Im Kopf eines Teenagers - Lars Halse Kneppe - E-Book

Im Kopf eines Teenagers E-Book

Lars Halse Kneppe

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Beschreibung

Lars Halse Kneppe (34) ist Norweger, Journalist und Psychologe und arbeitet beim schulpsychologischen Dienst sowie an mehreren weiterführenden Schulen in Oslo direkt mit den Jugendlichen zusammen. Das Buch "Im Kopf eines Teenagers" ist ein Leitfaden für Eltern, die wissen wollen, was in der Pubertät in Körper, Kopf und Herz der Kinder geschieht und wie Eltern sie besser verstehen und ihnen wirklich helfen können. Lars Halse Kneppe spricht täglich mit jungen Menschen über ihre persönlichen Probleme, über Hausaufgaben und Schule, Stress und Gesundheit, Einsamkeit und Freundschaft, Online- und Social-Media-Aktivitäten, Verliebtheit und Sex. Was Lars durch seine Gespräche von den Teenagern und über sie und ihre Bedürfnisse lernt, schreibt er in authentischen Beispielen auf. Mit seinem einzigartigen Einblick in die Welt vieler verschiedener junger Menschen erzählt er Eltern - sachkundig, klug und witzig - von unterschiedlichem Generationenwissen, harten Anforderungen sowie schwankenden Emotionen. Lars Halse Kneppe beantwortet die Frage: Was denken Jugendliche? Wofür interessieren sie sich? Was brauchen sie von ihren Eltern? Was können Eltern für ihre Kinder tun und wie können Eltern sie mit Worten erreichen? Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob.

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Für Mama und Papa

Inhaltsverzeichnis

eins

Die schwierigen Jahre

Sieben Jahre Schweigen

Teenageramnesie

Das Projekt Jugend

Wann wurden wir Eltern so dumm?

zwei

Die heutigen Jugendlichen

Eine neue Welt für eine neue Generation

Die psychische Gesundheit der Jugendlichen

Die Bad Boys

Die Drama Queens

Die guten Schülerinnen

Die faulen Jungs

Die Emotionalen

Die Unsichtbaren

drei

Vom Umgang mit Sorgen

Wann solltet ihr euch Sorgen machen?

Das schwierige Gespräch suchen

Hilfe von außen annehmen

vier

Das Verhältnis zur Schule

Die Schule als Gesprächsthema

Stress, Leistungsdruck und Prüfungsangst

Wenn Jugendliche nicht zur Schule wollen

fünf

Ernährung und Gesundheit

Ernährung und Sport

Schlaf – ein schwieriges Thema

sechs

Grenzen setzen

Internet und soziale Medien

Let’s talk about sex

sieben

Gegen die Wand und taube Ohren

Denkt immer dran: Auch diese Zeit geht vorbei!

Quellen und Anmerkungen

eins

Die schwierigenJahre

Sieben Jahre Schweigen

Als ich im Jahr 2006 zu Weihnachten nach Hause fuhr, war ich gerade zwanzig geworden. Ich hatte meine Teenagerjahre hinter mir und studierte im ersten Jahr Journalistik. Kurz zuvor hatte ich auf der Uni gelernt, dass es in jedem Haus dunkle Räume gibt, also mindestens ein Zimmer, in dem all das verstaut wird, über das eine Familie nicht redet. Ich konnte das ziemlich gut nachvollziehen, denn ich war in einem Haus aufgewachsen, in dem es im Keller eine Dunkelkammer gab.

Als junger Mann voll jugendlichem Übermut und dem Glauben an meine eigenen Fähigkeiten als Erwachsener hatte ich zum ersten Mal die Zubereitung des Weihnachtsessens übernommen. Es sollte Rippchen geben. Ich war schon ein paar Tage vor den Festtagen zu Hause angekommen, um genug Zeit zum Probekochen zu haben. Ich wollte doch die Kruste der Rippchen und die Apfelsoße perfekt hinbekommen. Im Laufe der knappen Woche, die ich bei meinen Eltern war, bemerkte ich immer wieder die verwunderten Blicke meiner Mutter, als wollte sie sich vergewissern, dass ich wirklich ich war. Sie betrachtete mich meist dann, wenn ich gerade in eine andere Richtung sah, was also bedeutete, dass sie nicht weiter darüber sprechen wollte. Erst viele Jahre und ein abgeschlossenes Psychologiestudium später sollte ich den Grund dafür verstehen.

Sie hatte damals eine Heidenangst, dass dieses Wunder irgendwann vorbei sein könne.

Nachdem die Rippchen verspeist und der Verdauungsschnaps getrunken war, saßen wir schließlich bei Kuchen und Wein, als sich unsere Blicke erneut trafen. Meine Mutter zuckte zusammen, sah weg und wollte erst nicht antworten – weder mit Blicken noch mit Worten. Doch dann rückte sie mit der Sprache heraus. Ich erwartete ein vernichtendes Urteil, stattdessen versetzte sie meiner Teenagerzeit den Todesstoß – doch das verstand ich erst später. Sie sagte:

Es ist nichts. Es ist nur so … schön, dass du wieder so … nett bist. Dass man mit dir reden kann. Ich meine … du hast seit sieben Jahren nicht mehr mit mir gesprochen.

Es sollten weitere sieben Jahre vergehen, bis ich mich wirklich mit dieser Geschichte auseinandersetzte, sieben Jahre, bis sie mehr als nur die amüsante Anekdote war, wie schlimm ich als Jugendlicher gewesen war. Denn als ich sieben Jahre später wieder an Weihnachten nach Hause fuhr, hatte ich mein zweites Studium abgeschlossen. Dieses Mal: Psychologie. Ich hatte eine Ausbildung zum Jugendpsychologen gemacht und darüber hinaus in derselben Einrichtung eine Stelle gefunden, in der auch meine Mutter arbeitete, im Pädagogisch-Psychologischen Dienst. Sie fand das echt witzig, aber sie freute sich auch aufrichtig darüber, weil sie überzeugt davon war, dass ich das wirklich verdient habe. Ich konnte nur eines hoffen – und vermutlich hofften wir das beide: Dass Heranwachsende heutzutage nicht mehr so still und unzugänglich sind, wie ich es damals gewesen war.

Viele Jahre und viele hundert Jugendliche später kann ich erleichtert berichten, dass tatsächlich nicht alle Jugendlichen so sind, wie ich es war. Auf viele aber trifft das immer noch zu. Und auf jeden schweigenden Jugendlichen kommt mindestens ein besorgter Erwachsener wie meine Mutter. Mein Vater hat mir später einmal erzählt, dass er sich viel zu sehr in mir wiedererkannt hat, um sich Sorgen zu machen. Er wusste, dass diese Schweigephase vorübergehen würde. Für ihn wäre es viel beängstigender gewesen, eine Tochter zu haben. Es ist nämlich wesentlich leichter, sich über etwas Sorgen zu machen, das man nicht versteht und mit dem man sich nicht identifizieren kann.

Mittlerweile habe ich viele besorgte Eltern kennengelernt, dennoch schäme ich mich für all die Sorgen, die ich meiner Mutter – wenn auch unbewusst – bereitet habe. Sie hat mir nämlich keinen Grund geliefert, sie derart zu strafen, und ich hatte auch kaum etwas vor ihr zu verstecken. Sie wusste, dass ich mich manchmal betrank, aber nicht wo, das habe ich ihr nie erzählt. Immer, wenn sie wissen wollte, wohin ich gehe, habe ich nur „raus!“ gebrüllt. Ich weiß gar nicht, warum. Sieben lange Jahre habe ich ihr nur dieses eine Wort an den Kopf geworfen – und dabei die Augen verdreht. Warum sollte ich ihr mehr erzählen? Sie verstand mich ja nicht. Niemand verstand mich. Niemand konnte mich verstehen.

Wie idiotisch das Ganze war, begriff ich erst viele Jahre später. Und hätte ich nicht die berufliche Kehrtwendung gemacht, die mich als verständiger und gesprächsbereiter Erwachsener zurück in meine eigene Teenagerzeit katapultierte, hätte ich das alles vermutlich erst mit eigenen, halbwüchsigen Kindern begriffen.

”Denn Erwachsene können Jugendliche verstehen, und Jugendliche können reden, nur eben nicht mit den eigenen Eltern.

Mein Buch soll euch, als Eltern von Teenagern, helfen, eure Kinder besser zu verstehen. Was erzählen eure Sprösslinge euch? Was erzählen sie nicht? Warum erzählen sie es euch nicht? Und nicht zuletzt, was brauchen diese Jugendlichen von ihren Eltern, also von euch?

Bei den Begegnungen mit Jugendlichen überrascht mich dabei immer noch am meisten, wie offen insbesondere die älteren Jugendlichen im Grunde sind. Auch wenn es ihnen schwerfällt, über eigene Erlebnisse zu sprechen, haben viele das dringende Bedürfnis, genau dies zu tun. Sie brauchen ein Publikum, um Erfahrungen zu verarbeiten und ihnen einen Sinn zu geben. Daher öffnen sich viele sehr schnell, wenn man ihnen Aufmerksamkeit und echtes Interesse entgegenbringt. Voraussetzung dafür ist jedoch ein Vertrauensverhältnis, das erst durch eine enge Verbindung aufgebaut werden muss und bei dem es oft wichtiger ist, wie man etwas sagt, als was man sagt.

Besonders wichtig ist bei solchen Gesprächen die Ehrlichkeit. Aufgesetztes Interesse werden die Jugendlichen immer entlarven. Erwachsene müssen sich darüber im Klaren sein, dass alles, was sie sagen, mit der Verbindung zusammenhängt, die sie zu dem jungen Menschen aufgebaut haben, und folglich auch mit Blick auf diese Verbindung interpretiert wird. Oftmals erleben Teenager eine Beziehung anders als Erwachsene, woraus sich zahllose Möglichkeiten für Missverständnisse ergeben. Gleichzeitig sind Jugendliche oft überraschend nachsichtig, solange sie das Gefühl haben, dass eine Beziehung dauerhaft auf ehrlichem Interesse und dem Wunsch zu verstehen basiert. In diesem Rahmen verfügen die Erwachsenen über einen Spielraum, in dem sie auch Fehler machen dürfen. Denn jeder macht im Umgang mit Jugendlichen Fehler. Auch ich mache immer noch jeden Tag Fehler.

Darüber hinaus war ich überrascht, dass die heutigen Jugendlichen ihre eigenen Gedanken und Gefühle sprachlich viel besser ausdrücken können, als dies in meiner Generation der Fall war. Sie haben mehr Erfahrung im Teilen als frühere Generationen, weshalb ihnen dies viel selbstverständlicher erscheint. Überraschenderweise gilt dies auch für Jungen. Sie können und wollen über andere Dinge als Saufen und Fußball sprechen.

Auf die Frage, was die einzelnen Jugendlichen konkret erzählen, was sie uns mitteilen wollen, gehe ich später ausführlicher ein. Im ersten Teil meines Buches werde ich vor allem verdeutlichen, dass die Jugendlichen viel auf dem Herzen und noch mehr in ihren Köpfen haben.

Worüber sie mit mir allerdings nie sprechen, sind ihre sexuellen Erfahrungen. Selbst von unschuldigen Küssen erzählen sie mir nichts. Sogar die coolsten Jungs, die schon mit etlichen Mädchen etwas hatten, schweigen darüber. Dieses Thema ist zu peinlich, zu persönlich, auch wenn es das in Wahrheit eigentlich selten ist. Die Mädchen sprechen allenfalls mit ihrer Frauenärztin darüber, wenn es um Verhütungsmittel oder Geschlechtskrankheiten geht.

Die Eigenart, spezielle Informationen nur mit besonderen Personen zu teilen, ist typisch für Jugendliche. Mit einem Psychologen oder einer Psychologin reden sie über ihre Gedanken und ihre Gefühle, nicht aber über Sex. Mit der Frauenärztin reden sie zwar über Sex, aber nicht notwendigerweise über ihre Gedanken und ihre Gefühle. Mit Lehrkräften sprechen sie über Noten. Und mit den Eltern? Da kann man sich nicht sicher sein, dass sie überhaupt über irgendetwas sprechen. Welche Themen für ein Gespräch zu persönlich sind, hängt von der Rolle des jeweiligen Gesprächspartners ab sowie von den Erwartungen, die die Teens an eben diese Rolle knüpfen. Die Jugendlichen selbst können nur selten eindeutig sagen, warum dies so ist. Meistens erwidern sie dann, dass es sich richtig oder falsch anfühlt.

Oft frage ich die Jugendlichen, warum sie es mir so viel leichter machen, sie zu verstehen, als ihren Eltern. Ihre Antworten variieren – vorausgesetzt, ich bekomme überhaupt eine Antwort. Spontan sagen die meisten: „Keine Ahnung“, oder dass es sich falsch oder peinlich anfühlt, ihren Eltern etwas zu erklären. Als frisch ausgebildeter Psychologe dachte ich lange, dass das nur eine Masche sei, um sich um eine echte Antwort zu drücken. Doch wenn ich an meine eigene Jugendzeit zurückdenke, erkenne ich mich darin wieder. Ich wusste damals auch nicht, warum ich nicht mit meiner Mutter geredet habe. Ich hatte keinen Grund, nicht mit ihr zu sprechen, jedenfalls keinen, der die Sorgen, die ich ihr mit meinem Schweigen bereitet habe, im Nachhinein rechtfertigen könnte. Ich vermute, so ist es bei vielen. Dieses Schweigen muss nicht zwangsläufig eine Ursache haben. Es kommt einfach, und ist es erst einmal da, wird es leicht zur Gewohnheit, bei der durch die gegenseitigen Erwartungen ein schmerzhafter Teufelskreis entsteht, aus dem weder Kinder noch Eltern heraus finden.

Bei anderen Jugendlichen kann so ein Schweigen damit zu tun haben, dass sie das Vertrauen in die Erwachsenen verloren haben oder generell nicht mehr daran glauben, dass andere sie verstehen oder ihnen helfen können. Für Menschen und insbesondere für Teenager, die sich selbst und ihre eigenen Verhaltensweisen verstehen wollen, ist es unglaublich beängstigend, sich dem schmerzhaften Gefühl zu stellen, dass die anderen sie auch nicht verstehen. Denn dieses Gefühl bestätigt die verborgene Furcht, mit all dem Übel vollkommen allein zu sein. Gefühle zu offenbaren empfinden junge Menschen als bedrohlich, weil sie dadurch riskieren, bestätigt zu bekommen, dass die anderen sie wirklich nicht verstehen.

Bei Jugendlichen, die sich abschotten, kann der Drang zu schweigen noch zusätzlich verstärkt werden, weil ihnen eine Sprache fehlt, mit der sie anderen ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse mitteilen können. Deshalb wissen sie oft weder, was sie sagen sollen, noch, wie sie es sagen sollen, geschweige denn, wie andere auf ihre Gedanken und Gefühle reagieren werden. Für diese Teens ist alles unvorhersehbar und somit bedrohlich. Einem solchen Verlust der Vorhersehbarkeit folgt immer die Angst.

Zudem fürchten viele, von ihren Gefühlen überwältigt zu werden oder dass die Eltern das ihnen Anvertraute falsch auffassen oder nicht ertragen. Denn die wenigsten Teenager wollen eine Belastung für ihre Eltern sein, und einige haben Angst davor, dass alles nur noch schlimmer wird, wenn sie die Dinge, die sie beschäftigen oder beunruhigen, laut aussprechen.

”Jugendliche haben viele Gründe, gegenüber ihren Eltern oder anderen Erwachsenen zu schweigen.

Das bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass etwas nicht mit ihnen stimmt oder sie irgendwelche dunklen Geheimnisse haben, die nicht ans Licht kommen dürfen. Sollten sie Geheimnisse haben, handelt es sich dabei – als Ausnahme von der Regel – meistens um Dinge, die auszusprechen wehtun oder für die sie sich schämen, wie beispielsweise Einsamkeit, Mobbing oder der Bruch einer wichtigen Beziehung.

Wenn ich in meiner psychologischen Praxis nach einigen Vor- und Kennenlerngesprächen eine vertrauensvolle Basis zu den Jugendlichen aufgebaut habe und sie schließlich ein bisschen herausfordern kann, frage ich sie gern, was sie ihren Eltern am liebsten sagen oder verständlich machen würden. Nachdem ich ihre Antworten zusammengefasst habe, schließe ich für gewöhnlich die Frage an, was – nach ihrer Ansicht – wohl die beste Art wäre, ihren Eltern dies zu erzählen. Erst in der nächsten Sitzung frage ich weiter, was sie von ihren Eltern brauchen und wie diese auf all das reagieren sollen, was die Jugendlichen ihnen so gern verständlich machen würden.

Die Antworten hängen natürlich immer davon ab, wer vor mir sitzt, und variieren von Person zu Person und von Gespräch zu Gespräch. Doch einige Bedürfnisse und Wünsche tauchen dabei immer wieder auf, auch wenn sie nur selten laut ausgesprochen werden. Normalerweise bekomme ich erst einmal ausführlich erklärt, was die Jugendlichen alles nicht brauchen. Damit verraten sie mir bereits viel über die Themen und Bedürfnisse, die ihnen wirklich wichtig sind.

”Was Jugendliche nicht brauchen, sind Eltern, die die Probleme ihrer Kinder nicht sehen wollen und bewusst wegschauen oder die wenigen ausgesprochenen Worte nicht ernst nehmen.

Alles, was Teenager sagen, ist für gewöhnlich ernst gemeint, auch wenn es sich nicht so anhört oder einen anderen Eindruck vermittelt als das, was die Worte an sich ganz konkret aussagen. Und was die Jugendlichen absolut nicht brauchen, sind Eltern, die auf irgendeine coole Weise versuchen, Verständnis zu zeigen. Eltern sind nicht cool – nicht, wenn es nach ihren Kinder geht. Nicht einmal der große Held meiner Kindheit, David Beckham, ist für seine Teenagersöhne cool.

Ich sage Eltern immer, dass sie etwas falsch machen, wenn sie cool sind. Teenager brauchen keine coolen Eltern. Viel eher brauchen sie etwas langweilige Eltern, da langweilige Eltern häufig auch verlässliche und vorhersehbare Eltern sind, von denen die Kinder genau wissen, wo sie stehen. Cool zu sein, bedeutet, sich nicht wirklich anzustrengen. Eltern von Jugendlichen müssen sich aber immer wieder anstrengen, auch wenn sie dafür nur Ablehnung ernten. Es ist mit anderen Worten weder cool noch leicht, Vater oder Mutter eines Teenagers zu sein. In vielerlei Hinsicht ist es sicher wesentlich leichter, ihr Psychologe zu sein.

Teenageramnesie

Verständnisprobleme zwischen Jugendlichen und Eltern beruhen zumeist auf der Tatsache, dass ihr euch als Erwachsene nicht mehr daran erinnert, wie es war, als ihr selbst jugendlich gewesen seid. In diesem Punkt haben die Jugendlichen durchaus recht. Ihr als Eltern wisst nicht, wie sich eure Kinder fühlen. Die wenigsten Erwachsenen sind sich dieses Umstands allerdings bewusst, da sie sich an die eigene Jugendzeit häufig sehr lebhaft erinnern und sie zu diesen Bildern einen leichten Zugang haben. Unser ganzes Leben hindurch reisen wir in Erinnerungen und Träumen immer wieder in diese Jahre zurück.

In unseren Träumen sind wir allerdings nicht mehr dieselbe Person, von der wir träumen. Wir erinnern uns an unsere Taten und sehen wie in einem Film konkrete Szenen und Geschehnisse vor uns, allerdings gelingt es uns dabei nicht mehr, genau nachzuvollziehen, warum wir getan haben, was wir getan haben. Und somit wissen wir auch nicht mehr, wie wir es erlebt haben. Wir sind nicht mehr dieselbe Person, auch wenn wir es manchmal so empfinden. Diese Ambiguität macht es uns schwer, uns in die Empfindungen der Jugendlichen hineinzuversetzen. Als erfahrene Erwachsene verstehen wir unser jugendliches Selbst nicht mehr.

Der Begriff infantile Amnesie1 beschreibt das Phänomen, dass wir nicht in der Lage sind, uns an die Erlebnisse unserer ersten drei Lebensjahre zu erinnern. Niemand erinnert sich an seine eigene Zeit als Baby oder Kleinkind. Die infantile Amnesie wird häufig damit erklärt, dass das Hirn eines Kleinkindes noch nicht ausgereift genug ist, um Erlebnisse abzuspeichern, weshalb wir als Erwachsene nicht darauf zugreifen können. Eine andere Theorie geht davon aus, dass die Erinnerung daran, wie abhängig und hilflos man einmal war, eine nicht zu bewältigende Menge an Angst und Scham wachruft, vor der sich der eigene Geist durch Verdrängung schützt. Vor einigen Jahren habe ich mich gefragt, ob diese Mechanismen möglicherweise auch für die Jugendzeit gelten, wenn auch in abgeschwächter Form, sodass wir uns als Erwachsene einfach nicht mehr daran erinnern können, wie es war, Teenager zu sein.

Dieser Gedanke traf mich wie ein Schlag. Ich musste tief durchatmen, dann empfand ich plötzlich Scham. In den Augen der Jugendlichen, die wenig später zu mir in die Praxis kamen, spiegelte sich meine eigene Teenagerscham, dieses fürchterliche Gefühl, das ich entweder verdrängt oder einfach vergessen hatte.

Trotz alledem konnte ich diese Scham jedoch nicht richtig verstehen oder sie gar in Worte fassen. Ich konnte mich ganz einfach nicht mit ihr identifizieren. Scham entsteht oftmals durch das Empfinden besonderer Gefühle, die man aber nicht in Worte fassen kann oder will.

So geht es mir, wenn ich einem Jugendlichen zuhöre, der mit all dem kämpft, was ich damals selbst schwierig fand. Ich verstehe es zwar, ich verstehe die Scham darüber, anders zu sein, sich allein zu fühlen, davon überzeugt zu sein, dass niemand einen lieben kann, aber trotzdem gelingt es mir nicht, diese Gefühle so zu empfinden wie dieser Teenager. Möglicherweise ist es mir peinlich, mir eingestehen zu müssen, dass auch ich einmal so unreif und naiv war und gedacht habe, dass niemand mich jemals versteht. Vielleicht ist es mir zudem peinlich, dass einige der prägendsten Erfahrungen und wichtigsten Entscheidungen meines Lebens von einer genauso unfertigen und labilen Person getroffen worden sind.

Der Mensch, der ich geworden bin, und das Leben, das ich führe, sind zu einem gewissen Teil eine Folge der Entscheidungen eines naiven, krankhaft selbstzentrierten Emotionalen. Und genau dieser Junge hat damals die Richtung meiner ersten Schritte ins Erwachsenenleben bestimmt. Wie soll ich heute damit umgehen? Wie komme ich mit diesem Zufall zurecht? Die Antwort lautet: gar nicht. Stattdessen sollte ich anfangen, mich zu verteidigen, und nicht mehr von demjenigen sprechen, der ich war, sondern von dem, der ich bin.

Wenn ich also an meine Jugend zurückdenke, laufe ich daher als relativ selbstbewusster 30-Jähriger in löchrigen Chucks und der zerschlissenen Jeans durch die engen Flure der weiterführenden Schule in Jessheim. Aber eben nicht als der emotional labile Junge, der all seine Noten für einen Blick des Mädchens geopfert hätte, in das er heimlich verliebt war. Oder als der Sonderling, der immer in zu engen T-Shirts herumlief, selbst wenn es im Winter bitterkalt war, und der den heiß geliebten Familienhund gegen eine Party mit den coolen Älteren eingetauscht hätte. Dieser Junge existiert nicht mehr. Das bin ich nicht mehr, nicht einmal in meiner Erinnerung, ja nicht einmal in meinen Träumen.

Das ist vermutlich einer der Gründe, warum es für uns Erwachsene so schwierig ist, Jugendliche zu verstehen.

”Wir können uns nicht mehr in unser Selbst aus einer anderen Zeit hineinversetzen.

Stattdessen versuchen wir, die Jugendlichen aus Sicht unseres erwachsenen Ichs zu verstehen, also aus Sicht eines hoffentlich selbstbewussteren, gefestigteren Menschen.

Zudem tappen wir oft in die Falle, den Teenager über das süße Kind verstehen zu wollen, das sie einmal waren. Das Kind, zu dem wir einen besseren Draht hatten und das wir besser verstanden. Dabei ist die Teenagerzeit nur ein flüchtiger Zustand, der im Grunde nur aus dem ganz eigenen Blickwinkel der Jugend heraus zu verstehen ist. Sie ist ein Balanceakt zwischen Kindheit und Erwachsenenleben, bei dem so widerstrebende Bedürfnisse wie das nach Nähe und das nach Abstand aufeinandertreffen.

Weil wir jedoch solche Schwierigkeiten haben, uns an die Gefühle unserer eigenen Jugend zu erinnern, ist die logische Folge, dass wir nicht in der Lage sind, den Jugendlichen zu erzählen, wie es uns in dieser Zeit selbst ergangen ist, welche Fehler wir gemacht haben und wie wir darüber hinweggekommen sind. Ich frage die Heranwachsenden in meinen Stunden oft, wie sie mit ihren Eltern über das Jungsein sprechen:

Was weißt du darüber, wie es deinen Eltern ging, als sie in deinem Alter waren? Ging es ihnen ähnlich? Hatten sie vielleicht dieselben Probleme und Schwierigkeiten wie du? Glaubst du, dass sie sich in einigem von dem, was dich beschäftigt, wiedererkennen würden?

Für gewöhnlich erwidern die Teens, dass ihre Eltern ziemlich wenig über die eigene Jugend erzählen. Sie reden häufiger über ihre Kindheit und ihr Studium, und wenn doch einmal die Teenagerzeit zur Sprache kommt, reden sie mehr darüber, wie es war, und nicht darüber, wie sie sich gefühlt haben. Sehr wenige der Jungen und Mädchen in meiner Praxis glauben, dass ihre Eltern ihre eigene Jugend als ebenso problematisch empfunden haben wie sie selbst. Das wiederum hat zur Folge, dass sich die Jugendlichen häufig mit ihren Erfahrungen und Fragen allein gelassen fühlen. Sie bekommen keine Antworten auf das, was sie am meisten beschäftigt, nämlich ob und wann diese schwierige Zeit endlich vorbei ist, und was dann geschieht:

Wird das irgendwann besser? Geht das immer so weiter?

Eigentlich sollten alle einen älteren Bruder oder eine ältere Schwester haben, junge Menschen, die einem etwas über die kommende Zeit sagen können. Denn wenn es nicht einmal den Eltern so ergangen ist wie einem selbst, glaubt man schließlich immer weniger daran, dass man bei anderen auf Verständnis stoßen kann. Und das hemmt noch mehr, sich anderen anzuvertrauen. Es tut weh, nicht verstanden zu werden, vor allem, wenn man sich nicht einmal selbst versteht. Die Jugendlichen bleiben mit ihren schwierigen Gedanken und unbeantworteten Fragen allein. Dabei könnten wir diese Fragen ziemlich einfach beantworten:

Ja, es geht vorbei. Es wird nicht immer so weitergehen. Es ist normal, dass man sich als Teenager schlecht fühlt. Es ist, glaub es oder nicht, die Zeit im Leben, in der die meisten Menschen unglücklich sind. Das ist aber nicht gefährlich.

Allerdings kann das, was ihr als Eltern über vergangene Zeiten erzählt, bei den Jugendlichen völlig unbeabsichtigt als Kritik ankommen. Die Teens könnten denken, dass sie keinen Grund für ihre Gefühlslage haben und sich einfach zusammenreißen sollten. Denn früher war ja alles schwieriger, Und gleichzeitig auch viel besser. Jede Zeit hat ihre eigenen Herausforderungen, aber das versteht man erst, wenn man schon ein paar Jahrzehnte hinter sich hat.

Teenager begreifen das häufig nicht, so wie sie auch nicht glauben, dass ihre Eltern ihr Gefühlschaos verstehen können. Oftmals kommt es dann zu dem Missverständnis, dass die Jugendlichen glauben, ihre Eltern meinten, dass sie nicht das Recht haben, sich schlecht zu fühlen, und sich einfach nur zusammenreißen müssen. Die Jugendlichen verstehen nicht, dass wir manchmal Witze machen, wenn wir sie bitten, doch einfach mal vor die Tür zu gehen und Holz zu hacken. Jugendliche verstehen selten, dass auch Erwachsene ironisch sein können.

Einen ähnlichen, ebenso unbeabsichtigten Effekt kann es haben, wenn Eltern ihre Jugendlichen zu früh mit konkreten Lösungen für die Herausforderungen des Alltags konfrontieren. Aus den vielen Gesprächen mit den Teens habe ich gelernt, dass sie nur selten konkrete Lösungen für konkrete Probleme wollen. Viel größer ist ihr Bedürfnis nach Verständnis und Fürsorge. Sie benötigen eine Bestätigung dafür, dass ihr Gefühlschaos völlig in Ordnung ist und dass immer jemand für sie da ist. Wenn sie in einer solchen Situation nur mit konkreten Lösungsvorschlägen konfrontiert werden, fühlen sich viele nicht ernst genommen. Sie glauben dann, dass wir Erwachsenen ihre Probleme entweder nicht verstehen oder bagatellisieren.

Abgesehen von diesen Missverständnissen deuten einige Jugendliche das elterliche Verhalten so, als würden die Eltern es nicht ertragen, dass ihre Kinder Schwierigkeiten haben, und als ob sie diese Probleme deshalb am liebsten unter den Teppich kehren würden. Was dann wiederum zu dem falschen Schluss führt, dass die Eltern einen nur ertragen, wenn es einem gut geht.

So können Jugendliche Liebe und Fürsorge als etwas erleben, das sie nur bekommen, wenn es ihnen gut geht. Wenn es mir gut geht, sind Mama und Papa zufrieden mit mir. Geht es mir nicht gut, wollen sie mich verändern. Ausgehend von dieser Einstellung ist es nicht mehr weit bis zu der Annahme, dass die Eltern einen nur dann lieb haben, wenn es einem nicht schlecht geht. Sobald ich als Erwachsener daran zurückdenke, kann ich kaum glauben, dass auch ich so empfunden habe. Das Ganze kommt mir schon fast unnatürlich vor. Habe ich wirklich nicht verstanden, dass meine Eltern mich auf jeden Fall geliebt haben?

In den Gesprächen mit den Jugendlichen müssen all diese – möglichen – Fallgruben berücksichtigt werden.

”Die Jugendlichen erleben die Welt anders, als wir dies tun, und wir als selbstbewusste Erwachsene können uns nicht mehr vollständig in ihre Erlebniswelt hineinversetzen.

Das dürfen wir nie vergessen.

Nur über das Wenige, das die Jugendlichen mit uns teilen, bekommen wir einen Zugang zu ihren Gedanken und Gefühlen. Alles andere ist die erwachsene Interpretation einer Erlebniswelt, die alles andere als erwachsen ist. In der Welt der Jugendlichen sind wir dumm. Deshalb brauchen sie ehrliches Interesse und echte Neugier.

Abschließend will ich kurz darauf eingehen, welche Folgen all diese Erkenntnisse für mich als Psychologen in der Begegnung mit Jugendlichen haben. Ich hoffe, daraus einige Gedanken ableiten zu können, wie ihr selbst auf die jungen Leute zugehen könnt. Wenn ich Teenager kennenlerne, ist es für mich wichtig, dass die Erfahrungen, die ihre Eltern mit ihnen gemacht haben, außen vor bleiben. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass mein Beitrag nur auf den Erlebnissen basieren kann, die ich mit den Jugendlichen gemacht habe, durch die Gespräche mit ihnen, ihren Fragen, meinen Antworten, ihren Zusammenfassungen und unseren wilden Deutungen. Genau das teile ich den Jugendlichen auch mit.

”Im Umgang mit Jugendlichen muss man immer ehrlich sein, auch was die eigenen Grenzen angeht.

Ich nutze in meinen Sprechstunden sehr oft das Mittel der Zusammenfassung. Immer wieder resümiere ich, was sie mir erzählt haben, und begründe das damit, dass ich nur so sicher sein kann, dass ich die Situation richtig verstehe und den Faden nicht verliere. Wenn ich etwas zusammenfasse, versuche ich, so oft wie möglich ihre eigenen Worte zu benutzen. Sie sollen ihre Ausdrucksweise wiedererkennen und sicher sein, dass wir die Dinge auf dieselbe Weise benennen und verstehen. Sollte das nicht der Fall sein, müssen sie mich korrigieren. So vermittele ich, dass ich wenigstens versuche, sie zu verstehen, auch wenn kein Erwachsener Jugendliche wirklich verstehen kann.

Nur selten biete ich konkrete Lösungen an, da es den meisten Jugendlichen viel wichtiger ist, Verständnis zu bekommen. Dies mache ich auch bei denen, die anfangs nach Lösungen fragen. Wenn wir uns kennenlernen, ist es wichtig, dass die Jugendlichen mich als jemanden wahrnehmen, mit dem sie reden können. Solange sie sich etwas weniger allein fühlen, kommt es gar nicht mehr auf schnelle Lösungen an. Außerdem ist es für jeden Menschen viel befriedigender, selbst eine Lösung zu finden.

”Es geht viel mehr darum, gute Fragen zu stellen, als gute Antworten zu geben.

Wenn ich Fragen stelle, erkläre ich, warum ich diese Frage stelle, und präzisiere, dass es für mich in Ordnung ist, wenn nicht alle Fragen beantwortet werden. Die Jugendlichen dürfen meine Frage auch unbeantwortet lassen. Sie müssen das Gefühl haben, die Kontrolle2 zu behalten, denn nur so fühlen sie sich sicher. Versuche ich mich an einer meiner wilden Erwachseneninterpretationen, präzisiere ich, dass ich eigentlich nur rate und sie mir sofort sagen sollen, wenn sie sich darin nicht wiedererkennen. Oder nur ein bisschen, aber eben nicht ganz. Im Grunde fordere ich sie damit auf, uneins mit mir zu sein und mir zu widersprechen.

Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen will ich ihnen zeigen, dass Uneinigkeit nicht gefährlich ist. Es ist sehr gut möglich, nicht einer Meinung zu sein, ohne dass das in Streit oder Beschimpfungen ausartet. Das ist ein extrem wichtiger Lernprozess, weil es das Reden und die Ehrlichkeit einfacher macht. Zum anderen ist es entscheidend, dass die Jugendlichen sich nicht bedrängt fühlen und die Definitionsmacht über ihre eigenen Erfahrungen behalten. Es geht ihnen, wie es ihnen geht, und das ist ihr gutes Recht. Sie sind es, die diese Erfahrungen machen, und ich versuche nicht, ihre Wahrnehmung zu verändern, außer sie wünschen das selbst. Es ist nicht schlimm, uneinig zu sein, solange man offen über diese Uneinigkeit sprechen kann.

Um Nähe zu Teenagern aufzubauen, müssen wir als Erwachsene versuchen, den Jugendlichen die Entscheidung zu überlassen, wie weit sie sich nähern wollen, während wir ruhig an unserem Ausgangspunkt stehen bleiben. Wir müssen da sein und echtes Interesse zeigen, auch wenn wir meistens zu starr und verbohrt sind, um irgendetwas richtig zu verstehen. Die Jugendlichen begreifen, dass wir sie nicht verstehen. Und sie verzeihen uns das, solange sie das Gefühl haben, dass wir es trotzdem versuchen und offen sind für die Dinge, die wir nicht verstehen.

Das Projekt Jugend

Die Teenagerjahre sind eine merkwürdige Zeit. In dieser Phase schwanken die Menschen zwischen den Extremen. Mal wollen sie noch Kind sein und dann wieder erwachsen, etwa so wie Britney Spears es in ihrem Song „I’m Not a Girl, Not Yet a Woman“ vor Jahren besungen hat. Damals war ich allerdings noch zu jung, um verstehen zu können, was sie meinte. Heute betrachte ich die Teenagerzeit als eine unscharf abgegrenzte Periode, in der wir bewusst oder unbewusst experimentieren, indem wir zwischen unseren Entwicklungsschritten und Reifegraden hin- und herswitchen, bis wir eines Tages plötzlich erkennen, dass wir erwachsen sind.

Für mich kam dieser Tag erst, als ich wieder mit Jugendlichen sprach. Erst da begriff ich, dass ich nicht mehr wie ein Jugendlicher dachte, und das vermutlich schon seit mehr als acht Jahren. Und da erst erkannte ich auch, dass mir der direkte und persönliche Zugang zu ihrer inneren Logik versperrt war.

Diese Erfahrung können vermutlich viele Eltern bestätigen. Sie machen sie häufig in dem Moment, in dem sie mit Schrecken erkennen, dass sie ihr eigenes Kind nicht mehr verstehen und die Kommunikationskanäle sich immer weiter verschließen. Weil wir keinen Zugang mehr zu unseren eigenen Teenagergefühlen haben, kommen uns die Heranwachsenden mit einem Mal fürchterlich irrational vor. Wir sind einfach nicht mehr in der Lage, sie zu verstehen. Und wenn wir etwas oder jemanden nicht verstehen, bekommen wir selbstverständlich Angst, besonders, wenn es um das eigene Kind geht. Dieses Gefühl aber erschwert es weiter, die Jugendlichen zu verstehen, da Angst den eigenen Fokus einschränkt und damit die Fähigkeit zur Empathie3 begrenzt. Bei den meisten von uns führt das dazu, dass wir automatisch versuchen, in die Rolle des anderen zu schlüpfen. Aber im Umgang mit Jugendlichen ist das für Erwachsene nur selten eine gute Strategie. Auf diese Weise versuchen wir nämlich nur, den Jugendlichen aus unserer Erwachsenen-Perspektive zu verstehen, und greifen dabei auf unsere Fähigkeiten zu organisieren, zu interpretieren und die Welt um uns herum zu analysieren zurück.

Zunächst müsst ihr eins verstehen: Teenager sind noch keine Erwachsenen. Ihre Logik erscheint uns deshalb nicht notwendigerweise als sinnvoll. Das heißt aber nicht, dass Heranwachsende grundsätzlich irrational sind, sondern lediglich, dass ihre Rationalität anderen Gesetzen und Regeln folgt als denen, die wir als Erwachsene anwenden. Als Erwachsene müsst ihr die Teenager besser kennenlernen, um zu verstehen, warum sie auf eine bestimmte Art handeln oder reagieren.

”Die Wahrnehmung der Jugendlichen ist ein buntes Chaos.

Um das zu begreifen, müsst ihr erst die Person genauer kennen, die dieses Chaos organisiert und erschafft. Erst dann bietet sich euch die Möglichkeit, eure Teenager und ihr Leben zu verstehen.

Meistens konzentriert sich Letzeres in erster Linie darauf, rein physisch den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens zu überleben. Meistens geht es den Jugendlichen einfach darum, den Tag mental zu überstehen und dabei die eigene Würde, das eigene Selbstwertgefühl4 gegen Angriffe von außen und vor der Scham zu schützen. Gleichzeitig versuchen sie, ihren Erfahrungen Sinn und Logik zu verleihen. Gerade dieser letzte Punkt fällt ihnen schwer, da sich der eigene Standpunkt ständig verändert.

”Die Teenagerzeit ist die Phase im Leben, in der die Jugendlichen die geringste Fähigkeit besitzen, erlebte Gefühle zu regulieren, man nennt diese Fähigkeit Emotionsregulation5.

Der Prozess des Erwachsenwerdens ist also schwierig und schmerzhaft. Und diese Wachstumsschmerzen stecken nicht nur im Körper.

Um die Motivationen, Entscheidungen und das scheinbar irrationale Verhalten der Jugendlichen zu verstehen, müsst ihr zunächst einmal wissen, wie sie sich selbst und ihr Selbstwertgefühl gegen Angriffe von außen schützen. Das Wissen um die Grundpfeiler ihres Selbstwertgefühls ist dafür sehr wichtig. Wenn ich in den verschiedenen Klassen der weiterführenden Schulen die Jugendlichen frage, was für ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstakzeptanz am wichtigsten ist, vermuten sie, dass für andere der eigene Körper und die Schule am wichtigsten sind, für sie selbst ist jedoch das soziale Umfeld wichtiger als ein Six-Pack oder gute Noten. Der soziale Status, die soziale Identität und die Gruppenzugehörigkeit beeinflussen das Verhalten der Jugendlichen am stärksten.

Das heißt allerdings nicht, dass Noten und Aussehen nicht auch für das Selbstwertgefühl von Bedeutung sind. Diese Punkte sollten wir aber eher als Schritte auf dem Weg zu der angestrebten Zugehörigkeit ansehen. Sie fungieren als Türöffner für den Zugang zu verschiedenen Gruppen. Denn um in manche Peergroups hineinzukommen, muss man schön oder klug sein, oder sogar beides.

”Jugendliche definieren ihren Wert über die Menschen in ihrem Umfeld.

Deshalb scheint die Gruppenzugehörigkeit für viele die wichtigste Säule zu sein, auf die sich ihr Selbstwertgefühl stützt. Klug und schön zu sein, kann die Bedingung für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sein, für andere Gruppen muss man beispielsweise böse, „slutty“ (also eine Schlampe), oder rebellisch sein. Wesentlich ist, dass Jugendliche ihr Selbstwertgefühl stärken, indem sie Mitglied in bestimmten sozialen Gruppen werden. Jugendliche sind buchstäblich so wie die, mit denen sie Umgang pflegen.

Damit setzen sich Jugendliche natürlich in hohem Maße einem Gruppenzwang6 aus, auch wenn sie das nur selten direkt aussprechen, weder in den Gruppen selbst noch nach außen. Gemeinsam entwickeln sie eine Gruppenidentität mit klaren Erwartungen an die Mitglieder der Gruppe. Mit jemandem in einer Gruppe zu sein, heißt, wie jemand zu sein. Die Alternative dazu fühlt sich für viele einfach nur an, wie ein Niemand zu sein. So ein Niemand zu sein, ist jedoch die größte Angst vieler Jugendlicher. Damit genau das nicht passiert, opfern sie bereitwillig Noten, persönliche Werte und familiäre Bindungen.

Aus dieser Perspektive betrachtet ist es auf einmal gar nicht mehr so verwunderlich, wenn Jugendliche, die bisher anscheinend keine Probleme hatten, sich plötzlich in einen Bad Boy verwandeln und sich prügeln, nur um Mitglied der richtigen Clique zu werden. Vor allem am Ende der Schulzeit sind diese Cliquen das sichtbarste Zeichen für Zugehörigkeit und sozialen Status. Man ist so wie die anderen in einer Clique, und findet man dort keine Aufnahme, steigt die Furcht, als ein Niemand zu enden. Also baut man lieber Mist, prügelt sich und „erkauft“ sich einen Platz, auch wenn das eigentlich gar nicht zu den eigenen Normen und Erwartungen passt. Alles ist besser, als ein Niemand zu sein. Das dürfen wir Erwachsenen nicht vergessen, sobald wir mit Jugendlichen zu tun haben, die die in sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen. Für einige kann es eben keine Alternative sein, an dem Tag, an dem die Freunde zum ersten Mal kiffen, als einziger nicht dabei gewesen zu sein. Und wer will schon mit dem befreundet sein, der die anderen im Stich gelassen hat, als es Streit mit den Idioten aus der anderen Gruppe gab? Wenn ein Mädchen sich nicht als Bitch inszeniert und keine Nacktfotos von sich an ältere Jungs schickt, kann das für sie heißen, dass sie als die „Spaßbremse“ abgestempelt wird und deshalb allein bleibt.

Für Erwachsene ist das unverständlich. Wer zwingt schon seine Freundinnen, es mit einem Jungen zu treiben, um in irgendeiner Gruppe aufgenommen zu werden? Und wer gibt diesem Druck nach, der streng genommen so etwas wie Zwangsprostitution ist? Leider lautet die Antwort in beiden Fällen: Jugendliche. Denn ganz normale Jugendliche fühlen sich bei dem Versuch, ihr eigenes, brüchiges Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, gezwungen, jeden Tag ihre eigene Grenze zu überschreiten. Die Teenager müssen das tun, was die anderen in ihrem Umfeld tun, und leider werden die Normen und Regeln ihrer Clique häufig von deren extremsten Mitgliedern aufgestellt.

Zu welcher Gruppe die Heranwachsenden dazugehören wollen, hängt in hohem Maße davon ab, in welche Gruppe sie hineinkommen können. Aus Angst vor Ablehnung unternehmen viele gar nicht erst den Versuch, in eine Gruppe zu kommen, die ihnen die kalte Schulter zeigen könnte. Folglich suchen sie sich Gruppen, die den eigenen, sozialen oder körperlichen Voraussetzungen entsprechen. Einige Jugendliche sind hübsch, andere klug, wieder andere weder das eine noch das andere.

”Selten wird die Welt so hierarchisch erlebt wie in den Teenagerjahren.

Die Heranwachsenden müssen mit den Karten spielen, die sie bekommen haben. Sie müssen sich ihre Identität rund um die eigenen Stärken schaffen.

Aber nichts ist dümmer, als gegen verschlossene Türen anzurennen. Wer sich offensichtlich Mühe gibt, muss auch erfolgreich sein. Alle anderen brauchen eine gute Entschuldigung. Und die beste Entschuldigung von allen ist, dass einem alles egal ist. Besonders ausgeprägt ist diese Einstellung bei Jungs. Sie bringen nur selten die Leistung, die sie schaffen könnten, außer sie sind sich sicher, dass es klappt. Für einen Jungen ist es eine größere Niederlage, mit viel Arbeit eine Drei zu schaffen, als durch Schwänzen eine Fünf zu kriegen. Besser man versucht es gar nicht erst, als mit Mühe nur ein Mittelmaß zu erreichen. Es ist ein Mythos, dass nur Mädchen Angst vor Misserfolg haben. Für ein Mädchen mit Prüfungsangst7 sitzen in jeder Klasse drei megacoole Jungs, die das eigene Lernen bewusst sabotieren aus Furcht, sich zu blamieren. Die coolen Jungs schützen damit ihr Selbstwertgefühl.

”Es ist viel cooler, faul als dumm zu sein.

Auch Zorn gibt Jungen viel mehr Sicherheit, als Angst zu haben – aber darauf gehe ich in dem Kapitel über »Die Bad Boys« (s.S.62) noch ausführlich ein.

Jugendliche arbeiten also gleichzeitig daran, ihr Selbstwertgefühl zu schützen und ihren eigenen Erfahrungen Sinn zu verleihen. Dies ist ein dynamischer Prozess, da die Jugendlichen sich ja ständiger weiterentwickeln. Durch die fortwährende Veränderung müssen ihnen aber ihre Erfahrungen immer ziemlich chaotisch vorkommen. Und in diesem Chaos versuchen sie, Sinn und Stabilität zu finden.

Wenn sie diesen Zustand selbst in Worte fassen sollen, sagen die Teens gern, dass alles um sie herum total chaotisch ist oder „brodelt“. Sobald das eigene Umfeld nicht vorhersehbar ist, antworten Gehirn und Körper mit Angst, weshalb die meisten von uns automatisch nach dem Bekannten und Vorhersehbaren streben, um diese Angst zu reduzieren. Jugendliche, für die soziale Beziehungen von Natur aus sehr wichtig sind, provozieren daher vorhersehbare Reaktionen bei anderen.

Das trägt nicht selten unglückliche und anscheinend irrationale Früchte, denn es führt häufig dazu, dass die Jugendlichen negative Bestätigungen suchen, die mit ihren früheren Erfahrungen übereinstimmen. Die Teenager sind es vielleicht gewöhnt, mit Eltern und Lehrkräften in Streit zu geraten. Diese Konflikte werden zwar als negativ erlebt, gleichzeitig sind sie aber vertraut und damit sicher und vorhersehbar. Für einige Jugendliche ist es viel beängstigender, auf positive Bestätigung zu stoßen als auf eine negative Reaktion. Mitunter sind die Heranwachsenden wahre Experten für Konflikte, während ihre anderen sozialen Fähigkeiten nur begrenzt sind. Vielleicht wissen sie nicht, wie sie auf Lob reagieren sollen, vielleicht haben sie Angst davor, mit neuen, unbekannten Erwartungen konfrontiert zu werden. Da ist es einfach sicherer, einen Streit zu provozieren.

Paradoxerweise sind dieselben Mechanismen für extrem unterschiedliches Verhalten verantwortlich. Die Bandbreite reicht von übertrieben ausgelebter Sexualität über Drogen oder auffälliges Verhalten in der Schule bis hin zum direkten Gegenteil, nämlich der zu starken und vollkommen einseitigen Fokussierung auf Schulerfolg oder Sporttraining. Jugendliche schützen ihr Selbstwertgefühl mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, und schaffen daher immer wieder die Situationen, die sie kennen und in denen sie sich sicher fühlen. Auch wenn das häufig zu nicht nachvollziehbaren Reaktionen und Handlungen führt, steckt dahinter fast immer eine unbewusste Logik, auch wenn diese im Gespräch mit Erwachsenen nur selten offenbart wird. Denn dafür ist das Thema viel zu unangenehm und mit Scham belastet.

Jugendliche erleben es als peinlich, verletzlich zu sein und von den Bestätigungen der anderen abzuhängen. Täglich werden sie mit dieser Abhängigkeit konfrontiert, aber was sollen sie dagegen tun? Wenn die Alternative Einsamkeit heißt, gibt es keine freie Entscheidung mehr, denn das einzige, was noch beschämender ist als Einsamkeit, ist der Versuch, etwas daran zu ändern. Ist man einsam, muss man das verbergen, und so tun, als würde man das selbst wollen, und dabei möglichst cool und abweisend wirken. Auf keinen Fall darf man darüber reden, mit niemandem. Das ist zu beklemmend, denn so würde man ja zugeben, dass man auf dem wichtigsten Schlachtfeld – dem sozialen nämlich – ein Loser ist. Am Ende ihrer Teenagerzeit beschrieb ein Mädchen mir einmal das Gefühl, sich die eigene Einsamkeit einzugestehen, sei wie in Scham zu ertrinken. Ihre ganze Teenagerzeit hindurch hat sie gekämpft und sich abgestrampelt, um nicht in dieser Scham unterzugehen.

Auch wenn die wenigsten ihre Teenagerzeit so drastisch beschreiben, erkennen sich doch viele Jugendliche in dem Gefühl wieder, wie verrückt für ihr Überleben kämpfen zu müssen.

”Die Teenagerjahre sind in vielerlei Hinsicht ein Kampf.

Die wenigsten von uns kraulen elegant von der Kindheit ins Erwachsenenleben, die meisten strampeln und rudern mit den Armen, um den Kopf über dem dunklen Wasser aus unkontrollierbaren und überwältigenden Gefühlen zu halten und das weit entfernte Ufer nicht aus dem Blick zu verlieren. Und irgendwann sind sie da – ganz plötzlich sind sie erwachsen und stehen auf dem trockenen Land. Denken wir Erwachsene heute daran, dass wir plötzlich festen Boden unter den Füßen hatten, wird klar, dass schon einige Zeit vergangen ist, seit wir das rettende Ufer erreicht haben.

Doch während die Jugendlichen im Wasser strampeln, müssen sie zu sich selbst finden und Entscheidungen fällen, die sie später ans richtige Ufer bringen. Es ist eine Reise voller Fallstricke und Untiefen, und oft denke ich, dass es an ein Wunder grenzt, wenn jemand da gut durchkommt, und dass er irgendwo unterwegs eine Rettungsboje gefunden oder von jemanden eine Schwimmweste bekommen haben muss. Solche Schwimmwesten ziehen Jugendliche aber nur selten freiwillig an. Sie wollen auf ihre ganz eigene Weise zu sich selbst finden, auch wenn sie dabei den meisten Idolen und Idealen mit einer solchen Leidenschaft folgen, zu der sie sich später als Erwachsene nicht mehr bekennen können. Zu diesen Idolen gehören nur selten die Eltern oder andere ihnen nahestehende Menschen. Diese fungieren eher als notwendige Referenzpunkte, zu denen sie Abstand gewinnen wollen. Die eigene Identität entwickelt sich, indem man sich von den Menschen, die einem am nächsten sind, löst. Erst wenn man die 30 überschritten hat, kann man sich eingestehen, dass man der Sohn vom Vater oder die Tochter der Mutter ist. Ab dann brauchen die eigenen Eltern keine Rettungswesten mehr für einen selbst bereitzuhalten.

So habe auch ich lange darauf beharrt, dass ich mich total von meinem Vater unterscheide. Dadurch wollte ich meine eigene Identität unterstreichen. Ich musste erst 29 werden, um mir von meinem Vater erklären zu lassen, wie man die Reifen seines Fahrrads flickt. Bis dahin bin ich lieber mit platten Reifen gefahren.

Wann wurden wir Eltern so dumm?

Eltern von Jugendlichen mutieren oftmals über Nacht von allwissenden Superhelden zu den peinlichsten Wesen der Welt. Die Jugendlichen distanzieren sich mit einem Mal von den Menschen, zu denen sie als Kind aufgesehen und bei denen sie Schutz gesucht haben. Dies geschieht den meisten Eltern, dennoch ist die Erkenntnis, plötzlich abgelehnt und aus dem Leben derjenigen ausgeschlossen zu werden, die man am meisten liebt, nicht weniger schmerzhaft. Automatisch denken Eltern, dass etwas nicht stimmt oder sie etwas falsch gemacht haben. Es muss etwas vorgefallen sein, aber nur selten war es etwas, was sie gesagt oder getan haben. Es ist kein Fehler, dass sie so dumm und engstirnig sind, diese Rolle müssen Eltern einfach irgendwann einnehmen. Früher oder später werden wir in den Augen unserer jugendlichen Kinder alle peinlich. Das gehört zur Wandlung in der Wahrnehmung vom eindimensionalen Superhelden zum ganzen Menschen. Die Alternative wäre, für den Rest unseres Lebens in den reduzierten Rollen als Elternteil oder Kind zu verharren.

Ich bin der Meinung, dass wir uns erst dann richtig kennenlernen können, wenn das enge Band aus gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Eltern und Kindern gelockert wird. Erst dann werden wir für unser Kind zu einem Menschen, und unser Kind für uns selbst zu einem eigenständigen Erwachsenen. Häufig kann dieses Band aber nur langsam, Stück für Stück, gelockert werden, weshalb die Jugendlichen immer wieder mit der Loslösung experimentieren. In den Teenagerjahren neigen viele Jugendliche dazu, übertrieben weit auf Abstand zu gehen, um sich dann später, im Übergang zum Erwachsenenalter, wieder an die Eltern anzunähern.

Der Moment, von dem aus man sich als Menschen richtig kennenlernen kann, ist allerdings immer noch geprägt von ziemlich stereotypen Rollen, in denen eigentlich niemand er oder sie selbst sein kann. Eltern sind in erster Linie Vater oder Mutter ihres Kindes, wie das Kind eben Sohn oder Tochter ist. Die Personen, die ihr bei der Arbeit seid, wo ihr euch mit anderen Erwachsenen umgebt und ihr die Hauptperson eures eigenen Lebens seid, gibt es für eure Kinder oder Jugendlichen nicht. Auch noch für eure Teens bleibt ihr vor allem Mama oder Papa.

Für die Jugendlichen spielen wir nur eine Nebenrolle, wir sind diejenigen, die immer alles regeln.

”Für Teenager haben Erwachsene kein eigenes Leben.

Das ist auch nicht verwunderlich, da wir uns selbst zurücknehmen, um uns um unsere Kinder zu kümmern. Für eine gewisse Zeit sind wir dazu verdonnert, einfach als selbstverständlich hingenommen zu werden. Deshalb kann es für Jugendliche schwierig sein, in ihren Eltern mehr zu sehen als Eltern. Die Berufe der Eltern und auch deren Gefühle sind ihn gleichgültig. Wie könnt ihr denn verliebt sein oder Liebeskummer haben, wenn ihr doch nur für euer eigenes Kind lebt?

Für Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene ist die Erkenntnis, dass Papa oder Mama auch nur Menschen sind, immer angsteinflößend, und normalerweise reagieren sie auf diese Angst mit Aggression, weil das am sichersten ist. Es ist unangenehm, begreifen zu müssen, dass diejenigen, die man für Superhelden gehalten hat, ganz normale Menschen sind, die scheitern, zu kurz kommen oder sogar sterben. Die Welt wird auf einmal viel bedrohlicher, wenn es in ihr niemanden gibt, der einen retten kann.

Kindern kann es Sicherheit geben, einen Papa zu haben, der nie Angst bekommt, oder eine Mutter, die nie traurig ist. Eltern sind die Supermenschen. Zwischen Kindern und Eltern vermitteln diese klaren Rollen über viele Jahre ein Gefühl der Sicherheit, weil sie die Beziehung vorhersehbar machen.

”Auf lange Sicht führen diese Rollen aber zu einer Distanz, die verhindert, dass man sich richtig kennenlernt.

Die Rollen erlauben es weder der einen Seite, noch der anderen, verletzlich zu sein und als ganzer Mensch diese Beziehung zu gestalten.

Glauben deshalb so viele Menschen, dass sie ihren Vater nie richtig gekannt haben, weil er sein Leben hindurch immer nur ihr Vater geblieben ist? Weil er sich nie erlaubt hat, sich in der Beziehung als er selbst zu zeigen, sondern stattdessen in der sicheren Erzieherrolle verharrte?

Die Feststellung, dass das eigene Kind nicht mehr nur Kind ist, kann auch für die Eltern unangenehm sein, denn nun müssen sie einen heranwachsenden Mensch neu kennenlernen. Beide Seiten müssen sich in dieser Phase neu entdecken – und zwar als ganze Menschen. Für alle Beteiligten steckt darin die Angst vor Veränderung, die man auch als eine verborgene Angst vor dem Tod interpretieren kann. Solange alles so bleibt, wie es war, und wir an unseren Rollen festhalten, halten wir die existenziellen Ängste auf Abstand.

Deshalb greifen Jugendliche nur selten die elterlichen Rollen an, außer es geht um Grenzen oder Grenzziehungen. Teenager fühlen sich am sichersten, wenn die Eltern ihren Rollen treu bleiben und sie selbst weiterhin die Hauptrolle in ihrem eigenen Leben spielen dürfen. Denn es dreht sich alles um ihr Leben. Denn ihr Leben steht auf dem Spiel.

”Heranwachsenden fehlt die Fähigkeit zu begreifen, dass die anderen um sie herum auch Menschen sind, mit einem eigenen Leben, eigenen Gedanken und Gefühlen.

Wenn die Jugendlichen die Hauptrolle ihres eigenen Lebens einnehmen, spielen wir anderen folglich nur noch Nebenrollen oder werden sogar zu helfenden Statisten degradiert8. Die Jugendlichen interessieren sich nur selten für unser langweiliges Erwachsenenleben. Wir sind nur für sie da, um sie mal zu frustrieren, mal ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Außerhalb ihrer unmittelbaren Erfahrungswelt hören wir auf zu existieren. Das mag sich unsympathisch anhören, aber das war bei fast allen von uns so. Zum Glück können wir uns in späteren Jahren kaum noch daran erinnern. Ebenso schwer fällt uns die Erinnerung, wie wir als Jugendliche die Erwachsenen verstanden haben, dabei ist genau das der Schlüssel zu dem Verständnis, wie unsere Jugendlichen uns heute verstehen.