Im Labyrinth der Lügen - Ute Krause - E-Book

Im Labyrinth der Lügen E-Book

Ute Krause

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Beschreibung

Ein berührender Kinderroman von Bestsellerautorin Ute Krause

Paul ist am Boden zerstört: Seine Eltern wurden nach einem Fluchtversuch von der Bundesrepublik freigekauft und beginnen in West-Berlin ein neues Leben – ohne ihn. Er darf die DDR nicht verlassen und ob er seine Eltern je wiedersehen wird, ist ungewiss. Halt geben ihm Oma und Onkel Henri – und seit kurzem seine Klassenkameradin Millie, die ohne Mutter beim Vater lebt. Eines Abends besuchen die beiden Onkel Henri im Pergamonmuseum, der dort als Nachtwächter arbeitet. Als sie in den Sälen unerklärliche Geräusche hören, forschen Paul und Millie auf eigene Faust nach und geraten in eine gefährliche Geschichte ...

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Seitenzahl: 300

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Ute Krause

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Mit besonderem Dank an den Deutschen Literaturfonds für die Unterstützung

© 2015 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Kopp

Umschlagmotive: © Gettyimages/Arman Zhenikeyev; plainpicture/Verena Blank

Deutschlandkarte und Berlinkarte: Peter Palm, Berlin

hf · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19272-3V004

www.cbj-verlag.de

Das unbekannte Land

Albträume und Überraschungen

Geisterschritte im Museum

Ein Brief mit schwarzen Balken

Millie

Ischtar im Reich der Toten

Spuk im Depot

Ein böser Verdacht

Besuch im Theater

Auf der Spur des Professors

Der Hieroglyphenstein

Lebende Tote und gefälschte Pässe

Wo ist Onkel Henri?

Überraschung im Hotel

Der Trabi vor der Haustür

Verrat unter Freunden

Die Wanze hört mit

Henris süßes Geheimnis

In verdeckter Mission

Theater mit Notausgang

Wenn bei Capri die rote Flotte im Meer versinkt

Nächtlicher Besuch und ein Geständnis

Ein Gläschen Cognac und ein Brief nach Kuba

Gute Nachrichten

Omas Vorleben

Der Abschied

Im Westen viel Neues

Das Geheimnis wird gelüftet

Epilog

Danksagung

Deutschlandkarte

Glossar

Über die Autorin

Plan der Museumsinsel

Berlinkarte 1/2

Berlinkarte 2/2

Paul strahlte. Das hätte er sich nicht träumen lassen! Er stellte sich die Zeitungsmeldung vor, die demnächst erscheinen würde.

Berliner Morgenpost

Geheimnis der ewigen Jugend enthüllt? Berliner Forscher macht sensationellen Fund im Pergamonmuseum. Geheimwissen der Ägypter in einem Stein des Ischtar-Tors versteckt. Pharmakonzerne wittern das Riesengeschäft: der Jungbrunnen bald auf Rezept?

Und daran war allein Onkel Henri schuld. Dabei hatte die Geschichte damals ganz anders angefangen. Und niemand, er schon gar nicht, hatte ahnen können, wie verwickelt und gefährlich sie werden würde …

Begonnen hatte alles viele Jahre früher an einem ganz gewöhnlichen Samstag.

»Komm, ich zeig dir ein Geheimnis«, hatte Onkel Henri gesagt und Paul in einen verlassenen Teil des Bahnhofs Friedrichstraße geführt. Hinter einer Absperrung stand ein Baugerüst, das mit einer Plane verhängt war. Als niemand sie beobachtete, kletterten sie über die Absperrung und schlüpften hinter die Bauplane. Dahinter verborgen lag eine hellgraue Metalltür. Sie führte in einen Tunnel, der sich im Dunkeln verlor.

»Das war mal ein Geheimgang«, sagte Onkel Henri. »Früher sind die Leute von hier aus in den Westen geflüchtet.«

»Wie soll das gehen?«, fragte Paul.

»Wart’s ab.«

Paul war seinem Onkel vorsichtig tastend gefolgt, bis ihnen eine Backsteinmauer den Weg versperrte.

»Siehst du, weiter kommt man heute nicht mehr«, flüsterte Onkel Henri. »Die Grenzsoldaten haben alles zugemauert. Aber jetzt pass auf. Hör genau hin, dann kannst du den Westen hören. Dann bist du fast auf der anderen Seite. Vergiss das nicht!«

Onkel Henri hatte seine Wange an die Mauer gelegt. Paul tat es ihm nach und drückte sein Ohr ganz fest dagegen. In der Ferne hörte er plötzlich das Rattern eines einfahrenden Zuges, das Quietschen der Bremsen und die Lautsprecherstimme eines Ansagers. Sie war durch den Hall verzerrt, aber wenn er genau hinhörte, verstand er, was der Mann auf der anderen Seite sagte: »Alle Züge enden hier. Achtung, alle Züge enden hier. Rückfahrt nach Westberlin vom gegenüberliegenden Gleis. Transitreisende begeben sich zu den Passkontrollen.«

Für Paul war Berlin-West bis dahin nur ein Wort, ein weißer Fleck in seinem Schulatlas gewesen. Es war von einer Mauer umgeben und Teil eines fremden Landes, das Westdeutschland hieß. Es war ganz nah und zugleich unerreichbar, denn Paul lebte auf der anderen Seite dieser Mauer in Ostberlin.

Seine Oma sagte, nach Westberlin komme man erst mit fünfundsechzig, wenn man in Rente ging. Das sei die letzte Querstraße vor dem Paradies. Ein Abstecher, bevor es zum lieben Gott geht.

Bis es bei Paul so weit war, konnte er noch lange warten – genau genommen dreiundfünfzig Jahre. Bei Oma war das anders, in zwei Jahren würde sie fünfundsechzig werden. Das hieß, in zwei Jahren dürfte sie nach Westberlin.

Am nächsten Morgen bekam der weiße Fleck im Schulatlas für Paul eine ganz andere Bedeutung. Jetzt ahnte er, warum Onkel Henri ihn am Tag davor in den Tunnel geführt hatte. Denn alles wurde plötzlich ganz anders. Beim Sonntagsfrühstück hatte Oma ihm am Küchentisch erzählt, dass seine Eltern jetzt im Westen lebten.

»Das ist ein blöder Scherz!«, hatte Paul geantwortet.

Oma hatte den Kopf geschüttelt und ihn dabei so ernst angeschaut, dass Paul begriff, dass sie ihn nicht anflunkerte. Und dann wurde alles in ihm ganz still, so still, dass das leise Ticken der Küchenuhr plötzlich laut durch seinen Kopf hallte.

»Aber wie sind sie aus dem Gefängnis gekommen?«, flüsterte er. »Und dann noch über die Mauer?«

Fast niemand kam durch den »Eisernen Vorhang«, wie die Mauer auch genannt wurde. Wer es versuchte, wurde verhaftet oder sogar erschossen.

Oma nahm seine Hand in ihre große weiche Pranke und drückte sie ganz fest. Sie starrte auf den Marmeladenfleck auf dem Küchentisch.

»Stell dir vor, mein Junge, sie sind freigekauft worden«, sagte sie zum Marmeladenfleck auf eine so ernste und feierliche Art, dass Paul ein kleiner Schauer über den Rücken lief.

Oma hatte normalerweise eine ziemlich raue, fast männliche Stimme. Onkel Henri sagte, das käme vom vielen Zigarettenqualmen, weil Oma nie auf die Stimme der Vernunft hörte. Jetzt aber klang sie ziemlich brüchig.

»Freigekauft? Wie meinst du das?«, fragte Paul völlig verwirrt. »Wer hat sie denn gekauft? Und wenn sie frei sind, warum sind sie dort und nicht hier bei uns?«

Er sprang auf und stieß dabei gegen den wackeligen Tisch, sodass Omas Kaffee auf den Untersetzer schwappte.

»Und wann kommen sie zu uns?«

Normalerweise brachte Oma nichts so leicht aus der Ruhe, aber heute war es anders. Ihre Unterlippe zitterte etwas und die Furchen um ihren Mund vertieften sich.

Paul starrte sie an. »Sie kommen doch, oder?«

Oma beugte sich hinüber zur Spüle und nahm den Lappen, der dort hing. In ihrer winzigen Küche war die Spüle praktischerweise direkt neben dem Tisch, sodass sie dafür nicht aufstehen musste. Paul sah, wie sie versuchte, sich unauffällig die Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen. Ihm war auch plötzlich zum Heulen zumute.

Sehr sorgfältig wischte Oma sämtliche Flecken und Krümel vom Tisch. Sie ließ sich dabei viel Zeit.

Oma war Papas und Onkel Henris Mutter. Onkel Henri behandelte Oma immer, als wäre sie ein bisschen verrückt, dabei war sie die netteste und mutigste Großmutter, die man sich vorstellen konnte, denn ohne sie säße Paul bestimmt noch in diesem schrecklichen Heim.

»Und?«, rief er ungeduldig. »Nun sag schon!«

Oma warf den Lappen zurück in die Spüle, zog eine Zigarette hinterm Ohr hervor und zündete sie an. Langsam blies sie den Rauch zur Decke empor. Durchsichtig-weiße Schwaden schimmerten im Morgenlicht und kringelten sich langsam nach oben.

»Sie sind freigekauft worden«, sagte sie leise. »Von denen dort drüben.« Sie deutete vage mit der Zigarette in Richtung Westberlin. »Die kaufen manchmal politische Gefangene frei. Deine Eltern hatten Riesenglück.«

Sie schob die Brille zurecht, durch die ihre Augen immer größer wirkten, und sah ihn abwartend an. Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Schau mal, deiner Mama ging es im Gefängnis nicht gut, vor allem im letzten Jahr. Ich habe es dir nie erzählt, weil ich dich nicht beunruhigen wollte, aber sie hatte dort eine Nierenbeckenentzündung, und die hat sie sehr mitgenommen. Deine Mutter braucht dringend gute Ärzte.«

Oma tippte vorsichtig die Asche in einen Aschenbecher und murmelte: »Deine Eltern haben endlich die Chance bekommen, ein neues Leben zu beginnen.«

»Ein neues Leben!« Paul senkte den Blick. »Sie beginnen ein neues Leben – ohne mich?«

Oma beugte sich zu ihm hinüber und drückte sanft seine Hand. »Schätzchen, sie würden alles tun, um bei dir zu sein, glaub mir. Aber sie dürfen nach dem, was passiert ist, nicht mehr hierher zurück. Man würde sie sofort wieder verhaften, wenn sie nur einen Fuß über die Grenze setzen.«

»Aber wann sehe ich sie wieder?«, fragte Paul leise. Der Kloß in seinem Hals wurde immer größer.

Oma drückte die Zigarette aus, zog ihn, bevor er sich wehren konnte, in ihre Arme und drückte ihn an ihren gewaltigen Busen. Sie wiegte ihn hin und her, so wie früher, als er klein gewesen war. Sie hatte ihm mal erzählt, dass ihre Mutter sie während des Krieges im Luftschutzkeller genauso im Arm gewiegt hatte, wenn die Bomben um sie herum explodierten. Und jetzt tat sie das Gleiche mit Paul. Doch mit zwölf fühlte er sich zu groß dafür, auch wenn ihm elend zumute war. Er löste sich aus ihrer Umarmung und sah sie fordernd an.

»Sag’s mir! Wann sehe ich sie wieder?«

Oma ließ die Luft hörbar durch die Lippen entweichen.

»Das weiß nur der liebe Gott, mein Junge. Das weiß nur der liebe Gott«, murmelte sie.

Es war schwer, am nächsten Tag im Unterricht aufzupassen, denn in Pauls Kopf wirbelte alles durcheinander. Es war, als würden seine Gedanken Achterbahn fahren.

Oma hatte ihm morgens, während er vor dem Spiegel seinen Haarmopp zu bändigen versuchte, noch einmal eingeschärft, ja niemandem von Mama und Papa zu erzählen. Als ob das nötig gewesen wäre! Paul hatte inzwischen gelernt, dass es manchmal klüger war zu schweigen. Außerdem gab es sowieso keinen in der Klasse, mit dem er darüber hätte sprechen können.

Jetzt starrte Frau Götze ihn an. Ihre blonde Dauerwelle wippte um ihren schmalen Kopf und ihre Nasenflügel bebten. Mit der spitzen Nase und dem fliehenden Kinn sah sie aus wie ein Vogel. Ein Vogel mit Dauerwelle. Ungeduldig klopfte sie mit der Kreide an die Tafel und schaute Paul dabei streng an. Er riss sich aus seinen Gedanken.

»Ich will dich ja ungern beim Träumen stören, Paul!«, sagte sie mit süßsaurem Lächeln. »Aber wir sind hier in der Schule und machen gerade Staatsbürgerkunde. Ich weiß, das ist nicht dein Lieblingsfach.«

Die anderen kicherten und warfen ihm verstohlene Blicke zu. Seit Paul in dieser Klasse war, galt er als Träumer und etwas merkwürdig.

»Der Junge ist eigenbrötlerisch«, hatte Frau Götze mal zu Oma beim Elterngespräch gesagt. »Und äußerst verschlossen.«

In Wirklichkeit war Paul nur vorsichtig geworden. Kein Wunder nach jenem Sommer vor zwei Jahren, in dem sich alles verändert hatte. Seitdem gab es vieles, über das er mit niemandem sprechen konnte und durfte. Und wenn man ein trauriges Geheimnis mit sich herumschleppt, dann verstummt man irgendwann ganz.

Als Paul von der Schule nach Hause kam, war niemand daheim. Der Flur roch nach Kaffee und Kohlestaub. Oma hatte alle Türen zum Flur geschlossen. Das tat sie immer an kalten Tagen, um die Wärme in den Räumen zu halten. Paul ging ins Wohnzimmer, öffnete die Klappe des alten Kachelofens und legte ein Brikett auf die Glut. Er musste sparsam damit umgehen, denn Omas Kohlevorrat für diesen Winter war inzwischen fast aufgebraucht.

Dann lehnte er sich an den Ofen, schloss die Augen und breitete die Arme aus. Die wohlige Wärme, die die Kacheln ausstrahlten, kroch in seinen Körper. Auf dem Heimweg hatte Paul schon die ersten Krokusse gesehen. Hoffentlich würde es bald Frühling werden. Und hoffentlich, hoffentlich würde irgendwann alles wieder … Paul wagte nicht, es sich auszumalen, denn so wie früher würde es nie mehr sein.

Er ging hinüber in die Küche. Auf dem Tisch lag neben einer Tüte mit belegten Broten und einer Thermoskanne mit Tee ein Zettel in Omas krakeliger Schrift. Darauf stand: »Lieber Paul, komme heute erst sehr spät. Eintopf im Kühlschrank. Die Brote sind für dich und Henri. Eine kleine Überraschung: Du darfst ihn heute Abend im Museum besuchen!«

Das war wirklich eine Überraschung! Paul hatte seinen Onkel noch nie abends bei der Arbeit besuchen dürfen. Dabei mochte Paul es überhaupt nicht, nachts alleine in der Wohnung zu sein. Aber Oma meinte, es ginge halt nicht anders. Manchmal hatte er immer noch Albträume und wachte dann mit Herzklopfen auf. Seit damals konnte er sowieso nur mit Licht einschlafen. Aber trotzdem dauerte es immer eine Weile, wenn er aus so einem Traum aufwachte, bis er wusste, dass er nicht mehr an diesem schrecklichen Ort war, und sein Herz endlich aufhörte, heftig zu klopfen.

Zum Glück war Oma nicht jeden Abend weg, nur dann, wenn sie Spätschicht hatte.

Oma war Klofrau im Hotel Metropol. Früher war sie Bibliothekarin gewesen. Paul ahnte, dass es ihr viel mehr Spaß gemacht hatte, sich um Bücher zu kümmern, als die Pinkeltropfen fremder Leute wegzuwischen. Aber Oma behauptete, dass sie froh über die Arbeit war: »Geld stinkt nicht, besonders dann nicht, wenn es aus dem Westen kommt«, pflegte sie zu sagen.

Paul verstand, was sie meinte. Manchmal bekam Oma als Trinkgeld Westmark, und das war viel mehr wert als Ostmark. Oma sparte so lange, bis sie genug Westgeld hatte, um sich im Intershop Kaffee oder Zigaretten oder eine Tafel Schokolade kaufen zu können. Das war dann immer ein kleines Fest, denn der Kaffee aus dem Westen war aus echten Kaffeebohnen gemahlen und nicht mit Getreide gemischt wie der Ostkaffee, den Oma nur abfällig »Erichs Krönung« nannte. Auch die Schokolade aus dem Intershop schmeckte viel besser als die aus dem Konsum.

Onkel Henri war Papas jüngerer Bruder. Er arbeitete als Nachtwächter im Pergamonmuseum und bewachte dort einen berühmten Altar, der fast zweitausend Jahre alt und sehr wertvoll war, wie er gerne allen erzählte. Auch Paul blieb von Onkel Henris Vorträgen über griechische Frühgeschichte nicht verschont.

Ein paarmal hatte er seinen Onkel besucht, wenn der tagsüber im Museum zu tun hatte. Dann hatte Onkel Henri ihm den berühmten Pergamonaltar und die Antikensammlung gezeigt. Paul fragte sich zwar, wie ein paar alte Scherben und Steine so wertvoll sein konnten, aber er musste zugeben, dass dieser Altar ziemlich beeindruckend war.

Früher, als Paul noch mit Mama und Papa in Greifswald gelebt hatte, hatte Onkel Henri in Berlin Archäologie studiert. Da hatte er sich die ganze Zeit mit dem alten Kram beschäftigen können. Später jedoch, als die Sache mit Pauls Eltern passiert war, hatte er ganz plötzlich damit aufgehört. Wenn Paul ihn fragte, warum er jetzt lieber Nachtwächter statt Archäologe war, tat er so, als hätte er die Frage nicht gehört, oder wechselte schnell das Thema. Vielleicht hatte auch Onkel Henri ein Geheimnis, von dem er niemandem erzählen konnte.

Paul ging zurück ins Wohnzimmer und machte den Fernseher an. Er stand auf der Anrichte neben dem Sofa und war Omas ganzer Stolz. Die Fernsehbilder flimmerten schwarz-weiß. Paul drückte die Knöpfe für die verschiedenen Kanäle. Beim Ersten Programm aus dem Westfernsehen blieb er hängen. Er machte, wie immer, wenn sie Westfernsehen guckten, den Ton leiser, denn der olle Markowitsch von gegenüber war ein »Hundertfünfzigprozentiger«, wie Oma sagte – »und der petzt«. Damit meinte sie, dass er es im Zweifelsfall sogar der Polizei erzählte, wenn jemand Westfernsehen guckte, denn das durfte man in der DDR eigentlich nicht.

»Aber das machen doch alle«, hatte Paul erwidert.

»Ja, aber wir müssen besonders vorsichtig sein, nach dem, was passiert ist. Sie können dich mir jederzeit wieder wegnehmen, wenn ihnen etwas nicht passt. Verstehst du?«, hatte Oma gesagt, und seitdem achtete Paul besonders darauf, dass niemand den Fernseher hören konnte.

In einer Werbung für Margarine rannten gerade zwei Kinder über eine Wiese. Die Eltern strahlten und breiteten die Arme aus. Der Vater nahm den Sohn hoch und wirbelte ihn im Kreis herum. Hatte sein Papa das mit ihm auch getan? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern.

Wenn er allein war, stellte Paul sich manchmal vor, wie sein Leben hätte sein können, wenn Mama und Papa noch bei ihm wären. Sie würden noch mitten in der Altstadt von Greifswald wohnen und am Wochenende an die Ostsee fahren. Bis gestern hatte er auf den Tag gewartet, an dem sie freigelassen würden, und gehofft, dass danach alles so sein würde wie früher. Aber jetzt war alles ganz anders gekommen. Seine Eltern durften nicht mehr zurück zu ihm.

Sein Magen zog sich zusammen. Er dachte an Mama und daran, wie sie im Sommer zusammen auf der Picknickdecke lagen und sie ihm vorlas. Hinter ihnen raschelte das Schilf und vor ihnen glitzerte das Meer. Er erinnerte sich an den Geruch von Mamas Lieblings-Parfüm, das sie von einer Tante aus dem Westen zu Weihnachten geschickt bekommen hatte. Irgendetwas Französisches. Wenn der Wind in seine Richtung wehte, konnte er einen Hauch davon riechen. Er würde diesen Geruch nie vergessen, auch wenn er ihn nie mehr würde riechen können. Hier gab es schließlich nichts Französisches.

Hätten Papa und sie damals versucht zu fliehen, wenn sie geahnt hätten, dass sie deswegen ihr Kind nie mehr sehen würden? Nein, sie wären hier geblieben. Da war sich Paul ganz sicher.

Früher, wenn Onkel Henri in Greifswald zu Besuch kam, schimpften Papa und er immer über den Staat und die vielen Lügen, die er ihnen auftischte.

»Auf Dauer«, sagte Papa, »erstickt man in einer Welt, die nur aus Lügen besteht.«

Onkel Henri hatte ihm zugestimmt und gesagt, deswegen müsse man versuchen, die Dinge zu verändern. Papa antwortete dann, in diesem Staat könne man alt und grau werden, bevor sich etwas veränderte.

Spätestens dann schickten sie Paul, der diese Gespräche sowieso langweilig fand, immer weg. Damals ahnte er ja nicht, was seine Eltern vorhatten und was das alles für sie bedeuten würde.

Jetzt machte Paul den Fernseher wieder aus. Er wollte lieber nicht zu viel an sie denken, sonst würde er noch verrückt.

Er ging in die Küche und machte sich den Eintopf warm. Auf der Waschmaschine lag noch Werkzeug verstreut. Oma hatte sie heute früh repariert, weil sie das Wasser nicht mehr abgepumpt hatte. Es war eine vielseitig verwendbare Waschmaschine: Man konnte sogar Einweckgläser darin kochen, aber auch Marmelade. Es dampfte und brodelte dann in der Waschmaschine und die ganze Wohnung roch nach warmem Obst.

Paul öffnete seine Schulmappe und machte an dem wackeligen Küchentisch seine Hausaufgaben. Er mochte diesen Tisch sehr. Am Rand sah man immer noch die Kerben, wo Onkel Henri als Kind seinen Namen eingeritzt hatte.

Damals hatten Opa, Oma, Onkel Henri und Papa zu viert in zweieinhalb Zimmern gelebt und großes Glück gehabt, überhaupt eine Wohnung zu bekommen, noch dazu eine mit Badezimmer. Viele Häuser waren im Krieg kaputtgegangen. Und von denen, die übrig geblieben waren, hatte ein großer Teil keine Toiletten in der Wohnung, sondern im Treppenhaus. Da musste man sich im Winter ziemlich warm anziehen, wenn man mal dorthin wollte.

Papa und Onkel Henri hatten sich die Kammer geteilt, und Oma und Opa das Schlafzimmer. Jetzt schlief Onkel Henri allein in der Kammer und Oma allein im Schlafzimmer. Paul schlief auf der Couch im Wohnzimmer.

»Es muss erst einmal so gehen«, hatte Oma gesagt, als sie ihn aus dem Heim zu sich geholt hatte. »Und später sehen wir weiter.«

Das war vor anderthalb Jahren gewesen. Inzwischen hatte Paul sich an die Couch gewöhnt, außerdem war das Leben bei Oma ein Paradies, verglichen mit der Zeit im Kinderheim.

Als es dämmerte, packte Paul die Brote und die Thermoskanne in einen Beutel und fuhr ein paar Stationen mit der Straßenbahn zum Bahnhof Friedrichstraße. Er war früh dran. Onkel Henri erwartete ihn sicher noch nicht. Deswegen ließ er sich jetzt noch durch die Bahnhofshalle treiben und betrachtete die vorbeilaufenden Reisenden. Viele hatten es eilig.

Paul und Onkel Henri machten sich manchmal einen Spaß daraus zu raten, wer von ihnen aus dem Westen kam. Onkel Henri sagte, man sähe es nicht nur an der Kleidung und am Haarschnitt. Es wäre auch etwas in den Gesichtern, das anders war. Ein Land, das sich in zwei Länder geteilt hatte, in denen sich allmählich zwei verschiedene Sorten von Menschen entwickelt hatten.

Plötzlich dachte Paul wieder an den zugemauerten Tunnel, hinter dem die Züge dorthin fuhren, wo seine Eltern jetzt lebten. Er stellte sich vor, er könnte einfach in so einen Zug steigen und sie besuchen.

Er fand das Baugerüst gleich wieder. Alles sah noch genauso aus wie vor zwei Tagen, als Onkel Henri ihm die Stelle gezeigt hatte. Unbeobachtet kletterte Paul über die Absperrung und schlüpfte hinter die Plane. Die Metalltür ließ sich leicht öffnen. Paul stolperte den Tunnel hinab, lehnte seine Stirn an die kalte, raue Mauer und spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Paul in der Dämmerung des Tunnels bemerkte, dass er nicht allein war. Ein Mädchen musterte ihn neugierig mit großen, dunklen Augen. Ihre Gesichtsfarbe war, soweit er das überhaupt erkennen konnte, braun.

»Haste Probleme?«, fragte sie.

Das Berlinerische passte so gar nicht zu ihrem fremdländischen Aussehen. Sie sah eher aus, als ob sie auf eine Südseeinsel gehörte. Paul schwieg und wischte sich schnell die Tränen aus dem Gesicht. Sie betrachtete ihn abschätzend und nickte schließlich, so als hätte sie ihn durchschaut.

»Also doch. Aber du kannst nicht drüber reden, stimmt’s?«

Ein viel zu großer Strickpullover, der ihre Hände verbarg, schlackerte um ihre Oberschenkel.

Paul zuckte die Schultern.

»Wahrscheinlich hat’s was mit dieser Mauer zu tun, oder?«, sagte sie und hob leicht die Brauen. »Meine Patentante wohnt irgendwo dahinter«, fuhr sie fort, als er nicht antwortete. »Manchmal verabreden wir uns an dieser Stelle, um ein bisschen zu plaudern. Sie im Westen, ich im Osten. Das geht sogar ohne Visum.«

»Wirklich?« Paul sah sie hoffnungsvoll an. Vielleicht gab es ja doch eine Möglichkeit, wenigstens mit seinen Eltern zu reden und ihnen nahe zu sein? Hier wären sie höchstens durch zwanzig oder dreißig Zentimeter Mauer getrennt.

»Hast ja doch nicht die Sprache verloren.« Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Nach einer Pause sagte sie in verändertem Tonfall: »Nee, war nur ’n blöder Scherz. Ich hab gar keine Patentante im Westen.«

Paul wandte sich ab. War sie verrückt oder nur etwas merkwürdig? Wie kam sie auf die Idee, einem Fremden so eine Geschichte aufzutischen?

»Ich muss los«, sagte er.

»Bis denne.« Sie hob die Hand zum Abschied, die halb unter ihrem Pullover verschwunden war.

Paul ging langsam den Tunnel entlang zur Tür. Er schob die Bauplane vorsichtig zur Seite und sah sich um. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, kletterte er über die Absperrung und machte sich auf den Weg zum Museum.

Die Sonne war inzwischen untergegangen und die feuchte Kälte kroch vom Fluss über den Bürgersteig. Paul überquerte die kleine Brücke, die zum Museum führte, und stieg die Stufen hinauf. Der rußgeschwärzte, massive Steinbau wirkte in der Dunkelheit noch weniger einladend als sonst. Die Glocken des großen Doms schlugen sieben Mal. Ihr voller Klang hallte durch die leeren Straßen. Kurz darauf öffnete sich eine Seitentür des Museums und ein matter Lichtschein fiel über den Hof. Onkel Henris lange, hagere Gestalt war deutlich im Gegenlicht zu erkennen. Paul nahm zwei Stufen auf einmal und lief ihm entgegen.

Onkel Henri war eher der unsportliche Typ. Sein Haar war zerzaust und hing ihm in die Stirn. Wahrscheinlich war er sich gerade wieder einmal durch die Haare gefahren. Das war ein Tick von Onkel Henri. Danach standen sie ihm immer zu Berge.

Oma sagte oft, wenn er zaubern könnte, würde er sich in seine Bücher hineinzaubern und irgendwo in der Vergangenheit verschwinden. Onkel Henris Bücher hatten fast alle mit einer Zeit zu tun, die zwei- bis dreitausend Jahre zurücklag. Oma meinte, dort würde sich Onkel Henri wohler fühlen als in der richtigen Welt, über die er sowieso nur schimpfte. Und lieber betrachtete er nachts alte Steine und Scherben im Museum, anstatt mit einer netten Frau auszugehen. Überhaupt fragte sie sich, wie er bei so einem Leben je eine Frau kennenlernen wollte. Er schlief ja, wenn die meisten Frauen wach waren, und wenn die mal abends ausgingen, musste er zur Arbeit. Onkel Henri sagte dazu nur, Oma sollte ihre Nase nicht in andrer Leute Angelegenheiten stecken. Dabei lächelte er verschmitzt und seine blauen Augen blitzten Paul an.

Nachdem Paul eingetreten war, schloss Onkel Henri die schwere Eichentür ab, wandte sich ihm zu und betrachtete Pauls blasses Gesicht nachdenklich über den Rand seiner Brille.

»Sie hat’s dir also erzählt?«

Paul nickte. »Ja, gestern.«

Onkel Henri wusste leider fast immer, was in Paul vorging. Da war er wie Papa. Als Paul klein war, war er davon überzeugt gewesen, dass die beiden seine Gedanken lesen konnten.

Onkel Henri schob seine Brille die Nase hoch und fuhr sich durchs Haar.

»Na ja«, brummte er und ging langsam den Gang hinauf. An einem Gurt baumelte ein schwarzer Kasten von seiner Schulter. Paul folgte ihm. Kurz überlegte er, ob er Onkel Henri von seinem Besuch im Tunnel erzählen sollte, doch dann beschloss er, lieber nichts zu sagen. Paul zeigte auf den Kasten und fragte: »Was ist das?«

Mit seinen seitlichen Metallschlitzen sah das Ding ein bisschen wie eine alte Registrierkasse aus. Onkel Henri öffnete das Gehäuse und deutete auf das Zifferblatt dahinter.

»Stechuhr«, sagte er. »Mach gerade die Runde.« Dann murmelte er leise: »Kann auch nichts für sich behalten …«

»Es war besser, dass sie’s mir erzählt hat«, sagte Paul.

Onkel Henri knurrte etwas, das wie »Nun ja« klang, legte ihm die Hand auf die Schulter und führte ihn um die Ecke in einen schummrig beleuchteten Flur, der vor einem Fahrstuhl endete.

Ein stechender Geruch nach Karbolseife lag in der Luft. Er erinnerte Paul an die trostlosen Flure im Heim und an den Geruch auf dem Flughafen in Schönefeld. Komisch, dass all diese Orte nach dem gleichen Putzmittel rochen. Er dachte plötzlich wieder an den schrecklichen Tag, als die Polizei ihn am Flughafen von seiner Mutter getrennt hatte.

Onkel Henri schob Paul sanft in den Lastenaufzug, steckte einen Schlüssel in ein Schloss und drückte die Eins. Schwerfällig und mit einem leisen Ächzen setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung.

Das letzte Mal, als Paul Onkel Henri besucht hatte, waren sie auch damit gefahren. Damals musste Onkel Henri eine goldene Statue transportieren, die für eine Ausstellung in Moskau bestimmt war. Im Museum hatte sich herumgesprochen, dass Onkel Henri sehr viel über Archäologie wusste, deshalb half er öfter mit, wenn Kisten für Ausstellungen gepackt wurden, die ins Ausland gingen. Die Sachen mussten aus dem Keller oder aus dem Depot auf dem Dachboden geholt werden.

Damals hatte Onkel Henri erzählt, dass dieser Fahrstuhl schon hundert Jahre alt war, so alt wie das Museum. Er war gebaut worden, damit die Arbeiter nicht die schweren Ausstellungsstücke auf den Treppen hinauf und hinunter schleppen mussten. Aber heutzutage musste man sich eher Sorgen machen, dass man nicht zwischen den Stockwerken stecken blieb.

Als sie ausstiegen, knipste Onkel Henri seine Taschenlampe an. So spät abends war Paul noch nie im Museum gewesen. Die Notbeleuchtung tauchte den hohen Raum, den sie jetzt betraten, in ein unheimliches grünes Licht. Im Schein der Taschenlampe blitzten plötzlich bunte Mosaike und weiße Säulen aus der Dunkelheit auf. Die Statue einer Frau auf einem Marmorsockel warf mit jeder Bewegung des Lichtkegels riesige tanzende Schatten.

Sie gingen an steinernen Menschen vorbei, die Leiern und Speere trugen und von hohen Sockeln herabblickten.

Onkel Henri blieb plötzlich stehen, öffnete ein Kästchen, das in der Wand verborgen war, nahm einen Schlüssel heraus, steckte ihn in seine Stechuhr und drehte ihn mit einer flinken Bewegung um. Das Uhrwerk im Gehäuse ratterte. Onkel Henri zog den Schlüssel wieder ab und legte ihn zurück in das Kästchen. Schweigend gingen sie weiter.

»Warum machst du das?«, fragte Paul.

»Die Uhr gibt an, wann genau ich in welchem Saal war«, sagte Onkel Henri. »Zum Nachweis. Falls jemand einbricht.«

»Gab es schon mal Einbrecher?« Paul konnte sich nicht vorstellen, dass jemand so schwere Steine klaute, auch wenn sie alt und wertvoll waren.

»Nein«, sagte Onkel Henri. »Zum Glück noch nicht. Nur ab und zu verängstigte Touristen, die vom Tagesdienst aus Versehen in der Toilette eingeschlossen wurden.« Er grinste. »Aber keine Sorge, hab schon nachgeschaut. Heute ist niemand da.«

Sie betraten eine große Halle. Durch ein Glasdach fiel gedämpftes Mondlicht und erleuchtete matt eine gewaltige Treppe, deren weiße Marmorstufen zu einem riesigen Altar hinaufführten.

Im Mondlicht sah dieser Raum richtig geheimnisvoll aus, dachte Paul.

Onkel Henri ließ die Taschenlampe über Bildfriese an den Wänden schweifen. Ihr Licht huschte über muskulöse Marmormänner und Frauen mit Flügeln, die gegen Wesen kämpften, die halb Mensch und halb Schlange waren.

»Hallo, Henri, hallo, Paul!«, rief plötzlich eine Stimme hinter dem Altar.

Onkel Henri blieb stehen.

»Herr Tisch, was machen Sie denn hier?«, fragte er verblüfft.

Ein älterer Mann trat in den Schein der Taschenlampe.

»Ick war hier janz in der Nähe und dat Tor war nich abjeschlossen. Da dachte ick, ick komm mal kurz rum. Wollte Se nämlich mal wat fragen«, sagte Herr Tisch.

Klaus Tisch war Onkel Henris Kollege. Paul war ihm schon ein paarmal begegnet, denn Herr Tisch kam ab und zu zum Kartenspielen vorbei. Er hatte ein ziemlich rotes, faltiges Gesicht, in dessen Mitte eine breite Knollennase thronte. Eine dunkle Hornbrille vergrößerte stark seine Augen. Onkel Henri hatte schon häufiger erzählt, dass Herr Tisch gerne mal etwas zu tief in die Flasche guckte, sodass er öfter seinen Dienst nicht antreten konnte. Onkel Henri musste dann immer für ihn einspringen.

Herr Tisch erzählte Onkel Henri nun ausführlich vom Hüftleiden seiner Frau. Onkel Henri hörte höflich zu und sagte immer wieder »ach ja« und »oh je« und »die Arme«. Paul merkte aber, dass er immer ungeduldiger wurde, denn sein Blick glitt jetzt unruhig durch den Raum. Endlich schaffte Onkel Henri es, Herrn Tisch zu unterbrechen: »Was wollten Sie mich denn nun fragen?«

»Na ja, da wollt ick grade druf kommen«, sagte Herr Tisch. »In zwee Wochen wird se nämlich operiert. In Leipzig. Da ha’m wa ’nen Platz jekriegt. Da muss ick Se mal wieder um ’n büsken Hilfe bitten.« Er blinzelte Onkel Henri verschwörerisch zu. »Se wissen ja.«

»Kriegen wir schon hin«, sagte Onkel Henri gutmütig.

Erleichtert lächelte Herr Tisch zurück und wollte gerade zu weiteren Erklärungen ausholen, doch da legte Onkel Henri auch schon eine Hand auf Pauls Schulter und sagte rasch: »Aber jetzt müssen Paul und ich dringend noch ein paar Hausaufgabendinge besprechen, stimmt’s?«

Paul nickte sofort. Hausaufgabendinge hieß, keine Krankheitsgeschichten mehr.

»’N büsken Hilfe« bedeutete: Onkel Henri musste so tun, als wäre Herr Tisch bei der Arbeit. Henri blieb dann nachts noch etwas länger als sonst im Museum. Herr Tisch war nämlich für die Frühschicht zuständig – von vier Uhr morgens bis zehn, bevor das Museum öffnete. Außerdem übernahm Herr Tisch die Nachtschicht, wenn Onkel Henri freihatte, denn so ein Museum musste rund um die Uhr bewacht werden.

Onkel Henri hatte nie etwas dagegen, für Herrn Tisch einzuspringen. Dafür schenkte Herr Tisch ihm dann mal einen Karton Badezimmerkacheln, weil sein Schwager in einem Kachelkombinat arbeitete. Die Kacheln waren babyblau und mit großen rosa Margeriten gemustert. Damit flieste Onkel Henri die Wand um die Badewanne. Die passten zwar gar nicht zu den alten Kacheln mit den holländischen Windmühlen, aber das war Onkel Henri egal.

»Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul«, sagte er nur, wenn man ihn auf die unterschiedlichen Fliesen ansprach.

Jedenfalls hatten die beiden ein prächtiges Arbeitsverhältnis, wie Onkel Henri meinte. Auch die Badewanne war ein Geschenk von Herrn Tisch gewesen. Dafür hatten dann Herr und Frau Tisch zwei schöne Wochen Urlaub an der Ostsee gemacht.

Jetzt verabschiedeten sie sich von Herrn Tisch, und der schlurfte zum Fahrstuhl. Onkel Henri und Paul gingen weiter zum nächsten Saal. Hier war es so dunkel, dass Paul den Torbogen erst richtig erkannte, als Onkel Henris Taschenlampe darüberstreifte.

»Das Tor von Milet«, murmelte er und ließ den Lichtstrahl nach oben gleiten. Verzierte Säulen tauchten kurz aus den schwarzen Schatten auf und verschwanden gleich wieder. Das Ganze sah aus, als wäre es mit runden und dreieckigen Bauklötzen von Riesenkindern gebaut.

»Oh, ich hab die Stechuhr liegen lassen«, sagte Onkel Henri plötzlich. Er hatte das schwere Ding abgenommen, während er Herrn Tisch zugehört hatte.

»Bin gleich wieder da!«, rief er über die Schulter und ging mit schnellen Schritten zurück.

Paul sah sich um. Im fahlgrünen Dämmerlicht der Notleuchte wirkte dieser Saal wie eine Geisterstadt. Erst jetzt, als Onkel Henri weg war, merkte er, wie unheimlich still es hier war. Die dicken Wände schienen jedes Geräusch zu verschlucken. Ob wohl die Seelen der Toten hier herumschwebten, die in den Sarkophagen lagen?

Da! Plötzlich hörte er ein leises Knacken und Knarzen hinter dem Torbogen … Paul blieb reglos stehen und starrte in die schwarze Finsternis dahinter. Etwas schien sich zu bewegen. Aber was?

Onkel Henri konnte es nicht sein. Der war durch die andere Tür verschwunden. Ein eingesperrter Tourist konnte es auch nicht sein. Ein kühler Luftzug streifte Paul, und im gleichen Moment begann ein fernes, fast unmenschliches Heulen. Es wurde lauter und wütender und verlor sich dann langsam mit einem Seufzer in den Schatten.

In der Stille, die nun folgte, sah Paul sich vorsichtig um. Wo war nur Onkel Henri? Gerade als er in den Raum mit dem Altar zurückgehen wollte, hörte er wieder dieses Knarzen, das jetzt von oberhalb des Torbogens zu kommen schien, so als schwebe etwas über ihm …

Eigentlich hätte er Onkel Henri kommen hören müssen. Als der ihm eine Hand auf die Schulter legte, fuhr Paul erschrocken herum.

»Was ist los mit dir?«, fragte Onkel Henri.

»Da – da war etwas. Schritte, Knarzen oder so«, haspelte Paul und deutete in den Saal hinter dem Tor von Milet.

Onkel Henri sah ihn prüfend an. »Du hörst wohl schon die Geister aus ihren Grabkammern steigen, was?«, fragte er belustigt.

»Wieso? Gibt es hier etwa Geister?«

Onkel Henri ließ die Taschenlampe schweifen. »Ach, was. War ja nur ein Scherz. Manchmal knacken nachts die Holztreppen, die ins Obergeschoss führen. Das hast du wahrscheinlich gehört. Jetzt komm.«

Er blieb wieder neben einem Kästchen stehen, um die Stechuhr aufzuziehen. Paul war ihm langsam gefolgt. Er war sicher: Nichts davon hatte er sich eingebildet.

»Aber es kam aus der Luft«, sagte er. »Und da war noch so ein Heulen.«

Onkel Henri winkte ab. »Hier hört man nachts so einiges«, sagte er. »Wart’s ab. Wir gehen mal ins Bode-Museum nebenan. Da knackt nachts das alte Parkett so laut, dass du glaubst, dir kommt gleich einer entgegen. So, jetzt hab ich Pause.«

Er ging zu der Wand, über der das Notlicht schimmerte, und öffnete eine Tür, die Paul jetzt zum ersten Mal bemerkte. Gemeinsam betraten sie ein kahles Treppenhaus, das mit Neonlicht beleuchtet war.

»Selbst die hölzernen Heiligenfiguren, die dort rumstehen, knacken«, sagte Onkel Henri, während sie die Stufen heruntergingen. »Da kann einem schon ganz anders werden. Viele Nachtwächter haben deswegen gekündigt.«

Sie hatten das Erdgeschoss erreicht. Onkel Henri öffnete eine schwere Tür, die nach draußen führte.

»Hast du denn keine Angst hier so ganz allein?«, fragte Paul.

Onkel Henri lächelte amüsiert. »Warum sollte ich? Mich hat noch nie ein Geist belästigt.«

Sie betraten einen düsteren Innenhof, der im Schatten eines hohen Baumes lag. Der Vollmond stand am Himmel und erleuchtete die steilen, schwarzen Wände, die den Hof umgaben. Sie gingen an einer Ruine mit schwarzen Fensterhöhlen vorbei.

»War auch mal Museum. Im Krieg zerstört«, erklärte Onkel Henri knapp. »Nun ja«, fügte er nachdenklich hinzu und führte ihn auf einen überdachten Säulengang zu. Ein hoher Zaun trennte den Wandelgang vom Museumsgelände, und davor, auf der Museumsseite, stand eine kleine Holzbaracke, in der ein funzeliges Licht brannte. Onkel Henri öffnete die Tür und sie traten ein.

»Mein Wohnzimmer«, sagte er, indem er mit der rechten Hand einen Halbkreis andeutete. Der Raum roch muffig, in der Mitte standen ein Tisch und drei Stühle und in einer Ecke bullerte ein kleiner Ofen. Paul stellte die Thermoskanne mit dem lauwarmen Pfefferminztee auf den Tisch. Sie setzten sich und packten schweigend ihre Brote aus.

Paul hatte Hunger, aber die Sache mit den Schritten beschäftigte ihn. Auch Onkel Henri schien seinen Gedanken nachzuhängen. Er redete sowieso wenig, außer, wenn es um Geschichte und Politik ging – da fand er dann kein Ende.

Nachdem er aufgegessen und sich die Krümel von der Jacke gewischt hatte, sagte Henri: »Übrigens, die Tochter von einem alten Schulfreund kommt in deine Klasse. Ich hab ihm gesagt, dass du dich kümmerst und ihr alles zeigst. Die sind nämlich erst vor Kurzem nach Berlin gezogen. Und noch was. Deine Lehrerin hat mich angesprochen.«

»Frau Kotze?« Paul seufzte.

Onkel Henri war stellvertretend für Papa und Mama beim Elterngespräch gewesen. Er warf Paul einen mahnenden Blick zu.