Im Kerker der Kleopatra - N. Färusmonz - E-Book

Im Kerker der Kleopatra E-Book

N. Färusmonz

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Beschreibung

Zaghaft öffnete Anthony die Augen. Erst musste er sich gewahr werden, wo er sich befand. Den kahlen Wänden nach zu urteilen war er in Severines Kerker. Dann merkte er, dass er sich keinen Millimeter bewegen konnte. Wie es sich anfühlte, war er mit zahlreichen Stoffgurten aus rauem Gewebe gefesselt: von der Stirn bis zu den Füßen. Plötzlich tauchte jemand an seinem Kopfende auf, der ihn forschend ansah. Die Person war in einen Ärztekittel gehüllt, das Gesicht wurde von einer weißen Stoffmaske bedeckt. Einzig die Augen funkelten hinter einem Schlitz hervor. Severine! "Schatz, wo bist du?", rief er und fing sich gleich eine saftige Ohrfeige ein. "Habe ich dir nicht gesagt, bei Sessions nur zu reden, wenn du gefragt wirst?!" Er erinnerte sich: "Doch, Herrin!" Sie zwängte ihm einen Knebel in den Mund und verschwand wieder. "So, jetzt folgt Phase Zwei!", verkündete sie und verschwand. Es dauerte eine kleine Weile, ehe sie zurückkehrte. Diesmal zeigte sie ihm die Instrumente. "Hier haben wir einen Trichter, dazu eine Kanüle, und dann noch etwas Leckeres zu essen! Doch dafür müssen wir erst einmal die Kanüle einführen. Hilfst du mir dabei?" Er setzte alles auf eine Karte: "Nein, ich helfe dir nicht!" Severines kastanienbraune Augen verrieten zuerst Erstaunen, gleich darauf diebische Freude. "Ich hatte gehofft, dass du das sagst." Sie holte einen auf den ersten Blick unscheinbaren Stab zum Vorschein. "Das ist meine Geheimwaffe", erläuterte sie, "die hat noch jedem Sklaven Mores gelehrt: ein Elektroschocker. Weißt du, an welcher Stelle er am effektivsten ist?" Wer eine Kleopatra haben will, muß leiden - und so blieb dem Hollywood-Filmregisseur Anthony Wilms auf der Suche nach einer neuen Film-Kleopatra keine andere Wahl, als sich zu unterwerfen; denn die ideale Kandidatin für den Königinnen-Job war eine sadistische, dominante Ärztin, die es versteht, genießerisch Qualen zu verabreichen und zu herrschen … Was um Himmels Willen war geschehen? Er hatte den Eindruck, als wäre er aus einem fernen Land heimgekehrt, das gar nicht existierte. So unwirklich wirkte das alles. Sein ganzes Leben hindurch hatte er mit SM nie auch nur das Geringste zu tun gehabt. Nun stand er mitten in seinem schmucklosen Wohnzimmer. Durch die Hosentasche piekte das Stück Papier von seiner Domina, die gleichzeitig seine neue Hauptdarstellerin war. Gedachte sie ihn wirklich auszupeitschen? Ihm schauderte bei dem Gedanken, nun regelmäßig in die Unterstadt fahren zu müssen, um sich quälen zu lassen. Sklavenvertrag und alles - da führt der Herr Regisseur nicht mehr Regie …

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Seitenzahl: 680

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Für Comtesse Jaguar, die Katze mit den langen Krallen

ACHTUNG!

Dieser Roman ist nicht pädagogisch wertvoll,dafür aber umso fesselnder.

Das Buch soll bitte keinesfalls als Spielanleitung oder sonstwie als Instruktion gelesen werden. Die folgende Geschichte ist weder ein SM-Ratgeber, noch verfügt der Verfasser über medizinische Kenntnisse. SM ist in seinem Verständnis eine auf gegenseitigem Vertrauen und Hingabe beruhende Leidenschaft, die Sicherheitsabsprachen erfordert und nichts mit roher Gewalt zu tun hat.

Manche der aufgeführten Orte und Einrichtungen existieren tatsächlich, die anderen sind frei erfunden. Unabhängig davon haben keine der geschilderten Ereignisse stattgefunden. Ferner sind die vorkommenden Figuren ohne Bezug zu realen Personen. Auch die konkreten Ortsbeschreibungen entsprechen nicht der Wirklichkeit. Ausnahmen bilden nur die historischen Personen, Orte und Ereignisse.

Im Kerker der Kleopatra

Gefangen, geknechtet und geliebt von einer Königin

SM-Roman

von

Färusmonz

Impressum der Ebook-Ausgabe:

© 2021 by Marterpfahl Verlag R. Happ

Firstbergstr. 2, 72147 Nehren

https: // marterpfahlverlag. wixsite. com / erotikbuch

Marterpfahl_ Verlag @ gmx. de

Omnia eius editionis iura reservantur

Titelbildgestaltung: R. Happ, unter Verwendung

eines Fotos »My guaranteed student loan« aus Wikimedia:

»A photo from the movie College Debts (Warr Brothers Films, 2010)

showing (left to right) Kai Greene, Will Smith, and Toney Freeman

Warr Brothers Films (Mark Rupp, photographer)

eISBN 978-3-944145-87-7

Impressum der Paperback-Ausgabe

© 2015 by Marterpfahl Verlag Rüdiger Happ,

Firstbergstr. 2, 72147 Nehren

www.marterpfahlverlag.com

[email protected]

Omnia eius editionis iura reservantur

Einbandgestaltung: Lisa Keskin, unter Verwendung

eines Fotos von Simone Gatterweck/123rf.com

Gedruckt in der EU

ISBN 978-3-944145-47-1

Inhalt

Prolog …

ERSTER TEIL

Marcus Antonius …

Kleopatra …

Kraftproben …

Zitrusfrüchte …

Ein Kniefall …

Ein Schock …

ZWEITER TEIL

Die erste Lektion …

Tarsus …

Die zweite Lektion …

Octavius …

Beverly Park …

Der Speerwurf …

Die Sandalen der Kleopatra …

DRITTER TEIL

Die schwerste aller Prüfungen …

Die Parther …

Theorie und Praxis …

VIERTER TEIL

Die dritte Lektion …

Actium …

Im Ring …

Einbrecher …

FÜNFTER TEIL

Drei Sadisten …

Ein Vertrag …

SECHSTER TEIL

Der Fall Alexandrias …

Augustus …

Gnadenlos …

SIEBTER TEIL

Ewig gebunden …

Rollentausch …

PROLOG

Himmlische Zustände herrschen in der vom Meer gesäumten sowie in Wüstennähe gelegenen Stadt mit dem Namen »Die Engel« am ehesten auf den mondän besiedelten Anhöhen. Zumindest dem Anschein nach durchkreuzt hier eine vorausgeplante Harmonie jegliche Form von Neid und Missgunst. Während sich oben die Reichen und die Superreichen einfinden, tummeln sich die weniger Betuchten in den Niederungen. Von in der Sonne glitzernden Bürotürmen babylonischen Ausmaßes bis hin zu den erbärmlichsten Wohnhütten am Stadtrand: In dem weiten Tal zu Füßen der sündhaft teuren Villen des Berglands treffen sich all jene Jäger nach dem verlorenen Glück, die nur davon träumen, der Senke so schnell wie möglich zu entfliehen; sei es nach einem anstrengenden Arbeitstag auf dem Weg in die eigene Villa, sei es auf der Suche nach einem Weg, eine solche zu besitzen.

Aber trotz allem Streben nach Wohlergehen existiert ein Paradies auf Erden bekanntlich nicht. Der beste Beweis dafür ist, dass ein wahrhaftes Paradies im Zeitalter immer tyrannischerer Medien unverzüglich geortet, gestürmt und mit menschlicher Gründlichkeit zerstört würde. Die bitteren Gegensätze des Lebens werden gerade in einer so kontrastreichen Stadt wie »Los Angeles« augenfällig. Selbst die Traumfabriken in Hollywood und Studio City können über die scharfen sozialen Gegensätze nicht hinwegtäuschen, da ihre Produktionen der Stadt, dem ganzen Land, ja sogar der gesamten Welt lediglich einen Spiegel vorhalten. Ein anderes Ergebnis von derlei Fluchtversuchen vor der Wirklichkeit sind die individuellen Abbildungen des überirdischen Paradieses. Den einen gelingt die Abbildung besser als den anderen. Spannend wird die Sache aber erst durch die enorme Vielfalt bei den Vorstellungen von Wohlergehen und Glück. Erklärt dieser Umstand doch manche unkonventionelle Idee vom irdisch verbrämten Garten Eden. Zu nennen wären etwa die Exzentriker, die sogenannten Lebenskünstler oder die Zyniker, welche ihre Unzufriedenheit in vernichtendem Sarkasmus ertränken.

Ein besonders unkonventionelles Paradies-Verständnis wird von einer ihrer Ungewöhnlichkeit entsprechend kleinen Fraktion bevorzugt. Ihre Andersartigkeit äußert sich zunächst in einem gewissen Grundkapital, das für die Zugehörigkeit zu ihren extravaganten Reihen unentbehrlich ist. Das hat nicht unbedingt etwas mit Arroganz zu tun, sondern vielmehr mit dem für ihren Lebensstil notwendigen Kostenaufwand. Rein formal zählen die Vertreter dieser seltsamen Spezies also – je nach Zirkel – zu den Wohlhabenden, nur dass ihnen Geld Mittel und kein Zweck ist. Eine zweite Besonderheit unter ihnen ist eine aus gutem Grund gepflegte Scheu vor der Öffentlichkeit. Zwar gibt es stets ein paar Extrovertierte, die nicht den Mund halten können. Sie werden indes allzu schnell mit Ausgrenzung bestraft, und zwar sowohl von ihren Gesinnungsgenossen als auch von den Außenstehenden, denen sie sich fahrlässigerweise anvertraut haben. Solchermaßen »Verstoßene« haben es im schlimmsten Fall schwer, ihre Arbeit zu behalten, geschweige denn wieder Anschluss an die alten Freunde zu finden oder neue zu gewinnen. Das Merkwürdigste an der Fraktion ist hingegen der Umstand, dass ihr unvollkommenes, geheimes und exklusives Paradies ziemlich genau das Gegenteil von dem repräsentiert, was sich alle anderen Glückssucher darunter vorstellen.

Eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche, sich vor dem Hintergrund jener mysteriösen Gattung Mensch abspielende Liebesgeschichte begab sich genau auf der Grenze zwischen dem reichen und dem armen Amerika: zwischen den Bergzügen von Bel Air einerseits und Down Town andererseits. Freilich verlief die Grenze in diesem Fall weit verworrener, als zunächst vermutet werden könnt; denn sie ignorierte die übliche Aufteilung in Schein und Sein.

ERSTER TEIL

Marcus Antonius

Launisch, wie das Schicksal ist, befand sich am Beginn der in die große Begegnung mündenden Ereignisse eine kleine Batterie, deren Energie zur Neige gegangen war. Die unmittelbare Folge des an sich alltäglichen Vorfalls war das Versagen eines Weckers. Dieses Malheur bewirkte wiederum, dass der Bewohner eines recht prachtvollen Anwesens länger schlief, als ihm lieb sein konnte. Die fünf Minuten zwischen jähem Aufwachen und hastigem Anlassen eines protzigen Wagens sind schnell erzählt: ein paar Flüche nebst einer geradezu panischen Hektik, die nur Zeit für die allernötigsten Hygienemaßnahmen ließ. Zum besseren Verständnis sei erwähnt, dass der Hausherr einer der vielen Filmproduzenten der eingangs beschriebenen Luxusgegend war. Das besagte Exemplar hatte allerdings noch nicht den gierig anvisierten Gipfel seiner Karriere erreicht, der er sein ganzes Leben verschrieb; er war außerdem Regisseur und Drehbuchautor. Freunde besaß er keine. Wozu auch? Ihn beschäftigten andere Sorgen. Er sehnte sich nach Anerkennung unter seinen Kollegen, fantasierte von einem Oscar. Seine bisherigen Filme boten zur Realisierung dieses Traums noch keine Gelegenheit, wenngleich er mit seinen frühen Werken vielversprechend debütiert hatte.

Nach langer Suche meinte er nun, endlich ein Thema gefunden zu haben, aus dem er einen Oscar gießen würde: das uralte Drama um den römischen Feldherrn Marcus Antonius und die letzte Königin von Ägypten aus der griechischen Dynastie der Ptolemäer: Kleopatra VII. Es ist bekanntermaßen nicht so, als ob das Thema noch nicht auf die Leinwand gebracht worden wäre. Der vom Erfolg besessene Regisseur musste sich die Frage gefallen lassen, was sein Film erzählen konnte, was nicht schon der Streifen mit Elizabeth Taylor so eindrucksvoll inszeniert hatte. Zudem ist der Stoff von keinem Geringeren als William Shakespeare für die Weltliteratur verarbeitet worden. Den Spott seiner Standesgenossen bekam er sofort zu spüren, kaum dass erste Gerüchte über seine ägyptischen Pläne durchsickerten. Jedoch war er der felsenfesten Überzeugung, mit einer Fokussierung nicht auf die legendäre Königin, sondern auf den tragischen Römer ein Novum darzubieten. Vom »Drehbuch« her beinhaltet die Geschichte unbestritten alles, was großes Kino ausmacht: unglückliche Liebe, einen zu allen Schandtaten bereiten Feind sowie eine atemberaubende Kulisse. Genau danach hatte der ehrgeizige Regisseur gesucht. Dass es sich um eine wahre Begebenheit handelt, war ihm völlig gleichgültig. Weil er trotz seiner emotionalen Eiseskälte glaubte, sie dank seines kreativen Geschicks gefühlvoll erzählen zu können, musste er über eine mehr als gehörige Portion Zynismus verfügen – was er beileibe tat.

Das Gelächter der Kollegen war nicht sein einziges Problem. Wegen der langjährigen Erfolglosigkeit haftete seinem Namen etwas Anrüchiges an, als wäre er ein sicherer Karrierekiller. Nur mit Mühe war es dem Regisseur gelungen, eine halbwegs akzeptable Besetzung für den Film anzuwerben. Vor allem die Rolle der Kleopatra bereitete ihm Schwierigkeiten. Er verlangte gar nicht erst nach dem Format einer Taylor. Doch mit solchen Hindernissen wie jenen, die er zuletzt überwinden musste, eine nicht nur ansehnliche, sondern auch halbwegs fähige Schauspielerin aufzutreiben, hatte er nicht gerechnet. Hollywood wimmelt natürlich von jungen Frauen mit Leinwandträumen, aber die wenigsten eigneten sich für seine anspruchsvolle Kleopatra-Interpretation. Also wählte er schließlich das geringste Übel, bar jeder Hoffnung, eine wirklich passende Besetzung zu finden.

Wie bereits angedeutet, drohte der Aufbruch in das große Filmprojekt durch die Schwäche einer simplen Weckerbatterie vereitelt zu werden, da sie ihren Besitzer daran hinderte, rechtzeitig zu der von ihm anberaumten Pressekonferenz zu erscheinen. In einem spektakulären Auftritt wollte er der Öffentlichkeit seine Rückkehr in die Kinowelt verkünden. Dem Fehlstart versuchte er mit allen Mitteln zu entgehen. Indes blieb ihm selbst bei Höchstgeschwindigkeit nicht ausreichend Zeit, den eigens gemieteten Konferenzsaal in Hollywood schnell genug zu erreichen. Erst einmal galt es, die engen Serpentinen von Bel Air hinabzufahren. Die sonnenverwöhnten Palmen, die luxuriösen Privathäuser, welche so aussahen, als wären sie einem Werbeprospekt entsprungen, der spektakuläre Blick auf die Unterstadt – an all dem, was seine Sinne gewöhnlich berauschte, rauschte er nun achtlos vorbei. Gerade bretterte er durch den die südliche Grenze von Bel Air markierenden Bogen auf den Sunset Boulevard, als Blaulicht hinter seiner edlen Karosse aufheulte. Äußerst genervt fuhr er an die Seite. Zeternd schlug er auf das Lenkrad ein. Der Wutausbruch brachte ihm nichts weiter ein als schmerzende Handkanten. Ungeduldig wartete er auf den Ordnungshüter. Als dieser »endlich« neben der Autotür erschien, forderte er den Verkehrssünder mit einem kurzen, wenngleich energischen Klopfen auf, die Scheibe herunterzukurbeln.

»Sie sind zu schnell gefahren und haben am Steuer telefoniert«, erklärte ein breitschultriger Polizeibeamter mit einer übergroßen Sonnenbrille.

»Ich weiß«, blaffte der gestresste Regisseur und Produzent.

Über den Brillenrand hob der Ordnungshüter eine Augenbraue. An seinen verwarzten Nasenflügeln zuckte es. »Aussteigen!«

Grummelnd beugte sich der Filmemacher der Anweisung. Er musste seine Papiere vorzeigen, in die sich der Polizist mit quälender Ausgiebigkeit vertiefte. »Anthony Wilms? Der Anthony Wilms von den Wilms Studios?«

»Was dachten Sie denn«, ätzte der so Benannte, »der Anthony Wilms von den Disney Studios?«

»Ihr Benehmen gefällt mir nicht«, warnte ihn der Polizist.

»Oh, bitte vielmals um Verzeihung, dass ich Dringenderes zu tun habe, als mit Ihnen müßig auf der Straße zu plaudern!«, zürnte Anthony.

»Wir können uns auch auf der Wache weiterunterhalten!«

»Wir können es auch bleiben lassen. Stellen Sie mir den Strafzettel aus und lassen Sie mich weiterfahren!«

»Das haben Sie nicht zu bestimmen.«

Anthony musste eine Leibesvisitation, gefolgt von einem albernen Alkoholtest, über sich ergehen lassen. Getrunken hatte er vor der wichtigen Pressekonferenz nun wirklich nicht. Anschließend wurde er belehrt, sollte er nochmals bei einem solchen Fahrverhalten erwischt werden – von seinem mangelnden Respekt vor einem Staatsbeamten ganz zu schweigen –, drohe ihm ein horrendes Bußgeld oder das Gefängnis.

»Nein danke, da spende ich Vater Staat lieber ein Almosen«, stichelte der vor Wut zitternde Regisseur.

Der breitschultrige Ordnungshüter zog die Mundwinkel noch weiter nach unten, als sie ohnedem schon waren, da ertönte ein Notruf aus seinem Funksprecher.

»Sie haben gerade noch einmal Glück gehabt«, murrte der Beamte, ehe er in den Streifenwagen stieg.

Kaum war Anthony unbehelligt, griff er beim Anlassen des Motors erneut zum Mobiltelefon.

In Hollywood klingelte ein nachtschwarzes Handy. Ein vor mehreren Mikros sitzender, adrett frisierter Mann in dunklem Anzug nahm das Gespräch entgegen. Die Augen starr auf die gelangweilten Journalisten gerichtet, wechselte der Mann ein paar Worte mit Anthony und strahlte bei jeder Silbe mehr über das Gesicht. Der Name dieses Sadisten lautet Alex Augustenburg. Auch er war vom Ehrgeiz zerfressen. Seine Ururgroßeltern flohen einst aus dem verarmten Böhmen in die Neue Welt. Sie fanden sich schließlich in Nebraska wieder. Sehr schnell mussten sie sich wundern, wie sich die Bilder trotz aller Unterschiede gleichen können. Doch mit Ausdauer und viel harter Arbeit schafften sie es, von den Erträgen ihrer Farm zu leben, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Der Nachfahre jener Einwanderer versicherte nach einem kurzen Telefonat mit seinem Chef der spärlich vertretenen Presse, dass es nicht mehr lange bis zu dessen Eintreffen dauern könne. Eigenmächtig fügte er hinzu, ihm könnten bereits Fragen gestellt werden.

Derweil setzte Anthony seine aussichtlose Aufholjagd fort, bis sie abermals ausgebremst wurde, diesmal nicht durch die Begegnung mit einem Beamten, sondern mit einem frontal auf ihn zubrausenden Lastwagen. Bei einem spektakulären Überholmanöver hatte Anthony ihn nicht rechtzeitig kommen sehen.

Seine nächste Erinnerung bestand aus nichts anderem als Finsternis und Stille. Zunächst musste sein Hirn beides überhaupt erst registrieren. Nur langsam geriet sein Bewusstsein wieder in Wallung. Wo war er? Warum war alles so schwarz? Woher stammte diese klinische Ruhe, die alle paar Sekunden lediglich von einem nervösen Piepen unterbrochen wurde? Wie in Zeitlupe, noch halb in Trance wurde er sich der brennenden Schmerzen in seinem Schädel gewahr. Ganz langsam begriff er, dass er nicht mehr am Steuer saß, sondern vermutlich in einem Bett lag. Er fasste sich an den Kopf und stöhnte:

»Es brummt so fürchterlich.«

»Nicht bewegen!«, sagte plötzlich jemand.

Kleopatra

Die fremde Stimme gehörte offenbar einer Frau. Nach wie vor wurde Anthony von tiefster Dunkelheit umhüllt.

»Wa… was ist los, wo bin ich?«, stammelte er.

Er fühlte ein Ziehen an der rechten Hand. Mit der Linken strich er über die ominöse Stelle und ertastete einen Schlauch, der in seinen Handrücken führte.

»Bleiben Sie von der Kanüle! Sie befinden sich im Hollywood Community Hospital. Seien Sie froh, dass Sie noch leben! Ich bin Miss Severine Folder, Ihre Stationsärztin. Spüren Sie Ihre Beine?«

Er war im Krankenhaus? Zaghaft spannte er die Oberschenkel an.

»Ich spüre sie«, bezeugte er voller Erleichterung – bevor ihm wie aus dem Nichts etwas durch den ohnehin schmerzgeplagten Kopf schoss.

»Die Pressekonferenz!«, schrie er, schrak hoch und ließ sich vor Schwäche sofort wieder fallen.

»Ganz ruhig! Sie müssen unbedingt ruhig liegenbleiben«, mahnte ihn die Ärztin. »Sie haben mehr Glück als Verstand.«

»Was erlauben Sie sich!«, stieß Anthony gekränkt aus. Er konnte mit Kritik nicht umgehen, besonders wenn er sie im Dunklen hinnehmen musste.

»Die Wahrheit«, entgegnete das Frauenzimmer.

Ihr gestrenger Tonfall ließ ihn automatisch respektvoller sprechen:

»Bitte, ich habe einen wichtigen Termin. Wie spät ist es?«

»Es ist 11 Uhr 55, gleich erhalten Sie eine neue Infusion, anschließend eine gedünstete Suppe. Sie müssen wieder zu Kräften kommen.«

»11 Uhr 55!«, wiederholte er entsetzt. »Vor über zwei Stunden hätte ich auf der Pressekonferenz sein müssen. Hoffentlich hat Alex mich würdig vertreten.«

»Sind Sie sicher, dass Ihr Termin heute Morgen gewesen ist?«, hörte er sie spötteln.

»Natürlich bin ich sicher – sofern Sie mir die korrekte Zeit genannt haben!«, polterte er vor Wut.

Plötzlich fühlte er etwas Warmes auf seiner Brust, das ihn zurück in die Matratze drückte. Er musste sich in der Aufregung erneut aufgebäumt haben.

»Huch! Na so etwas!«, rief die Ärztin verwundert.

»Was denn?«, fragte Anthony gewohnt ungeduldig.

Nach längerem Zögern antwortete sie:

»Kaum habe ich Sie mit der Hand berührt, weil Sie Anstalten machten, sich wieder aufzurichten, schon sinken Sie nieder; trotz Ihrem Unwillen! Würden Sie mir das erklären?«

Jetzt platzte Anthony endgültig der Kragen. Auch wenn das Hämmern in seinem Kopf beim Schimpfen heftiger wurde, ließ er seinem angestauten Zorn freien Lauf:

»Nur zum Mitschreiben: Ich habe einen extrem wichtigen Termin versäumt, liege plötzlich mit verbundenen Augen im Krankenhaus, und Sie verlangen von mir eine Erklärung! Vielleicht befreien Sie mich endlich von der Augenbinde.«

Nach dem Ausbruch atmete er tief durch. Das hatte gutgetan, obwohl er sich zum Abreagieren die falsche Person ausgesucht hatte. Das sollte er rasch merken. Miss Folder erläuterte in aller Seelenruhe:

»Sie wurden gestern Morgen mit einem schweren Schädelbasisbruch bei uns eingeliefert, nachdem Sie frontal in einen Laster gerast sind. Der Lastwagenfahrer erlitt in Gegensatz zu Ihnen nur ein paar Blessuren. Ihr Glück, ansonsten hätten Sie bald mit einem wenig aussichtsreichen Prozess zu kämpfen. In einer Notoperation haben meine Kollegen und ich Sie oder das, was von Ihnen übrig war, wieder zusammengeflickt. Es hätte sein können, dass Sie für den Rest Ihres Lebens ans Bett gefesselt wären. Sie tragen keine Augenbinde, sondern einen Kopfverband. Den behalten Sie solange an, wie ich es für gut erachte.«

Jetzt erst verinnerlichte Anthony den außergewöhnlichen Klang ihrer Stimme. Sie war fest, streng und doch irgendwie seidig weich, beinahe schwerelos. Etwas anderes interessierte ihn indes weit mehr.

»Gestern!«, ächzte er. »Ich war seit gestern bewusstlos?«

»Ja«, sagte die Ärztin leicht triumphierend.

Den Brocken, den sie ihm zu schlucken gab, hatte er noch lange nicht verdaut:

»Ich wurde notoperiert?«

»Allerdings. Ihr außerordentlich dicker Schädel hat Sie zumindest dieses Mal gerettet, Herr Wilms.«

Er lächelte gequält.

»Sie wissen, wer ich bin?«

»Ich habe alle Ihre Filme gesehen.«

»Viele sind es ja nicht.«

Er hörte sie mit ihrer verwirrend schönen Stimme kichern. Trotzdem wurde er wieder ernst:

»Sie waren bei der OP dabei?«

»Ja. Ich habe Sie mit vier Stichen genäht.«

»Oh nein!«

»Oh doch! Wie geht es Ihrem Kopf?«

»Er« – Anthony hob bereits die Hand, nahm sie aber sofort wieder runter, da er sich besser nicht an die Stirn fasste – »tut ziemlich weh.«

»Einen Moment!«

Er hörte ihre Absätze auf dem Fußboden quietschen, gefolgt von eiligem Stöckeln.

»Nein, warten Sie, ich habe noch Fragen«, rief er, aber sie war bereits verschwunden.

Anthony hasste die Warterei: eine weitere seiner Schwächen, die ihm den Umgang mit Menschen nicht gerade erleichterte. Er tastete sich nach Verletzungen ab. Außer den brennenden Kopfschmerzen stellte er lediglich einige Schürfwunden fest. Doch was war das? Er bemerkte eine Röhre an seinem besten Stück. Er verfolgte sie mit den Fingern bis unter die Bettkante, wo sie in einem blechernen Gefäß endete. Man hatte ihm einen Katheter aufgenötigt. Was für eine widerliche Entwürdigung! Zugegeben, wenn er seit gestern im Bett lag, war es nur verständlich, dass zu einer solch impertinent inkontinenten Maßnahme gegriffen wurde. Nichtsdestoweniger fühlte er sich zutiefst gedemütigt, so sehr, dass er das erneute Stöckeln von Absätzen gar nicht beachtete.

»Öffnen Sie den Mund«, befahl die Ärztin.

»Wieso?«, erwiderte Anthony verblüfft.

Da registrierte er, wie sich sein Bett surrend hob.

»Ich bringe Ihnen ein in Wasser gelöstes Aspirin. Also: Mund auf!«

»Ich kann das selbst«, entgegnete er trotzig und streckte die rechte Hand aus, die sofort höllisch zu stechen begann.

»Au! Verdammt!«, schrie er.

Er riss den Arm herum, wodurch sich das Stechen nur verschlimmerte. Da packten fünf lange Finger sein Handgelenk und zwangen seinen Arm zur Ruhe. Das Stechen ließ sogleich nach.

»Sie hängen an einer Kanüle – schon vergessen?«, herrschte ihn die Ärztin an.

Ihr Tonfall klang dabei derart wild und roh, dass er vor Schreck erstarrte. So viel stand außer Zweifel: Ab jetzt täte er, was sie sagte. Ihre Hand fühlte sich, das musste er insgeheim anerkennen, sehr angenehm an. Er spürte das Blut in ihren Adern zirkulieren, von denen eine wohlige Wärme ausströmte, die sich auf seinen verkrampften Körper übertrug. Er konnte nicht anders, als sich zu entspannen.

»Machen Sie endlich den Mund auf!«

Wie erniedrigend! Noch nicht einmal ohne Hilfe trinken konnte er. Aber es war ratsam, keine Mätzchen mehr zu veranstalten. Also ließ er sich von Stationsärztin Folder die bittere Medizin verabreichen.

»Austrinken!«, drängte sie ihn.

Als nichts mehr nachkam, führte sie den Becher wieder von seinen Lippen. »Bald geht es Ihnen besser.«

Er fühlte ihren Griff unverändert um sein Handgelenk.

»Sie sind mir weiterhin eine Antwort schuldig, Herr Wilms.«

»Welche, werte Miss Folder?«, erkundigte er sich höflich.

Je artiger er sich gab, desto eher wäre er die Tyrannin wohl wieder los. Also versuchte er sich an der Freundlichkeit.

»Ich meine das mit dem Ins-Bett-Drücken. Auch jetzt, während ich Sie am Arm halte, kann ich keinen Widerstand von Ihnen ermitteln. Dabei hätte ich darauf gewettet, dass Sie sich sträuben, selbst wenn man nur Gutes für Sie will.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

»Hm«, machte die Ärztin nachdenklich. »Vielleicht könnte ein Test für Klarheit sorgen.«

»Ein Test?!«

»Keine Bange«, versicherte das irritierende Weibsstück, »es wird nicht weh tun. Ich bitte Sie nur, Ihren Arm aufrecht zu halten, solange ich dagegen drücke.«

»Sie wollen Armendrücken mit mir spielen?«, entfuhr es ihm entsetzt und verwundert zugleich.

Sofort bereute er seinen neuerlichen Ausrutscher:

»Herr Wilms, ich spaße nicht! Ich will wissen, ob Ihnen etwas fehlt. Tun Sie, was ich von Ihnen verlange – oder ich verhänge eine Quarantäne über Sie, dass Sie die nächsten Monate nicht mehr hier rauskommen.«

»Ver…zeihung«, brachte er mühselig hervor.

Von ihrer Hand, die weiterhin seine eigene festhielt, spürte er eine Vibration ausgehen.

»Entschuldigung angenommen«, sprach die Ärztin wieder ruhig, beinahe sanft. »Können wir?«

»Ja.«

Er merkte, wie ihre Hand seinen rechten Arm nach unten drückte.

»Halten Sie dagegen!«, wurde er aufgefordert.

Er zog seine Muskeln an und leistete dem Druck Widerstand. Es konnte doch nicht sein, dass ihn die nächstbeste Frau beim Armdrücken besiegte! Tatsächlich gelang es ihm, das Absinken seines Arms zu stoppen. Puh! Wahrscheinlich war er einfach nur durch den Unfall geschwächt.

»Sehr gut«, lobte sie ihn, »jetzt erhöhe ich den Druck etwas. Halten Sie weiter dagegen!«

Wie? Was sollte das denn heißen?! Sie hatte gar nicht richtig gedrückt? Schon begann seine Hand wieder zu sinken – gnadenlos. Sein verletzter Stolz ließ ihn sich tapfer dagegenstemmen. Aber Anthony konnte nicht verhindern, dass seine Rechte neben seinem Kopf landete.

»Sehr seltsam«, murmelte die Ärztin. Ungläubig beharrte sie: »Haben Sie wirklich dagegengehalten?«

»Ja doch!«, erwiderte Anthony erneut gereizt.

Sie ließ sein Handgelenk los, das sogleich auskühlte. Wieder stöckelten ihre Absätze über den Boden, diesmal noch viel schneller als eben, fast panisch. Dass sie mit solchem Schuhwerk in der Klinik überhaupt antanzen durfte! Wenige Sekunden später raunte ein Stimmengewirr auf ihn zu.

»Das ist nicht normal. Zwar hatte er einen Unfall, aber er ist völlig kraftlos. Das dürfte so nicht sein. Ob wir etwas übersehen haben?«, rätselte Miss Folder.

»Wir werden es rausfinden«, beschwichtigte sie eine tiefe Stimme – offenbar von einem Mann – mit leichtem Akzent, womöglich Griechisch oder Persisch.

Gleich darauf hörte Anthony die Stationsärztin ganz in seiner Nähe:

»Herr Wilms, ich möchte Ihnen Chefarzt Padroupolos Partenes sowie Ihre Pflegerin Claire Fields vorstellen.«

»Sehr erfreut«, begrüßte er die zwei mit beißendem Sarkasmus – vermutlich hatte letztere ihm den Katheter verpasst. »Sie werden wohl verstehen, dass ich Ihnen nicht die Hand reichen, geschweige denn Sie in Augenschein nehmen kann.«

»Schon gut«, meinte die Männerstämme, also der Chefarzt. »Herr Wilms, haben Sie vielleicht Glasknochen?«

»Nein. Was soll das sein?«

Die zwei Ärzte stießen jeweils einen Stoßseufzer aus.

»Glasknochen sind eine Krankheit, bei der die Knochen sehr zerbrechlich sind«, erklärte Miss Folder.

»Wenn er welche hätte, läge er jetzt im Leichenschauhaus«, grummelte die Männerstimme vor sich hin, um sofort förmlich zu werden: »In Ihrer Familie gibt es auch keine Fälle?«

»Nein«, zischte Anthony genervt über das mysteriöse Gerede. »Außerdem sind meine Verwandten alle tot.«

»Nicht aufregen«, piepste eine dritte Stimme; anscheinend die Krankenschwester. »Ich bringe Ihnen eine neue Bettpfanne«, verkündete sie und tippelte von dannen.

Oh wie entwürdigend!

»Kollegin, was halten Sie davon?«, fragte Partenes.

»Ein gewöhnlicher Muskelschwund ist das nicht«, sinnierte die Stationsärztin.

»Das denke ich auch«, bestätigte Partenes. »Herr Wilms! Ich wage es kaum auszusprechen, aber Sie haben eine sehr spezielle und höchst seltene Form von Muskelschwäche. Sie verfügen nicht annähernd über die Stärke eines Erwachsenen. Ist Ihnen das jemals aufgefallen?«

»Dann habe ich also deswegen meinen Kampf gegen Vitali verloren!«, ätzte Anthony.

»Herr Wilms!«, knurrte Miss Folder. Unweigerlich zuckte er am ganzen Leib zusammen.

»Ich war nie eine Sportskanone«, antwortete er schnell. »Zudem habe ich einen Beruf gewählt, bei dem Muskelkraft keine Rolle spielt.«

»Aber im Freundeskreis oder im Alltag, etwa beim Einkaufstütentragen – nichts?«, hakte sie eindringlich nach.

Er überlegte.

»Nichts. Ich habe keine Freunde« – was hätten die auch mit seiner bizarren Situation zu tun haben sollen? – »ich verbringe die meiste Zeit in meinem Filmstudio oder zu Hause am Schreibtisch. Schwere Einkaufstüten schleppe ich nicht. Mein Essen lasse ich mir meistens bringen. Und bevor Sie nach Umzugskisten fragen: Ich lebe seit über einem Jahrzehnt in derselben Villa in Bel Air.«

»Interessant«, kommentierte Miss Folder.

Zwar war er unvermindert blind, aber er konnte sich vorstellen, wie der von seiner Situation faszinierte Chefarzt nachdenklich den Kopf schüttelte.

»Herr Wilms, mit Ihrer geschätzten Erlaubnis würden wir gerne ein paar Tests mit Ihnen durchführen, wenn Sie wieder fit sind«, sprach Partenes.

»Na super!«, stöhnte Anthony.

»Es ist nur zu Ihrer Sicherheit«, fügte der Arzt hastig hinzu. Überzeugend klang er nicht gerade.

»Von mir aus!«, ergab sich Anthony schließlich. »Die Pressekonferenz habe ich ohnehin versäumt. Da kann ich mir noch ein paar Tage ›Extraurlaub‹ im Krankenhaus gönnen. Ich würde es übrigens sehr begrüßen, wenn Sie mich möglichst bald von meinem Verband sowie von Ihrer Stationstyrannin befreien!«

Er registrierte, wie Partenes nach Luft schnappte.

»Schon gut, ich regle das«, sagte Miss Folder. »Er liegt in meinem Zuständigkeitsbereich!«

»Wie Sie meinen. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden. Herr Wilms, ich empfehle mich.«

Das abermalige Quietschen von Absätzen verriet Anthony, dass der Chefarzt aus dem Zimmer ging. Oh, oh … Weil die Pflegerin anscheinend noch nicht mit seiner Pfanne zurück war, blieb er mit der gestrengen Stationsärztin alleine, die er in einem unvorsichtigen Moment beleidigt hatte. Er konnte geradezu hören, wie sie ihre Fingernägel in die geballten Fäuste grub. Langsamen Schrittes näherte sie sich seinem Bett, an dessen unterem Ende eine dumpfe Erschütterung zu vernehmen war. Offenbar hatte sie ihre Hände auf der Bettstange abgestützt. Wahrscheinlich stierte sie ihn böse an. Wie er seit neuestem wusste, war er ein Schwächling; zudem blind und noch von dem Unfall gezeichnet. Als wäre das nicht genug, hing er am Tropf. Er konnte sich eines gewissen Angstgefühls nicht erwehren. Doch sie schwieg. Dabei wäre es ihm gerade jetzt lieber gewesen, wenn sie etwas verlauten ließe, damit er wusste, was in ihr vorging. Würde sie ihm weitere Medikamente aufzwingen? Zugegeben, seit der Schmerztablette ging es ihm ein wenig besser. Aber wer weiß, was ihm die Stationsärztin noch alles verabreichen könnte. Das furchtbare Schweigen von ihr! Damit spannte sie ihn regelrecht auf die Folter. Es war nicht zum Aushalten.

»Verzeihung!«, hauchte er.

»Sie entschuldigen sich ja schon wieder!«, fauchte sie.

Die Wut war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören. Es schwang aber auch eine schwer zu fassende Befriedigung darin mit. Wieder spürte er das untere Bettende beben. Sie musste das Gestell losgelassen haben. Sie stöckelte auf sein Kopfende zu.

»Tun Sie mir nichts!«, rief er wie der letzte Trottel.

Zu gerne hätte er ihr Gesicht gesehen. Vermutlich grinste sie diabolisch. Musste er auch ausgerechnet an dieses Frauenzimmer geraten! Mit einer Tonlage, süß wie Honig, fragte sie:

»Aber wovor fürchten Sie sich denn? Glauben Sie wirklich, ich würde ungezogenen Unfallpatienten mit Promi-Allüren etwas zuleide tun? Patienten, denen die Augen verbunden sind, die praktisch hilflos sind und die mich eine Stationstyrannin nennen? Ein völlig abwegiger Gedanke!«

Sie kicherte hämisch. Wusste er’s doch: Sie war eine Sadistin! Plötzlich fing das Bett erneut zu surren an. Langsam senkte sich sein Kopf. Er weilte wieder in bequemer Liegeposition.

»Danke, das tut gut«, murmelte er und versuchte, es wie ein Friedensangebot klingen zu lassen.

»Gern geschehen«, erwiderte die Ärztin in perfekter Unschuldsmanier.

»Sie wären bestimmt eine erstklassige Schauspielerin«, erkannte Anthony an.

Jetzt wurde ihre Stimme wieder schneidend:

»Herr Wilms, ich rate Ihnen, Ihren Sarkasmus schleunigst einzumotten. Ich werde Ihnen keine Gelegenheit zu einer dritten Entschuldigung lassen. Hoffentlich habe ich mich verständlich ausgedrückt!«

»Ja«, antwortete er kleinlaut.

»Ja, was?«, bohrte sie.

Er war verwirrt: »Das verstehe ich nicht.«

Miss Folder schien selbst verlegen zu sein.

»Nichts«, entgegnete sie knapp. Nach einem Räuspern äußerte sie einen Akkord höher:

»Ich sehe Sie morgen wieder. Sollten Sie etwas benötigen, drücken Sie auf den Knopf direkt links neben Ihrem Kopfkissen. Erholen Sie sich gut.«

»Vielen Dank und bis morgen«, sprach er bewusst freundlich.

Er hörte eine Türe leise zugehen. Er war allein, zum ersten Mal seit seinem Erwachen.

Die in seinem nach wie vor schmerzenden Kopf wild umherschwirrenden Gedanken musste er erst einmal sortieren.

– Er hatte den womöglich wichtigsten Termin seiner Karriere verpennt.

– Er war in einen LKW gerast und konnte von Glück reden, weder tot noch querschnittsgelähmt zu sein.

– Unabhängig davon litt er an einer seltenen Krankheit, die ihn wehrlos machte – und das in Kalifornien, dem Land der Muskelprotze!

– Zu allem Überfluss lag er unter der Fuchtel eines wahren Stationsdrachens, der ihn, den großen Frauenverächter Anthony Wilms, das Fürchten lehrte.

Besonders im letzten Punkt verharrte sein Grübeln. Seit der Scheidung von vor zehn Jahren hatte er mit der weiblichen Welt komplett abgeschlossen. Seine Ex-Frau hatte alles Mögliche von ihm gewollt: Zuneigung, neue Schuhe, Kinder, Aufmerksamkeit und so weiter. Er hieß doch nicht Krösus; schließlich musste er ein alles andere als gutgehendes Studio am Leben halten! Völlig grundlos hatte sie ihn eines Tages verlassen, ohne Abschiedsworte. Lediglich einen kargen Brief hinterließ sie auf seinem Schreibtisch, über eines seiner Drehbücher. Wenigstens verlief die Scheidung unkompliziert. Zwar stand seiner Ex die halbe Villa zu, aber sie wollte nichts von ihm, gar nichts. Bloß ihren ureigenen Hausrat nahm sie mit. Von da an lebte Anthony – wie er selbst meinte – glücklich und weiberfrei in seiner Villa. Er konnte sich ganz seiner Arbeit widmen.

Jenes Miststück von einer Stationsärztin war die erste Frau, mit der er seit damals mehrere Sätze am Stück gewechselt hatte. Dabei kannte er noch nicht einmal ihr Aussehen. Vielleicht hätte er in den vergangenen Jahren doch die eine oder andere Frau näher studieren sollen; prüfen sollen, ob sich das andere Geschlecht inzwischen verändert hatte, emanzipierter geworden war. Waren alle Frauen so herrisch wie Miss Folder? Aber eines musste er doch einräumen: Zweimal hatte sie ihn berührt, zuerst ganz kurz auf seinem Hemd und dann sehr lange direkt am Arm. In beiden Fällen hatte er eine ebenso angenehm wie rätselhaft flammende Wärme verspürt. Ihrer Stimme und ihren Händen nach zu urteilen war Miss Folder höchstens ein halbes Jahrzehnt jünger als er, also etwa Anfang Dreißig – und bestimmend war sie, tyrannisch eben. Nun gut, wenn er seine Ruhe vor ihr haben wollte, musste er – so sehr ihm das auch widerstrebte – seinen Sarkasmus im Zaum halten.

Hoffentlich kam Alex bald vorbei. Er konnte ihn nicht anrufen, musste aber unbedingt erfahren, was er der Presse gesagt hatte. Vermutlich hatte er die Konferenz selbst abgehalten, ganz ohne ihn. Wie zu seiner Schmach bestellt, hörte er das Auffliegen der Zimmertüre, eiliges Trippeln und die piepsige Stimme der Krankenschwester.

»Ich wechsel Ihren Infusionsbeutel. Außerdem bringe ich Ihnen eine neue Bettpfanne. Die alte braucht die Ärztin für die Urinprobe.«

»Richten Sie ihr aus, dass ich sie hasse«, presste er durch die Zähne.

»Ist das Ihr Ernst? Also an Ihrer Stelle würde ich sie nicht reizen.«

Anthony seufzte. »Sie haben recht. Bestellen Sie ihr stattdessen meine besten Grüße, wenn Sie Miss Folder heute noch sehen.«

»Das werde ich«, trällerte die Pflegerin, während sie in seiner Nähe herumwuselte. »So, alles erledigt!«

Leiser werdendes Trippeln verriet ihm, dass er endlich wieder allein war. Sogleich forderte seine Erschöpfung ihren Tribut. Der Schlaf erlöste ihn vorübergehend von einem viel zu realen Albtraum.

Als er wieder erwachte, war es vor seinen Augen unverändert dunkel. Sein Kopf brummte noch ein bisschen, ansonsten ging es ihm deutlich besser. Wie spät mochte es wohl sein? War bereits ein neuer Tag angebrochen? Seine Gliedmaßen fühlten sich weniger schwer an. Er konnte sich sogar strecken, bis … Verdammt, die Kanüle!

»Aua! Dieses dämliche Ding!«, zeterte er.

Stöckelschuhe auf dem Fußboden.

»Haben wir gut geschlafen?«, fragte Miss Folder kühl.

Waren denn nirgends andere Patienten, um die sie sich kümmern musste?

»Ob Sie gut geschlafen haben, weiß ich nicht. Ich jedenfalls bin frisch und ausgeruht. Sie können mich entlassen.«

Er biss sich auf die Zunge. Sein Zynismus war wieder einmal schneller als sein Verstand. Sie kicherte nur herablassend. Das war ja noch mal gutgegangen – dachte er.

»Ich nehme Ihnen die Kanüle ab. Da Sie wieder munter sind, benötigen Sie keine Infusion mehr. Halten Sie still!«

Da war er wieder, ihr tyrannischer Ton. Doch dann spürte er abermals ihre Hand auf der eigenen, diesmal war es sein Handrücken. Erneut war da diese seltsam mehrdeutige Wärme. Miss Folder löste ein Pflaster und zog ihm mit einem kräftigen Ruck den Schlauch aus der Vene. Sie ließ seine Hand los.

»Auaaa!«, protestierte er. »Ging das nicht etwas sanfter?«

»Doch«, gab sie unumwunden zu, »aber Sie sind doch ein großer, starker Mann, nicht wahr, der keinen Schmerz kennt.«

Genüsslich betonte sie das provozierende »stark«. Er rieb sich den Handrücken.

»Außerdem«, ergänzte die herrische Ärztin verschwörerisch, »haben Sie gestern gesagt, dass Sie mich hassen.«

Er merkte, wie ihm die Kinnlade herunterfiel.

»Das Fräulein Fields hat mir lediglich Ihre Grüße ausgerichtet. Dafür herzlichen Dank. Aber leider hat die Gute gestern beim Wechseln Ihrer Bettpfanne vergessen, die Türe zu schließen. Sie müssen wissen, dass ich sehr gute Ohren habe.«

Anthony schluckte. Miss Folder lachte.

»Keine Angst, ich tue Ihnen nichts – wenn Sie brav sind. Ganz im Gegenteil bin ich hier, weil ich eine gute Nachricht für Sie habe.«

»Ach ja?«, krächzte er hauchdünn.

Der Schreck, den sie ihm bereitet hatte, schien sie zu amüsieren. Elende Sadistin!

»Ich befreie Sie jetzt von dem Verband.«

»Oh!«

Surrend ließ sie sein Bett hochfahren. Danach befahl sie ihm, den Kopf ruhig zu halten. Erneut spürte er ihre Haut auf der seinen. Mit zwei Fingern streifte sie ihn an der Wange, ehe sie den Verband erreichte. Von allen drei Berührungspunkten strömte ihre mysteriöse Wärme in sein Gesicht. Tat sie das mit Absicht? Jedenfalls fühlte es sich himmlisch an. Nein, das durfte nicht sein! Er riss den Kopf zurück, was ungeheuer schmerzte.

»Was ist passiert? Habe ich Ihnen weh getan?!«, rief Miss Folder entsetzt.

Wenn die wüsste …!

»Nein, nein. Es lag an mir; ich habe eine Berührungsphobie«, erklärte er schnell.

Das war durchaus zutreffend. Eiskalte Zyniker leisten sich keine Gefühle und lassen sich folglich auch nicht gerne anfassen. Wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er allerdings hinzufügen müssen: »Ich bin zurückgeschreckt, weil mir Ihre Berührung gefallen hat.« Aber um nichts in der Welt wäre ihm ein derartiges Geständnis über die Lippen gehuscht.

Wieder hörte er ihr finsteres Kichern:

»Berührungsängste?«

»Ja!«, blaffte er.

Mist, einmal mehr war ihm die Fassung verlorengegangen. Zum Glück hatte er an nur einer Kanüle gehangen – indes war da noch der vermaledeite Katheter.

»Ich werde mir die größte Mühe geben, Ihnen den Verband möglichst schonend zu lösen«, sagte die Ärztin verwirrend sanft. »In Ordnung?«

»Ja«, hauchte Anthony wie betäubt.

Um ein Haar wäre ihm etwas ganz anderes rausgerutscht, aber jetzt hatte er sich unter Kontrolle. Er würde sich doch wohl nicht verlieben; erst recht nicht in eine Frau, die er bisher gar nicht gesehen hatte! Ganz vorsichtig legten sich ihre samtenen Finger auf den Verband. Die aus ihnen strömende Wärme drang durch die Mullbinden zu seinem Kopf durch und vertrieb die restlichen Schmerzen. Das konnte, das durfte einfach nicht wahr sein! Was machte sie mit ihm? Wenn sie eine Schamanin war, hätte sie ihm gleich die Hände auflegen sollen, anstatt ihn mit bitterer Medizin zu quälen. Geschmeidig glitten ihre Finger um seinen Schädel, jeden überflüssigen Kontakt sorgsam meidend. Dabei hätte sich Anthony nun so sehr gewünscht, dass sie ihn wieder anfasste; denn sobald er ihre Wärme nicht mehr spürte, meldeten sich die Kopfschmerzen zurück. Schicht für Schicht wickelte sie den Verband ab. Mit jeder entfernten Lage drang immer mehr Licht in seine Augen. Es war hell, viel zu hell. Unweigerlich kniff er die Lider zu.

»Es ist vollbracht«, verkündete Miss Folder stolz. »Öffnen Sie die Augen!«

Vorsichtig blinzelte er. Unbändige Neugier ließ ihn die Lider dem stechenden Lichteinfall zum Trotz auftun. Zunächst konnte er nur Umrisse erkennen, die sich aber bald ausfüllten. Die vor seinem Angesicht flimmernden Schemen gewannen sehr schnell an Konturen; diese wiederum an Farben. Er traute nicht dem, was sein Blickfeld ihm da bot. Er sah direkt in das Antlitz der letzten Königin von Ober- und Unterägypten, der legendären Herrscherin Kleopatra!

Kraftproben

Mit einem Mal hatte er die Kopfschmerzen vergessen. Was ihn zuerst überwältigte, waren Miss Folders kastanienbraune Glutaugen, die seine Rückkehr ins Licht begrüßten. Ihr lodernder Blick bohrte sich in seinen eigenen, der vollkommen gebannt wurde. Verboten lange Wimpern zierten ihre geheimnisvoll funkelnden Augen wie der prächtigste Bilderrahmen das schönste aller Gemälde. Ein einziges Aufschlagen dieser sinnlichen Waffe würde genügen, um selbst den keuschesten Stoiker in ärgste Wallungen zu versetzen. Als wäre das nicht bereits zuviel des Guten, thronten zwei akkurat gebürstete Brauen über ihren Augen. Anthony stockte der Atem. Das musste der Blick der Kleopatra gewesen sein, mit dem sie sich zuerst den mächtigen Julius Cäsar und dann den ehrgeizigen Marcus Antonius untertan gemacht hatte.

»Sieht doch gut aus«, sagte Miss Folder zum Dahinschmelzen weich.

Wenn ihr Mienenspiel auch rätselhaft blieb, verriet es wenigstens Freude, ihn von nächster Nähe zu betrachten. Sie richtete sich hoch und ließ ihn somit aufschauen. Jetzt erst konnte er sie in Gänze mustern. Fassungslos schweifte sein Blick an Miss Folders eleganter Figur herab. In voller Pracht stand sie an seinem Bett. Ihr Gesicht ist anmutig, wenngleich markant, weder zu schmal noch zu breit. Ihre Nase ist groß und scheint doch grazil. Ihre Lippen sind voll und doch dezent: Ein natürliches Rot macht jede Schminke überflüssig. Ihre Haut ist einen Tick zu blass, was in eigentümlicher Weise mit ihren blutroten Lippen sowie ihren pechschwarzen Haaren kontrastiert. Diese sind leicht gewellt und reichen ihr bis fast zu den Hüften. Ihre langen Beine taten ein Übriges, um Anthony die selbstgewählte Isolation verwünschen zu lassen.

Severine Folder als schön zu bezeichnen, wäre eine fahrlässige Untertreibung. Erstens ist sie mehr als schön. Sie ist elegant, souverän, respekteinflößend, lasziv, alles auf einmal. Zweitens umhüllt sie eine verwirrend verführerische Aura, die exakt jene rätselhaft mehrdeutige Wärme widerspiegelt, die von jeder ihrer Berührungen ausgeht. Sie ist schlank und doch sportlich; kurvig, aber nicht aufdringlich. Ihre Hände sind genauso knisternd erotisch wie ihr Mund. Obgleich Miss Folders Hände die relative Blässe ihres Gesichts teilen und daher eigentlich auf Kühle hinweisen, begriff er jetzt, weshalb ihre Berührungen längst verschüttete Gefühlsregungen in ihm hervorkitzelten. Alles an dieser faszinierenden Person harmoniert in wundersamer Widersprüchlichkeit zu einem einzigen Gesamtkunstwerk. Sie trug einen weißen Kittel, eine knallenge weiße Hose und rote Stiefeletten. Unabhängig davon, dass er sich nicht an ihr sattsehen konnte, wollte er es gar nicht. Ihr betäubender Blick hatte seine Aufmerksamkeit nur soweit freigegeben, als er sich von ihren Augen hatte lösen können, nicht aber von ihrer Gestalt. Schon blind war sein Geist von ihr gefangen genommen worden. Jetzt waren sein Geist und noch so manches andere an ihm gleichsam von ihr versklavt worden.

Da sein Mund inzwischen staubtrocken war, vermutete Anthony, dass er schon geraume Zeit offenstand. Wie lange war es her, dass ihn ihr betörender Blick völlig unvorbereitet getroffen hatte? Eine Minute? Eine Stunde? Eine halbe Ewigkeit? Jedenfalls weilte sie noch immer vor seinem Bett und ließ sich von ihm begutachten. Ganz langsam formte sie ihre ultralasziven Lippen zu einem Lächeln.

»Ihre Naht ist prächtig verheilt«, urteilte sie.

»Was … für eine Naht?«, hauchte er mit brüchiger Stimme.

Ihr Lächeln wurde breiter. Sein Herz war kurz vor dem Kollaps.

»Am Kopf natürlich. Aber, sagen Sie mal, Sie sehen so aus, als könnten Sie noch eine Tablette vertragen. Sie wirken ein bisschen … neben der Spur.«

Was er vertragen konnte, war weit mehr als das: ihre Hände auf seiner Brust, seinen eigenen Händen, seinem Gesicht, gerne auch woanders … Aber nein, nein, nein, das konnte doch nicht wahr sein! Verzweifelt rief sich Anthony im Geiste zur Ordnung: Frauen waren nichts für ihn, Wesen vom anderen Stern, vor allem dieses Geschöpf, das sich einen Spaß daraus machte, ihn komplett durcheinander zu bringen. An die Arbeit denken!

In einem mentalen Gewaltakt löste er sich von ihrer fesselnden Aura. Das war weit schmerzhafter als das plötzlich wiederkehrende Pochen in seinem Kopf. Er verspürte Bedauern – ein für ihn eher untypisches Gefühl – wegen seiner bisherigen Grobheit gegenüber Miss Folder, vermochte aber nichts Zusammenhängendes von sich zu geben. Immer wieder stammelte er:

»Kleopatra … Sie … Kleopatra!«

Stirnrunzeln verriet ihr Rätseln, ob es dem Patienten vielleicht doch noch nicht so gut ging, wie sie der Anschein zunächst hatte annehmen lassen.

»Möchten Sie etwas für die Nerven?«, erkundigte sie sich.

»Nein!«, antwortete der Produzent bestimmt. »Ich will Sie.«

Sichtlich irritiert erwiderte Miss Folder:

»Wie darf ich das verstehen?«

»Ich will Sie in der Rolle der Kleopatra für meinen Film«, präzisierte er.

Sie lachte laut. Schnell wurde sie wieder ernst, als sie sich in eine Krankenakte vertiefte, die sie aus ihrem Kittel holte. Mit zusammengezogenen Augenbrauen studierte sie die Papiere. Bedächtig legte sie einen Finger auf das oberste Blatt. Er starrte sie bestürzt an. Hatte diese seltsame Frau überhaupt begriffen, welches Angebot er ihr soeben unterbreitet hatte? Endlich wandte sie sich von den Papieren ab und sah ihm direkt in die Augen. Nein, nicht schon wieder! Abermals lief Anthony Gefahr, in eine andere Sphäre zu entschweben. Deswegen klammerte sich sein Geist an den unbändigen Willen, sie für seinen Film zu gewinnen.

»Herr Partenes und ich haben uns darauf verständigt, dass Sie morgen mit dem Training beginnen.«

Ihre Worte drangen wie durch eine dicke Mauer zu ihm durch.

»Training?«, fragte er verblüfft.

»Besser gesagt: die Kraftproben, mit denen wir Ihre Muskelschwäche untersuchen werden. Doch dazu müssen Sie in Form sein. Daher zunächst das Training: ein paar Stunden auf dem Laufband, außerdem Schwimmen.«

In ihren Pupillen loderte etwas auf, ohne dass er auch nur die leiseste Ahnung hatte, worum es sich dabei handeln mochte.

»Allerdings muss ich Ihnen zunächst ein paar Fragen stellen, falls Sie nichts dagegen haben.«

Als ließe sie ihm eine Wahl!

»Also«, setzte sie erneut an, in der Tat nicht auf seine Antwort wartend, »Alter, Gewicht und Maße haben wir Ihren Personalien entnommen. Auch Ihre Blutwerte sind uns bekannt. Das können wir zwei also überspringen. Haben Sie Angehörige?«

»Nein, ich erwähnte doch schon, dass ich keine Familie habe.«

Noch ehe er den Satz vollendet hatte, bedauerte er den Tonfall. Warum konnte er seine launische Ungeduld nicht für sich behalten? Das war nun schon das dritte Mal. Diesmal würde sie ihm seine Taktlosigkeit gewiss nicht durchgehen lassen. Sie tat es tatsächlich nicht. Langsam steckte sie die Krankenakte wieder in den Kittel. Ihre Hände positionierte sie wie am Vortag auf der unteren Bettstange. Die Milde war aus ihrem Blick verschwunden und wich vollständig dem … Bedrohlichen. Gleichzeitig sah sie in dieser Pose unglaublich scharf aus. Dennoch grub sich sein Körper unweigerlich unter die Bettdecke.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, äußerte sie vollkommen ruhig; »entweder beantworten Sie meine Fragen in dem gebotenen Respekt, oder ich gelange auf andere Art an die nötigen Informationen.«

Trotz seiner Benommenheit hob Anthony den Handschuh auf:

»Und wie, Gnädigste, gedenken Sie das anzustellen?«

Sie lächelte finster.

»Das wollen Sie gar nicht wissen. Normalerweise gehe ich schonend mit meinen Patienten um. Sie hingegen sind seit Ihrem Erwachen derart arrogant, zynisch und respektlos, dass ich gerne bereit bin, eine Ausnahme zu machen.«

Ihr Blick verdüsterte sich weiter. Sein Mut bröckelte, während er von ihrem Zorn erregt wurde, noch mehr, als wenn sie die Sanfte mimte. Doch er konnte nicht einschätzen, wie ernst sie es meinte, und dachte nicht daran, ihre Androhung zu testen. Also gab er abermals nach:

»Bitte fragen Sie.«

Sie ließ sein Bett wieder los. Ihr Blick klarte sich auf, wenngleich eine Spur Enttäuschung darin zu lesen war. Jedenfalls zückte sie ihre Liste, um zur nächsten Frage überzugehen:

»Konsumieren Sie Drogen?«

Vor Empörung bäumte sich Anthony auf, sackte aber sofort wieder in sein Kissen zurück. Er antwortete beherrscht:

»Nein.«

»Trinken Sie mehr als ein Glas Wein oder Bier pro Tag?«

»Nein.«

»Gehen Sie außergewöhnlichen Freizeitbeschäftigungen nach wie etwa Fallschirmspringen oder Segelfliegen?«

»Nein.«

»Haben Sie Schwierigkeiten beim Autofahren?«

»Nein.«

Sie schmunzelte. »Andernfalls wären Sie wohl kaum hier.«

Er biss sich auf die Zunge und würgte einen garstigen Kommentar hinunter. Bei der nächsten Frage setzte sie ein besonders verschwörerisches Grinsen auf.

»Macht sich Ihre Muskelschwäche beim Geschlechtsverkehr bemerkbar?«

Anthony presste die Zähne gegeneinander. Jetzt bloß keine sarkastische Bemerkung! Bloß nicht ausrasten!

»Bisher hat sich niemand beschwert. Wenn Sie ganz sichergehen wollen, müssen Sie bei den betreffenden Damen selbst nachfragen …« Dann passierte es doch: »Falls Sie meine Antwort nicht befriedigt, machen Sie doch die Probe aufs Exempel!«

Vor Schreck hielt er sich beide Hände gegen den Mund. Miss Folder ließ ihren Block zu Boden fallen. Ihre Augen wechselten von höflich-distanziert zu gereizt-undefinierbar. Er vermochte ihren Ausdruck nicht zu deuten. Was hatte sie nun vor? So viel konnte er erkennen: Ssie sah aus, als wollte sie ihn übers Knie legen. Jetzt erst erinnerte er sich daran, dass sie dazu durchaus fähig war. Was hatte er sich bloß gedacht? Ihre Pupillen sprühten regelrecht Funken. Ihre Nasenflügel bebten. Ihre Lippen zuckten um die Wette.

»Anthony, bist du da?«

Plötzlich weilte Alex im Raum. Alex! Er war seine Rettung. Er trug einen seiner üblichen dunklen Geschäftsanzüge. Verwirrt trat er hinter Miss Folder.

»Soll ich vielleicht später wiederkehren?«, vergewisserte er sich.

»Nein, nein. Die Ärztin hat mir gerade nur ein paar Fragen gestellt. Wir waren doch fertig, oder?«, preschte Anthony vor.

»Für den Moment«, zischte sie. »Ich lasse Sie mit Ihrem Besuch allein. In einer Stunde bin ich wieder hier.«

Sie nahm die Krankenakte und ging an Alex vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Da entging ihm etwas, trotz oder gerade wegen ihrer Wut. Krachend schlug sie die Zimmertüre zu.

Alex’ drahtige Gestalt beschrieb ein einziges Fragezeichen. »Was war denn das?«

»Das war Severine Folder«, erwiderte Anthony mit einem müden Lächeln. »Sie ist etwas speziell. Sie spielt gerne Armdrücken.«

»Das habe ich gehört!«, tönte es von draußen.

Anthony zuckte erneut zusammen.

Alex schüttelte den Kopf. »Wie geht’s sonst?«

»Halten wir uns damit jetzt nicht auf«, entgegnete Anthony ungeduldig. »Ich muss mit dir reden. Warum bist du nicht früher gekommen?«

Sein Agent schien zu zögern. Im Grunde war Alex Augustenburg weit mehr als sein Agent, er war das kommerzielle Hirn seiner Firma. Auf ihn und seinen Geschäftssinn konnte er sich uneingeschränkt verlassen. Wer weiß, wo er jetzt wäre, wenn er ihn nicht hätte …

Ausweichend erklärte Alex:

»Bei der Pressekonferenz lief alles glatt. Zunächst habe ich deine Abwesenheit entschuldigt, habe die Handlung des Films skizziert und bin dann auf Nachfragen eingegangen.«

Anthony wusste nicht recht, ob er erleichtert oder ernüchtert sein sollte. Es lief glatt – ohne ihn?

»Wie viele Journalisten waren da?«

»Ein knappes Dutzend.«

Er fuhr hoch. »Mehr nicht?!«

»Ich habe sie nicht gezählt, aber auf keinen Fall waren es mehr als elf.«

Anthony schloss die Augen.

»Was wollten sie denn wissen?«, murmelte er niedergeschlagen.

»Das meiste Interesse weckte die Besetzung«, berichtete sein Agent.

Die Besetzung! Sofort fielen Anthony die Schwierigkeiten bei diesem heiklen Thema ins Gedächtnis zurück. Doch da mogelte sich ein anderer Gedanke zwischen die Nebelschwaden an Kummer in seinem Kopf und sorgte für frischen Wind. Er öffnete die Lider. Vor sich sah er seinen nicht gerade auskunftsfreudigen Angestellten.

»Das habe ich noch gar nicht erwähnt«, begann Anthony wie ausgewechselt. »Ich habe hier eine wahre Entdeckung gemacht!«

»So?«, rief Alex mit skeptischer Neugierde.

»Allerdings. Ich habe die perfekte Kleopatra gefunden.«

Alex’ Gesichtszüge verfinsterten sich. Er legte die Stirn in Falten und senkte die Augenbrauen.

»Wir haben doch schon eine Besetzung für die Kleopatra«, wandte er ein.

»Vergiss sie!«

»Wir haben bereits mit dem Drehen angefangen«, beharrte Alex.

»Dann drehen wir eben nochmal. Wir standen eh erst am Anfang«, konterte Anthony schon wieder gereizt.

Alex wirkte sehr angespannt. Er hob zu einem neuen Widerspruch an. Das war eigentlich nicht seine Art.

»Dadurch verlieren wir nur Zeit und Geld – Geld, das wir nicht haben, wie du weißt.«

»Wir werden es wieder reinholen, wenn der Film Premiere feiert. Glaub mir, mit der neuen Kleopatra kann er nur Erfolg haben. Mit meiner Entdeckung wird mein Studio mehr Geld scheffeln als ohne sie.«

Sein Agent knetete sich die Augenlider, verschnaufte kurz und fragte endlich:

»Wer ist es? Kenne ich sie?«

Anthony grunzte amüsiert. »Ein wenig: meine Ärztin.«

Alex starrte ihn perplex an.

»Machst du dich über mich lustig?«, wollte er nicht ohne mahnenden Unterton wissen.

»Ganz und gar nicht«, versicherte Anthony. »Ich will sie – sie oder keine.«

In beschränktem Maße konnte Alex seinen Vorgesetzten ja verstehen. Dieses Weibsbild, das eben an ihm vorbeigerauscht war, besaß in der Tat eine majestätische Ausstrahlung. Rein äußerlich wäre sie gewiss eine gelungene Besetzung. »Sie ist doch gar keine Schauspielerin«, gab er trotzdem zu bedenken.

»Na und? Dann soll sie Unterricht bekommen. Ich habe aber das Gefühl, dass sie keine Probleme mit dem Schauspielen haben wird. Sie ist so was von … undurchsichtig. Gekonnt verbirgt sie ihre Gefühlsregungen wie hinter einer Wand aus Stahl.«

»Gut, gut. Du bist der Chef«, seufzte Alex. »Hast du denn deiner Entdeckung bereits von ihrem Glück erzählt?«

»Habe ich«, antwortete Anthony melancholisch; »aber sie gibt sich unnahbar.«

»Das kann ich mir vorstellen«, argwöhnte Alex. »Was hat sie gesagt?«

»Sie hat … im Grunde noch gar nichts dazu gesagt. Ich vermute, sie hält mein Angebot für einen Scherz.« Anthony schüttelte sich. Nein, nicht in dieser wichtigen Frage – und schon gar nicht bei ihr. »Aber ich werde sie so lange bearbeiten, bis sie zustimmt. Deswegen muss ich noch eine Weile hierbleiben. Da werde ich sie oft genug sehen.«

»Bist du sicher? Sie wirkte eben ziemlich … äh … eigensinnig«, meinte Alex.

»Das ist sie. Aber ich werde nicht nachgeben. Wie du weißt, habe ich einen ausgesprochenen Dickschädel.« Mehr zu sich selbst als zu seinem Agenten fügte Anthony hinzu: »einen Dickschädel, den sie selbst operiert hat.«

Alex rieb sich nachdenklich das Kinn. »Du bleibst noch hier?«

»Ja«, bestätigte Anthony. Er rümpfte die Nase. »Sie meinen etwas festgestellt zu haben und wollen mich ein paar Tests unterziehen.«

Sein Agent zeigte sich verdutzt.

»Sie glauben, ich wäre ein Schwächling. Mit meinen Muskeln soll etwas nicht stimmen.«

Alex riss die Augen auf.

»Sollen sie glauben, was sie wollen. Hauptsache, ich kriege die tyrannische Folder dazu, in meinem Film mitzuspielen«, knurrte Anthony. »Ich erteile dir hiermit den Auftrag, sämtliche Aktivitäten am Set bis zu meiner Rückkehr und dem Eintreffen von Miss Folder einzufrieren. Stelle der bisherigen Kleopatra-Darstellerin einen Scheck aus. Lasse dich auf keine Diskussionen mit ihr ein. Verstanden?«

Alex nickte langsam.

»Gut, das wäre dann alles.«

Wortlos verließ sein Agent das Zimmer. Damit wäre diese Sache geklärt. Jetzt musste nur noch die widerspenstige Folder überzeugt werden, egal wie.

Wenig später brachte ihm die Pflegerin eine Plastikschale mit Essen. Zum ersten Mal seit seinem Unfall würde er feste Nahrung zu sich nehmen.

»Mit besten Empfehlungen von der Ärztin«, sagte Miss Fields, während sie die dampfende Schale auf einem Beistelltisch ablegte. Anthony wagte einen Blick in die Schale und wandte ihn sogleich ab.

»Was ist denn das?«, empörte er sich.

»Tofuwürfel mit gedünsteten Sprossen. Ferner soll ich Ihnen von der Ärztin ausrichten, dass das erst der Anfang ist.«

Er schauderte. Auf was für ein Duell hatte er sich da nur eingelassen? Die Pflegerin reichte ihm Einwegbesteck. Sie fragte, ob sie sonst noch etwas für ihn tun könne. Ja, sie konnte ihrer Vorgesetzten mitteilen, sie möge ihre Krallen einfahren. Aber das würde die Lage nur weiter verkomplizieren.

»Nein«, hauchte er resigniert.

Die Krankenschwester aber ließ ihn noch nicht in Ruhe. »Ich wechsel mal Ihre Bettpfanne.«

Anthony verdrehte die Augen. Wie entwürdigend! Er lag nun schon seit Tagen mit grüner Krankenhauskleidung und einem Katheter im Bett und hatte dasselbe seither nicht verlassen. Bei der Vorstellung, dass die Fields ihn nach dem Unfall umgezogen sowie ins Bett gehievt hatte, wurde ihm flau im Magen. Doch lieber sie als … Diese Eventualität verbannte er rasch aus seinen Gedankengängen. Miss Fields hatte eine strohblonde Frettchen-Frisur, wirkte quirlig und war von mittlerer Statur; kein Vergleich zu seiner undurchschaubaren, verwirrend sinnlichen, aber äußerst kratzbürstigen Stationsärztin.

»So, jetzt können Sie wieder Ihre Notdurft verrichten«, tat Miss Fields in ihrem hohen Stimmchen kund, während sie unter seinem Bett hervorkroch.

»Da bin ich aber wahrhaft erleichtert!«, giftete Anthony.

Die Pflegerin wünschte ihm einen »Guten Appetit!« und ließ ihn allein.

Zwar plagte Anthony ein ziemlicher Kohldampf, aber solchen Öko-Fraß würde er nicht schlucken. Die Folder wagte ein Spiel mit ihm? Gut, da machte er mit. Für ein Kräftemessen brachte er indes die bei weitem schlechteren Voraussetzungen mit. Doch davon ließ er sich dem gesunden Menschenverstand zum Trotz nicht einschüchtern. Die erste Bewährungsprobe blühte ihm bereits in Kürze. Denn die Ärztin hatte gesagt, sie würde bald wiederkehren. Zudem hatte er gerade gehört, dass sie mit ihm noch nicht fertig sei. Seine Antwort auf die zuletzt gestellte Frage war ziemlich ungeschickt gewesen. Sogar er sah das ein. Vielleicht würde sie ja Milde walten lassen, wenn er sich reumütig gab. Er starrte an die Zimmerdecke. Die Tofuwürfel auf seinem Nachttisch kühlten langsam aus. Er sähe gerne fern; er wollte sehen, was die Konkurrenz machte, aber das ging nicht. Die Fernbedienung lag auf dem unter der Decke festgeschraubten Apparat. Miss Folder ließ immer noch auf sich warten. Dabei hätte sie längst hier sein müssen. Als Ärztin hatte sie gewiss genug anderes zu tun, als ihn wegen seinem ungebührlichen Betragen zu bestrafen. Wenn er die nächste Begegnung mit ihr nur schon hinter sich wähnen könnte! Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihn absichtlich schmoren ließ. Seine Erwägung, den Reumütigen vorzutäuschen, verwandelte sich bereits in Kampfeslust. Das Hinauszögern der großen Abrechnung quälte ihn förmlich, wodurch seine Wut heraufbeschworen wurde.

Er wollte sich durch die Warterei nicht entmutigen lassen. Also kam er auf die Idee, einfach aufzustehen und nach der Fernbedienung zu greifen. Hoffentlich war der verdammte Katheter lang genug. Er zog das Bettlaken beiseite und hob ganz vorsichtig die Beine. Er setzte sich aufrecht. Mit nackten Zehen berührte er den Boden. Ihm wurde schwindelig. Aber es war auszuhalten. Seine Kopfschmerzen waren zerstoben. Er drückte die Arme in die Matratze und stemmte sich hoch. Zum ersten Mal seit dem Unfall stand er auf eigenen Füßen. Schwankend tat er die ersten Schritte. Nur wenige Meter trennten ihn von dem Fernseher. Ganz langsam kam er ihm näher. Sein Arm streckte bereits die Hand nach der Fernbedienung aus. Da verlor er das Gleichgewicht, ihm entglitten die Füße – er flog direkt in die Arme von Severine Folder.

Plötzlich weilte sie mitten in seinem Zimmer und schützte ihn vor dem Fall. Die Berührung mit ihr war erneut außergewöhnlich. Ihre Arme hatten sich unter die seinen geklemmt; sie presste ihren gesamten Oberkörper gegen ihn. Wieder hatten sich ihre Finger um seine Handgelenke geschlossen: um beide gleichzeitig. Jetzt war der Kontakt so intensiv, dass es ihm schien, als würde ihre merkwürdige Wärme nicht nur pulsieren, sondern geradezu brodeln. Er hätte Stunden lang so dastehen können. Dabei war ihm durchaus klar, dass sie ihn nicht einfach stützte, sondern ihn regelrecht festhielt – und dass sie nach wie vor sauer auf ihn war. Verwirrender konnte diese verführerische Mischung verschiedenster Impressionen gar nicht sein. Zu allem Überfluss war er abermals der unmittelbaren Nähe ihrer Augen ausgesetzt, die ihn gefährlich lodernd anfunkelten. Weiter vermochte er ihren Ausdruck nicht zu interpretieren. Vielleicht verriet ihre – ebenfalls verwirrend nahe – Mundpartie etwas von ihrem Gemütszustand. Sie hatte die Lippen zu einem waagerechten Strich geformt. Verhieß das Gutes oder Schlechtes?

»Ich helfe Ihnen ins Bett«, sagte sie ausdruckslos.

Nachdem sie ihn etwas sicherer auf die Füße gestellt hatte, ließ sie ihn an einem Arm los und legte ihre freigewordene Hand auf seinen Rücken. Der kam jetzt also auch in den Genuss ihrer Berührung, wenn auch nur durch ein Nachthemd hindurch. Aber das genügte bereits, um in Ekstase zu geraten. Nur mit größter Mühe gelang es Anthony, sich nichts anmerken zu lassen. Ganz langsam führte Miss Folder ihn zur Bettkante, wo er sich fallenlassen konnte.

»Hinlegen!«, befahl sie in ihrem charakteristisch autoritären Ton.

Er streckte die Gliedmaßen, woraufhin sie ihm das Betttuch überlegte.

»Was hatten Sie außerhalb des Betts zu suchen?«, wollte sie wissen. Wie Peitschenhiebe schlugen die Worte nun aus ihrem Mund.

»Ich habe fernsehen wollen«, brachte er kleinlaut hervor. Seine eigene Wut war wie verraucht.

»Dafür riskieren Sie einen Sturz?!«

»Äh … Ich habe mich überschätzt.«

»Allerdings!«, fauchte sie.

Jetzt fiel ihr Blick auf sein unangerührtes Essen, dann wieder auf ihn. Eines war sicher: einen schlechteren Zeitpunkt konnte es für seine Bitte gar nicht geben, sie möge die Kleopatra spielen.

»Was ist das?«, fragte sie mit langem Zeigefinger. Sie deutete auf die Tofuwürfel.

»Aber das ist Ihnen doch bekannt. Sie haben mir das Zeug bringen lassen«, antwortete er schon wieder übermütig.

»Wieso haben Sie dann nichts gegessen?«

Er sah Miss Folder erstaunt an.

»Wenn ich Ihnen etwas verabreichen lasse, haben Sie das zu nehmen, egal ob es sich um Medikamente oder um Speisen handelt. Ist das klar?«

»Ja«, antwortete er automatisch.

»Dann essen Sie jetzt! Gestern haben Sie Ihre Suppe bereits nicht angerührt.«

Sie legte ihm Schale und Besteck auf den Bauch. Sein Kopfende ließ sie per Knopfdruck hochfahren. Anthony verzog beim Anblick der kalten Tofuwürfel mit gedünsteten Keimlingen das Gesicht, griff aber ohne Widerrede zum Plastikbesteck. Er sezierte einen der ekelerregenden Würfel. Tatsächlich führte er sich ein Stück in den Mund. Igitt!

»Gut kauen«, mahnte Miss Folder.

Auch das noch. Er zerkaute das ohnehin weiche Gewebe auf seiner Zunge, ehe er es in den Rachen zwängte.

»Das nächste Stück!«

Jetzt genügte es aber! Anthony ließ das Besteck fallen und stierte die Ärztin böse an. Zu seiner Überraschung hob sie freudig die Mundwinkel, als hätte sie nur auf die Regung eines Widerstands gewartet. Sie lächelte honigsüß, obwohl ihre Augen undurchdringlich blieben.

»Wir haben die ganze Nacht Zeit, wenn’s sein muss. Ich habe Dienstschluss. Daher kann ich Ihnen meine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen. Aber bei einem können Sie ganz sichergehen: Bis spätestens morgen früh befinden sich Tofu und Sprossen in ihrem Magen. Die Art der Nahrungsaufnahme liegt hingegen ganz bei Ihnen.«

Auweia! Sie opferte ihre Freizeit, nur um ihn zu foltern, und er war ihr so ausgeliefert, wie man es nur sein konnte.

»Kann ich nicht etwas anderes zu essen bekommen?«

»Natürlich«, sagte sie mit einem engelsgleichen Lächeln.

Geht doch! Schon wollte er die Schale Ekelfutter auf den Nachttisch zurücklegen.

»Was tun Sie da?«, fragte sie plötzlich, immer noch mit dem himmlischen Lächeln auf den Lippen.

»Aber ich dachte … ich bekäme …«, stammelte Anthony.

»Ich habe nicht behauptet, dass Sie etwas anderes kriegen, sondern nur, dass das theoretisch möglich ist«, erklärte Miss Folder in aller Gemütsruhe.

»Theoretisch?«, echote er fassungslos.

»Theoretisch«, bekräftigte sie. »Essen Sie jetzt auf!«

Da war er wieder, sein bebender Zorn. Er fuhr Anthony durch sämtliche Adern. Demonstrativ legte er die Schale weg und starrte der sadistischen Ärztin herausfordernd in die Augen, so schwierig sich das auch gestaltete.

»Ich nehme ein großes Kotelett, dazu überbackene Kartoffeln und geröstete Zwiebeln. Als Getränk ein kühles Weißbier. Das wäre dann alles.«

Ihr Lächeln wurde immer breiter – und bedrohlicher. Sie trat einen Schritt auf ihn zu, beugte sich vor und hypnotisierte ihn mit ihrem Funken sprühenden Blick.

»Herr Wilms, wissen Sie, was Zwangsernährung ist? Wenn nicht, würde ich es Ihnen gerne zeigen.«

Sie hatte sich so nahe vorgebeugt, dass einzelne Strähnen ihres schwarzen Haares auf sein Gesicht fielen. Ihr Haar war sehr dicht, zudem ausgesprochen dick. Eine Strähne kitzelte seine Wange. Die betroffene Stelle fühlte sich an, als erhielte sie gerade einen leichten Stromstoß. Er hegte überhaupt keinen Zweifel an dem Ernst ihrer Drohung.

»I… ich ziehe es vor, mir die Tofuwürfel selbst einzuführen«, krächzte er.

Sie erhob sich wieder. Ihr Lächeln verflüchtigte sich.

»Zu schade«, seufzte sie.

Während er also – gut kauend – den Ökofraß herunterwürgte, zückte die Ärztin seine Krankenakte.

»Ich bin hier, um Ihnen Ihre Bestrafung mitzuteilen«, verkündete sie.

Ihm blieb der Bissen im Halse stecken. Bestrafung? War das hier nicht schon Strafe genug? Er war doch kein Gefangener, den man einfach so herumkommandieren konnte!

»Sie wissen schon – wegen Ihres flegelhaften Betragens. Schlucken nicht vergessen!«

Er trieb den Bissen gewaltsam in seinen Darm.

»Und … die Fragen auf Ihrer Liste?«, erkundigte er sich.

»Alles Wesentliche haben Sie beantwortet. Das ist für Sie.«

Miss Folder hielt ihm ein Blatt Papier unter die Nase. Mechanisch nahm er das Blatt entgegen. Er betrachtete es mit Bestürzung.

»Was soll das sein?«

Sie zuckte unschuldig die Achseln. »Ich habe Ihr Sportprogramm um ein paar kleine Ergänzungen bereichert.«

Kleine Ergänzungen? Gymnastik, Gewichtheben, hundert Meter Freistil schwimmen und vieles mehr. Sechs Stunden täglich.

»Ich strebe keine Olympiamedaille an!«, protestierte er.