Im Land der Sümpfe - Ivonne Hübner - E-Book

Im Land der Sümpfe E-Book

Ivonne Hübner

4,4

Beschreibung

12. Jahrhundert - Die Hochzeit von Fjäder und Erik steht kurz bevor. Doch dazu kommt es nicht: Christliche Kreuzfahrer wollen das heidnische Volk der Wenden bekehren, ihr Kampf zerstört die heile Welt der Siedler an den Seen der Uckermark. Die Liebenden werden getrennt, Fjäder landet als Arbeiterin im Kloster von Parduin, Erik als Sklave in Magdeburg. Beide glauben nicht an den Tod des anderen und eine verzweifelte Suche beginnt. Eine romantische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des einzigen innerdeutschen Kreuzzugs.

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Ivonne Hübner

Im Land der Sümpfe

Ein historischer Roman

 Dryas Verlag

Die Geschichte wurde von den Geistern der Vergangenheit erzählt.

Dieses Buch widme ich meinen wendischen Vorfahren, insbesondere meiner Mutter.

Prolog

Sommer 1147

Erik wurde nicht von Sonnenstrahlen geweckt. Nicht von Janno, der mit seinem Spielzeug um sich warf, und nicht von Drago, der sich breitmachte, sondern vom Horn des Kriegers Arndis.

Erik lag auf der Seite, wie er es die ganze Nacht getan hatte. Fjäders Rücken an seiner Brust, ihr Gesäß zwischen seinen Beinen.

Der Klang des Horns erschallte weit über den Wall der Burg, weit über den Oberuckersee. Es war nicht der Ruf eines Mannes, der zu einem Fest, sondern der eines Kriegers, der zum Aufbruch in die Schlacht rief.

Erik fragte sich, wer jenseits der Ringburg lauerte, jetzt das Horn Arndis’ hörte und ebenso vor Anspannung erstarrte wie er selbst. Die Siedlung seines Volkes am jenseitigen Ufer des Oberuckersees lag verlassen da. Sie waren vor Tagen dem Ruf des Ukranenfürsten Kněz Lukaŝ gefolgt. Es waren wenige Tage gewesen, die sich wie Monate anfühlten.

Janno begann zu schreien. Jurena setzte sich auf. Ihre müden Augen begegneten Eriks Blick. Sie schaute zu Fjäder, ihrer Tochter, und wieder zu Erik. Fjäder rührte sich nicht. Erik sah, dass sie vor sich hinstarrte.

Jurena legte den weinenden Jungen an die Brust. Er beruhigte sich sofort. Fjäder, Bronja, Sybila, Drago und Fran räkelten sich, aber niemand in der Hütte sagte etwas. Arndis’ Horn ertönte abermals. Wie eine Stele lag Fjäder da. Ihr Gesicht war blass wie Birkenrinde. Sie hatte es geahnt. Nun war es so weit.

Zwischen den Hütten des inneren Zirkels versammelten sich die Menschen. Die waffenfähigen Männer legten ihre Rüstungen an, schnallten die Wehrgehänge um ihre Hüften, schulterten Äxte, ließen ihre Faustschilde neben ihren Beinen baumeln. Sie hielten die Schlachtenhammer und Streitkolben umklammert, nicht kampfbereit, sondern müde. Die Kriegsfahnen der vier Himmelsrichtungen zuckten aufgeregt auf dem Wehrgang der Burg. Živas1 auf Leinen gemaltes Gesicht war zerknittert.

Drago, Eriks jüngerer Bruder, wich ihm nicht von der Seite, während Erik in dem Getümmel nach Wladock oder irgendeiner Seele suchte, die Nachtwache gehalten hatte und ihm etwas würde sagen können. Er fand ihn auch. Auf Wladocks Hüfte saß die plärrende Wanja. In Wladocks Arm lag Bronja, Eriks Schwester. Sie weinte leise und zerrte den neunjährigen Drago an sich, der ganz verunsichert dreinschaute.

Hier wusste niemand nichts und alle dasselbe. Bronja fand in Fjäder eine verständnisvolle Trösterin. In einem Arm die krakeelende Wanja, im anderen die schluchzende Bronja machte Fjäder nicht den Eindruck, als dächte sie viel über ihren eigenen Schmerz nach.

Arndis’ röhrendes Horn und die dröhnende Pauke des Potzlower Helmslaw zogen jetzt die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich. Erik sah Kasimir, den Späher, beim Fürsten Knĕz Lucaŝ, dem Priester Attala und dem Krieger Arndis stehen. Sie warteten auf Stille im kreisrunden Burghof.

„Malchow am Tollensesee ging vergangene Nacht in Flammen auf.” Der Fürst hatte eine Ehrfurcht gebietende Stimme.

Das Holz des Ringwalls, an dem sie widerhallte, verlieh ihr etwas Dunkles, beinahe Furchteinflößendes. „Es hat sich keine einzige Tollenser Seele retten können.”

Erik spürte Fjäders Hand in der seinen.

„Der Tempel des Radigast2 ist entehrt und dem Erdboden gleichgemacht.”

Fjäders Finger, die zwischen die seinen glitten.

„Das Kreuzfahrerheer hat sich geteilt, und ein Zug von etwa dreitausend Christen ist auf dem Weg nach Brenszla.”

Ihr Daumen, der seine Handfläche streichelte.

„Wir, das heißt Arndis, Helmslaw und ich, werden nun die Truppen derer zusammenstellen, die mit hinausgehen, und derer, die hier Wache halten.”

Aber bevor Knĕz Lucaŝ und die Krieger Arndis und Helmslaw das taten, verlangten sie von den Frauen, Kindern und Greisen, sich in die Hütten zurückzuziehen. Niemand rührte sich vom Fleck. Fjäders Händedruck wurde fester. Nicht eine Ehefrau, Tochter, Schwester oder Mutter, nicht einer der alten Menschen, die mehr gesehen hatten als Knĕz Lucaŝ, Helmslaw oder Arndis mit seinen fünfunddreißig Jahren. Niemand wich von der Stelle. Eriks Finger knackten.

Arndis begann nun die Männer aufzurufen, die sich in den verschiedenen Himmelsrichtungen in bestimmte Stellungen begeben sollten. Man nannte Namen, auf deren Klang erstickte Ausrufe, verhaltenes Schluchzen und gedämpfte Worte des Trostes folgten.

Die Fischersoldaten und Bauernkrieger packten ihre Streitäxte, ihre Speere, ihre Lanzen, ihre Schilde und stellten sich auf. Als sie vollzählig waren, stapften sie drauflos, durch das südliche Burgtor und weiter, bis sie im Krieg angekommen sein würden.

Für die Vorhut im Nordosten wurden Eriks Vater, Danilo, und Fjäders Vater, Bogdan, abgestellt. Erik spürte Fjäders kurzes Schaudern, als ihr Vater sich von ihr verabschiedete.

Erik wusste in dem Moment, da Bogdan seiner ältesten Tochter einen Kuss auf die Stirn gab und ihm selbst freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte, dass er ihn nie wiedersehen würde. Er sagte nichts, sah nur zu, wie Bogdan mit den anderen den Burghof verließ.

Arndis war noch lange nicht fertig: „Im Osten werde ich selbst vorstehen. Mit mir ziehen der Fischer Bogomir, Janno der Potzlower, … Petter von Potzlow, Borislaw, Erik …”

Eriks Herz stolperte. Fjäders Händedruck schmerzte. Sie hielt den Atem an.

„… der Potzlower.”

Fjäder atmete langsam aus.

Arndis zählte weiter: „Miloslaw, Niklaŝ der Potzlower, … Erik … vom Oberuckersee.”

Jetzt war Erik es, der den Atem anhielt. Fjäders Hand sank schlaff hinab. Sie starrte vor sich hin. Keine Träne.

Erik beugte sich zu ihr hinunter und bedeckte ihre Lippen mit den seinen. Sie war wie versteinert. Sie rührte sich nicht.

„Sag was”, flüsterte er. Er wollte nicht so gehen. Er wollte ihre Stimme hören. Nur ein Wort.

Das Mädchen löste sich aus ihrer Starre und kramte in der Rocktasche nach etwas. Es war ein Stück Holz, das an einem Lederband baumelte. Erik erkannte einen dreiköpfigen Jarovit3, geschnitzt in ein Stück Eichenholz. „Siehst du …”, sie fischte unter dem Ausschnitt ihres Kleides den kleinen Anhänger mit der Mokošь4 hervor, den Erik ihr vor Jahren geschenkt hatte, „…wir werden beschützt.” Ihr Blick ruhte traurig in dem seinen. „Komm zurück auf deinen eigenen Füßen!” Der Klang ihrer Worte passte nicht zu dem Blick ihrer Augen.

Erik nickte. Als Nächstes spürte er ihre Lippen auf seiner Wange. Und dann Wladock, der ihm den Kolben der mit Schlangen und Stierköpfen verzierten Axt gegen die Brust drückte. Dass Wladocks Name gefallen war, hatte Erik nicht mitbekommen. Bronja klammerte sich an Fjäder. Fjäder starrte Erik an. Erik wurde von Wladock zu Arndis gezogen. Er nahm die Ereignisse auf wie die aus dem Leben eines anderen. Im Vorbeigehen wuschelte er seinem kleinen Bruder über den Schopf.

Erik hatte kein Ohr für das Weinen der Frauen, für die ermutigenden Worte der Männer. Er sah sich nicht um, als er seine Axt schulterte. Den Schild schleifte er mit und trottete hinter Arndis, seinem Kriegsführer, her.

Er würde zurückkommen, da war er sich sicher: Entweder zu Fuß und lebendig oder als Toter auf dem Karren, den Arndis jetzt durchs nördliche Burgtor lenkte.

Die Deutschen brauchten höchstens zwei Tage von Malchow bis Brenszla, das wusste Erik. Er hatte die Handelsstraße, die bis nach Magdeburg führte, viele Male befahren. Er zählte die Stunden, die vergingen, während sie mit nichts als ihren Gedanken im Sumpf lauerten, versuchten zu essen und zu schlafen und sich bemühten, nicht vor Anspannung zu bersten.

„Bolek ist der beste Bogenschütze aller Ukranen.” Wladock ließ sich neben Erik ins Moos plumpsen und lehnte sich gegen die ausgespülten Wurzeln einer Linde. „Wirst schon sehen, mein kleiner Bruder passt auf unsere Mädels auf.” Boleslaw durfte auf dem Ringwall der Burg wachen. Erik beneidete den jungen, ernsten Burschen beinah.

Wladock reichte ihm einen Wasserkrug. Erik wusste nicht, ob sie den ersten Tag oder den zweiten, vielleicht schon den dritten am Rande des Moores dicht an der Straße nach Seehausen die Stellung hielten. Irgendwann hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Die Späher, die in die östlichen Sümpfe ausgesandt worden waren, hatten nichts von sich hören lassen.

Sie waren ein ordentlicher Haufen wacher Krieger. Erik wusste, dass Arndis so junge Burschen wie ihn und Wladock in seine Truppe genommen hatte, damit er auf sie achtgeben konnte. Er hatte die unerfahrenen Krieger in die Osttruppe genommen, weil der Späher Kasimir von einem Angriff von Westen her gesprochen hatte, weil es nicht sicher war, ob die Ukranen von Osten her etwas zu befürchten hatten. Und während sein Vater Danilo und Fjäders Vater Bogdan die gefährlichen Wachposten am Brückenkopf übernahmen, verkrochen sich die Jungen im östlichen Sumpf, verschanzten sich in den Wäldern vor Seehausen, das verlassen und vereinsamt in der Landschaft lag.

Die Zeit hatte die schmale Sichel des Mondes mit hellem Weiß ausgefüllt. Der Halbmond prangte in der Sternenkonstellation des Fischernetzes über dem Sumpfland, als Petter von Potzlow schwer atmend zum wartenden Haufen gerannt kam. Er war verschwitzt von oben bis unten, keuchte und seine Augen blitzten, als er Arndis von der Truppe nahender Kreuzfahrer berichtete.

„Es müssen dreihundert Mann sein. Wieso greifen die hier an?”

„Es geht los”, ignorierte Arndis die Frage des Jüngeren und versammelte seine Jungen um sich.

Dreihundert Mann! Zehnmal mehr, als Arndis’ Truppe fasste!

„Ihr weicht nicht von meiner Seite!” Arndis sprach gedämpft und in seiner Stimme vermischte sich Kampfeslust mit Zorn. Erik hatte bis zu diesem Moment geglaubt, der Krieg würde spurlos an ihm vorübergehen. Er begann zu zittern.

„Macht alles nieder, was nicht wendischen Blutes ist! Schlagt auf Karnickel und Wildschweine ein, wenn ihr nicht sicher seid, was euren Weg kreuzt, aber haut zu, bei Jarovit, haut sie kurz und klein! Ich will euch lebend zu euren Familien zurückbringen und ich will nicht in Walhalla eingelassen werden, wenn ich auch nur einen von euch verliere!”

Die Nacht war still. Niemand sagte einen Ton. Ein jeder lauschte dem Knacken des Holzes, dem Rauschen der Blätter, dem Blubbern der Moorlöcher.

„Sie sind da!” Arndis’ Stimme drang flüsternd von weit her an Eriks Ohr. Der Ältere wies mit flinken Armbewegungen die Jungen an, sich im Unterholz zu verteilen, sich zwischen modernden Hölzern und feuchten Mulden zu verbergen. „Auf mein Kommando!”

Eriks Kehle war ausgetrocknet. Ihm war übel. Sein Herz schlug heftig. Hätte er in den vergangenen Tagen auch nur einen Bissen herunterbekommen, wäre er ihm jetzt aus allen Öffnungen rausgekommen, da war er sich sicher.

Arndis’ Befehl ließ auf sich warten. Erik konzentrierte sich aufs Atmen, versuchte sich zu beruhigen. Seine Hände zitterten nicht mehr, als er den Anhänger an seinem Hals hervorzog und ihn küsste. Er drehte den kleinen hölzernen dreigesichtigen Jarovit mit dem lachenden Antlitz nach vorn und steckte ihn zurück unter sein Hemd.

Erik umklammerte seine Streitaxt als Arndis brüllend wie ein Berserker aus seinem Unterschlupf preschte. Die Jungen brachen aus ihren Verstecken hervor.

Es dämmerte. Erik hechtete hinter den anderen her und im ersten Licht des Tages blieb er wie angewurzelt vor der berittenen Hundertschar der Christen stehen.

„Beweg dich, Mann!”, brüllte Wladock und zog ihn mit sich. Eriks erster Schlag galt einem Pferd, das er zu Fall brachte. Der Mann, der unter dem Tier begraben wurde, schrie nicht weniger wütend und ängstlich als Erik. Er durchtrennte dem Fremden die Kehle.

Erik sah sich um, sah das Getümmel von Ukranen und Deutschen, die aufeinander einhieben. Er hatte keine Zeit nachzudenken, die Toten zu zählen, nach bekannten Gesichtern zu suchen. Alles ging zu schnell. Er drosch seine Axt in vor Anspannung verhärtete Leiber. Er hob sein Schild gegen blitzende Schwerter. Er wand sich aus den mächtigen Griffen Sterbender und brüllte mit jedem Hieb, den er austeilte, sodass ihm bald der Hals wehtat. Wenn einer der Kreuzfahrer gar zu mächtig aussah, rannte Erik, lief um sein Leben, weil er keinen Mut fand, sich umzudrehen und zum Schlag auszuholen.

„In die Sümpfe!”, hörte er Arndis’ Stimme und mit seinem Ruf tönte das Horn des Ukranen von weit her. „Rückzug! In die Sümpfe!” Es war die Sprache, die die Deutschen nicht verstanden, und so standen die Kreuzfahrer einige Augenblicke lang verdutzt im blutgetränkten Staub der Landstraße und rührten sich nicht. Erst als sich die Schar der Ukranen mit langen Schritten in Bewegung setzte, schienen die anderen verstanden zu haben, was der Ukranenkrieger seinen Männern zugerufen hatte.

Erik nahm die Beine in die Hand, sprang über tote Pferde und tote Menschen, sandte Stoßgebete an Epona5 und die Vļ'kodlaky6, dass sie ihn in Ruhe lassen mochten, stolperte und fiel. Er gab Arndis zu verstehen, dass er es im östlichen Sumpf versuchen wollte, und kaum, dass die Gruppe um den Anführer nach Norden abgebogen war, wurde Erik von einem scheinbar baumhohen Hünen verfolgt, gehetzt wie ein Beutetier.

Erik vom Oberuckersee war ein schneller Läufer, war es immer gewesen, aber der Kerl war schneller als jeder, mit dem Erik es je aufgenommen hatte. Erik sprang, rollte sich in Wurzelhöhlungen, ließ den Großen an sich vorbeihechten, um dann eine andere Richtung einschlagen zu können.

Alle Versuche, einen Vorsprung herauszuholen scheiterten. Erik konnte den Mann nicht abhängen. Er überlegte, während er rannte, als wäre das weiße Pferd Svantevits7 höchstselbst hinter seiner Seele her. Doch dann wandte er sich abrupt um und holte zum Schlag aus. Das Langschwert lag in den Pranken des Deutschen wie das Ende eines Taues, das er lässig in der Luft umherwirbelte, und Erik musste sich ducken, um den Hieben des Deutschen ausweichen zu können. Erik war unbedacht, und der andere hakte seine Klinge in den Schaft seiner Streitaxt. Der Armeskraft des Fremden war Erik nicht gewachsen. Behänd schleuderte der Deutsche Eriks Axt in hohem Bogen durch das Moor.

Überrascht über diesen Hieb und verdutzt über die fliegende Waffe schauten beide dem blitzenden Metall nach, das mit seinem hellen Singsang die Luft zerschnitt und irgendwo weit entfernt aufschlug. Erik nutzte das Staunen des Deutschen und sprang ihm auf den Rücken.

Ächzend kam der Hüne zu Fall. Der junge Ukrane preschte drauflos. Jetzt wusste er, wohin er rennen konnte, um seine Haut zu retten. Erik keuchte, schwitzte und er hatte Angst. Die Gedanken überschlugen sich. Er musste auf die Zeit, Fjäders Verschwiegenheit und die Verborgenheit eines hohlen Baumes vertrauen. Eine andere Möglichkeit hatte er nicht. Sollten der tote Baum und sein Geheimnis ins Moor abgesackt sein, oder Fjäder ihr Versprechen gebrochen haben, war er ein toter Mann.

Erik hechtete am Kozoł8 vorbei, nahm das Wäldchen zur Badestelle im Sprung und versteckte sich hinter einem toten Baum.

Der Kreuzritter stapfte auf die in der Vormittagssonne liegende Lichtung, starrte einen Moment auf das Glitzern des Oberuckersees und schritt schwer atmend an dem hohlen Baum und Erik in dessen Schatten vorbei. Das Schwert des Deutschen kitzelte den Boden. Erik hielt den Atem an, wartete, rief sich zur Ruhe und forderte sich Geduld ab.

Der Deutsche stand mit dem Rücken zum Baum, murmelte etwas, was Erik nicht verstehen konnte, und ließ sein Langschwert in der Luft kreisen, dass es surrte. Erik zählte die Runden, die das Schwert des Christen schrieb. Und sprang mit einem inbrünstigen Schrei hervor.

Mit einem einzigen Schlag trennte Erik dem Fremden den Schädel von den Schultern.

Der Christ sackte vor Eriks Füßen zusammen, und sein Kopf landete im Oberuckersee.

Erik kniete zwischen dem hohlen Baum und dem Toten und hielt den Griff des von Spinnweben und Erde verdreckten, von der Zeit zerfressenen Schwertes umklammert.

Es war still.

Selbst die Vögel hatten in ihren Morgenständchen innegehalten. Nichts rührte sich. Eriks Seiten stachen. Seine Lungen brannten. Er war vollends entkräftet und er wusste, dass er hier nicht bleiben konnte. Mit dem Rockzipfel des Deutschen wischte er Dreck und Blut vom Schwert und lief nach Norden zur Landstraße, wo sich Arndis tatsächlich an die Nachhut der Deutschen herangepirscht hatte.

Es war ein heilloses Durcheinander, in dem sich Erik wiederfand, als er aus dem Unterholz heraussprang. Mit der Angst des Geschwächten bahnte er sich einen Weg durch die Hundertschar der Deutschen. Aber Erik war entkräftet, war unachtsam, strauchelte und stürzte.

Ein Kreuzfahrer ließ sich auf ihn fallen, und Erik spürte dessen Knie auf seiner Brust. Der Ritter drückte ihm die Schneide einer Axt an die Kehle. Erik gelang es nicht, sie mit dem blanken Schwert hochzustemmen. Es hatte keinen Halt und rutschte immer wieder ab.

Er war überhaupt nicht geübt im Umgang mit Bidenhändern. Es war nicht die Axt des Kreuzfahrers, die Erik an seinem Hals spürte, es war die von Wladock. Es machte Erik wütend, dass dieses Schwein die Axt seines Schwagers in Händen hielt und versuchte, ihn damit zu töten. Mit einem ohrenbetäubenden Schrei hievte Erik den Kerl von sich und erledigte ihn mit einem Stich zwischen die Augen.

Sein Schwert in der einen, Wladocks Axt in der anderen Hand kämpfte er sich durch die auf ihn stürmenden Krieger. Er musste Wladock seine Waffe zurückbringen, was machte der ohne seine Axt?

Erik stellte sich Arndis zur Seite, der zwei Schwertträger abwehrte. „Wo ist Wladock?!”, brüllte er dem Älteren entgegen, der sein Ingelreht aus dem gespaltenen Schädel eines Christen zog.

Arndis antwortete nicht, sondern drosch auf einen Deutschen ein. „Hinter dir!”, schrie er Erik an.

Der drehte sich um und ohne, dass er es hatte kommen sehen, steckte sein Schwert in dem Bauch eines Deutschen. „Wo ist Wladock!?” Aber der Krieger hatte kein Ohr für den jungen Mann. Der Ältere wütete um sich. „Ich muss ihm seine Axt bringen!”

„Die braucht er nicht mehr! Pass auf, Erik, beweg dich!”

Die Worte des Älteren warfen den Jungen aus der Bahn. Was sollte das heißen?

Nicht Wladock!

Nicht er!

„Erik, hinter dir!”

Erik hieb um sich, schlug ins Leere, ging in die Knie, konnte sich nicht wieder aufrichten.

Der Junge beobachtete den alten Krieger Arndis, der mit langen Schritten und angstvoll aufgerissenen Augen auf ihn zusprang. Erik konnte sich nicht rühren. Wladock! Wie sollte er das seiner Schwester klarmachen?!

„Erik, pass auf!” Arndis holte zum Schlag aus, als wollte er ihn einen Kopf kürzer machen.

Es war nicht das Schwert des ukranischen Kriegsherrn, sondern der Morgenstern eines Deutschen, der Erik zu Fall brachte.

Etwas in seinem Innern knackte, zerbrach.

In seinem Mund schmeckte er Blut und Erde. Er sah die kleinen Staubwolken, die sein flacher Atem in kurzen Stößen aufwirbelte. An seinem Gesicht rollte ein Kopf vorbei, von dem sich der Messinghelm mit dem kalkweißen Kreuz Jesu löste. Erik spürte nichts, keinen Schmerz. Der Tod fühlt sich an wie Langeweile: Sitzt tief in den Knochen und nistet sich im Herzen ein, wenn man nichts gegen ihn unternimmt. Erik sah Fjäder vor sich, ihre eisgrauen Augen blitzten vor Abenteuerlust, während Attala sie an ihn band. Trzy razy trzych życi i do końca wszystkich dni – Dreimal drei Leben lang und bis ans Ende aller Tage. Er sah ihre wiegenden Hüften vor den aufsteigenden Funken eines Morena-Feuers9.

Ein paar Knie wirbelten die Erde vor Eriks Gesicht auf und verjagten Fjäder aus seinem Geiste. Das Letzte, was Erik wahrnahm, bevor es dunkel wurde, war die blutgetränkte Straße, über der er hinwegschwebte.

____________

1  Slaw. Göttin des Lebens. (Ein Abkürzungsverzeichnis sowie weiterführende Informationen finden Sie im Glossar am Ende des Buches sowie im Internet unter huebner.dryas.de)

2  Slaw. Gottheit. Bei den Obodriten: Fruchtbarkeitsgott; bei den Redariern und Pomoranen: Kriegsgott.

3  Slaw. Kriegsgott.

4  Slaw. Göttin der Frauen, der Fruchtbarkeit, der Häuslichkeit.

5  Slaw. Gottheit der Pferde.

6  Urslaw. Dämonen: Die Totenseelen ruhen in den Vļ'kodlaky.

7  Slaw. Gottheit der Luft.

8  Baumstumpf in Form eines gehörnten Tieres (Übersetzung: Bock).

9  Morena: slaw. Göttin über Tod, Nacht und Winter; Morena-Feuer: Winteraustreibung traditionell am 30. April.

Teil I

Sommer 1145 – Sommer 1147

Fjäder

Es war ein heißer Nachmittag. Die Gefolgschaft der markgräflichen Lokatoren brachten aus Prenzlau scheinbar nicht nur die Hitze nach Seehausen am Oberuckersee mit, sondern auch die Insekten. Aber nicht die Viecher veranlassten Bischof Wigger von Brandenburg zum Naserümpfen, sondern das gemeine Volk.

Die Leute von Seehausen boten seiner Gloriole nicht den nötigen Respekt. Beinahe jeder Mensch vergaß vor Aufregung, sich zu verneigen. Die Männer behielten ihre Hüte auf den Köpfen und die Weiber glotzten die römisch-katholische Geistlichkeit unverhohlen an.

Wigger beobachtete den Chorherrn Findus.

Der erinnerte ihn an ihn selbst, wie er – kaum mit dem Priesterseminar fertig – sich tagein, tagaus abmühte, aus Halbwilden anständige Christen und aus einem von der christlichen Welt vergessenen Steinhaufen einen Palast zur Ehre Gottes zu machen.

Die Gesandtschaft der Bischöfe von Brandenburg, Stettin und Halberstadt, des Markgrafen Albrecht von Askanien und dessen Sohn Otto aus dem Ballenstedter Geschlecht musste für den jungen Chorherren eine willkommene Abwechslung und eine Erinnerung an die Existenz christlicher Zivilisation darstellen.

Findus verdankte die Unterbrechung seiner Sisyphusarbeit einem Manne namens Bernardo Paganelli di Montemagno. Der neue Papst. Die hinter vorgehaltener Hand getuschelten Hoffnungen, den alten Papst möge der Schlag treffen, hatten sich bewahrheitet – nicht der Finger Gottes, sondern ein Steinschlag hatte den alten Lucius darniedergestreckt und einem anderen, viel ehrgeizigeren den Weg geebnet: Eugen III. wurde der neue Pontifex. Und mit diesem Pontifikat drehte sich die Welt der Missionare im Dienste des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes schneller. Die mächtigen Leute diesseits von Elbe und Havel entdeckten nun ihre Landstriche wieder, anstatt immer nur nach Süden zu schielen, wo die Römer gegen die Sarazenen, gegen Edessa, zu ziehen trachteten. Da war es nur recht und billig, dass die deutschen Machthaber hierher nach Seehausen, hierher an den Arsch der Welt zwischen Ucker und Oder kamen.

„Hier ist es doch auch schön”, raunte der Halberstädter Bischof und ließ sich von Pater Findus aus dem Wagenschlag helfen.

„Heiß hier.”

„Nicht so heiß wie in Edessa.”

Wigger brummte bejahend zum Halberstädter hinüber. Jetzt war er an der Reihe, sich aus dem stickigen, als Kesselflickerkarren getarnten Wagen zu schälen. Ihn kriegte man nie und nimmer in die sengende Hitze des Aijubiden-Reiches. Er betastete seine Tonsur. Die Bremsenbisse mochten schmerzhafter sein als die Mückenstiche, juckten aber wenigstens nicht so hartnäckig. Er setzte sein schneeweißes Birett auf den Schweiß.

Auf dem Weg zur kleinen Dorfkirche schüttelte er einen Tausendfüßler ab, der über seine Sandale kriechen wollte, weil seine Füße wie Bruder Matthias’ Formaggio rochen, und lächelte. Hier waren sie wirklich in der Wilden Wurzel, wie Norbert von Xanten, Wiggers Lehrmeister aus dem Kloster Unserer Lieben Frauen zu Magdeburg, den verwilderten Landstrich diesseits der Havel zu Lebzeiten zu nennen pflegte, gelandet. Wigger würde seine braven Prämonstratenserchorherren nur mit geschickter Zunge und gut Gebrautem hierherlocken können.

Dieser Landstrich war fruchtbar wie der Schoß eines Weibes und genauso lästig. Solch Abgeschiedenheit war etwas für die Zisterzienser mit ihrem steifen Gehabe – Zölibat und Eremitendasein – nichts für Wiggers Prämonstratenserpriester. Idylle, wohin das Auge sah, und Abgeschiedenheit, weil das Auge nichts anderes als grüne Wiesen und schwarze Wälder in schwarzen Mooren eingeschlossen von azurblauen Uckerseen erblicken konnte – genau, was die Zisterzienser für den Bau ihrer Klöster brauchten! Wigger schmunzelte in sich hinein.

„Es freut mich, Euch wieder einmal lächeln zu sehen, ehrwürdiger Vater”, sagte Albrecht von Askanien und legte seinen Arm um Wiggers Schulter, als wolle er ihm über die ausgetretene Schwelle der kleinen Kirche helfen. Aber Wigger war noch nicht alt. Sechzig war kein Alter. Aber diesbezüglich war er sich nicht sicher, weil er nicht wusste, wann er Geburtstag hatte. Der Makel einer verwaisten Kindheit. Aber er hielt den Glauben seiner Abkunft aus einem ausgestorbenen Adelsgeschlecht aufrecht. Im Kloster war er aufgewachsen, aber ein Mönch war er nie gewesen, eine Tatsache, die Wigger gern betonte, kam einmal die Sprache darauf. Er war Priester und ein Missionar, ein hungriger.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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