Im Land der Männer - Hisham Matar - E-Book

Im Land der Männer E-Book

Hisham Matar

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Beschreibung

Ein ergreifender Roman über eine Kindheit in Libyen zur Zeit der Revolution Gaddafis

Suleiman ist neun Jahre alt, als sich die Welt, wie er sie kennt, für immer verändert. Es ist der Sommer 1979, und Tripolis liegt im gleißenden Sonnenlicht. Die Maulbeeren sind so süß, als kämen sie direkt vom Himmel. Aber es geschehen Dinge, die Suleiman nicht versteht und die ihm niemand erklärt. Denn Suleiman soll nicht wissen, dass sein Vater im Untergrund gegen Revolutionsführer Gaddafi arbeitet – und muss doch erleben, wie sich das Netz des Sicherheitsapparates immer enger um die Familie legt.

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Seitenzahl: 352

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Hisham Matar

Im Landder Männer

Roman

Aus dem Englischenvon Werner Löcher-Lawrence

Buch

An einem heißen Sommertag im Jahre 1979 geht der neunjährige Suleiman mit seiner Mutter auf dem Markt in Tripolis, der Hauptstadt Libyens, einkaufen. Das machen die beiden oft, wenn der Vater auf Geschäftsreise ist und die Mutter nachts »krank« war. In diesen Nächten trinkt sie viel von ihrer klaren »Medizin« und erzählt Suleiman, wie sie als 14-jähriges Mädchen auf Beschluss des »Hohen Rates«, des erlauchten Kreises ihrer männlichen Verwandten, an den wesentlich älteren Mann, der sein Vater wurde, verheiratet worden ist.

Auf dem Marktplatz sieht Suleiman plötzlich seinen Vater, obwohl der angeblich im Ausland weilt. Ein Nachbar, der Vater seines besten Freundes, wird von fremden Männern abgeholt. Es heißt, er sei ein Verräter. Suleimans Mutter verbrennt im Garten die geliebten Bücher ihres Mannes … Suleimans Welt gerät zusehends aus den Fugen, während sich das Netz des Sicherheitsapparates von Revolutionsführer Gaddafi immer enger um seine Familie zusammenzieht.

Ein eindringlicher und ergreifender Roman, der aus der Sicht eines Kindes davon erzählt, wie Libyen unter Gaddafis Gewaltherrschaft seine Unschuld verlor – und ein Liebesbrief eines seither im Exil lebenden Schriftstellers an seine verlorene Heimat.

Autor

Hisham Matar wurde 1970 in New York City geboren; seine Eltern stammen aus Libyen. Er wuchs in Tripolis und, nach der Emigration der Familie, in Kairo auf. Seit 1986 lebt Hisham Matar in London. Sein Debüt »Im Land der Männer« wurde in zwanzig Sprachen übersetzt und für die Shortlist des Man Booker Prize 2006 sowie des Guardian First Book Award nominiert. 2007 wurde Hisham Matar ausgezeichnet mit dem Royal Society of Literature Ondaatje Prize, dem Premio Vallombrosa Gregor von Rezzori und dem Premio Internazionale Flaiano.

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »In the Country of Men« bei Viking, London.

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1. E-Book-Auflage Genehmigte Taschenbuchausgabe Januar 2009, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Copyright © der Originalausgabe 2006 by Hisham Matar Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagbild: © plainpicture/wildcard Satz: Greiner & Reichel, Köln CP · Herstellung: AT

eISBN 978-3-641-22734-0V002

www.luchterhand-literaturverlag.defacebook.com/luchterhandverlag twitter.com/LuchterhandLit

www.randomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

Buch und AutorCopyrightKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25

1

Ich erinnere mich an jenen letzten Sommer, bevor ich weggeschickt wurde. Wir schrieben das Jahr 1979, und die Sonne war überall. Tripolis lag strahlend und still in sie gebettet. Mensch, Tier und Ameise suchten verzweifelt nach Schatten, jenen wenigen grauen Flecken des Erbarmens, die ins allumfassende Weiß geschnitten waren. Wahre Erleichterung kam jedoch erst mit der Nacht, wenn eine von der Leere der Wüste gekühlte Brise heranwehte, angefeuchtet vom rauschenden Meer, ein zögernder Gast, der schweigend durch die leeren Straßen strich, unsicher, wie weit er sich in das Reich des großen Fixsterns wagen durfte. Und schon stieg er wieder auf, dieser Stern, verlässlich wie je, und vertrieb die gesegnete Brise. Es wurde Morgen.

Das Fenster ihres Zimmers war weit offen, der Gummibaum draußen still und starr, sein Grün verschämt im frühen Licht. Sie war erst in Schlaf gefallen, als die Dämmerung grau am Himmel heraufzog. Aber selbst da war ich noch zu verwirrt, um von ihrer Seite zu weichen, und fragte mich, ob sie nicht gleich wieder hochschrecken würde, wie eine Handpuppe, die sich totgestellt hatte, ob sie sich nicht eine weitere Zigarette anstecken und mich wie erst vor Minuten noch anflehen würde, bloß nichts zu verraten, bitte, bitte, nichts zu verraten.

Baba erfuhr nie von Mamas Krankheit. Sie wurde nur krank, wenn er auf Geschäftsreise und die Welt ohne ihn war. Dann schienen wir als stumme Mahnungen zurückzubleiben, leere Seiten, die mit der Erinnerung gefüllt werden mussten, warum die beiden überhaupt geheiratet hatten.

Ich saß da und betrachtete ihr schönes Gesicht, sah, wie sich ihre Brust beim Atmen hob und senkte, und wich nicht von ihrer Seite. Wieder und wieder hörte ich, was sie mir eben erzählt hatte, die Worte schwammen in meinem Kopf herum.

Endlich erhob ich mich und ging ins Bett.

Als sie aufwachte, kam sie zu mir. Ich spürte ihr Gewicht neben mich sinken, ihre Finger in meinem Haar. Das Geräusch ihrer Nägel auf meinem Kopf erinnerte mich an ein ungutes Ereignis. Ich hatte mir eine Dattel in den Mund gesteckt, und erst als die kleinen Körperpanzer zwischen meinen Zähnen knackten, wurde mir klar, dass sie voller Ameisen war. Still lag ich da, tat so, als schliefe ich, und lauschte ihrem Atem, in den sich Tränen mischten.

Beim Frühstück versuchte ich, so wenig wie möglich zu sagen. Mein Schweigen machte sie nervös. Sie überlegte, was wir zu Mittag essen könnten. Sie fragte mich, ob ich gern Marmelade oder Honig hätte. Ich sagte nein, aber sie holte dennoch beides aus dem Kühlschrank. Und dann, wie immer morgens, wenn sie krank gewesen war, machte sie eine Spazierfahrt mit mir, um mich aus meinem Schweigen zu holen und wieder zu mir selbst zu bringen.

Während sie darauf wartete, dass der Motor warmlief, machte sie das Radio an und drehte den Senderknopf, bis die schöne Stimme von Abd al-Basit Abd al-Sammad erklang. Ich war froh darüber, denn wie alle wissen, muss man schweigen und demütig zuhören, wenn aus dem Koran gelesen wird.

Kurz bevor wir in die Gergarish-Straße bogen, die am Meer entlangführt, erschien wie aus dem Nichts Bahloul, der Bettler. Mama trat auf die Bremse und sagte: »Ya satir.« Er ging langsam hinüber auf ihre Seite, die schmutzigen Hände fest auf den Bauch gepresst, seine Lippen zitterten. »Hallo, Bahloul«, sagte Mama und wühlte in ihrem Portemonnaie herum. »Ich sehe dich, ich sehe dich«, sagte er, und obwohl er diese Worte fast immer murmelte, dachte ich diesmal, was für ein Idiot Bahloul doch sei und dass ich mir wünschte, er würde verschwinden. Ich sah ihn im Seitenspiegel, wie er mitten auf der Straße stand und das Geld, das Mama ihm gegeben hatte, an die Brust drückte, als hätte er einen Schmetterling gefangen.

Sie fuhr mit mir in die Stadt, zum Sesam-Mann auf dem Markt neben dem Märtyrerplatz, von dem man aufs Meer sieht, dem Platz mit der stolzen Statue von Septimius Severus, dem römischen Kaiser, der vor langer, langer Zeit in Leptis geboren wurde. Sie kaufte mir so viele Sesamstangen, wie ich nur wollte, die alle einzeln in weißes, an den Enden gedrehtes Wachspapier eingewickelt waren. Ich wollte nicht, dass sie die Stangen in ihre Tasche steckte. An solchen Tagen war ich stur. »Aber ich muss noch einkaufen«, sagte sie, »und so fallen sie dir gleich runter.« »Nein«, sagte ich und zog die Brauen zusammen, »ich warte draußen auf dich«, und marschierte zornig davon, ohne mich darum zu kümmern, ob ich sie verlieren und in der großen Stadt nicht wiederfinden würde. »Hör zu«, rief sie hinter mir her und zog damit die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. »Warte bei Septimius Severus auf mich.«

Auf der einen Seite des Marktes war ein großes Café, dessen Tische bis in die Passage reichten. Männer saßen dort und spielten Domino oder Karten. Ein paar der Gesichter kannte ich. Ihre Augen waren auf Mama gerichtet. Ich fragte mich, ob sie nicht ein weiteres Kleid tragen sollte.

Während ich mich von ihr entfernte, spürte ich, wie meine Macht über sie nachließ. Mitleid und Traurigkeit ergriffen mich, weil sie an diesen Morgen immer so großzügig und so verlegen war, als wäre sie nackt auf die Straße hinausgetreten. Ich wollte zu ihr laufen, ihre Hand halten und mich an ihr Kleid klammern, während sie einkaufte und sich der Welt stellte, einer Welt voller Männer und Männergier. Ich zwang mich jedoch, nicht zurückzusehen, sondern konzentrierte mich auf die Läden unter den Bögen auf beiden Seiten der Passage. Schwarze Seidentücher bauschten sich sanft vor dem einen, vor dem anderen türmten sich mannshohe Stapel roter Kappen. Oben über den Durchgang spannten sich dunkle Stoffbahnen, zwischen denen hier und da weiße Lichtklingen hindurchstießen und den in der Luft schwimmenden Staub aufleuchten ließen. Reglos und schön beschienen sie Bögen und Boden, schossen jedoch wie Funken auf Köpfe und Körper der Passanten und ließen die Schatten weit dunkler erscheinen, als sie waren.

Der Platz draußen war sonnenüberflutet, die Erde fast weiß vor Helligkeit, und die dunklen Schuhe und Gestalten, die ihn überquerten, wirkten wie Dinge, die über der Welt trieben. Ich wünschte, ich hätte Mama die Sesamstangen gegeben. Kleine Nadeln stachen mir in den Arm, und ich ärgerte mich, weil ich so stur gewesen war und mir so viele hatte kaufen lassen. Einen ganzen Armvoll trug ich herum, aber ich verspürte keinerlei Appetit.

Ich lehnte mich gegen den kühlen Marmorsockel von Septimius Severus. Der römische Kaiser stand über mir und streckte den Arm Richtung Meer, sein silberbeschlagener Gürtel wand sich unter dem Bauch um seinen Leib. »Libyen drängend, nach Rom zu sehen«, so beschrieb Ustaz Raschid diese Haltung. Ustaz Raschid lehrte Kunstgeschichte in der Al-Fateh-Universität und war der Vater meines besten Freundes Karim. Ich erinnerte mich, dass unser Führer in einer seiner Militäruniformen genauso dastand und mit dem Arm winkte, als am Revolutionstag die Panzer vor ihm vorbeifuhren.

Ich wandte mich dem Meer zu, dem türkis leuchtenden Meer jenseits des Platzes. Es kam mir vor wie ein riesiges blaues Ungeheuer, das sich über den Rand der Welt schob. »Grrr …«, knurrte ich und fragte mich gleich, ob mich jemand gehört hatte. Mehrmals trat ich mit der Hacke gegen den Sockel. Ich starrte auf den Boden, in die Hitze und das Gleißen und verspürte den Wunsch, mit offenen Augen einzuschlafen. Und dann, ohne dass ich nach ihm Ausschau gehalten hätte, fiel mein Blick direkt auf ihn: Da war Baba.

Er stand am Rand des Bürgersteigs in einer Straße auf der anderen Seite des Platzes und sah nach links und rechts, ob Autos kamen, so weit vorgebeugt, dass man glauben konnte, er würde gleich vornüberfallen. Bevor er auf die Straße trat, wedelte er mit der Hand und schnippte zweimal mit den Fingern. Ich kannte diese Geste. Manchmal machte er sie zu mir hin, als wollte er sagen: »Komm schon, komm schon«, dazu das Fingerschnippen: »He, wach auf.« Hinter ihm kam Nasser, Babas Büroangestellter. Er trug eine kleine, schwarz glänzende Schreibmaschine unter dem Arm und bemühte sich, mit Baba Schritt zu halten. Baba war bereits auf der Straße und kam in meine Richtung. Einen Moment lang fragte ich mich, ob er Nasser zu Septimius Severus brachte, um ihm all die Dinge zu erzählen, die er mir über den römischen Kaiser, Leptis Magna und Rom beigebracht hatte. Baba betrachtete Nasser wie einen jüngeren Bruder, das sagte er immer wieder.

»Baba?« flüsterte ich.

Zwei dunkle Gläser wölbten sich wie Schildkrötenbuckel vor seinen Augen. Himmel, Sonne und Meer waren von Gott in Farben getaucht, auf die wir zeigen und sagen konnten, das Meer ist türkis, die Sonne bananengelb, der Himmel blau. Sonnenbrillen sind schrecklich, dachte ich, weil sie das alles verändern und ihre Träger so fern von uns halten. Erst vor wenigen Tagen hatte Baba uns zum Abschied geküsst. »Möge Gott dich sicher zu uns zurückbringen«, hatte Mama gesagt, »und möge die Reise sich lohnen.« Ich küsste seine Hand so, wie er es mir beigebracht hat. Er beugte sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr: »Pass auf deine Mutter auf, du bist jetzt der Herr im Haus«, und dabei grinste er mich an, wie es Leute tun, die denken, sie hätten dir ein Kompliment gemacht. Aber jetzt sieh, sieh doch nur: Hier geht er, ich könnte ihn berühren, hier, wo wir zusammensein sollten. Mein Herz schlug schneller. Er kam näher. Vielleicht meint er mich? dachte ich. Seine Augen waren nicht zu erkennen.

Ich sah seinen so vertrauten Gang – den Kopf leicht angehoben, die sauber geputzten Lederschuhe, wie sie mit jedem Schritt vor ihm auf den Boden klackten – und hoffte, dass er meinen Namen rufen, winken, mit den Fingern schnippen würde. Ich schwöre, wenn er das getan hätte, wäre ich ihm in die Arme geflogen. Als er ganz nah war, so nah, dass ich den Arm hätte ausstrecken können, um ihn zu berühren, hielt ich den Atem an, und meine Ohren füllten sich mit Stille. Ich betrachtete seinen ernsten Gesichtsausdruck – einen Ausdruck, den ich bewunderte und fürchtete –, bekam etwas vom Geruch seines Eau de Cologne in die Nase und fühlte, wie sich die Luft um ihn bauschte, als er vorüberging. Nasser folgte ihm auf dem Fuß, die schwarz glänzende Schreibmaschine unter dem Arm. Ich wünschte, ich wäre an seiner Stelle und folgte Baba wie ein Schatten. Sie gingen in eines der Gebäude mit Blick auf den Platz. Es war weiß und hatte grüne Fensterläden. Grün war die Farbe der Revolution, aber man sah selten grüne Fensterläden.

»Habe ich nicht gesagt, du sollst beim Standbild warten?« hörte ich Mama hinter mir sagen. Ich drehte mich um und sah, dass ich Septimius Severus weit hinter mir gelassen hatte.

Mir war schlecht, und ich hatte Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Baba war nicht auf Geschäftsreise, sondern hier in Tripolis, wo wir zusammensein sollten. Ich hätte den Arm ausstrecken und ihn aufhalten können. Warum hatte ich es nicht getan?

Ich saß im Auto, während sie die Einkäufe einlud, und hielt immer noch die Sesamstangen fest. Ich sah zu dem Haus auf, in das Baba und Nasser gegangen waren. Ein Fenster im obersten Stock erzitterte und öffnete sich. Baba erschien darin. Er blickte auf den Platz hinaus, ohne Sonnenbrille jetzt, und stützte sich mit den Händen auf die Fensterbank, wie ein Führer, der darauf wartete, dass das Klatschen und die Sprechchöre aufhörten. Er hängte ein kleines rotes Handtuch an die Wäscheleine und verschwand im Inneren des Hauses.

Auf dem Nachhauseweg war ich noch schweigsamer als zuvor, und diesmal machte es mir keine Mühe. Sobald wir vom Märtyrerplatz wegfuhren, verdrehte Mama immer wieder den Hals und sah in den Rückspiegel. An der nächsten Ampel flüsterte sie ein leises Gebet. Ein Auto hielt so nahe neben uns, dass ich das Gesicht des Fahrers hätte berühren können. Vier Männer in dunklen Safarianzügen saßen in dem Wagen und sahen zu uns herüber. Erst erkannte ich sie nicht, aber plötzlich erinnerte ich mich, und mein Herz tat einen Satz. Es waren die Männer des Revolutionskomitees, die eine Woche zuvor Ustaz Raschid abgeholt hatten.

Mama hielt den Blick vor sich auf die Straße gerichtet, den Rücken ein paar Zentimeter vor der Rückenlehne, die Fäuste fest ums Lenkrad geschlossen. Jetzt löste sie eine Hand, legte sie auf mein Knie und flüsterte streng: »Sieh nach vorn.«

Als die Ampel auf Grün sprang, blieb das Auto neben uns stehen. Jeder weiß, dass man ein Auto des Revolutionskomitees nicht überholt, und wenn man dennoch muss, tut man es am besten unauffällig, ohne Anzeichen von Freude daran. Ein paar Fahrer, die nicht wussten, wer da neben uns parkte, drückten auf die Hupe. Mama fuhr langsam los und sah dabei mehr in den Rückspiegel als nach vorn. Dann sagte sie: »Sie folgen uns, schau dich nicht um.« Ich starrte auf meine nackten Knie und wiederholte unablässig dasselbe Gebet. Ich spürte, wie sich Schweiß zwischen meinen Handflächen und dem Wachspapier der Sesamstangen sammelte. Erst, als wir fast zu Hause waren, sagte Mama: »Okay, sie sind weg«, und dann murmelte sie: »Haben nichts Besseres zu tun, als hinter uns herzufahren, die miesen Ratten.«

Mir wurde leichter ums Herz, und mein Rücken streckte sich. Das Gebet brauchte ich nicht mehr.

Der Unschuldige, Scheich Mustafa, der Imam unserer örtlichen Moschee, hatte mir einmal gesagt: Hab keinen Grund zur Angst, nur die Schuldigen leben in Angst.

Ich half ihr nicht, die Einkäufe ins Haus zu tragen, wie ich es sonst immer tat, sondern ging direkt in mein Zimmer, wo ich die Sesamstangen aufs Bett fallen ließ und mir das Blut zurück in die Arme schüttelte. Ich nahm mein Bilderbuch über Leptis Magna. Zehn Tage zuvor hatte ich die antike Stadt zum ersten Mal und, wie sich herausstellen sollte, auch zum letzten Mal besucht. Die Bilder der verlassenen Ruinen am Meer schwebten mir immer noch lebhaft vor Augen. Wie gern wäre ich dorthin zurückgekehrt.

Ich verließ mein Zimmer erst wieder, als ich es musste: Nachdem sie Mittagessen gemacht und den Tisch gedeckt hatte, rief Mama meinen Namen.

Sie riss das Brot entzwei und gab mir ein Stück. Ich sah, dass sie noch keinen Salat hatte, und reichte ihr die Salatschüssel. Während des Essens stand sie auf und schaltete das Radio ein. Sie suchte einen Sender mit einem Mann aus, der über die Nutzbarmachung der Wüste sprach. Ich stand auf, sagte: »Gesegnet seien deine Hände«, und ging in mein Zimmer. »Ich werde etwas schlafen«, sagte sie hinter mir her. Mein Schweigen ließ sie Dinge sagen, die sie nicht sagen musste: Sie hielt immer einen Mittagsschlaf, alle taten das, nur ich nicht. Ich konnte tagsüber nicht schlafen.

Ich wartete in meinem Zimmer, bis sie mit dem Abwasch und dem Abräumen des Tischs fertig war. Als ich sicher sein konnte, dass sie schlief, kam ich heraus.

Ich lief im Haus herum und suchte nach irgendeiner Beschäftigung, als das Telefon klingelte. Ich rannte hin, damit sie nicht davon aufgeweckt wurde. Es war Baba. Seine Stimme ließ mein Herz schneller schlagen. Sicher meldete er sich so bald, nachdem ich ihn gesehen hatte, um zu erklären, warum er ohne Gruß an mir vorbeigegangen war.

»Wo bist du?« fragte ich.

»Im Ausland. Lass mich mit deiner Mutter sprechen.«

»Wo im Ausland?«

»Im Ausland«, wiederholte er, als wäre klar, wo das war. »Ich komme morgen zurück.«

»Ich vermisse dich.«

»Ich dich auch. Ruf deine Mutter.«

»Sie schläft. Soll ich sie wecken?«

»Sag ihr nur, dass ich morgen nach Hause komme. Gegen Mittag.«

Ich wollte nicht, dass unser Gespräch damit zu Ende war, deshalb sagte ich: »Uns hat heute der weiße Wagen verfolgt, mit dem sie Ustaz Raschid geholt haben. Wir standen an der Ampel nebeneinander, und ich hab ihre Gesichter gesehen. Ich war so nahe dran, dass ich das Gesicht des Fahrers hätte berühren können, aber ich hatte keine Angst. Überhaupt nicht. Nicht mal ein bisschen, gar keine.«

»Bis morgen«, sagte er und legte auf.

Eine Weile stand ich neben dem Telefon und lauschte dem dichten Schweigen, das sich während dieser Nachmittagsstunden über unser Haus senkte und vom Summen des Kühlschranks in der Küche und dem Ticken der Uhr im Flur noch verstärkt wurde.

Ich ging, um Mama beim Schlafen zuzusehen. Ich setzte mich neben sie und sah als erstes nach, ob sich ihre Brust gleichmäßig hob und senkte. Dann fiel mir ein, was sie in der letzten Nacht zu mir gesagt hatte: »Wir sind zwei Hälften derselben Seele, zwei offene Seiten desselben Buchs«, Worte, die mir wie ein Geschenk vorkamen, das ich nicht wollte.

2

Mitten in der Nacht wachte ich vom Geräusch zerberstenden Glases auf. In der Küche brannte Licht. Mama kniete auf dem Boden, sprach mit sich selbst und sammelte Splitter auf. Sie war barfuß. Als sie mich sah, bedeckte sie den Mund mit der Innenseite des Handgelenks, die Hand voller Glassplitter, und gab dieses merkwürdig nervöse Kichern von sich, das irgendwo zwischen Lachen und Weinen lag. Ich holte schnell ihre Pantoffeln und warf sie ihr zu, aber sie schüttelte den Kopf, stolperte hinüber zum Mülleimer und warf die Splitter hinein. Sie begann den Boden zu fegen. Als der Besen gegen die Pantoffeln stieß, hielt sie inne und zog sie an.

Ich sah ihre halbleere Medizinflasche auf dem Frühstückstisch stehen. Daneben stand kein Glas, nur eine Zigarette brannte im Aschenbecher, der voller Kippen und schwarzköpfiger Streichhölzer war. Das Glas musste ihr zerbrochen sein. Mama war wieder krank. Meine Wangen glühten vor Zorn. Wo ist Baba? Er sollte hier sein. Wenn er zu Hause ist, bleibt alles normal, dann ist sie niemals krank, und ich wache auch nicht mitten in der Nacht auf, nur um festzustellen, dass alles anders ist.

Sie setzte sich, stand wieder auf, holte sich ein neues Glas und füllte es mit Medizin. Die Küche stank danach, der Geruch machte mir den Kopf schwer. Sie drehte sich zu mir. Ich stand noch in der Tür. Wieder kicherte sie, fragte: »Was?«, und rollte mit den Augen. »Was ist los mit dir? Warum starrst du mich so an? Hast du nichts Besseres zu tun?« Gedankenversunken schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, warum du mich so ansiehst. Ich habe doch nichts getan.« Und dann sagte sie mit übertriebenem Ernst: »Geh wieder ins Bett, es ist spät.«

Ich legte mich hin, konnte aber nicht schlafen. Ich hörte sie ins Bad gehen, wo sie lange blieb, obwohl kein Wasser lief. Mein Herz fing an zu rasen. Dann plötzlich kam sie wieder heraus und verschwand in ihrem Zimmer. Ich ging zu ihrer Tür und zögerte.

»Hallo, Habibi«, sagte sie. »Was ist? Kannst du nicht schlafen?«

Ich schüttelte den Kopf. Nur zu gern spielte ich ihr Spiel mit und tat so, als hätte ich einen bösen Traum gehabt. Sie klopfte neben sich aufs Bett, und ich legte mich zu ihr. Gerade als sich der Schlaf auf mich senkte, fing sie an zu erzählen. Ihren Mund an meinem Ohr, der Geruch ihrer Medizin im ganzen Zimmer.

Nur Vergangenes war von Bedeutung, und das bedeutendste Ereignis in der Vergangenheit war die Heirat zwischen ihr und Baba und wie es dazu gekommen war, zu jenem »schwarzen Tag«, wie sie sagte. Nie erzählte sie die Geschichte von Beginn an. Wie Scheherazade folgte sie keiner geraden Linie, sondern sprang von einer Episode zur anderen und ließ dabei etliche Fragen unbeantwortet, Fragen, die ich mich nicht zu stellen traute, da ich fürchtete, sie würden ihre Erzählung stören. Ich hielt mich zurück und versuchte mir jede Einzelheit zu merken. Eines Tages, so hoffte ich, würde ich alles zu einer einzigen Geschichte zusammenfügen können, die geradlinig, klar und einfach war. Obwohl ich jene Nächte fürchtete, wenn sie krank und ich allein mit ihr war, wollte ich doch nie, dass sie zu reden aufhörte. Ihre Geschichte war auch meine, sie verband uns, machte uns zu einem Wesen. »Zwei Hälften derselben Seele, zwei offene Seiten desselben Buchs«, wie sie zu sagen pflegte.

Einmal begann sie ihre Geschichte mit den Worten: »Du bist mein Prinz. Eines Tages wirst du ein Mann sein, und dann holst du mich mit deinem weißen Pferd.« Sie legte die Hände auf mein Gesicht, die Augen voller Tränen. »Und fast hätte ich dich nicht … Du bist mein Wunder. Die Pillen und all die anderen Versuche, mich dagegen zu wehren. Ich wusste nicht, dass du so schön sein und mir das Herz füllen würdest …« Deshalb lag ich oft in meinem dunklen Zimmer wach und träumte davon, sie zu retten.

Als Mama hörte, ihr Vater habe einen Bräutigam für sie gefunden, schluckte sie eine »Handvoll magischer Pillen«. »Die hießen so«, sagte sie, »weil sie eine Frau verdarben. Wer wollte schon mit einer Frau verheiratet sein, die keine Kinder gebären konnte? In ein paar Monaten, dachte ich, höchstens einem Jahr, bin ich wieder frei und kann mit meiner Ausbildung weitermachen. Es war ein perfekter Plan, wenigstens dachte ich das.

Sie peitschten die Hochzeit durch, als wäre ich eine Dirne, als wäre ich schwanger und müsste verheiratet werden, bevor man es sah. Ein Teil der Strafe war, dass ich nicht mal ein Foto meines zukünftigen Mannes sehen durfte. Aber unser Hausmädchen schlich sich zu mir und sagte, sie habe den Bräutigam gesehen. ›Hässlich‹, sagte sie und legte die Stirn in Falten, ›so eine große Nase‹, dann spuckte sie aus. Ich hatte solche Angst. Mindestens zehnmal lief ich zur Toilette. Mein Vater und meine Brüder – der Hohe Rat, der direkt draußen vor dem Zimmer saß –, wurden immer nervöser und hielten meinen schwachen Magen für den Beweis meines Verbrechens. Sie wussten nicht, wie es sich anfühlte, in diesem Raum darauf zu warten, dass ein völlig Fremder, der plötzlich mein Mann war, hereinkommen würde, allein, um mich ohne weiteres auszuziehen und schmutzige, abscheuliche Dinge mit mir zu tun.

Es war ein düsteres Zimmer, in dem nichts stand als ein riesiges Bett mit einem gebügelten weißen Taschentuch auf einem der Kopfkissen. Ich hatte keine Ahnung, wozu das Taschentuch gut sein sollte.

In meinem Hochzeitskleid lief ich in diesem Zimmer auf und ab und fragte mich, was für ein Gesicht mein Henker wohl hatte. Denn so sah ich es: Sie hatten das Urteil gefällt, und er, der Fremde, bewaffnet mit dem von meinem Vater unterzeichneten Ehevertrag, würde kommen, um die Strafe zu vollziehen. Wenn er mich anfasste, und ich war sicher, dass er das tun würde, hatte es keinen Sinn zu schreien. Ich war sein Eigentum, seine Frau vor Gott. Ich war zwar erst vierzehn, aber ich wusste, was ein Mann mit seiner Frau machen musste. Meine Cousine Khadija, die ein richtiges Plappermaul war, wurde nach ihrer Hochzeitsnacht schweigsam wie eine Wand, aber in einer stillen Stunde hat sie mir erzählt, wie ihr Mann die Geduld verloren, mit den Fingern ihren Schleier durchstochen und sie zum Bluten gebracht hatte. Es war die Pflicht eines jeden Mannes zu beweisen, dass seine Frau noch Jungfrau war.«

Ich wusste nicht, was Mama meinte, fürchtete aber, wenn es einmal so weit war, nicht den Mut zu haben, eine Frau zu »durchstechen«.

»Das Gefühl, verraten worden zu sein, schnürte mir die Kehle zu«, fuhr sie fort. »Die Stunden damals schienen nicht vergehen zu wollen. Mein Magen drehte sich, meine Hände waren eiskalt und rangen miteinander.

Als ich wieder einmal wie eine Idiotin mit hochgezogenem Hochzeitskleid zur Toilette rannte, sah ich, wie sich mein Vater eine Pistole in die Tasche steckte. ›Blut wird fließen, so oder so‹, das sagte er zu deiner Großmutter. Sie erzählte es mir später, erleichtert, aufgedreht und außer sich vor Glück. ›Wenn du, Gott schütze uns‹, sagte sie, ›nicht tugendhaft und rein gewesen wärst, hätte dein Vater dir das Leben genommen.‹

Dein Vater, mein unbekannter Bräutigam, war dreiundzwanzig. Für ein vierzehnjähriges Mädchen war das uralt. Als er endlich hereinkam, fiel ich in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, war er nicht mehr da. Dein Großvater saß neben mir und lächelte, deine Großmutter stand hinter ihm, drückte sich das blutige Taschentuch an die Brust und weinte vor Glück.

Tagelang war mir schlecht. Die dummen Pillen funktionierten nicht. Ich nahm zu viele, und all die Spuckerei spülte sie mir wieder aus dem Leib. Neun Monate später bekam ich dich.«

Die Medizin veränderte ihre Augen und ließ sie das Gleichgewicht verlieren. Manchmal wusste ich bereits, dass sie krank war, noch bevor ich sie sah. Ich kam ins Haus und spürte eine bestimmte Stille, eine Veränderung. Ich wusste es, ohne dass ich hätte sagen können, woher; wie das eine Mal, als ich mit den Jungs Fußball spielte und mich einer von Osamas Gewaltschüssen so fest am Hinterkopf traf, dass ich das Bewusstsein verlor. Ich sehe Karims Gesicht noch vor mir, kurz bevor es geschah, wie er mich warnen wollte, und dann füllte diese seltsame Stille meine Ohren. Es fühlte sich genauso an. Ich konnte lesend in meinem Zimmer sitzen oder auf der Straße spielen, und plötzlich überkam mich diese ruhige Angst. Ich rief nach ihr, obwohl ich sie gar nicht brauchte. Und wenn ich ihre verloren blickenden Augen sah, das merkwürdig nervöse Kichern hörte, war ich sicher, Mama war wieder krank. Manchmal überfiel mich Panik, obwohl es ihr gutging, und ich fand sie in ein Buch von Nizar al-Qabbani, ihrem Lieblingsdichter, vertieft. Das schreckte mich noch mehr.

Wenn sie krank war, redete sie und redete und redete, konnte sich aber später kaum an das erinnern, was sie mir erzählt hatte. Es war so, als brächte ihre Krankheit den Geist einer anderen Frau in ihr hervor.

Morgens, nachdem ich endlich eingeschlafen war, erschöpft von ihren verdrehten Geschichten und der langen Krankenwache – aus Angst, sie könnte sich verbrennen, das Gas in der Küche aufgedreht lassen oder, Gott bewahre, auf die Straße laufen, Schande über uns bringen und uns zum Gerede der Leute machen –, kam sie und setzte sich zu mir, fuhr mir mit der Hand durchs Haar, entschuldigte sich und weinte manchmal ein bisschen. Dann traf mich ihr medizinschwerer Atem, doch ich konnte keine Miene verziehen oder das Gesicht abwenden, schließlich sollte sie glauben, dass ich in tiefem Schlaf lag.

Sie erschrak, wenn ich wiederholte, was sie mir nachts erzählt hatte. »Wer hat dir das erzählt?« fragte sie. »Du«, schrie ich – ich musste schreien, es ging nicht anders. Darauf wandte sie den Blick ab und sagte: »Das hättest du nicht hören sollen.«

Manchmal sprach sie von Scheherazade. Tausendundeine Nacht war die Lieblingsgeschichte ihrer Mutter gewesen, und obwohl meine Großmutter nie lesen gelernt hatte, kannte sie das ganze Buch auswendig, Wort für Wort, und trug es ihren Kindern regelmäßig vor. Als ich das zum ersten Mal hörte, träumte ich danach von meiner Großmutter, die ich nur selten sah, und in dem Traum versuchte sie, das Buch zu verschlucken. Nichts ärgerte Mutter mehr als die Geschichte von Scheherazade. Ich selbst hatte Scheherazade immer für eine tapfere Frau gehalten, die sich ihre Freiheit mit dem Erfinden von Geschichten erkämpfte, und dachte in Augenblicken großer Angst oft an sie.

»Du solltest dir ein anderes Vorbild suchen«, sagte Mama einmal. »Scheherazade war ein Feigling, aus Angst vor dem Tod hat sie sich zur Sklavin machen lassen. Kennst du das letzte Kapitel? ›Die Hochzeit von König Schahryar und Scheherazade ‹? Nachdem sie am Ende, Gott weiß, wie lang, mit ihm gelebt und geschlafen – davon spricht natürlich nie jemand – und ihm nicht einen, nicht zwei, sondern drei Jungen geboren hatte, brachte sie, deine tapfere Scheherazade, endlich genug Mut auf, um ihn zu fragen: ›Darf ich so anmaßend sein, Eure Hoheit um einen Gefallen zu bitten?‹ Und was war das für ein Gefallen, um den sie so ›anmaßend‹ bat? Was?« rief Mama, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Wollte sie einen Teil, eine schmutzige kleine Höhle seines Königreichs regieren? Wollte sie eines der Ministerien? Vielleicht eine Schule? Oder bat sie wenigstens um einen Schreibtisch und ein ruhiges Zimmer in seinem riesigen Palast, ein Zimmer, das sie ihr eigen hätte nennen können, um heimlich die Wahrheit über das Ungeheuer Schahryar aufzuschreiben? Nein. Sie sammelte ihre Kinder um sich – ›ein laufendes, ein krabbelndes, ein säugendes‹, wie das Buch uns erklärt. Natürlich alles Söhne. Ich frage mich, wie erfolgreich sie gewesen wäre, hätte sie drei Flittchen auf die Welt gebracht, wie sie selbst eines war.«

Was mich in diesen Nächten am meisten schreckte, war, wie anders Mama mit einem Mal wurde. Sie sprach Worte offen vor mir aus, die meine Wangen rot anlaufen und mein Herz erbeben ließen. Speichel sammelte sich in ihren Mundwinkeln, und ihre Schönheit verflog.

»Die Anmaßung deiner Heldin bestand darin …«, sie hielt den Satz in der Schwebe, starrte mich an und beschrieb mit der Hand einen ausladenden Bogen, als präsentierte sie ein Festmahl, »um ihr Leben zu bitten.«

Ihr Blick war auf mich geheftet, sie erwartete eine Antwort, einen Wutausbruch, dass ich mir auf den Schenkel schlug, seufzte, mit der Zunge schnalzte und den Kopf schüttelte. Ich aber sah in meinen Schoß, tat so, als wäre ich mit etwas in meiner Hand beschäftigt, und hoffte, dass der Moment vorüberging. Als sie endlich sprach, war ich jedesmal erleichtert, dass ihre Stimme die Leere wieder ausfüllte.

»Um ihr Leben«, wiederholte sie. »Und das nicht, weil sie das gleiche Recht darauf gehabt hätte wie er, sondern weil ihre Söhne, wenn er sie tötete, ›ohne Mutter‹ hätten aufwachsen müssen.« Mama hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte wie ein Kind. »›Erlöst mich‹, bettelte deine Scheherazade, ›erlöst mich von der Verdammung zum Tod, diesen Kindern zuliebe. Nirgends in Eurem Reich werdet Ihr eine Frau finden, die sie großziehen könnte, wie es ihnen gebührt.‹ Dummes Flittchen. Ich schätze, fünf, höchstens zehn Jahre, bevor sie das Schwert zu spüren bekam. Sobald der Säugende zu einem Gehenden geworden und ihre Muskeln, Scheherazades elegante, geschmeidige Muskeln …«, sagte Mama und zog vor Abscheu die Stirn in Falten. Das Deckenlicht lag hart auf ihrem Gesicht. Ich fragte mich, ob ich es ausmachen und dafür die Stehlampe einschalten sollte. »… die so wichtig waren, die dem König, dem mächtigen, majestätischen Schahryar gefallen mussten …«, ihre Augen war jetzt nass, und ihre Unterlippe zitterte leicht, »sobald ihre Muskeln erschlafften, sobald sie nicht länger reizvoll und nützlich war, sobald sie nicht mehr schön war: Zack! Runter mit dem Kopf«, sagte sie, ließ den eigenen Kopf fallen und streckte die Beine von sich. Ich dachte schon, sie würde vom Sofa rutschen, aber sie verharrte reglos in ihrer Stellung und schwieg für ein paar Minuten. Wie würde es sein, ohne sie zu leben? Ein warmer Wirbel drehte sich in meinem Bauch, etwas Warmes, Verlässliches fasste mein Herz und ließ mich erschaudern. Ich war nicht sicher, was der Gedanke an ihren Verlust in mir auslöste, ob es Angst oder Erregung war. Dann schien sie aufzuwachen. Es war, als sähe sie mich zum ersten Mal. Sie ließ den Blick durch den Raum gleiten, hielt einen Moment lang inne und steckte sich eine Zigarette an. »Du solltest ins Bett gehen«, sagte sie und sah mich dabei nicht an.

Morgens dann war sie immer nett zu mir. Sie fuhr gern mit mir spazieren. Wenn Schule war, fragte sie: »Gibt es heute etwas Wichtiges?«, worauf ich mit den Schultern zuckte und sie sagte: »Ich rufe an und sage, dass es dir nicht gutgeht.« Im Auto redete sie viel und wunderte sich nicht über mein Schweigen. Es machte ihr nichts, unter der Fußgängerbrücke über die Gorgi-Straße zu halten, damit ich die bösen Buben beobachten konnte, die sich an den Armen oder – die wirklich Mutigen – an den Füßen über dem Schnellverkehr baumeln ließen. Sonst sagte sie mir immer, ich solle die Augen schließen, wenn wir unter ihnen durchfuhren. Aber an diesen Tagen hatte sie nichts dagegen, zu halten und ihnen zuzusehen. Manchmal sagte sie sogar: »Ich muss zugeben, die haben ziemlichen Mut.« Und dann: »Versprich mir, dass du das niemals tust. Versprich mir, dass du immer auf dich aufpasst.« Manchmal nickte ich, manchmal nicht.

Hin und wieder fuhr sie mit mir in die Stadt, nur um mir Sesamstangen zu kaufen. Wenn sie nachts sehr krank gewesen war, nahm sie mich auch schon einmal mit in Signor Il Calzonis Restaurant am Meer, in Gergarish, wo es gegrillte Garnelen und Spaghetti gab. Im Winter bestellte ich Rote-Beete-und-Tomaten-Suppe, dazu Brot, Käse und Bresaola. Es gefiel mir, wie mir die rote Beete Spucke und Zunge für Stunden violett färbte.

Signor Il Calzoni hatte eine große Maschine, die vollautomatisch Orangen presste, und ich durfte den Knopf drücken, der das Ding in Bewegung setzte, vor meinen Augen die Orangen zerschnitt und auspresste. So sehr mochte ich Orangensaft eigentlich nicht, aber an manchen Tagen trank ich bis zu fünf Gläser, nur um das Ding arbeiten zu sehen. Nach dem Essen bekam ich Gelati. Mama bestellte Cappuccino, trank ihn in kleinen Schlucken und sah hinaus aufs Meer. Mit zusammengekniffenen Augen studierte sie den Horizont, wo an klaren Tagen Malta zu erkennen war, das wie ein riesiger Keks auf dem Meer trieb.

Signor Il Calzoni freute sich immer, uns zu sehen. Er führte uns zu unserem Tisch am Fenster und nutzte jede Gelegenheit zu einem Gespräch. Er erzählte uns, wie sehr er Italien vermisse und Libyen liebe. Manchmal sang er auch, laut genug, dass es alle im Restaurant hören konnten: »Lang lebe der Führer«, den Blick auf das große Bild gerichtet, das er sich von ein paar Kunststudenten auf die Rückwand des Restaurants hatte malen lassen. Es zeigte den Oberst in voller militärischer Uniform, wie er die Augenbrauen hochzog und ungeheuer ernst aussah. Und wenn ein Tisch mit Männern des Revolutionskomitees oder des Sicherheitsdienstes Mokhabarat besetzt war – wir nannten die Leute »Antennen« –, sang er: »El-Fateh, el-Fateh, el-Fateh«, und stieß dabei die Faust in die Luft, bis die Kellner in den Gesang mit einfielen. Manchmal kam sogar der Koch heraus, und ich bekam seine große, bauschige weiße Kochmütze zu sehen.

Die Dinge, die sie mir erzählte, lagen mir auf der Seele, so schwer, dass es unmöglich schien, nicht darüber zu reden. Ich wollte aber mein Versprechen nicht brechen – das Versprechen, das ich ihr immer wieder geben musste, manchmal über dreißigmal in einer Nacht, niemandem etwas zu verraten, es auf ihr Leben zu schwören, wieder und wieder, »und sei gewarnt: Wenn du es verrätst und ich sterbe, hast du meinen Tod auf dem Gewissen« –, und so versuchte ich, mit ihr selbst darüber zu reden. Wir saßen in Signor Il Calzonis Restaurant. Ständig unterbrach sie mich und bat mich aufzuhören. Ich hielt mir die Ohren zu, schloss die Augen und redete wie ein Roboter. Sie schlug auf den Tisch und sagte: »Bitte, Suleiman, ich bitte dich, bring mich nicht in solche Verlegenheit«, und flüsterte dann ernst zwischen schmalen Lippen hindurch: »Ein Junge in deinem Alter sollte solche Dinge niemals aussprechen.« Darauf wechselte sie den Tonfall und sagte: »Habibi, Sonne meines Lebens, versprich mir, keiner Menschenseele etwas davon zu erzählen. Besonders nicht Musa. Ich weiß, wie sehr du ihn liebst, aber dieser Mann kann nichts für sich behalten. Versprich es mir.« Ich nickte und schlang mir die Arme um den Körper: Nur so vermochte ich das alles in mir zu halten.

Signor Il Calzoni vermied es, zu uns an den Tisch zu kommen, wenn er uns so sah. Er stand dann neben seinem Kassierer und tat so, als sähe er in eine andere Richtung.

Manchmal konnte ich mich nicht zum Essen überwinden, und Mama dachte, ich wollte sie bestrafen. »Was willst du von mir?« flüsterte sie zornig über den Tisch. »Ich habe alles für dich aufgegeben, und es ist dir immer noch nicht genug.«

Wenn ich zu weinen anfing, brachte mich Signor Il Calzoni zu der Orangenpresse, hielt meine Hand und sprach mit seinem komischen Akzent zu mir. War das Restaurant leer, setzte er sich neben mich, sah aufs Meer hinaus und sagte: »Ah, sieh nur, wie schön dein Land ist, Suleiman. Jetzt ist es auch meins, oder? Ich bin jetzt Libyer wie du. Und ich spreche auch wie die Libyer, nicht?« »Nein«, sagte ich darauf, nur um ihn zum Lachen zu bringen. Sein Lachen war wundervoll. Sein ganzer Körper hüpfte neben mir auf und ab. Die Sitze waren mit Sprungfedern gepolstert, und so hüpfte ich mit ihm. Wenn er Mama dann ansah, wurde er rot. »Sie sollten Ihren Namen von Signor Il Calzoni zu Signor al-Husseini ändern.« Darüber musste er jedesmal lachen.

Auf dem Nachhauseweg bereute ich all mein Reden und Lachen, bereute, dass ich das Schweigen gebrochen und mich aus der Reserve hatte locken lassen, so wie man eine Katze mit einem Wollfaden unter dem Bett hervorlockt. Ich wusste, ich hatte versagt, wenn wir spätnachmittags vor der leeren Bäckerei hielten, wo es längst kein frisches Brot mehr gab. Ich trat zur Seite und tat so, als zeichnete ich mit der Sandale Formen auf den mehlverstaubten Boden, beobachtete jedoch, wie der Bäkker Majdi tief unter seine Verkaufstheke griff, und dachte: Das ist der Teufel. Er gab ihr eine Flasche, die in eine schwarze Plastiktüte gewickelt war, und sie verstaute sie gleich in ihrer Handtasche. Und als wir wieder im Auto saßen, stellte sie ihre Tasche nicht wie gewöhnlich neben sich, sondern zwischen die Beine, wo ich sie nicht sehen konnte. Ich wusste, es war ihre Medizin, die weder ihr noch mir guttat, aber da ich mir der Welt und meines Platzes in ihr noch unsicher war, sagte ich nichts. Ich massakrierte die trockenen Enden der Brote, und sie tat so, als sähe sie es nicht.

Mama und ich verbrachten den Großteil der Zeit miteinander – sie allein und ich unfähig, mich von ihr abzuwenden. Ich hatte Angst davor, wie sich die Welt verändern mochte, wenn ich sie auch nur für eine Sekunde aus den Augen ließ. Ich war überzeugt, wenn ich ihr alle Aufmerksamkeit schenkte, ließe sich das Unglück im Zaum halten, und sie würde wieder zu sich finden, rein und unverletzt. In jenen Nächten schien sie verloren, ans falsche Ufer geschwemmt, wartend, allein. Aber obwohl mich ihre Unberechenbarkeit und ihre Geschichten aus der Vergangenheit quälten, schufen meine Wachsamkeit und das, was ich damals nur als ihre Krankheit verstehen konnte, eine Nähe zwischen uns, die für mich bis heute meine innigste Erfahrung von Liebe ist. Wenn Liebe irgendwo ihren Anfang nimmt, wenn sie eine verborgene Kraft ist, die von einem anderen Menschen in uns geweckt wird, wie Licht in einem Spiegel, dann war sie dieser Mensch für mich. Es gab Wut, es gab Mitleid, sogar die finstere, warme Umarmung des Hasses, aber immer auch Liebe und die Freude, die mit ihrem Keimen einhergeht.

3

In jenem Sommer brachte Ustaz Raschid seinem Sohn bei, wie man Auto fährt. Er setzte Karim auf ein Kissen und ließ ihn durch die ruhigen Straßen von Gergarish fahren. Eine Woche vor unserem Ausflug nach Leptis nahm Karim, ohne um Erlaubnis zu fragen, die Autoschlüssel seines Vaters und fuhr mich ans Meer. Er versuchte so nah ans Wasser heranzukommen wie möglich, aber auf dem letzten Stück versanken die Räder im Sand.

»Warum kommst du nicht mit nach Leptis?«

»Mama lässt mich nicht.«

»Keine Ausreden. Sie hat Baba längst gesagt, dass du mitdarfst. Wovor hast du Angst?«

»Ich habe keine Angst.« Er schien nicht überzeugt. Ich fürchtete, er könnte mich für ein Muttersöhnchen halten, also sagte ich es ihm. »Sie ist krank«, sagte ich. »Ich glaube, sie stirbt bald.«

»Aber alle Frauen sind krank«, sagte Karim. »Mama blutet die ganze Zeit.«

»Wirklich?«

»Ja. Manchmal komme ich ins Bad, und das Wasser im Klo ist ganz rot. Es ist eklig. Es ist ihr Fluch. Aber du musst dir keine Sorgen machen, es heißt nicht, dass sie stirbt.«