuleben.

***

Thomas drückte den Knopf der Fernbedienung und langsam öffnete sich das Garagentor. Die Garage lag seitlich hinter dem Haus. Er fuhr dazu am Haupteingang des Gebäudes vorbei, bog links in eine Seitenstraße ab und ein paar Meter weiter wieder links. Sein Haus lag in Oberwemzig, einem Stadtteil von Derchen. Hier standen viele alte Villen und fast jede Straße wurde von einer Baumallee gerahmt. Die Einheimischen nannten die Gegend das ›Alleenviertel‹. Thomas wohnte in der Parkallee. Erneut betätigte er den Knopf der Fernbedienung und die Garage schloss sich ebenso langsam, wie sie sich geöffnet hatte. Vor sich hin pfeifend stieg Thomas aus dem Porsche, griff nach der Aktentasche und gab den Zahlencode an der Tür zum Nebeneingang ein. Die Garage war mit dem Haus verbunden, sodass er stets im Trockenen herein und heraus kam. Sein gesamtes Grundstück war zudem videoüberwacht. Seit dem Tag, an dem ihm ein Exmann einer seiner Klientinnen aufgelauert hatte, zog er die Überwachung durch eine Sicherheitsfirma vor. Keine Ahnung was passiert wäre, hätte er den Mann nicht zufällig von seinem Schlafzimmerfenster aus im Garten entdeckt. Er hatte sofort die Polizei angerufen, die den Eindringling wegen unbefugten Betretens eines Grundstückes und unerlaubten Waffenbesitzes festgenommen hatte. Die Waffe war in dem Fall ein Klappmesser. Thomas hatte keine Ahnung, was der Mann damit vorgehabt hatte. Aber es sah nicht danach aus, als wäre er auf einen gemütlichen Plausch vorbeigekommen. Der Vorfall hatte Thomas dazu veranlasst, sein Grundstück Tag und Nacht überwachen zu lassen. Dennoch war es ihm zur Angewohnheit geworden, nach dem nach Hausekommen einen Rundgang durch das Haus zu tätigen. Sicher war sicher.

Nach dem Kontrollgang schälte er sich aus seinem Anzug. Er beschloss ein paar Runden im Pool, der auf der Terrasse integriert war, zu schwimmen. Das Wasser würde eine kleine Abkühlung bieten und zudem hatte er genug Zeit. Es war erst später Nachmittag und es bestand kein Anlass, in Hektik zu verfallen.

Die Veranda lag nach hinten zu dem parkähnlich angelegten Garten. Hier konnte er im Schutz der alten Bäume entspannen. Zusätzlich schmückten Kirschlorbeer und Zypressen den Zaun, der das Grundstück umgab.

Die Sonne brannte unaufhörlich herab. Das Wasser bot, wider erwartend, keine Abkühlung. Kurzerhand stieg Thomas wieder aus dem Schwimmbecken und lief zurück ins Haus. Die Klimaanlage war eingeschaltet, sodass ein angenehmes Raumklima herrschte. Die willkommene Kühle bereitete ihm eine Gänsehaut auf dem nassen Körper. Er duschte und schlüpfte in eine bequeme Leinenhose. Mit nacktem Oberkörper und barfuß betrat er die Küche und schmierte sich ein Sandwich. Kauend überlegte er, was er mit seiner freien Zeit anfangen sollte. Er war es nicht gewohnt, nicht zu arbeiten. Doch dieser Tag heute war die große Ausnahme. Thomas fläzte sich auf das Sofa und schaltete den Fernseher ein. Gelangweilt zappte er durch die Programme und blieb an einem Interview mit Eddi Bernard hängen. Der Anwalt wählte seine Worte mit Bedacht und gab der Presse nicht mehr preis, als nötig war. Er warf kleine Häppchen aus, doch waren keine davon relevant brauchbar. Gedanklich gratulierte er Bernard zu diesem Schachzug und schenkte ihm ein Stück weit Sympathie. Erst recht, nachdem dieser auf Thomas Erfolg angesprochen wurde. Er äußerte sich weder herablassend, noch hegte er einen Groll gegen ihn. Der Advokat verhielt sich professionell und das rechnete Thomas ihm hoch an. Jeder andere Kollege hätte die Gelegenheit genutzt, ihm eins auszuwischen, indem er sich abfällig über ihn geäußert hätte. Schließlich war er eine ernstzunehmende Konkurrenz.

Das Interview war beendet und die Kamera schwenkte auf die Reporterin um. Eben diese Frau, die er in ihre Schranken verwiesen hatte. Im Nachhinein tat sie ihm leid, aber sie hatte ihn provoziert und, was weit aus schlimmer war, er hatte sich auf ihre Provokation eingelassen. Er war im Begriff weiterzuschalten, als er hinter der Reporterin Vivien Maas erkannte. Sie war an Bernards Seite getreten und reichte ihm eine Aktentasche. Abrupt wandte sie sich um und sah jetzt geradewegs in die Kamera. Für einen kurzen Moment erhaschte Thomas einen Blick auf ihr Gesicht.

Vivien Maas war eine bildschöne Frau. Ihre Gesichtszüge waren anmutig und makellos, doch am meisten faszinierten ihn ihre Augen. ›Bernstein‹, kam es ihm sofort in den Sinn, ›oder doch eher die Farbe eines Single Malt Whiskys?‹ Er tendierte zu Letzterem und rief sich ihre Augen erneut ins Gedächtnis. Ihre Iriden waren von einem reinem, hellen Braun mit vereinzelten dunklen Sprenkeln darin und wenn sie wütend wurde, sprühten daraus kleine Funken. Man hatte das Gefühl, als würde sich die Intensität der Farbe vertiefen. Nicht nur das, ein Blick in diese Augen und ein Mann war hoffnungslos verloren. Thomas hatte es am eigenen Leib erfahren, damals, als er mit ihr zusammengestoßen war. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sie ohne Grund geküsst. Normalerweise war er ein Gentleman und verhielt sich Frauen gegenüber zivilisiert und rücksichtsvoll, doch Vivien Maas hatte ihn mit ihren Augen verhext. Zudem war er sich sicher, dass sie damals instinktiv bemerkt hatte, was in ihm vorging, denn ihr Verhalten hatte sich schlagartig von einer Sekunde auf die andere verändert. In einem Moment las er Interesse und Neugierde in ihren unergründlichen Augen und im nächsten Augenblick fuhr sie ihre Krallen aus. Vivien Maas hatte ihn bewusst auf Abstand gehalten. Aber damit konnte er leben, oder? Wann immer sie nun aufeinandertrafen, endete die Begegnung in einer verbalen Auseinandersetzung. Bis zu einem gewissen Grad fand er ihr Temperament und ihre Schlagfertigkeit ansprechend. Ihre fortwährende Abwehr hingegen gefiel ihm gar nicht. Es kratzte an seinem Ego, dass eine Frau ihm nicht sofort verfiel. Zu gerne würde er Vivien Maas die Vorurteile, die sie ihm gegenüber besaß, austreiben.

›Geduld‹, mahnte er sich selbst. Der Tag würde kommen, an dem sie ihn mit anderen Augen sah.

Thomas

Punkt 21 Uhr stand Thomas vor Lars Haustür und klingelte. Durch die Gegensprechanlage ertönte zeitgleich mit dem Surren des Türöffners ein: »Komm rein!«

Thomas betrat das einladende Foyer und erkannte sofort das unverkennbare Kichern von Trixi. Abrupt blieb er stehen und schloss für ein paar Sekunden die Augen. ›Das ist nicht dein Ernst, Lars?‹, hielt Thomas einen inneren Monolog. Er hatte jetzt schon, ohne Trixi überhaupt gesehen zu haben, Mühe, seine Beherrschung nicht zu verlieren. Seine nächste Sorge war, dass er hoffte, Lars hätte keine Kopie von Trixi eingeladen, denn dann würde er diesen Abend nicht überstehen. Er würde etwas Dummes sagen oder gar tun und die Partynacht wäre damit gelaufen. Nicht einmal für den heißesten Sex würde er eine Frau wie Trixi länger als nötig war ertragen.

»Hey, wo bleibst du denn? Willst du hier draußen Wurzeln schlagen. Komm rein, der Champagner wird warm!«, rief Lars und trat aus dem Wohnzimmer ins Foyer. Thomas schlug die Augen auf und sah seinen Freund warnend an. Lars winkte ab und deutete mit einer ungeduldigen Handbewegung an, dass er endlich herkommen sollte. Widerwillig gehorchte Thomas, nicht jedoch, ohne Lars einen mörderischen Blick zuzuwerfen. Zunächst blieb er im Türrahmen stehen und betrachtete die beiden Frauen, die sein Kumpel eingeladen hatte. Eine davon war, wie schon erkannt, Trixi. Thomas verstand seinen Freund nicht. Was, außer heißem Sex reizte ihn an dieser Frau? Trixi redete zu viel, besaß ein proletenhaftes Auftreten und ihr Kichern lief einem durch Mark und Bein. Sein Blick wanderte zur zweiten Frau. Sie war groß und schlank, besaß aber an den richtigen Stellen weibliche Rundungen. Sie trug ein geblümtes, knielanges Sommerkleid mit Neckholder. Ihr Ausschnitt war freizügig und brachte ihre vollen Brüste zur Geltung. Alles in allem gab sie ein recht passables Bild ab und Thomas hoffte insgeheim auf ein klein wenig Intellekt.

Lars setzte sich in Bewegung und lief auf die Frau zu. »Simone, darf ich dir meinen Freund Thomas vorstellen?« Dabei zog er sie mit sich und blieb mit ihr vor Besagtem stehen. Thomas ergriff die Hand der Frau, hob sie an seine Lippen und hauchte einen Handkuss darauf. »Guten Abend, Simone«, erwiderte er höflich und sah ihr direkt in die Augen.

»Simone Duvall«, stellte sie sich vor. Thomas überlegte sofort fieberhaft, doch der Name Duvall war ihm nicht geläufig. »Sie sind nicht von hier?«, fragte er bemüht, das Gespräch in Gang zu bekommen. Er beobachtete Simone dabei, wie sie ihr langes, leicht gewelltes, braunes Haar kokett über die Schulter warf. Alles an ihr wirkte einstudiert. Sie strahlte nichts Natürliches aus. ›Ob ihre Brüste echt sind?‹, überlegte Thomas, denn sie besaß eine beachtliche Oberweite.

»Sie haben recht. Ich gestehe, dass ich eine Zugereiste bin. Aber das ist schon ein paar Jahre her«, hörte er Simone sagen.

»Ja, das dachte ich mir, denn der Name Duvall ist mir nicht geläufig.« Kaum hatte er den Satz beendet, überkam ihn das Gefühl, Simone mit seiner Antwort gekränkt zu haben. Sie rang sichtlich um Fassung. ›Warum?‹, fragte er sich. ›Hätte ich den Namen kennen sollen? Ist sie deshalb so pikiert?‹

»Hier, nimm«, meinte Lars und riss ihn aus seinen Gedanken. Thomas griff mechanisch nach dem Glas Champagner, das sein Freund ihm unter die Nase hielt. »Auf die anmutige Schönheit der Frauen!«, rief Lars und erhob sein Glas. Er hatte die Worte noch nicht richtig ausgesprochen, als Trixis Kichern ertönte. Simone zog kaum merklich ihre Nase kraus, was sie in Thomas Augen ein kleinwenig sympathischer erscheinen ließ. ›Ich hätte Lars davon abhalten sollen, für heute Abend weibliche Begleitungen zu organisieren‹, sinnierte Thomas. ›Was verdammt nochmal stimmt nicht mit mir?‹

Die Konversation verlief dennoch ganz nett. Trixi trug zum Glück nicht viel dazu bei. Simone hingegen erwies sich als äußerst passable Gesprächspartnerin.

Trotzdem fragte er sich, warum er Lars nicht widersprochen hatte. Sie könnten jetzt in trauter Zweisamkeit mit Blick auf die Skyline von Derchen starren, ein kühles Bier vor sich und über Gott und die Welt philosophieren. Oder sie würden den Abend in Ruhe mit ein paar Freunden im Hardt‘s an der Theke genießen.