Im Kreis der 12 - Clemens Bittlinger - E-Book

Im Kreis der 12 E-Book

Clemens Bittlinger

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Beschreibung

 Die unterschiedlichen Persönlichkeiten des Jüngerkreises Jesu spiegeln menschliche Wesenszüge wider, die wir alle in verschiedenen Ausprägungen in uns tragen. Von Petrus' vorschneller Leidenschaft über Thomas' skeptischen Zweifel bis hin zu Judas' dunkler Seite des Verrats. Mit hohem Identifikationspotenzial besticht Clemens Bittlingers  Romandebüt durch seine feinfühlige Erzählweise aus der Perspektive Jesu und beleuchtet die klassischen biblischen Figuren auf völlig neue Weise. Bittlinger verwebt geschickt theologische Tiefe mit aktuellen Themen und öffnet damit den jahrhundertealten Stoff für Leser aller Glaubensrichtungen. 

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EPUB
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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Clemens Bittlinger

Im Kreis der 12

Ein spiritueller Roman

 

 

 

 

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2025

Hermann-Herder-Str. 4, 79104 Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Bei Fragen zur Produktsicherheit wenden Sie sich an

[email protected]

 

Als Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:

Die Bibel. Die Heilige SchriftDes Alten und Neuen Bundes.Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

 

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Flame of life / shutterstock

 

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, Timisoara

 

ISBN Print 978-3-451-60162-0

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-84026-5

 

 

 

 

Ich widme dieses Buch meinen treuen Weggefährten

Inhalt

Prolog

Spontanität: Petrus

Reichtum: der reiche Jüngling

Wahrheit: die Frau am Jakobsbrunnen

Selbstüberschätzung: Petrus

Mut: Petrus, die blutflüssige Frau und viele andere

Jammern und Beschweren: Wünstenzeiten, die Emmausjünger

Oberflächlichkeit: Petrus

Erschöpfung

Verrat

Erwartung und Hoffnung

Judas

Struktur und Verantwortung

Wut

Freundschaft

Wertschätzung und Hingabe: Maria von Bethanien

Freiheit

Johannes

Versuchung

Thomas

Zweifel

Gerechtigkeit

Jähzorn

Karrieredenken

Tränen: Maria Magdalena

Glaube, Liebe, Hoffnung: Maria, die Mutter

Marias Lobgesang

Genießen

Träume: Josef von Nazareth

Gewissenhaftigkeit: Paulus

Leidenschaft

Großzügigkeit

Der Netzwerker

Epilog

Literatur

Danksagung

Der Autor

Über das Buch

Prolog

„Nur du“, hatte einer gesagt, „nur du hast Worte des ewigen Lebens.“ Er schaute in die Runde und sah sie sich an, seine 12 letzten Follower. Er hatte seine Fans, die Menschen, die ihm begeistert bis hierhin gefolgt waren, mächtig vor den Kopf gestoßen, hatte von seinem Fleisch und Blut gesprochen, hatte dieses Bild verwendet, um ihnen zu sagen: Nur wenn ihr mich komplett einverleibt, könnt ihr mir weiter folgen. Das war eine Anspielung auf das letzte Mahl, das er mit seinen Jüngerinnen und Jüngern zu sich nehmen würde: Brot und Wein – Fleisch und Blut. Er hatte das Bild nicht aufgelöst, hatte sich nicht erklärt. Hatte den Ekel in ihren Augen gesehen und ihre abscheulichen Menschenfresser-Fantasien. Er hatte sie bewusst provoziert, denn er musste den Weizen von der Spreu trennen. Oberflächliches „Tollfinden“ und Schwärmereien konnte er nicht um sich haben. Er musste sich konzentrieren. Er wusste, ein langer und harter Weg lag vor ihm. Und er hatte keine Lust, sich zu erklären, noch nicht, noch wollte er ihnen dieses krasse Bild zumuten: Er hatte sich selbst als lebendiges Brot bezeichnet, ein Brot, das vom Himmel gekommen sei. Sehr bewusst hatte er dieses starke Bild gebraucht, denn Brot war das Lebensmittel schlechthin. In der Sprache der Ägypter bedeutete es sogar „Leben“. Somit hatte er sich als „das Leben“ zu erkennen gegeben, und zwar als das göttliche, das ewige Leben. Dann hatte er sich, sein Fleisch, als dieses Brot bezeichnet, ein Brot für das Leben der Welt. Das war schwer zu verstehen und sicherlich missverständlich. Natürlich regten sich die jüdischen Gelehrten fürchterlich auf: Wie soll das gehen? Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben? Und in dieser heillosen Verwirrung hatte er noch einen draufgesetzt: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am Jüngsten Tag.“ Kopfschüttelnd hatten sie sich abgewandt: „Was für ein ekelerregendes Bild, was für eine krasse Aussage. Diese Worte sind zu hart, wer kann, wer will das hören? Wer kann das verstehen?“, und sie hatten sich zurückgezogen: „Ja, geht ihr nur!“, hatte er sich gedacht. Manchmal müssen sich die Wege trennen. Manchmal muss man die alten Pfade verlassen. Und manchmal muss man deutlich machen, dass die alten Schubladen nicht mehr passen. „Ist das nicht der Zimmermannssohn Jesus aus Nazareth? Was maßt er sich an, wie redet er über sich selbst? Hat er den Verstand verloren?“ Nein, diese alten Bilder passten nicht mehr. Sicher, sie gehörten zu seiner Geschichte und seiner Vergangenheit, aber sie waren nicht die Attribute, die ihn heute bestimmten. Und deshalb hatte er nun auch den letzten verbliebenen 12 diese Frage gestellt. „Wollt ihr nicht auch gehen?“, doch Simon Petrus hatte geantwortet: „Wohin sollen wir gehen? Nur du hast Worte des ewigen Lebens!“ Dieses „Nur du“ hallte in seinem Kopf. Wer war er? Trug er nicht ganz viele Seiten, Eigenschaften und Persönlichkeiten in sich? Und fanden sich die besonderen Merkmale und Eigenschaften seiner Jünger nicht auch in ihm? War der Kreis der verbliebenen 12 nicht ein Abbild dessen, was er, ja was im Grunde jeder Mensch in sich trug? Er wusste, er war den Menschen ein Rätsel, deshalb hatte er auch begonnen, von sich selbst zu sprechen. In sieben prägnanten und poetischen Bildern hatte er sein Innerstes nach außen getragen und andere eingeladen, ihr eigenes Ich zu finden und mit seiner Hilfe zu identifizieren: „Wer bin ich?“

Spontanität: Petrus

Er schaute in die Runde und sah Petrus in die Augen. Wie viel Kraft und Mut, wie viel Elan steckte in diesem Mann? Trägt nicht jeder Mensch solch eine „Petrus-Seite“ in sich? Die Eigenschaft, die Dinge sehr schnell einzuordnen und sich weit aus dem Fenster zu lehnen und mitunter Dinge zu versprechen, die man nicht einhalten konnte – dafür stand Petrus. Dabei hatte alles so zaghaft angefangen. Petrus, Jakobus und Johannes, das waren die Ersten gewesen, die alles hatten stehen und liegen lassen, um mit ihm weiterzuziehen. Was für eine Verantwortung diesen aufrechten Fischern gegenüber. Doch schon bei der ersten Begegnung mit Petrus lernte er ihn schätzen als einen, der das Herz auf seiner Zunge trug. Damals, als er begann zu reden, als er seine wunderbaren Gaben entdeckte und sah, wie seine Worte direkt in die Herzen seiner Zuhörer trafen, kamen immer mehr Menschen zu ihm. Sie wollten ihn sehen und hören, diesen Mann aus Nazareth. Dicht an dicht standen sie um ihn, und hinter ihm war das Galiläische Meer. Zwei leere Boote am Ufer waren seine Rettung. Nicht weit von diesen leeren Booten saßen ein paar Fischer beisammen und flickten ihre Netze. Einer dieser Fischer war Simon Petrus und den bat er, mit seinem Boot ein wenig weg vom Ufer zu fahren. Von diesem Boot aus konnte er nun die Menschenmenge überblicken und zu ihr sprechen. So konnten alle ihn besser hören und sehen. Die Leute setzten sich hin und lauschten ihm, nur ihm und dem, was er ihnen im Namen Gottes mitteilen wollte und musste. Nachdem er seine Ansprache beendet hatte, wollte er Petrus für seine Hilfe belohnen und forderte ihn auf, zusammen mit seinen Helfern weiter weg vom Ufer zu fahren und nochmals die Netze auszuwerfen. Nun hatten sie ihre Netze gerade geflickt und gesäubert und offensichtlich nach ihrer Aussage die ganze Nacht vergeblich versucht, Fische zu fangen. Doch Petrus hatte gehört und gesehen, wie Jesus mit den Menschen gesprochen hatte, und war sichtbar schwer beeindruckt. „Nur du“, lautete seine direkte Antwort an ihn, den Fremden. „Wir haben die ganze Nacht nichts gefangen, aber nur weil du es sagst, werden wir es noch einmal probieren!“ Und dann war alles ganz schnell gegangen, sie hatten ihre Netze ausgeworfen und im Nu waren diese so prall gefüllt, dass sie fast gerissen wären. Völlig überrascht und begeistert riefen sie die anderen Fischer herbei, ihnen zu helfen, die fette Beute zu bergen. Bis zum Rand beladen fuhren die Boote behutsam ans Ufer, denn sie waren so voll, dass sie zu sinken drohten. Fassungslos und erschrocken bis ins Mark warf sich Petrus vor ihm nieder und rief: „Herr, geh weg von mir, ich bin ein ganz einfacher Mensch. Ich bin nicht besser als alle anderen!“ – „Hab keine Angst!“, hatte er ihm geantwortet – und das war ja eine seiner Grundbotschaften: „Fürchtet euch nicht! Lasst euch nicht beengen und bedrängen und am Leben hindern von eurer Angst! Lernt, angstfrei zu leben, ohne Angst den Menschen zu begegnen und ohne Angst in die Zukunft zu schauen. Jeder Tag hat doch seine eigenen Sorgen und die gilt es anzugehen, immer wieder neu, täglich!“ Diese Angst begegnete ihm doch ständig. Die Schriftgelehrten hatten Angst vor seinen Auslegungen und seinen alltagspraktischen Anwendungen der Tora-Aussagen. Sie mochten es nicht, wenn er sagte: „Euren Vätern wurde gesagt: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‘ Ich aber sage euch: ‚Liebt eure Feinde!‘“ Was für eine Provokation – da konnte einem doch nur angst und bang werden angesichts solcher Naivität. Seine Feinde lieben, das konnte doch niemand, doch solche Ideen hatte er seinen Zuhörern zugemutet. Und so war die Tatsache, dass sich viele irgendwann wieder von ihm abwandten, ganz klar auch das Ergebnis seiner Überforderungen. Doch nur wer vorauseilte und vorausdachte, konnte auch zur Nachfolge einladen. Diese Überforderungen hatte er gebündelt in einer seiner Reden auf einer Anhöhe am See Genezareth den Leuten zugemutet und Dinge gesagt wie: „Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau begehrlich anblickt, hat in seinem Herzen schon die Ehe mit ihr gebrochen. Wenn dich daher dein rechtes Auge zur Sünde reizt, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Und wenn dich deine rechte Hand zur Sünde reizt, so haue sie ab und wirf sie von dir. Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle fährt.“ Das war krass und das wusste er und deshalb hatten viele Angst. Angst hatten alle, die er mit ihrem bisherigen Lebensstil konfrontierte, und seine Kurzbotschaft lautete: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ Ein Appell an den Einzelnen, an die Einzelne, das „Nur du“: „Nur du kannst umkehren und dein Leben ändern, das kann niemand für dich erledigen, du musst selbst aktiv werden und Verantwortung für dein Leben übernehmen!“

Auch Ängste kamen natürlich auf, etwa wenn jemand plötzlich mit seiner Lebenslüge konfrontiert wurde wie zum Beispiel jener wohlhabende junge Mann, der sich an Jesus mit der Frage wandte: „Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu bekommen?“ Und der hatte geantwortet: „Was nennst du mich gut? Gut ist nur einer, und das ist Gott! Aber um deine Frage zu beantworten: Halte die Gebote ein, wie sie die Tora vermittelt, dann wirst du ewig leben.“ Und als der junge Mann sich die Zehn Gebote in Erinnerung rief, hatte er geantwortet: „Ich habe diese Gebote seit meiner Jugend eingehalten!“ Daraufhin hatte er ihm in die Augen gesehen und seine Lebenslüge durchschaut, denn er sagte zu ihm: „Geh hin und verkaufe alles, was du hast, und schenke es den Armen, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben!“ Er hatte die Probe aufs Exempel gemacht und gleich bei dem ersten Gebot war der junge Mann gescheitert: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben!“ Die Götter beziehungsweise die Güter, die dieser über Gott stellte, waren seine Finanzen, sein Reichtum. Der war ihm wichtig, das war sein Lebensinhalt und daraus resultierten auch seine Macht und seine Stellung in der Gesellschaft. Dermaßen konfrontiert zog er sich enttäuscht zurück, denn er war sehr reich. Wer konnte ihm das verdenken.

Geld, Macht, Habgier, Neid – immer wieder war ihm, dem Mann aus Nazareth, das in vielen Gesprächen begegnet. Deshalb hatte er damals auf jenem Hügel am See Genezareth auch dazu radikal Stellung bezogen: „Häuft in dieser Welt keine Reichtümer an! Sie werden nur von Motten und Rost zerfressen oder von Einbrechern gestohlen!“ Das war doch ein klares und eindrückliches Bild. Das konnte doch jeder und jede verstehen. Kleider und edle Rüstungen und Waffen fielen doch dem Zerfall zum Opfer. Wie vielen sehr wohlhabenden Bürgern war er begegnet, die alles hatten und die trotzdem von Angst besessen waren. Sie hatten Angst, ihren Reichtum zu verlieren. Ständig schauten sie sich in Gedanken über die Schulter, ob da jemand war, der ihnen Übles wollte. „Warum hast du Angst? Du hast doch alles! Du bist ein reicher Mensch, der sich ganz vieles leisten kann, was andere sich nicht leisten können“, hatte er einmal zu Raphael, einem sehr wohlhabenden Kaufmann aus Kapernaum, gesagt. Er hatte sich darauf spezialisiert, Kräuter und Gewürze zu verkaufen. Ganz klein angefangen, war mit seinem Esel und einer Art Bauchladen durch die Ortschaften in der Umgebung gezogen, um Kräuter und Duftsalben feilzubieten. Auf einem Markt in seiner Heimatstadt war er eines Tages an einem großen und wunderbar duftenden Verkaufsstand stehen geblieben. Diese Fülle an Düften und Farben raubte ihm den Atem. Die Leute standen Schlange an diesem Stand, um etwas von den Waren zu kaufen. Weihrauch, Myrrhe, Senf, Dill, Rosmarin, Safran, Koriander, Wermut, Zimt, Minze, Ysop, Aloe, Malve, Kalmus, Brennnessel, Cassia und Kümmel. Bei dem Händler gab es scheinbar nichts, was es nicht gab. Etwas beschämt stand Raphael da mit seinem kleinen Kräuterbauchladen und hatte fasziniert das Treiben rund um diesen Gewürze- und Kräuterstand beobachtet. Am Abend waren fast alle Waren verkauft. Als der Händler begonnen hatte, seine Restposten einzupacken, hatte er sich ein Herz gefasst und ihn angesprochen. „Kann ich für Sie arbeiten? Woher beziehen Sie all diese Kräuter, Gewürze und Salben? Kann ich bei Ihnen einkaufen oder für Sie als Vertreter unterwegs sein?“ Die Fragen waren nur so aus ihm herausgesprudelt. Der fremde Händler hatte Raphael gemustert und schließlich wohlwollend gelächelt. Musste er doch an seine eigenen Anfänge als Händler denken. Er hatte genauso angefangen. Mit einem Esel und einem kleinen Bauchladen war er nicht nur durch die Straßen, sondern manchmal auch von Haus zu Haus gezogen. Ganz allmählich hatte er sich einen guten Ruf als Händler erarbeitet. Die Kunden wussten, dass sie bei ihm nur erstklassige Ware erhalten würden, und niemals hatte er eine Kundin übers Ohr gehauen. „Ich bin ja nicht mehr der Jüngste“, hatte er Raphael geantwortet, „und ich sehe in deinen Augen das Feuer und die Leidenschaft für den Handel mit meiner Ware! Ich biete dir an, bei mir mit einzusteigen, mir zu helfen beim Auf- und Abbau des Verkaufsstandes und beim Verkauf. Wenn du dich gut anstellst, zeige ich dir nach und nach, wie und wo ich meine Waren einkaufe, und lehre dich die Kunst des guten Wirtschaftens! Wärst du damit einverstanden?“ Raphael hatte sein Glück nicht fassen können und natürlich schlug er ein. Seit dieser Zeit hatte er sich mehr und mehr in diesen Handel auf hohem Niveau eingearbeitet und irgendwann vor vielen Jahren, als der alte Inhaber sich zurückgezogen hatte, das ganze Geschäft übernommen. Die Ablösesumme war gewaltig gewesen, aber es hatte sich gelohnt. Reich war er geworden, sehr reich. Ja, der Nazarener hatte recht: Er hatte alles und er konnte sich viel mehr leisten als die meisten Bewohner Kapernaums. Und doch plagten ihn Ängste. Und doch konnte er oft nachts nicht schlafen. Er kam einfach nicht zur Ruhe. Immer musste er über seinen Reichtum nachdenken: „Wie bewahre ich diesen Reichtum? Was geschieht, wenn eines meiner Lagerhäuser abbrennt? Was passiert im Fall einer Krise, wenn die Leute nicht mehr bereit sind, so viel Geld auszugeben?“ Er hatte Angst, alles wieder zu verlieren. Diese Angst war irrational, aber sie war da und sie plagte ihn. „Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel, die unvergänglich sind und die kein Dieb mitnehmen kann“, hatte er den Galiläer sagen hören. „Schätze im Himmel“ – was sollten das für Schätze sein? Wahrscheinlich Liebe, Barmherzigkeit, Offenheit für andere, Gastfreundschaft und echte Freundschaft, ja, das wusste er schon, aber als Kaufmann musste er ja auch rechnen. Er hatte viele Helfer und Angestellte und die wiederum hatten Familien. Alle mussten etwas verdienen, damit sie über die Runden kamen. Und doch stimmte es natürlich: Die Angst, dass ihm sein materieller Reichtum irgendwann abhandenkommen und gestohlen werden konnte, diese Angst war wie ein böser Schatten immer sein stiller Begleiter.

Reichtum: der reiche Jüngling

Und natürlich stimmte auch der Satz des Wanderpredigers: „Wo euer Schatz ist, da wird auch euer Herz sein.“ Raphael spürte, dass das stimmte. Sein Herz, seine Gedanken waren eindeutig von seinem Handel bestimmt. „Wie kann ich noch mehr hochwertige Waren einkaufen und verkaufen? Wie kann ich meinen Gewinn steigern? Und wo und wie kann ich die erwirtschafteten Reichtümer so anlegen, dass sie mir eine breite wirtschaftliche Absicherung garantieren?“ Dafür schlug sein Herz, für hochwertige Gewürze, Salben und Stoffe aus aller Welt und für seinen luxuriösen Lebensstil. Dieser Mann aus Nazareth hatte leicht reden, er war ein Vagabund. Er zog mit seinen Freunden durch die Gegend, sie brauchten nicht viel und lebten meistens als Asketen. Raphael hingegen sorgte mit seinem Laden dafür, dass er auch solche Menschen unterstützen konnte. Er spürte ja trotz alledem eine gewisse Leere in sich. Da musste doch noch mehr Sinn in sein Leben kommen, und danach sehnte er sich von ganzem Herzen: „Das Licht des Leibes ist das Auge. Wenn nun dein Auge gesund ist, wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge krank ist, wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn also das Licht in dir Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!“ Die Augen als Fenster in die Seele zu beschreiben, diese Bilder waren es, die Raphael anzogen und mit denen der Mann aus Nazareth ihn immer wieder in seinen Bann zog. Diese trüben, unglücklichen Augen kannte er, und er hoffte und betete inständig, dass seine Augen nicht getrübt waren. Er war damals, als er auf dem großen Markt jenem Händler, seinem späteren Arbeitgeber, begegnet war, nicht neidisch auf ihn gewesen. Nein, er hatte ihn bewundert und ihn mit einer staunenden Freude angesprochen. Hätte dieser Neid und Habgier in seinen Augen gesehen, hätte er ihn niemals eingeladen, bei seinem Geschäft mit einzusteigen. Er hatte das Feuer und die Leidenschaft gesehen und sich darüber gefreut.

Neid und Habgier waren sehr verbreitet unter den Bewohnern Kapernaums. Viele waren neidisch auf seinen Lebensstil. Er hatte ein wenig außerhalb der Stadt ein großes Grundstück erwerben können und darauf eine wunderschöne Villa im römischen Stil bauen lassen. Im Innenhof des Anwesens plätscherte ein kunstvoll gestalteter Brunnen. Vierzig Räume umfasste der Bau: Schlafzimmer, Bäder, Wirtschaftsräume und mehrere hallenartige Speise- und Aufenthaltssäle. Eingebettet in einen großzügigen Park und umgeben von einer hohen Mauer prangte das Anwesen auf einer kleinen Anhöhe. Vom Dach seines kleinen Palastes hatte er einen wunderbaren Ausblick über das Land. Das hatte natürlich Neid hervorgerufen. Wer wollte nicht auch einmal so leben? Aus manchem Neider wurde ein Habgieriger und aus manchem Habgierigen ein Krimineller. Deshalb hatte er diese hohe Mauer um sein Areal anlegen lassen. „Warum hast du Angst?“, hatte ihn der Mann aus Nazareth gefragt. Nun, die Gründe lagen auf der Hand. Und doch spürte er, wie eine tiefe Finsternis nach ihm griff, er wollte nicht, dass das Licht, die Leidenschaft, das Feuer in seinem Inneren erloschen. Er wollte sich nicht darauf konzentrieren müssen, alles abzusichern und sich hinter seinem Reichtum zu verschanzen. Er hatte eine tiefe Sehnsucht nach Herzlichkeit, Gastfreundschaft, Liebe und Barmherzigkeit. Doch es war ein permanenter Kampf. „Niemand kann zwei Herren dienen. Denn entweder wird er den einen hassen und den andern lieben oder an dem einen hängen und den anderen verachten.“ Niemals hatte er zuvor jemanden so klar und deutlich aussprechen hören, was er, Raphael, in seinem Innersten spürte. Er war ja seit Langem selbstständig. Aber er erinnerte sich natürlich noch an die Zeit, als er einem Herrn, seinem späteren Partner, dienen wollte und musste. Man konnte nicht mehreren Herren dienen. Niemand konnte es immer allen recht machen. Manch einer versuchte es, mehrere Geschäfte miteinander zu verbinden, doch das war in der Regel schlecht für irgendeinen der Partner. Sehr schnell wurde da die Grenze zum Betrug überschritten, war man nicht mehr loyal gegenüber dem ursprünglichen Auftraggeber. Habgier war da oft der Antrieb, der manch einen zu solch halbseidenen Geschäften trieb. Wenn man sich für einen Auftraggeber entschieden und verpflichtet hatte, musste man automatisch alle anderen vernachlässigen. Doch die Aussagen des Nazareners griffen ja noch viel weiter und gipfelten in dem Satz: „Auch ihr könnt nicht gleichzeitig für Gott und das Geld leben.“ Doch genau diesen Spagat musste er als Kaufmann vollbringen. Er war ein gläubiger Jude, besuchte regelmäßig die Synagoge und hielt den Sabbat. Er versuchte, gleichzeitig für Gott und für seinen Handel zu leben. Dass er es dabei zu solchem Wohlstand gebracht hatte, bewertete er als ein Zeichen Gottes, als Segen. Dankbarkeit erfüllte ihn, und diese Dankbarkeit brachte er durch großzügige Spenden an die Armen und für das Kulturleben der Stadt zum Ausdruck. Er wusste, dass solche Aussagen auch bei den Jüngern heftig diskutiert wurden. Allen voran die Jünger Thomas und Judas fanden solche Aussagen wie: „Auch ihr könnt nicht gleichzeitig für Gott und das Geld leben.“ weltfremd und nicht hilfreich im Dialog mit den Reichen.

Wahrheit: die Frau am Jakobsbrunnen

Diese Radikalität, dieser Spiegel, den er, der Wanderprediger aus Nazareth, ihnen vorhielt, machte ihnen Angst. Angst hatten auch viele Männer, weil er die Frauen gleich wertschätzte wie sie, ihnen zuhörte und auf sie einging. Angst hatten aber sicherlich auch die Frauen, wenn er so, gegen alle üblichen Gepflogenheiten, einfach auf sie zuging und sie ansprach, so wie jene Frau an einem Brunnen in der samarischen Stadt Sychar in der Region Samaria. Er hatte haltgemacht an diesem Brunnen, den man auch den Jakobsbrunnen nannte. Er war müde und brauchte eine Pause. Und er hatte Durst, aber keinen Eimer und kein Seil, mit dem er Wasser aus dem Brunnen schöpfen konnte, um seinen Durst zu stillen. Mitten in der Mittagszeit, dann, wenn die Sonne am höchsten stand, wagte auch eine Frau, sich dem Brunnen zu nähern. Sie musste auf der Hut sein, denn sie war Gesprächsthema Nummer eins in diesem Ort. Die Leute missbilligten ihren Lebenswandel und bezeichneten sie als Hure, weil sie schon mit mehreren Männern zusammen gewesen war. Sie kam zu dem Brunnen und sah dort ihn, einen Mann, sitzen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Immer gab es Probleme mit den Männern und nun konnte sie nicht einmal in Ruhe das täglich benötigte Wasser holen. Und nun sprach dieser Mann, offensichtlich ein Jude, sie auch noch an: „Bitte gib mir zu trinken!“ Daraufhin hatte sie ihm verwundert geantwortet: „Wie kommst du dazu, mich, eine fremde Frau, einfach anzusprechen? Du bist doch ein Jude und die Juden verachten uns Menschen aus Samarien!“ Doch er hatte keine Berührungsängste, er scherte sich nicht um die Bräuche und Sitten und deshalb sagte er zu ihr: „Wenn du auch nur ahnen würdest, wer dich hier am Jakobsbrunnen um einen Schluck Wasser bittet, würdest du dich freuen und glücklich schätzen und du würdest ihn um Wasser, und zwar um lebendiges Wasser bitten!“ Jetzt musste sie aber doch schmunzeln: „Du hast ja ganz offensichtlich kein Schöpfgefäß, mit dem du aus dem Brunnen Wasser schöpfen könntest, sonst würdest du ja auch mich nicht bitten, dir etwas zu trinken zu geben, oder? Woher willst jetzt auch noch ‚lebendiges Wasser‘ zaubern?“ Spott lag in ihrer Stimme. „Dieser Brunnen ist tief!“, sagte sie noch und er erkannte ihre tiefe Sehnsucht. Der Brunnen wurde auf einmal zum Bild für ihr Leben. Sie hatte eine tiefe Sehnsucht nach echtem und erfülltem Leben. Und um dort hinzugelangen, musste man tief schöpfen. Dieser Brunnen war unglaublich tief. „Wer von dem Wasser aus diesem Brunnen trinkt, wird immer wieder Durst haben, dessen Grundsehnsucht nach echtem und erfülltem Leben wird dadurch nicht gestillt!“ Wie viele Menschen suchten im Konsum, in der Befriedigung ihrer elementaren Grundbedürfnisse auch ihre Sehnsucht nach Leben und Erfüllung zu stillen. Sie versuchten, sich abzulenken mit „Brot und Spielen“, doch die Sehnsucht blieb. Und hier stand nun diese Frau und wusste aus Erfahrung, musste zugeben: „Dieser Brunnen ist tief!“ – „Wer sich jedoch an dem Wasser erfrischt, das ich ihm oder ihr reiche, wird nie wieder durstig sein, sondern das, was ich ihm oder ihr gebe, wird im Innersten eine Wasserquelle werden, die über den Tod hinaus sprudelt und fließt!“ Darauf hatte die Frau ihm fasziniert geantwortet: „Herr, schöpfe mir von diesem Wasser, das wäre ja praktisch, dann müsste ich nicht jeden Tag zur Mittagszeit durch diesen Ort laufen, in dem alle mich beobachten, sondern hätte für immer genug zum Trinken und Waschen!“ Ach, sie hatte ihn nicht verstanden, hatte nicht kapiert, dass er von ihrem Lebensdurst sprach, und deshalb wechselte er scheinbar, aber nur scheinbar, das Thema und forderte sie auf: „Mach dich auf den Weg nach Hause, sag deinem Mann Bescheid, der soll mitkommen, und komm dann wieder hierher.“ Er hatte zwar kein Problem damit, sich mit einer Frau zu unterhalten, aber er wusste ja auch, dass er beobachtet wurde, und deshalb brachte er, wohl mehr pro forma, einen männlichen Gesprächspartner ins Spiel. Es war ja einfach nicht üblich, dass ein Mann sich öffentlich mit einer Frau unterhielt, schon gar nicht als Jude mit einer Samariterin. Deshalb hatte er sie gebeten: „Sag deinem Mann Bescheid, dass er mitkommen soll!“ Doch die Frau hatte geantwortet: „Ich habe keinen Mann.“ Darauf hatte er sie angesehen und zu ihr gesagt: „Das stimmt, du warst mit fünf Männern zusammen! Und der, mit dem du jetzt zusammen bist, ist auch nicht der Mann, mit dem du alt werden möchtest!“ Er hatte sie angesehen und tief in den Brunnen ihrer Seele geschaut, dieser großen Sehnsucht nach Liebe und Wertschätzung, nach Anerkennung, Treue und Freiheit. Und er sah in ihren Augen dieses Flackern, diese Furcht vor dem Fremden, der so genau Bescheid wusste über sie und ihre Lebenssituation. „Hab keine Angst!“ Das hatte er nicht sagen müssen, das spürte diese Frau und es brach aus ihr heraus: „Ich sehe, dass du ein Prophet bist!“ Ja, das war er wohl und doch so viel mehr.

Selbstüberschätzung: Petrus