Teufelsfarbe - Ivonne Hübner - E-Book

Teufelsfarbe E-Book

Ivonne Hübner

5,0

Beschreibung

Teufelsfarbe wurde im 16. Jahrhundert das aus der Waidpflanze gewonnene Blau genannt. Es würde Stoffe zerfressen und Unglück bringen, hieß es. Ausgerechnet diese Pflanze will Bauer Christoph Rieger aber anbauen. Und reich will er damit werden, denn die Farbe ist gefragt. Gegen den Willen seiner Familie und zum Entsetzen der Gemeinde nimmt der Sonderling ein als Hexe verschrienes Mädchen zur Frau, um sich mit deren Mitgift seinen Traum zu ermöglichen. Zu spät erkennt er die Konsequenzen, die sein Vorhaben nach sich zieht ... Christophs Geschichte basiert auf einem realen Fall, der sich am 25. April 1510 in der Gemeinde Horka zugetragen hat.

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Teufelsfarbe

Ein historischer Roman

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1

Teil 2

Teil 3

Epilog

Impressum

Lesetipp

Prolog

(quod)si deficiant vires, audacia certe laus erit: in magnis et voluisse sat est. Sind die Kräfte auch schwach, so ist der Mut doch zu loben: Wenn man Großes gewollt hat, war schon der Wille genug. Properz, Elegiae 2,10,5 f.

Sommer 1498

Das Mädchen zuckte verängstigt zusammen und zog ihre schmale Hand mit dem Grasbüschel darin zurück, wenn der braune Klepper gar zu gierig danach schnappte. Grete war ein blasses Kind von acht Jahren, aber wenn der Wind das lange aschblonde Haar aus ihrem Gesicht wehte und den dünnen Hals freilegte, wirkte sie krank und zerbrechlich wie eine Sechsjährige. In Lumpen gehüllt horchte sie den schnaufenden und knirschenden Geräuschen, die das kauende Tier von sich gab. Das Mädchen wagte nicht, die Blesse des Braunen zu berühren. Sie beobachtete das Treiben der Fliegen, die die Nüstern des Pferdes umsurrten. Unruhig schnaubte der Wallach und trampelte dazu mit den Hufen auf der lichten Wiese vor der Werkstatt des Schmieds Bertram Wagner. Aus der Esse des windschiefen, an das kleine Wohnhaus geschmiegten Bretterbaus stieg dunkler Rauch.

Donnerndes Krachen und johlendes Gelächter scheuchten das Tier auf. Tänzelnd stampfte der erschrockene Gaul auf der Stelle. Vorn durch einen Lederriemen an einem Balken festgebunden, hinten in einen Karren gespannt, konnte er keinen Zollbreit weichen.

Das im spärlichen Gras hockende Mädchen blinzelte argwöhnisch zum Burschen herüber, der aus der Werkstatt gepoltert kam und sich am Wagen zu schaffen machte. Es war ein Knabe von etwa fünfzehn Jahren, dessen helle Haare beinahe ganz seine Augen verdeckten und dessen bis zu den Ellenbogen hinaufgeschobenes Hemd seine gebräunten Arme blicken ließ. Während er unter dem Kutschbock nach etwas Bestimmtem suchte, spannte sich sein Körper, sodass Grete seine hervortretenden Muskeln sehen konnte. Sie kannte die Kraft dieser Arme. Das Mädchen krabbelte in der Weise, wie sich Flusskrebse fortbewegten, in den Schatten der rückwärtigen Werkstattwand und hoffte, der Junge würde sie nicht bemerken. Sie hatte Angst vor Christoph Rieger, dessen Jähzorn der Wut seines Vaters in nichts nachstand.

»Beeil dich, Sohn! Wir verdursten!« Eine raue Männerstimme war durch die Tür, die der Junge sperrangelweit hatte aufstehen lassen, auf den Vorplatz der Schmiede geschwappt.

Alois Rieger spornte seinen Sohn lauthals an, einen Krug Bier vom Karren zu holen. »Nicht da, du Tölpel, hinten unter dem Sack!«, schimpfte der Alte in den gelben Nachmittag hinaus, während sein Sohn vorn unter dem Kutschbock vergeblich suchte.

Neugierig stahl sich das Mädchen hinter die Schmiede, zog sich an der morschen Fensterbank empor und spähte durch die von Ruß und Spinnweben nahezu blinde Scheibe des einzigen Fensterchens. Sie konnte im hinteren Winkel des Holzbaus ihren Vater an einen umgekippten Amboss gelehnt sitzen sehen. Ohnehin unentwegt johlend prustete der betrunkene Schmied lauthals, während Alois seinen Jungen schalt.

Der alte Rieger stieg in das Lachen ein und langte nach der Bierkanne, noch bevor der Junge vor ihm zum Stehen kam. Den Klaps, den der seinem Sohn auf den Hinterkopf gab, begründete er schwer atmend: »Das für deine lahme Art!« Er nahm einen kräftigen Schluck. Der Junge knallte das wurmstichige Tor zu und zog sich in eine dunkle Ecke der Schmiede zurück. Grete erkannte die rechte Seite des Gesichts und die Umrisse von Christophs bloßen Unterarmen, die sich vor der spröden, sonnendurchfluteten Rahmung des Tores abzeichneten. Missmutig besah der Junge das Treiben seines Vaters und des anderen.

»Wie haben wir das gemacht!?«, fragte Alois Rieger in den düsteren, von dem schmutzigen Fenster kaum erhellten und von der Glut im Schmiedeofen aufgeheizten Raum.

Der Mann auf dem Amboss ließ sich den Krug reichen und füllte seinen Becher dergestalt ungeschickt auf, dass weiß schäumendes Bier über seinen Handrücken lief. Er lachte sich halb tot darüber. »Wie hast du das gemacht, Alois?!«, tönte es vom Schmiedeblock her. Bertram trank einen kräftigen Schluck.

»Oh nein, mein Freund, nicht ich allein habe es vollbracht.« Der Rieger grinste und klopfte unbeholfen auf ein unförmiges, von grobem Tuch bedecktes Gerät. Er tätschelte das Paket wie ein gutes Stück Vieh und trank wieder aus dem Krug, den ihm der Schmied zurückgegeben hatte. Jener beugte seinen Oberkörper vor, ahmte schallend die liebevolle Geste des Bauern nach und streichelte seinerseits das Ding unter der Abdeckung.

Alois Elias Rieger wurde jetzt ganz ernst: »Fünf Monate, Mann!« Sein Blick war leer geworden und das Wasser darin schien nicht allein vom Alkohol herzurühren. »Fünf Monate!« Er schüttelte den Kopf und wankte auf seinen Beinen bedächtig vor und zurück. Die Rührseligkeit, die ihn übermannt hatte, ließ ihn auf einen Heuballen neben dem verdeckten Gerät plumpsen.

Diesmal lachte der beschwingte Bertram nicht über den Stolpernden. Er war ebenso ernst geworden wie sein Freund, der Bauer, und starrte nun vor sich hin. »Ja, fünf Monate und zwei Wochen und zwei Tage – ganz genau!« Er trank und wischte sich mit seinem nackten, von Ruß und Staub geschwärzten Arm, auf dem die Schweißperlen glitzerten, über den Mund. »Alle haben gesagt, wir schaffen es nicht. Alle, nicht wahr?!« Seine hellen Augen verklärten sich und erst ein inbrünstiges Rülpsen unterbrach sein andächtiges Sinnen.

Alois lachte kurz auf. »Ja, keiner der Idioten im Dorf hat geglaubt, dass wir die alte Egge mit Eisen beschlagen und auf Jahrzehnte – vielleicht Jahrhunderte – zum Schmuckstück des Dorfes machen werden … Aus der Hand werden sie sie uns reißen.« Er prostete dem mit Stoff bespannten Ding neben sich zu. »Aber wie habe ich mir den Mund fusselig geredet, um die Erlaubnis vom alten Gerßdorff zu bekommen …«

»Und weißt du noch: All die schiefen Gesichter, die uns angegafft haben, wenn nichts geklappt hat?! Wie oft ist mir das Scheißding«, Bertram spuckte vor das verhüllte Gerät, »unter den Fingern verschmort! Wie haben wir geschuftet!«

Alois nickte. Er konnte sich an jedes der Streitgespräche mit den maulenden Bauern erinnern, an jede der nächtlichen Unterhaltungen mit dem Gemeindepfarrer Simon Czeppil, einem Jungspund, der nach unten trat und nach oben katzbuckelte. Alois erinnerte sich an die gut gemeinten Zusprüche des Gutsherrn Christoph von Gerßdorff, der die Idee, die alte Egge beschlagen zu lassen, um schneller und besser arbeiten zu können, von Anfang an befürwortet hatte. Mithilfe des neuen Gerätes wähnte der Lehnsherr einen Aufschwung für die mit schlechten Böden, wenig Regen und miserablen Ernten gestrafte Parochie Horka. Aber die Großbauern Weinhold und Linke, Hennig und Schulze, der alte Seifert, des Riegers Nachbar, und sogar der Kretschmar Jeschke und selbstredend der junge Pfarrer waren dagegen gewesen. Nicht nur, dass sie der Neuerung misstrauten, auch hatte der monatelange Ausfall der einzigen Dorfegge die Gemeinde in zwei Lager geteilt. Solange die Egge in der Schmiede des Bertram Wagner untergestellt war und auf neues Schuhwerk wartete, hatten sich die Bauern woanders her ein Gerät borgen müssen. Sie waren sich um jedes bittende Wort zu schade gewesen. Ja, Alois Rieger hatte geredet und geredet: mit den Bauern, mit den Kirchenvorstehern, den Dienstherren, mit den fremden Richtern fremder Gemeinden. Wie war er beschimpft worden in den letzten fünf Monaten, wie hatte er sich geschunden – und wofür!? Für den Krug Bier, den er jetzt mit Bertram Wagner in der Schmiede vom Mückenhain trank? Nein! Für die lobende Anerkennung, die er von seinen Nachbarn, seiner Kirche, seinem Lehnsherrn ernten würde.

Mit einem Seufzer wischte Alois die Erinnerung an Schimpf und Schande, die ihm die letzten Monate beschert hatten, beiseite und den Bierschaum von seiner Oberlippe. Kaum hörbar sagte er: »Und wie hast du dich abgeplagt!«

Bertram lachte leise, aber erleichtert. »Es ist erledigt, Alois! Nun ist es Zeit, sich wieder mit Claudius aus Uhsmannsdorf um die Kundschaft zu balgen. Jetzt kann ich wieder Pferde und Wagenräder beschlagen, Kessel flicken, alle paar Jahre dem Gerßdorff ein neues Treppengeländer zusammenhauen – was immer!« Bertram war Mädchen für alles gewesen in der Parochie – vielleicht nicht für alles, denn noch nie hatte er ein Schwert oder einen Harnisch geschmiedet. Er war ein Landschmied, und wer brauchte hier Waffen und glänzendes Rüstzeug? Wenn die Gerßdorffs ihren Bedarf an derlei Dingen stillen wollten, ritten sie nach Görlitz, Bautzen oder noch weiter weg. »Fertig!« Bertram nahm einen langen Zug aus seinem Becher und hielt ihn dem Bauern entgegen.

»Nichts mehr da, du Saufbold!« Alois zuckte mit den Schultern und hielt seinen Bierkrug verkehrt herum, um dem Schmied zu beweisen, dass er leer war.

Bertram Wagner räkelte sich und brüllte in der ihm eigenen schwadronierenden Art und mit einem verheißungsvollen Lächeln in seinem schmutzigen Gesicht nach seiner Tochter.

Mit dem Rufen des Vaters verlor das Mädchen den Halt und rutschte von der Fensterbank ab, sodass es im Dreck hinter der Schmiede landete. Noch einmal dröhnte es aus dem Bretterbau: »Grete!« Als sie geduckt und zögernd den stickigen Raum betrat, sich dünn und zierlich durch das kantige Schmiedetor schob, lallte die Stimme aus der hinteren Ecke der Werkstatt: »Noch eine Kanne vom Guten! Aus dem Keller, Mädchen, schnell!« Die Kleine blickte in die Richtung, aus der die Order kam, und angelte dann unbeholfen nach dem Steinzeug, das die schwielige Hand des Bauern ihr entgegenhielt, kriegte es aber nicht zu fassen. Aus der Kehle ihres Vaters drang ein Kichern, das in ein Keuchen und dann in ein hohles Husten überging.

»Ja, und du …« Alois Rieger fuchtelte mit dem leeren Krug, nach dem das Mädchen zu greifen versuchte, in den Winkel, in dem er seinen Sohn vermutete. »Mach, dass du zur Mutter kommst. Sie flennt nur wieder stundenlang, wenn sich keiner blicken lässt.«

Der Bursche trat einen Schritt aus dem Dunkel und stand dicht hinter dem Mädchen. In ihrem Rücken bemerkte Grete den Knaben und ihr Magen krampfte sich vor Anspannung zusammen. Sie glotzte in die glasigen Augen des betrunkenen Bauern, blickte Hilfe suchend zu ihrem Vater und versuchte das Steinzeug zu fassen, mit dem sie schleunigst aus der Schmiede verschwinden wollte. Der Junge hinter ihr überragte sie um gut zwei Köpfe. Sie spürte den verächtlichen Blick Christophs auf sich ruhen. Er mochte sie nicht, weil sie Bertrams Tochter war. Grete hatte Angst vor dem Burschen, der ihrer Familie in dem Maße Verachtung zollte, wie ihr Vater dem Görlitzer Bier zusprach. Unschlüssig stand sie zwischen dem jungen und dem alten Rieger und wartete darauf, dass Alois die Freude an seinem Spielchen mit dem Krug verlieren würde.

Christoph beachtete das verzweifelte Mädchen nicht. Er wollte seinem Vater die Stirn bieten und überlegte, schnappte nach Luft wie ein Fisch und schwieg sich aus. Als er sich nicht vom Fleck bewegte, brachen bei seinem Alten alle Dämme. Der Bauer kläffte den Burschen an: »Raus hier, Christoph! Scher dich nach Hause, Lümmel, sonst mach ich dir Beine!« Der Junge aber war zur Salzsäule erstarrt und schaute von seinem Vater zum Mädchen und wieder zurück. Alois schnauzte weiter: »Mach schon, die Wirtschaft erledigt sich nicht von allein. Ein Nichtsnutz bist du! Hängst hier den lieben langen Tag herum! Und die arme Mutter! In ihrem Zustand! Raus mit dir!« Der Bauer hatte sichtlich Vergnügen an seinem Krakeelen, aber ein Schluckauf ließ ihn verstummen. Da schwang er den Tonkrug mit voller Kraft über seinen Kopf und geradewegs auf das Mädchen zu. Das massige Steinzeug traf die Kleine mit einer solchen Wucht in den Bauch, dass sie rückwärts gegen den jungen Rieger stolperte.

Der Schmied auf seinem Amboss quiekte auf vor Freude. Der Bauer stimmte in das Johlen ein und klopfte sich auf die Schenkel. Christoph schubste mit einem Gesichtsausdruck berstender Abneigung die Schmiedtochter von sich und diese hatte ihre liebe Not, den Krug auf den Händen zu balancieren, damit er nicht zu Bruch ging. Sie landete hart im Staub vor dem Schmiedefeuer, ihre Haare fielen in wilden Strähnen in ihr Gesicht und sie stieß sich den Ellenbogen an dem kantigen Absatz des Ofens – aber wenigstens war die Bierkanne heil. Der hämmernde Schmerz des Aufpralls wanderte bis in ihre Fingerspitzen und dann wieder hinauf bis zur Schulter. Jedoch verbiss sie sich jeden Laut.

»Bier, Grete, nun mach schon!«, rief der Mann aus seiner Ecke dem Mädchen zu, das im Schmutz lag und den Krug wie einen Schatz mit beiden Armen umschlungen hielt. »Mach schnell, du dummes Ding!« Bertram Wagner war nun nicht mehr so guter Stimmung. Wütend sah er auf das dürre Geschöpf herab. »Guckst schon so einfältig wie deine Schwester, das schwachsinnige, unnütze Weib!« Der Schmied setzte seinen massigen Körper in Bewegung und unter seiner von Ruß und Staub beschmierten, glänzenden Haut zeichneten sich eisenharte Armmuskeln ab. Das Kind rappelte sich auf und versuchte sich an dem jungen Rieger, der noch vor der Tür stand, vorbeizuschieben. Der Bursche wich vor dem Mädchen zur Seite, aber sie wandte sich in die gleiche Richtung, dann tat er einen Schritt auf die andere Seite, das Mädchen trat im Affekt auf dieselbe Stelle und kam nicht an dem Jungen vorbei. Die Alten lachten meckernd über ihre Kinder und deren Tänzchen, für das sich der Bauerssohn schämte. Sein für einen Fünfzehnjährigen überraschend kräftiger Griff packte das Mädchen am Genick und stieß es aus der Schmiede in den Nachmittag hinaus.

»Hau ab, Kerl!«, hörte Grete den alten Bauern seinem Sohn hinterherrufen. »Ich will ein Festessen, wenn ich zu Hause bin: Schinken! Eier! Schmalzbrote! Sag das der Mutter.« Sie fing den Blick auf, den der Junge erst seinem Vater und dann ihr schenkte. Die Wut, die wenig Ernsthaftigkeit an sich hatte, und die Verzweiflung darüber, den Augen des Alten nicht standhalten zu können, würde Christoph an ihr auslassen, wenn sie nicht die Beine in die Hand nahm.

Es war noch nicht Abend, aber die Grillen und die Sommervögel lärmten, als wollten sie die Nacht einläuten. Obschon die mächtigen Zweige der Obstbäume dem Sommerwind trotzten, hatten die jungen Getreidehalme in der Senke zwischen den Königshainer Bergen und der Neiße irgendwo auf dem Flickenteppich des Böhmischen Königreichs ihre liebe Not, den Böen standzuhalten. Ein Bach murmelte heimlich vor sich hin und ließ das Laichkraut in seinen Tiefen tänzeln, während das seichte Lüftchen die dumpfen Menschenlaute über die Felder in die Wälder trug und sie mit sich nach Nordosten auf einen von Wein bepflanzten Hügel nahm. Kein Wölkchen trübte den strahlend blauen Nachmittagshimmel, als sich ein Junge zu Fuß auf den Weg nach Norden machte und ein Mädchen in einem Blockhaus verschwand.

Teil 1

Ivadant animum sacra quaedam ambitio, ut mediocribus non contenti anhelemus ad summa adque illa … Geradezu heiliger Ehrgeiz soll uns befallen, dass wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmaß, nach dem Höchsten lechzen, um es zu erreichen. Giovanni Picco della Mirandola Oratio de hominis dignitate« 1486

Frühsommer 1508

Margarete saß seitlich auf dem Wagen und konnte so geradewegs die tiefe Sonne im Osten beobachten, wie sie sich orange und saftig aus der Nacht schälte und ihren fahlen Schein in die hellen Augen, auf die blasse Haut und die schmucklosen Kleider der Reisenden warf, während der Karren krachend die löchrige Dorfstraße entlanghumpelte. Der Bach glitzerte in roten und gelben Tupfen hinter dem Schilf hervor.

Gottfried Klinghardt war ein hagerer Mann von etwa fünfzig Jahren. Soweit es Margarete beurteilen konnte, war er schmutzig vom Haarschopf bis zu den Zehenspitzen. In seinem Gesicht saß ein etwas schiefer Mund, der ihm ein unverwüstliches Lächeln ins Antlitz zwang. Immer wieder warf er der jungen Frau auf dem Wagen hinter sich einen neugierigen Blick zu, doch diese starrte unverwandt nach Osten; nur ihr Profil konnte er erkennen. Das Gesicht der Frau auf dem Karren war mädchenhaft, wenn auch nicht unschuldig, ein wenig keck, aber nicht lustig. Gottfried kannte das Gesicht, aber das Mädchen kannte er nicht. Er zuckte mit den Achseln und konnte sich nicht erklären, wie diese Augen, dieser Mund und diese Nase, die er von irgendwoher kannte, in das junge Antlitz passten. Er trieb seinen schnaufenden Klepper an. Der Braune stemmte sein ganzes Gewicht in das Geschirr, das Fuhrwerk verlor jedoch wenig von seiner behäbigen Langsamkeit. Vielleicht um dem Eigensinn des Pferdes zu begegnen, vielleicht um sein Grübeln zu beenden, zuckte der Alte erneut mit den Achseln. Er entsann sich, wo er das Gesicht schon einmal gesehen hatte, aber nicht, wo er dem Mädchen zuvor begegnet sein könnte.

Margarete spürte die Blicke des Kutschers unangenehm auf ihrem Körper. Ihr Magen schmerzte mit jedem Satz, den der klapprige Karren machte. Der Sand der Straße rasselte unter den Holzrädern, deren Beschlag bereits tiefe Risse aufwies und ausgefranst schien. Das Mädchen zitterte vor Aufregung. Ihre Handflächen waren schweißnass. Sie hatte an diesem Morgen ihr Hirsemus nicht hinunterbekommen; keinen Bissen hatte sie schlucken können, denn Nervosität verklebte als ein rauer, kratzender Klumpen ihre Kehle.

Sie war nicht gefragt worden, doch hatte man ihre Habseligkeiten auf den Wagen des vierschrötigen Kutschers geladen. Niemand hatte ihr den Arm geboten beim Besteigen der Ladefläche, niemand hatte ihr eine gute Reise gewünscht, kein Mensch aus der Armenspeisung im Mückenhain war gekommen, um sie zu verabschieden, nur ein Pförtner und dieser Kutscher waren im Morgengrauen da gewesen.

Wortkarg, müde nuschelnd und ohne die junge Frau zu beachten, waren Anweisungen gegeben und Anweisungen befolgt worden. Anweisungen von wem? Am Vorabend erst war der klumpfüßige Messdiener Julius Fulschussel nach Mückenhain gehumpelt, um die Seelsorger und die junge Frau anzuhalten, alles Nötige für die Abreise vorzubereiten. Es hatte nicht viel vorzubereiten gegeben. Margaretes Bündel war mager, ihr Gemüt gelähmt, das Herz unruhig, aber ihre Sinne waren hellwach, und so sog sie in sich auf, was sie wahrnehmen konnte von dem Flecken Erde, den sie zuletzt als Kind befahren hatte.

Lange währender Kummer hatte sich vor Wochen und Monaten in ihren Eingeweiden eingenistet, war verebbt und wieder erwacht, einem unliebsamen Anhängsel gleich, das sie nicht abzuschütteln vermochte. Sie fürchtete sich vor dem, was sie erwartete.

Margarete hatte sich einen schützenden Mantel aus Verschwiegenheit und Teilnahmslosigkeit gewoben und sich still verhalten seit jenen schicksalhaften Stunden, die ihr Leben als Mitglied der Gemeinde beendet hatten. Sollten die Dorfbewohner die vergangenen Monate mit dem Lauf der Jahreszeiten, den Ansprüchen ihrer Äcker und ihres Viehs zugebracht haben, so hatten für sie lediglich drei nicht enden wollende Tage Gewicht:

Der erste Tag hatte sich in ihr Herz eingebrannt wie die gefräßigen Flammen in das Holz der Mückenhainer Schmiede und den Leib ihrer Mutter, sodass Margarete dessen verkohltes Fleisch noch jetzt roch.

Der zweite Tag war nicht minder düster gewesen als der erste. Aber seine Schwärze rührte nicht von einer gierigen Feuersbrunst her, sondern von Schmutz, Gestank und Pestilenz, die selten jemanden entrinnen ließen, der einmal der Armenspeisung der Gemeinde überführt worden war. Aber Margarete war dem Elend entkommen:

Am dritten Tage. Sie hatte dem nagenden Hunger, der unter die Haut kriechenden, feuchten Kälte und der schweren Arbeit auf dem Gerßdorffschen Rittergut getrotzt. Sie hatte aus für sie unerklärlichen Gründen am Leben festgehalten, sich von Erinnerungen genährt und im Gebet Ruhe und Wärme gefunden. Und nun hockte sie auf dem Karren des fremden Mannes und ihre Gedanken und Ängste wurden durcheinandergerüttelt. Die Dunkelheit der vergangenen Monate, die seit dem schrecklichen Brand auf dem Schmiedehof vom Mückenhain ins Land gezogen waren, wollte sich mit der Masse der auf sie einstürzenden neuen Eindrücke nur schwer lichten. Margarete tröstete sich mit der Vorstellung, dass es dort, wo man sie hinbrachte, kaum schlimmer sein würde als dort, von wo sie kam.

Die junge Frau kannte die Parochie, die zu beiden Seiten des Schöps lang gezogene Gemeinde. Sie konnte von sich nicht behaupten, jeden Stein und jeden Stock zu kennen, Gott bewahre, die Menschen hier waren ihr so fremd wie der Kutscher, der sie verstohlen musterte, aber in der Kirche hatte sie ihre Freude daran gehabt, die Menschen während der Andacht zu beobachten. Im Gottesdienst, wenn die Müdigkeit sie im Morgengrauen zu überwältigen drohte, war es ihr Zeitvertreib gewesen, die Anwesenden in dem kleinen Gotteshaus der Parochie Horka zu betrachten, stets auf der Hut, nicht ertappt zu werden. Mit leicht gesenktem Haupt hatte sie durch die Wimpern die edlen Herren und Damen von Gerßdorff und Klix auf der Nordempore über dem Altar sitzen sehen. Margarete bewunderte die feinen Stoffe, in die sich die Gutsherren und ihre Familien kleideten. Manches Mal hatte sie überlegt, wie sich das Tuch wohl anfühlte, das im Licht so bunt schimmerte, ob die Herrschaften nicht frören in ihren geschlitzten Hängeärmeln, die mit Schnüren nur an den Schultern angenestelt waren, und den Baretten auf den Köpfen. Sie selbst würde nie so fein gekleidet sein, aber in Anbetracht der luftigen Mode und der kühlen Ostwinde stand ihr auch nicht in ihren gewagtesten Träumen der Sinn nach dieser Vornehmheit. Gehüllt in grobe erdfarbene Wolle fügte sie sich in die Tristesse braun gesprenkelter Böden, die sie zukünftig mit ihren bloßen Händen beackern würde. Die Reisende schloss die Augen. Jede der unerwarteten Erschütterungen des Holzkarrens berieselte ihren Körper mit fiebrigem Kribbeln. Sie ließ ihre Erinnerungen im Kirchenraum umherwandern, um auch nur ein einziges Antlitz aus dem Niederdorf wiederzufinden, welches sie als vertraut bezeichnen könnte. Allein, sie fand keines.

Gottfried trieb sein Pferd an dem östlichen Ufer des Flusses nach Norden in das niedere Dorf, vorbei an zwei alten Gütern. Dort, wo sich der Fluss durch die westlichen Wälder schlängelte, säumten die Dorfstraße Häuser in marodem Umschrot. Das Regenwasser, das wegen des lehmigen Bodens nicht in der Aue abfließen konnte, stockte sich an den Ufern des Baches und setzte dem Gebälk der nahe gebauten Häuser zu.

Horka, das Dorf, das nach seinem im Osten hockenden Hügel benannt war, erstreckte sich eine Stunde lang zu beiden Seiten des Schöps von Süden nach Norden als ein in drei Familienzweige aufgeteiltes Rittergut auf dem Flickenteppich des böhmischen Königreiches. Und weil die kleine Gemeindekirche am Südzipfel des Dorfes nur eine halbe Stunde vom Mückenhain, Margaretes Geburtssiedlung, entfernt stand, hatte es für sie nie einen Anlass gegeben, bis hierher in die nördlichsten Winkel der Parochie vorzudringen. Sie öffnete die Augen und versuchte so viel wie möglich von dem Vorbeihuschenden zu sehen.

Was sie aus den Augenwinkeln und unter dem Rucken des Fuhrwerks erkennen konnte, war nichts von besonderem Glanz; hier gab es die gleichen aus Holz und Lehm, Stroh und Kalk gemachten Höfe, die gleichen buckeligen Weiden, die gleichen vom Wetter gezeichneten Wälle und Wege, die gleichen vom Tagwerk gebräunten Bauern und die gleichen vom Ernten, Scheuern, Waschen, Kinderkriegen und Mannumsorgen gebeugten Frauen wie im Mückenhain. Margarete erkannte die gleiche Armut, den gleichen Hunger und den gleichen Überlebenswillen, den auch sie mit ihrer Familie durchlitten hatte. Dieser Teil der Parochie war nicht mehr und nicht weniger gesegnet als jener, dem sie den Rücken gekehrt hatte. Hier wie überall spürten die Menschen die schlechten Erträge, die missratenen Kinder und den Tribut, den Krankheit und Mangel mit sich brachten, in ihren Knochen. Es würde nichts anders sein als anderswo, und jetzt wie damals würde der Weg zur Kirche ein wenig mehr als eine halbe, aber keine volle Wegstunde andauern, nur dass Margarete eben von Norden und nicht von Süden her zum Gottesdienst stoßen würde.

Der Karren hielt.

Gottfried Klinghardt blickte über seine Schulter und ruckte kurz mit seinem grauen Kopf hin zu einem kleinen Hof.

Sie waren angekommen. Just in dem Augenblick, da Margaretes Gepäck scheppernd im Sand des Vorplatzes zum Hof landete, wandte sich Gottfried mit einer Geste beruhigter Anspannung um, und der Klapperkarren wackelte davon.

Unschlüssig stand Margarete da. Im Rücken hörte sie das ungleichmäßig dumpfe Getrampel des Pferdes. Ihr Blick fiel auf ein kleines Umschrothäuschen, dessen Bohlen ausgeblichen, Säulen und Ständer windschief und dessen Holz porös wirkten. Mit grobem Sackleinen hatte der offenbar gegen neugierige Blicke misstrauische und dem Frühlingslicht abgeneigte Hausherr die Fenster verhangen. Die Kalkwände der Steinzelle schimmerten rosafarben im Morgengrauen. Und obschon der Platz vor dem Haus überwuchert war von Moos, Flechten und Disteln, der mittig aufgetürmte Misthaufen überfällig für das Umsetzen war, sich an das krumme Häuschen rechter Hand eine kleine baufällige Bretterscheune anschloss, die augenscheinlich durch einen aufgetürmten Haufen zerborstener Wagenräder, Bottiche, Fässer und Tröge am Zusammenbrechen gehindert wurde, schien das Dach des Wohnhauses in Ordnung zu sein.

Zur Linken konnte sie neben dem Wohnhaus einen schmalen Durchlass erkennen, der das Hauptgebäude von einem Stall trennte und den Blick auf mächtige Obstbäume lenkte. Die waren offenkundig seit Jahren nicht mehr verschnitten worden. Margarete wusste, dass dieser Durchgang zum Schöps und zum Kräutergarten führte, aber betreten hatte sie ihn nie. In ihrer Kindheit war sie nicht ein einziges Mal eingeladen worden, das Heiligste der Bäuerin zu betreten, aber jetzt brauchte sie niemanden um Erlaubnis zu bitten, jetzt war der Garten ihrer. Doch die Besichtigung musste warten, zuerst sollte Margarete nach einer Menschenseele Ausschau halten. Hühner staksten auf dem engen, von Unkraut überwucherten Durchgang zwischen Haus und Scheune umher, scharrten im Dreck, wirbelten die herumliegenden Daunen auf und gackerten, als wollten sie die Schüchternheit der zukünftigen Hausherrin verlachen. Margarete erschien es ganz so, als sei jedes umherliegende Stück Holz, jedes Gerümpel, jeder Schandfleck aus dem Erdboden des einst so makellosen Hofs gewachsen, um ihrer erbärmlichen Erscheinung zu spotten. Das Federvieh drehte mit herrschaftlicher Arroganz seine Runden auf dem sporadisch eingezäunten Hof, ein halbes Dutzend Katzen lungerte geringschätzig starrend auf schief gestapelten Bretterhaufen herum und ein Hund, der eben noch auf einem der südlich im Niederdorf gelegenen Höfe herumgestreunt war, schnüffelte verächtlich schnaubend an den bröckeligen Ecken des Umschrothäuschens und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war. In Margarete keimte die Vorstellung, hier keinen Menschen anzutreffen. Unschlüssig trat sie von einem Bein auf das andere, und nicht der warme Frühsommermorgen überzog ihren Körper mit Schweiß, sondern das Bevorstehende, das Unvermeidliche, das ihr in der Nacht den Schlaf geraubt hatte.

Sie packte ihr Bündel, das noch genau dort lag, wo es gelandet war, nachdem sie es vom Karren gehievt hatte, und überquerte den Platz. So viele Stunden sie in ihrer Kindheit auch auf diesem Hof zugebracht hatte, war sie nie weiter als bis zum sandigen Vorplatz vorgedrungen, über dem damals die Gerüche von Speisen, Blumen und Kräutern gehangen hatten und der nun sauer und beißend nach Kuhmist und Ochsenscheiße stank. Nie hatte Margarete ihre Fußabdrücke im Staub dieses Hofes hinterlassen und nie hatte sie die Türschwelle betreten.

Sie war nicht überrascht, als auf ihr zaghaftes Klopfen weder die Tür geöffnet wurde noch eine Stimme ein einladendes »Herein« rief. Nachdem sie sich Einlass verschafft hatte, mussten sich ihre Augen an die bedrückende Dunkelheit gewöhnen. Mit so schwarzer Finsternis im Innern des Hauses hatte sie nicht gerechnet. Einige Herzschläge lang stand sie reglos da. Sie wollte nichts als umkehren. Umkehren? Aber wohin? Es gab kein Irgendwohin für sie, es gab nur ein Hier.

Der düstere Flur, in den Margarete wie gebannt starrte, wurde an einigen Stellen von Lichtflecken besprenkelt, die der rissige Blockbau dem sonnigen Morgen abtrotzte. »Gott zum Gruß!«, murmelte sie in die Leere, gerade laut genug, um sich selber hören zu können. Ihre Stimme war dünn, ihre Kehle trocken. Entschlossen räusperte sie sich und rief abermals nach dem Hausherrn. Niemand antwortete. Margarete hatte die Wahl. Sie konnte sich nach links in die Blockstube oder nach rechts in Richtung der kühlen Stallungen wenden. Sie konnte aber auch geradeaus durch den langen Gang und durch die rückwärtige Tür gehen, hinter der sich Garten und Hühnergehege hinstreckten. Die Treppe hinaufzusteigen, die sich nur eine Handbreit entfernt von ihren Zehenspitzen in die obere Diele und zu den Kammern hinaufreckte, war sehr verlockend, aber das verbot ihr der Anstand. Was stehe ich hier herum? Törichtes Ding!, dachte sie seufzend und entschied, einen Blick in die Wohnküche zu werfen.

Ihr Bündel blieb neben der Eingangstür liegen, während sie sich im Halbdunkel vorantastete. Margaretes Herz pochte aufgeregt, und das war das Einzige, was sie hören konnte. Sie erschrak vor hölzernen Ecken und Kanten, die erhellt wurden, als sie aus dem Türrahmen trat und der Schatten ihres Körpers über die Konturen im Innern der Stube huschte. Ein entschlossener Schritt in den Raum wurde mit einem scheppernden Geräusch gestraft, mit dem ein Gegenstand unter ihren Bundschuhen hervorglitt. Was säuselnd auf seinem Rand balancierte und im Raum umhertanzte, war eine kleine irdene Schale, die sie beinahe zertreten hatte. Mit zusammengekniffenen Augen, dem ein tiefer Seufzer folgte, stellte Margarete fest, dass keines der Dinge in diesem Raum auf eine gute Stube schließen ließ. Lediglich eine polierte und mit Schnitzereien verzierte Truhe neben der Tür wertete die unwirtliche Einrichtung auf. Margaretes empfindliche Nase verriet ihr, dass hier seit einiger Zeit weder Essbares aufbewahrt noch zubereitet, dass hier weder Nahrungsmittel vergessen noch verspeist worden waren. Kein Duft nach Gemahlenem, Gepökeltem, Gebackenem oder Gesottenem, nicht einmal nach Vergorenem – und das in der Zeit der Kirschernte – hing in dieser Stube. Margarete wurde nicht von der milden Süße junger Rosmarinbunde, nicht vom ranzigen Dunst alten Fettes, nicht vom Gestank angesäuerter Milch und nicht vom metallenen Duft frischen Wassers in ihrer Küche willkommen geheißen. Allein die seit Langem kalt liegenden Holzstücke in der Kochstelle und die Fetzen vor den Fenstern gaben einen fauligen Geruch von sich.

Enttäuscht machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ den Wohnraum. Noch im Gehen strich sie ihren Wollrock glatt und überprüfte, ob die Schnüre an ihrem Leibchen tadellos gebunden waren. Mit flinken, aber zitternden Fingern fuhr sie sich über den Kopf, um die Nadeln zu ertasten, die ihr Tuch im Nacken zu einem kleinen kugelförmigen Ballon zusammenhielten. Der Scheitel ihres aschgrauen Haares war glatt. Die Ärmel ihres Hemdes zupfte sie gleichmäßig über ihre Handgelenke. Auf der anderen Seite des Flures hing die Holztreppe und unter ihr befand sich die Tür zum Lagerraum. Die stand offen. Margarete spähte durch den Spalt und inspizierte das scheinbar vor Kurzem erst gekalkte, tief gewölbte Lager. Hier war niemand. Auch die Fenster dieses Raumes waren verhangen. Schattenhaft zeichneten sich einige Tonnen und Kisten vor den weißen Wänden ab.

Aber ganz verlassen schien dieses Haus nicht zu sein, denn plötzlich vernahm Margarete das unverkennbare Geräusch, das entsteht, wenn Stroh gerafft und gestreut wird.

»Hallo?«, versuchte sie es erneut, während sie den Lagerraum verließ. Ihr Ruf blieb unbeantwortet und die eigene Stimme hallte als schrilles Kreischen in ihrem Kopf wider; dem entgegen wurde das Scharren plötzlich deutlicher. Lautes Gackern und derbe Flügelschläge waren zu hören. Margarete öffnete die Tür, hinter der sie den Lärm vermutete, mit einem kräftigen Stoß. Es waren Hühner, die durchs Stroh spazierten, einander haschten, durch das Hühnerfenster in der Wand ins Freie hinaus und wieder herein stolzierten und dabei zeternd vor sich hin gluckerten. Der Raum war zweigeteilt. Er diente dem Federvieh als Behausung und allerlei Gerätschaften als Werkzeugkammer. Mit den Vögeln sickerte mattes Licht durch die Maueröffnung in den ansonsten düsteren Raum. »Guten Morgen«, resignierte die neue Hausherrin vor der Hühnerschar und wandte sich zum Gehen. Da zuckte pfeilschnell und gleißend wie ein Sonnenstrahl ein Blitz vor ihren Augen auf, der sie in ihren Bewegungen erstarren ließ. Wie angewurzelt stand sie da und guckte in das glänzende Blatt einer Sense, das im spärlichen Licht zu glimmen schien. Hinter der Schneide funkelte Margarete ein Paar eisblaue Augen derart an, dass es sie nicht erstaunt hätte, wäre deren Vorhang aus blonden Haarsträhnen in Brand gesteckt worden, hätte Gott Augen und nicht Feuersteine zum Entfachen bestimmt. Margarete stolperte ein paar Schritte rückwärts, ihr Puls toste und hämmerte in ihrem Kopf, als schlüge ihr Herz in ihrem Schädel und nicht in ihrer Brust.

»Ich, Nickel von Gerßdorff, Junker zu Horka, Gutsherr zu Sänitz, Dobers und Leippa … et cetera, Sohn des Christoph von Gerßdorff unter Wladislaus Jagello von Gottes Gnaden König zu Oberungarn, Kroatien, Dalmatien und Böhmen, Markgraf zu Mähren, Herzog von Schlesien und der Lutzelburg … et cetera, bin mit dem hochehrwürdigen Pfarrer Simon Czeppil und meinem Untertan Christoph Elias Rieger, Kleinbauer zu Horka, am Tage Euphemia – dem achtzehnten Juni – Anno Domini fünfzehnhundertacht im Kretscham ebenda zusammengekommen …« Der Pfarrer stockte, während er vorlas, denn der Edelmann zu seiner Rechten schien sich gerührt zu haben. Ein flüchtiger Blick auf des Lehnsherrn Profil, das in sorgloser Regungslosigkeit lag, belehrte den Geistlichen jedoch eines Besseren. Da Simon Czeppil nach einer kleinen Wartepause keine Reaktion seitens des Junkers mehr erwartete, fuhr er fort: »…um in diesem offenen Brief den Ehevertrag und die Güterordnung in der Angelegenheit des oben erwähnten Kleinbauern …«

»Ich denke, wir haben alles vortrefflich festgehalten«, unterbrach der ungeduldige Gutsherr den Geistlichen. »Danke, hochehrwürdiger Herr Pfarrer.« Nickel von Gerßdorff rollte einige Male geräuschlos seine Füße von den Fersen zu den Ballen ab und bekräftigte mit dieser seiner Würde keinen Abbruch leistenden Geste den eindringlichen Wunsch, in den anhaltenden Verhandlungen voranzukommen. Er hatte mit Anbruch des Termins seine Zeitnöte unmissverständlich klargemacht.

Von einem bedächtigen Kopfnicken begleitet, legte der Pfarrer die Urkunde auf den Tisch vor sich, als sei sie etwas besonders Kostbares. Dann, weder Nickel noch den Bauern anblickend, streckte er seinen Arm aus. In seiner Hand zitterte eine schneeweiße Gänsefeder. Das dicht beschriebene Pergament, aus dem er soeben vorgelesen hatte, machte ein scharrendes Geräusch, als er es zum Bauern umdrehte und den jungen Mann tonlos aufforderte: »Mach dein Kreuz – hier – und dann ist alles bei rechter Ordnung.« Zwischen Daumen und Zeigefinger rieb der Mann im Ornat den Gänsekiel, aus dessen abgeschrägtem Ende die schwarze Flüssigkeit zu tropfen drohte. Die kreisende krumme Federspitze berührte beinahe die Nase des Kleinbauern. Christophs Blick folgte den Ovalen, die die unförmige Feder in den Raum schrieb. Der Bursche betrachtete die polierten Fingernägel des Geistlichen, die in sahnefarbenen Mondsicheln endeten, und überlegte einen Moment lang. Glauben musste er dem Pfarrer wohl oder übel, denn er konnte weder lesen noch schreiben. »Das Stück Land und die Feuersruine darauf sind nicht viel, aber es gehört nun mal zusammen … Du kannst ein paar Hühner oder Enten darauf watscheln lassen, wenn du es geräumt hast«, hörte er den Pfarrer sprechen, doch seine Hand wollte nicht nach dem Schaft des Schreibgerätes greifen.

Der junge Bauer zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich auf seiner Nasenwurzel eine tiefe Längsfurche abzeichnete. Seine hellblauen Augen, deren Iris, von einem dunklen, grünblauen Ring umzogen, beinahe überschattet wurden, kniff er meistens in der einen, nachdenklichen, oder der anderen, abschätzenden Art zusammen. In seiner Miene lag stets etwas Wachsames und Lauerndes.

Christoph überragte den Pastor um einiges und hielt nicht viel von ihm. Pfarrer Czeppil war ein schmaler Mann von kleinem Wuchs, doch wie um sein Äußeres wettzumachen, polterte er in seinen Predigten sein Innerstes mit der Inbrunst eines liebeskranken Jünglings nach außen und seinem Publikum geradewegs vor die Füße, sodass die Gemeindemitglieder nicht selten den Gottesdienst mit wässrigen Augen und roter Gesichtsfarbe verließen.

Das Halbdunkel des Gerichtskretschams, das Gasthaus des Dorfschenken Jeschke, bot Czeppil nicht den Raum, den er gewohnt war. Hier beugte er sich linkisch über den gedrungenen Holztisch zum Bauern hinüber und ließ seine einsam über dem Tisch hängende Hand mit der Schreibfeder bald sinken. Langsam, aber zutiefst konzentriert, begann er, die verschiedenen Pergamente und Urkunden auf dem Tisch zu ordnen. Neben den Dokumenten lagen unberührt in Holz gebundene Bücher und auf dem dicksten von ihnen prangte ein Augenglas, das er stets bei sich, jedoch nie vor den Augen zu tragen schien. Christoph verstand nicht viel von all dem und die verschiedenen Schriftrollen mit einer Flut an Lettern verwirrten ihn. Er dachte an das Heu, das er heute, nachdem er und die anderen Bauern tagelang auf den herrschaftlichen Wiesen geschuftet hatten, noch einfahren musste; es duldete keinen Aufschub, das Wetter konnte nicht ewig warm und sonnig bleiben.

Der Dorfpfarrer bewies ausgerechnet an diesem Morgen viel Geduld mit seinem Schäfchen. Er genoss es offensichtlich, einen Anlass gefunden zu haben, sich mit dem Junker des Gerßdorffschen Guts in einer – wenngleich einseitigen – Konversation ergehen zu können. Glubschäugig und beim Reden spuckend führte er die Angelegenheit um den Kleinbauern Rieger an. Czeppils Drang zur Belehrung steigerte sich zu einer schier ungezügelten Leidenschaft, die ihn kein Ende finden ließ. Der Junker Nickel wartete auf den Schluss des Termins mit ebensolcher Ungeduld wie Christoph: mehr gelangweilt denn interessiert, auch wenn er der Form halber seine Stimmung zu verbergen suchte.

Christoph stand dem Junker gegenüber an einer Längsseite des Tisches, während Pfarrer Czeppil zwischen ihnen am Kopf der Tafel geschäftig, dann und wann den rechten Zeigefinger an der Zunge befeuchtend, in den Dokumenten kramte, sie auf einen Haufen legte, um sogleich den Packen wieder auseinanderzuzerren und die Schriftstücke neu zu ordnen. Der junge Bauer beobachtete den Junker, wie er sich aufrecht hielt – den Kopf geradeaus. Gleichmütig folgte von Gerßdorffs Blick den Fingern des Pfarrers. Christoph konnte das Weiß in Nickels Augen sehen, so dicht stand er vor ihm. Die geadelte Selbstsicherheit imponierte dem einfachen Mann. Der junge Rieger hatte nie viel Sinn für andere Menschen gehabt, aber dieser feine Herr in violett-blauer Schaube, die einen aufwendig gearbeiteten Koller der gleichen Farbe blicken ließ, und mit dem Barett auf dem lang gewellten blonden Haar, das die durchsichtig wirkende Gesichtshaut und die blauen Augen umspielte, gefiel ihm. Er schämte sich nicht seines wadenlangen Rockes und der Wollhose, die er auch im Sommer zu tragen hatte. Er begriff die Mode der Feinen ohnehin nicht: Sie zerschnitten und unterfächerten ihre Kleider nach Herzenslust, während er und seinesgleichen froh waren, wenn die ihren weder Löcher noch Risse aufwiesen.

Der Pfarrer murmelte unverständliche Satzbrocken vor sich hin und Christoph konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie der Junker ein Gähnen zu unterdrücken versuchte.

»Unterzeichne!«, unterwies der Pleban den Zögernden. »Christoph«, fuhr er fort, als jener sich nicht rührte, »du bist ein ehrlicher Mann und hast unserer Gemeinde nie aus tiefster Absicht heraus Schande gemacht. Fortuna hat Besseres mit dir vor als mit deinem …« Er räusperte sich, um sein Unbehagen abzuschütteln. »Nun, es bedarf sicherlich nicht der Erinnerung daran, dennoch muss ich darauf hinweisen, dass trotz der zusätzlichen Flur, die du – sobald du dein Kreuzchen gemacht hast – dein Eigen nennen wirst, die Geldzinsen und Naturalabgaben ebenso gerechnet werden wie eh und je. Auf Heller und Pfennig.« Der kleine Mann hatte die letzten Worte beinahe unverständlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgeknirscht und fixierte nun mit seinen kugeligen Äuglein den auf dem Tisch vergessen wirkenden Federkiel. »Zusätzliches Land, zusätzlicher Zehnt. So will es das Gesetz!« Er lachte verzagt und sprach schnell weiter, bevor der Bauer Einwände erheben konnte: »Du hast nie viel Aufhebens um Zahlen gemacht, deshalb erspare ich dir die leidlichen Einzelheiten.«

Kaum dass der Pastor zu Ende gesprochen hatte, fragte Christoph, ohne eine Miene zu verziehen: »Wie viel?« Er war ein einsilbiger Mann.

Der Pastor war zutiefst verdutzt und sein Kopf zuckte wie der eines zu straff gezäumten Pferdes von Christoph zu Nickel hinüber und wieder zurück. »Wie meinen?«, war das Einzige, was er herausbrachte. Czeppil erwartete bei solcherlei Verhandlungen, dass der Begünstigte sein Zeichen an die von ihm gezeigte Stelle setzte und über die Formalitäten Schweigen bewahrte. In Anbetracht der erdrückenden Stille, der Nickel von Gerßdorff treu blieb, verfiel der Pfarrer seiner nervösen Angewohnheit und begann mit verquollenen Murmelaugen und offenem Mund sein Gegenüber anzugaffen und ließ, wenn eine Antwort oder kalkulierte Reaktion nicht eintraf, die linke Hälfte der Oberlippe in krampfartigen Zuckungen auf- und abschnellen.

»Wie viel ist das Stück Land wert, das ich jetzt mein Eigen nenne?« Christophs Stimme war fest und bestimmt, der Pfaffe würde nicht ausweichen.

Simon Czeppil schnappte nach Luft und empörte sich: »Zum einen hat er nicht zu sprechen, solange er nicht gefragt wurde …« Er suchte Unterstützung beim Lehnsherrn. Als die ausblieb, sprach er mit heller, sich in seiner Erregung überschlagender Stimme weiter: »… und zum anderen gehen ihn derlei Tatsachen gar nichts an. Was versteht er schon von Klauseln, Verordnungen und Bestimmungen? Was versteht er unter ›sein Eigen‹?«

Christoph hielt den reglos stierenden runden Augen des Pfarrers stand. Ein paar Herzschläge lang maßen sich die Männer, bis der Junker dem Treiben ein Ende machte, indem er erklärte: »Hundertzwanzig Margk.«

Des Pfarrers Blick huschte unmerklich zum Gutsherrn. Nur die hochgezogene Augenbraue über dessen linkem Auge verriet eine Veränderung der Gemütslage.

Der Bauer aber forderte die Gunst des Edelmannes heraus: »Bei welchem Anteil?«

Die beiden hellen Kugeln in Pfarrer Czeppils Kopf verengten sich zu glasigen Linsen und sein Gesicht wurde puterrot. Er schaute Nickel von Gerßdorff erwartungsvoll an, aber der blickte auf den Stapel Papiere, den der Pfarrer aufgetürmt hatte. Der Gutsherr machte nicht den Eindruck, als ob er unbedingt an dieser Unterhaltung teilnehmen wollte. Dem Gottesmann blieb nichts anderes übrig, als dem Bauern Rede und Antwort zu stehen. Mit angehaltenem Atem riss er den Stoß Unterlagen wieder auseinander und suchte umständlich nach einem bestimmten Pergament. Flüsternd überflog er ein paar mit schwarzer Tinte geschriebene Zeilen und ließ sich mit der Verkündung des Gefundenen Zeit. Mit gespielter Leichtigkeit und mit im Raum umherhastendem Blick berichtete er schließlich: »Eine halbe Margk nach jedem Monat für die Gerßdorffs, solange das Stück Land ungenutzt bleibt. Richtest du Nutzung ein, sei es Weidevieh oder Bebauung …« Er lachte gekünstelt und kratzte sich hinter dem Ohr, um die Debatte herunterzuspielen. »… Bebauung mit irgendwas, einer Scheune vielleicht, so bringst du lediglich die üblichen Naturalabgaben und den Kirchenzehnt dazu.«

»Eine halbe Margk pro Monat? Sind das nicht ein wenig viel Zinsen für ein Grundstück, auf dem nichts weiter als ein paar verkohlte Rähmbohlen und Feldsteine liegen?«

»Nun, das bestimme nicht ich, Christoph«, antwortete der Pfarrer unsicher und warf wieder einen Blick auf den Junker zu seiner Rechten. »Wir wollen dich anspornen, es zu bebauen, es zu nutzen. Was glaubst du, was der Kirche für Kosten entstehen? Ich habe vier Margk Bischofszins pro Jahr an den Bischof von Meißen abzutreten. Dazu kommen weitere zwei Margk an Altarzins. Das Geld kommt nicht durch faule Bauern rein! Deine halbe Margk gilt als Strafe für unbebautes Land!«

»Ich will nicht das Land. Zahlt es mir aus und behaltet es Euch!«

Nickel von Gerßdorff regte sich nun und fühlte sich offenbar verpflichtet, dem Federlesen ein Ende zu bereiten. In des Gutsherrn Antlitz stand der Unmut darüber geschrieben, dass der Bauer noch immer nicht sein Kreuz unter den Wisch gesetzt hatte. Seine wässrigen Augen huschten über den Wust an Papieren in einer Weise, die seine wachsende Ungeduld verriet.

Des Herrn klare Stimme füllte den Raum aus, als er erklärte: »Die Mitgift des Mädchens wird durch das Grundstück gedeckt, weder Gelder noch Naturalien sind verfügbar. Es steht der Tochter des Schmieds nicht zu, das Grundstück in hundertzwanzig Margk umzusetzen, und es steht dir …« Er deutete mit seiner beringten rechten Hand auf den Bauern, der ihn geradeheraus anstarrte. »Es steht dir nicht zu, den glatten Wert über hundertzwanzig Margk einzustreichen. Was willst du auch mit so viel Geld?« Er lachte kurz, aber gehässig auf und spottete: »Hast du auch immer hübsch dein Wechselbüchlein bei dir?«

Christoph quittierte den Sarkasmus des Nickel von Gerßdorff mit einem abschätzenden Blick. Was sollte er auch auf diesen Unsinn antworten?! Natürlich hatte er kein Wechselbuch, denn er verstand es nicht, einen Dicktaler in einen Reichstaler und diesen wiederum in einen Meißner Gulden oder jenen in einen Schock umzurechnen. Er wusste nicht, wie man eine Zittauer Mark mit einer Görlitzer Margk oder einer Schlesischen Mark überschlug. Für ihn hatte einzig das Geld Format und Wert, welches er in den Händen halten und in seinem Beutel klingeln hören konnte. Christoph verstand nichts vom Gold- und Silberwert der kleinen kupferroten Münzen, die seit der stetigen Edelmetallknappheit der vergangenen Jahrzehnte die schweren Münzen minderte. Nie hatte er eine echte Margk in Händen gehalten, aber er wusste, dass er für eine Görlitzer achtundvierzig und für eine Zittauer sechsundfünfzig Groschen auszählen musste. Er wusste, dass der Silbergroschen zwölf Guten Pfennigen, der böhmische Weißgroschen sieben Weißpfennigen und der Maleygroschen sieben Schwarzpfennigen entsprach. Auf dem Markt wandte er nie viel Zeit für das Umrechnen der böhmischen und deutschen Münzen auf, die im Sechsstädteland im Umlauf waren, sondern tauschte seine Waren gegen andere oder wog die Groschen und Schock nach Gutdünken ab, so wie es jeder Bauer tat. Einhundertzwanzig Margk waren fünftausendsiebenhundertsechzig Görlitzer Groschen oder sechstausendsiebenhundertzwanzig Zittauer Groschen … Nickel hatte recht: Es war mehr Geld, als Christoph, sein Vater und dessen Vater in ihrem ganzen Leben zusammengekratzt hatten. Hundertzwanzig Margk wollten verwaltet und gut angelegt sein, und dafür würde er schon sorgen.

Der Kleinbauer hielt dem forschenden Blick des Junkers stand. Er wusste, welche Gedanken hinter der edelblütigen hohen Stirn zuckten. Ihm war klar, dass der Gutsherr die Geschichten über ihn, Christoph Elias Rieger, kannte, ebenso wie dessen Vater schon die über den alten Alois Rieger gekannt hatte. Weder Christoph noch sein Vater hatten je einen Pfifferling auf das gegeben, was die weltliche und geistliche Obrigkeit vorschrieb. Christoph wusste, dass der Lehnsherr von den umtriebigen Riegers weder das unterwürfige Senken des Hauptes noch die anspruchslose Hinnahme feudaler Tatsachen erwartete. Einmal hatte er den Nickel über die Riegers sagen hören, dass er Männer mit Rückgrat mochte, war der Junker doch selbst um sein aufrecht erhobenes Haupt, erfolgreiche Geschäfte und nützliche Partnerschaften bemüht. Schon sein Vater hatte dereinst vom alten Rieger profitiert, war zu Ansehen gekommen. Und nun war der junge Nickel derjenige, welcher keine Vorbehalte gegen den impulsiven Christoph Rieger hegte, der seit dem Tod des alten Alois allein auf einem baufälligen Hof hockte und brav seine Schuldigkeit abarbeitete. Bei allem, was Christoph vom Junker Nickel wusste, konnte er jedoch nicht einschätzen, wie stoßsicher der Stein in des Gerßdorffs Brett klemmte und wie weit er von den Gepflogenheiten abweichen durfte, um nicht in Missgunst zu geraten. Christophs Ansinnen, das tote, unnütze Land abzustoßen und selbst einen Batzen Geld einzustecken, war reichlich unverschämt. »Ich habe keine Verwendung für das Grundstück. Ihr schon«, bemerkte der Bauer ruhig und begegnete dem Blick des feinen Lehnsherrn, einem Blick, der nun ganz und gar nicht mehr amüsiert, sondern ernst, beinahe erzürnt schien. Neben dem schwerfälligen Schnaufen des Bücklings Czeppil ließ sich der pfeifende Atem des Gutsherrn vernehmen.

Christoph sah dem Edelmann an, dass er die Umstände abwog, die ihn verleiten konnten, ihm zuzustimmen. Er musterte den Mann ihm gegenüber eindringlich und redete bedacht weiter: »Zahlt es mir aus und es wäre Euer. Ihr könntet es an geschicktere Bauern verpachten und hättet mehr davon. Bauern wie dem Weinhold zum Beispiel. Der bringt mächtig was ein. Das wisst Ihr.« Als Nickel nach kurzem Schweigen noch immer nichts erwiderte, sprudelte es aus Christoph heraus: »Der Weinhold schafft es, auf ausgebranntem Kuhmist Veilchen sprießen zu lassen. Von seinem Zehnt werdet Ihr satt, von dem meinen krank! Ich könnte mit den hundertzwanzig Margk meinen Hof auf Vordermann bringen. Was soll ich mit dem Land vom Mückenhain, das mehr als eine Wegstunde von meinem Hof entfernt ist? Ich kann nicht aus Scheiße Gold machen …«

»Junge, zügle deine Zunge!«, zischelte der Pfarrer dazwischen, sehr darauf bedacht, die Peinlichkeit zwischen Bauer und Adligem geringzuhalten. »Du redest dich um Kopf und Kragen, und das auf eine Art, dass einem die Ohren abfaulen.« Zu Nickel von Gerßdorff gewandt, sprach er milder: »Er ist noch jung, hat früh den Vater verloren, die Mutter auf so tragische Weise … Die Geschichte von damals, da muss man doch irr im Kopf sein! Geht nicht zu hart mit ihm ins Gericht. Auch an dieses Grundstück und an diesen Zins wird er sich gewöhnen!«

Der Junker hob seine rechte Hand nur ein wenig, doch genug, um den Pfarrer zum Schweigen zu bringen. Er räusperte sich und sah den Geistlichen abschätzig an, als er zu bedenken gab: »Er hat nicht früher den Vater verloren als manch anderer. Sein Vater war ein besonderer Mann, habt Ihr das vergessen, ehrwürdiger Herr Pfarrer? Er war ein … Genius …«

Czeppil schnaubte beinahe unhörbar und drehte dabei seinen Kopf zur Seite, damit der Gutsherr seinen Spott gegen die Riegers nicht bemerkte. Er konnte seine Gräuel nicht verbergen. »Genius! Was bedeutet das! Einen Analphabeten und Unruhestifter, einen Querulanten und Tunichtgut, einen Missetäter und Gottesfremden nenne ich keinen Genius …«

Nickel sah Czeppil von oben herab an, während er ihm das Wort aus dem Munde nahm: »Christoph Rieger war zwanzig Jahre alt, als sein Vater starb, fünfzehn, als seine Mutter dem Ungeborenen in ihrem Leib erlag …«

Der junge Bauer stand zwischen den Sprechenden wie ein gescholtener Knabe zwischen seinen streitenden Eltern. Die Männer redeten über ihn, als wäre er gar nicht da. Ungeduldig zupfte er an einem losen Faden seines Rocksaumes.

Der Geistliche ließ sich vom Lehnsherrn nicht kleinreden und wandte sich schließlich an den Bauern: »Christoph, sei kein Narr, wie dein Vater in seiner schwärzesten Stunde einer war …«

Spitzbübisch mischte sich Nickel erneut ein: »Einen, der sich etwas einfallen lässt, einen, der der Gemeinde einen Nutzen von langer Dauer bringt, einen, der ein Risiko eingeht und sein eigenes Wohl in den Hintergrund stellt, nenne ich keinen Narren, hochverehrter Herr Pfarrer!« Des Junkers Augen wichen nicht aus dem bebenden Antlitz Czeppils.

Der deutete eine Verbeugung in Nickels Richtung an, ohne ihn anzusehen, und sprach mit gequälter Stimme: »Christoph, nimm das Land, mach etwas draus. Das ist der Beschluss, das ist mein letztes Wort.« Der Pfarrer hatte sich um einen freundschaftlichen, beinahe väterlichen Ton bemüht, aber das linkische Zucken seiner Oberlippe täuschte nicht über sein Unbehagen und seine Anspannung hinweg.

Christoph ließ seine Augen über die unzähligen Papierbögen und Pergamentrollen wandern und schüttelte den Kopf. »Dann kommt der Vertrag nicht zustande.« Er wusste, dass er mehr als nur ein Zubrot aufs Spiel setzte. Für eine solche Dreistigkeit konnte er in den Turm von Görlitz wandern. Sein Herz machte einen Satz, als er beobachtete, wie der Edelmann das dicht beschriebene Pergament aufnahm und es überflog. Als er scheinbar jedes Wort des Schriftstückes überdacht hatte, forschte er mit seinen klaren, kalten Augen in dem Gesicht des Jüngeren.

Der Pfarrer atmete zischend aus und gab seine gebeugte Haltung auf, ohne merklich an Körpergröße zu gewinnen. Ungläubig glotzte er den jungen Mann zu seiner Linken an. Er schien so überrascht von Christophs Worten, dass die Bewegungen um seinen Mund erstarben und die Röte aus seinem Gesicht wich. Er ermahnte den Burschen: »Was redest du da für wirres Zeug. Du hast keine Wahl! Es ist beschlossen: Das Grundstück vom Mückenhain und alles, was dazugehört, fällt an dich, und die Abgaben darauf trägst du auch.«

»Aber wenn ich mich nun weigerte … Das Grundstück ist nichts wert: zu sandig für einen Acker und Vieh, aber bei Regen steht das Wasser zwei Fuß hoch. Es ist nicht geeignet zum Bauen.«

»Was quatschst du da, Kerl! Die Schmiede stand dort über Generationen, bis sie vom Feuer gefressen wurde.« Auf des Pfarrers Stirn traten kleine glitzernde Schweißperlen.

»Das führt zu nichts. Was schlägst du vor, Christoph Elias Rieger?«, wandte sich der Junker an den Bauern.

Christoph hatte darauf gesetzt, dass der Gerßdorffsche Gutsherr sich erweichen lassen würde: War ihm die Schmiedtochter nicht ein Klotz am Bein? Waren den feinen Herren nicht unzählige Kreaturen lästig, die seit der letzten Pestepidemie ohne Anverwandte und ohne Auskommen auf die Seelsorge angewiesen waren? So würden auch Nickel und sein Pfaffe die eltern- und heimatlose Schmiedtochter weiterhin in der Armenspeisung durchfüttern müssen, bis sich für sie eine Anstellung als Magd fände. Das konnte Jahre dauern, und solange das Mädchen nicht unter der Haube war, saß es auf dem Mückenhainer Grundstück wie die Henne auf ihrem Ei; keinem goldenen Ei! Das ruinierte Stück Land brachte den Gerßdorffs jährlich horrende Einbußen, weil das unverheiratete Mädchen nicht imstande war, das Grundstück nutzbar und zur Geldquelle zu machen. Aber wer wollte ein Mädchen aus der Armenspeisung mit dem unbrauchbaren Land im Gepäck zur Frau nehmen? Ein Teufelskreis, den zu zersprengen sich einer gefunden hatte. Christoph richtete sich zur vollen Größe auf, um seinen Argumenten Gewicht zu geben. »Entstehen mir nicht Unkosten mit einer Frau? Und sollten nicht gerade durch die Heirat mit eben dieser meine Bedingungen angehört werden?« Er machte eine kleine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. »Ist ihre Familie nicht durch zweifelhafte Umstände ausgelöscht worden?« Der Zweck heiligte die Mittel; betretene Stille trat ein, bis die Augen des Edelmannes anzeigten, dass er den Wink des Bauern verstanden hatte.

Christoph spürte, dass er eine unsichtbare Grenze überschritten hatte. Er verkrallte seine Finger in den Seitennähten seines Hemdes und zwang sich, ruhig zu atmen. Der junge Rieger hatte ein Terrain betreten, das die Dorfgemeinde mit Gerüchten und Mutmaßungen verschüttet zu haben glaubte, und da kam er und stocherte unverfroren in dem Mückenhainer Geröllhaufen herum. Nicht nur seine eigene, sondern auch die schmutzige Wäsche der Gerßdorffs würde in aller Öffentlichkeit gewaschen werden, wenn er jetzt nicht seinen Willen bekam. Über die Schmiede und die Toten von dort sprach man nicht. Das Mädchen, das von dort übrig geblieben war, wollte man vergessen – oder verheiraten, was dem Vergessen sehr nahe kam. Und dann, sobald sich die Jungvermählten in das Dorfbild eingefügt hätten, galt der Geröllhaufen als endgültig abgetragen.

Der Pfarrer und der Gutsherr sahen erst einander und dann den Kleinbauern an, als ahnten sie das Unausweichliche. Und das, was Christoph nach einer kurzen Bedenkzeit, in der er es sich anders hätte überlegen können, vor den Herren ausbreitete, kam einer Ohrfeige sehr nahe: »Nachdem die schwachsinnige älteste Tochter des Schmieds im Schöps ertrunken aufgefunden wird, erhängt sich der Mann selber – das zumindest wird den Leuten weisgemacht. Der älteste Sohn wird im Dunstkeller von einem Stück Erde verschüttet und stirbt, und die Mutter verbrennt mitsamt der ganzen Schmiede. Eine kuriose Familienchronik, nicht wahr? Und alles, was übrig bleibt, ist ein verschrecktes, verkümmertes Ding, dem man alles Mögliche andichtet, um es aus der Armenspeisung vertreiben zu können. Wer würde sich ein Weib aus solchem Hause und mit so einem Ruf nehmen?« Christoph wartete geduldig auf eine Antwort von Nickel oder Pfarrer Czeppil, doch beide schwiegen. Der Mann in Ornat starrte wieder sein Wirrwarr aus Urkunden an und der fein gekleidete Herr zu seiner Rechten tat es ihm gleich. »Ich will die hundertzwanzig Margk für das Grundstück als Mitgift für das Mädchen. Macht mit dem Flecken Land, was Ihr wollt. Das ist mein letztes Wort.« Der Bauer entspannte sich hinsichtlich der Genugtuung, die ihm Czeppils beleidigter Augenaufschlag bereitete. Christophs blaue Augen funkelten. Er hatte sich weit aus dem Fenster gelehnt, aber er spürte, dass es nicht zu seinem Schaden sein sollte.

Der Pfarrer kam zu sich, schüttelte energisch den Kopf und protestierte: »Das ist ausgeschlossen.«

Junker Nickel hob beschwichtigend die rechte Hand.

Christoph rollte unmerklich mit den Augen. Ein Blick aus den Butzenscheiben des Kretscham verhieß ihm, dass der Morgen nicht mehr lange jung war, der Weg bis zur Wiese, auf der er heute Heu machen wollte, dafür umso weiter. Seinem Ohm wollte er einen Besuch abstatten. Christoph würde nicht an Hans Biehains Hof vorbeifahren, ohne einen Blick in dessen gute Stube geworfen zu haben, und mindestens eine halbe Stunde würde sein Ochsengespann von der Dorfschenke bis zu dessen Hof brauchen.

Der Lehnsherr rüttelte den Burschen aus seinen Gedanken: »Wie ich höre, ist das Mädchen ausnehmend schön. Das müsste zuzüglich des Stückes Land genug der Mitgift sein für einen Kleinbauern, der es sich aufgrund seines lauten Mundwerkes und seiner harten Hand mit jedem Rock diesseits der Neiße verscherzt hat.« Auf Nickels Gesicht zeigte sich ein jungenhaftes Grinsen. »Du wolltest dieses Weib, kein anderes. Ausgerechnet dieses. Kaum dass die Sonne an ihrem achtzehnten Geburtstag aufgegangen ist, stehst du hier, um sie dir zu holen! Verstehe einer die Verliebten – oder hast du einfach nur gut kalkuliert, mein Freund?« Er forschte im Antlitz des Kleinbauern, aber eine Antwort fand er nicht darin.

Christoph hatte nie darüber nachgedacht, ob das Mädchen schön war. Was sich in seinem Schädel herumtrieb, war eine Idee gewesen, die zu verkünden jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt war. Er hatte Großes vor mit dem Batzen Münzen, den das Land im Mückenhain einbringen würde, und er ließ sich seine Pläne nicht von feinen Röcken und Talaren vereiteln. Jahrelang hatte er eine Idee gehegt wie ein zartes Pflänzchen, sie in schlaflosen Nächten aufkeimen sehen und ihr Drängen an unruhigen Tagen mit Bier und leichten Mädchen beruhigt. Wie lange hatte er darauf gewartet, das zu verwirklichen, was ihm seit dem Tod seiner Mutter im Kopf herumgeisterte? Wie lange hatte er den Moment herbeigewünscht, das zu bekommen, was er schon vor zehn Jahren hatte haben wollen? Nein, er würde sich jetzt nicht abspeisen lassen. Er hatte gelitten seit dem Tage, da seine Mutter am Kind in ihrem Leib verreckt war! Er hatte im Schatten seines ruhmeshungrigen Vaters gestanden, hatte sich krumm geschuftet und halb tot gehungert, war allein gewesen, oft wochenlang, und jetzt wollte er sich nehmen, was ihm zustand. Jetzt wollte er, was er verdient hatte. Jetzt war er an der Reihe! Christophs Nasenflügel bebten und er nahm erst jetzt wahr, dass seine Hände zu Fäusten geballt waren. Langsam stemmte er seinen Oberkörper auf die Tischplatte. Er sah die Männer an, die nie so denken würden wie er, denen es nie an irgendetwas gemangelt hatte und denen sich seine Beweggründe nicht erschließen würden.

Schier endlos lange starrten die drei Männer einander stumm an. Dann, ganz unerwartet, sagte der Junker mit einer solch frischen und aufgeweckten Stimme, als hätte er den Morgentau gefrühstückt: »Du sollst das Grundstück ausgezahlt bekommen.«

Erschöpft wie nach einem Stunden währenden Kampf fielen Christophs Hände vom Tisch und baumelten kraftlos neben seinen Beinen.

Der Pfarrer schlug vor Empörung die Hände vor dem Gesicht zusammen und beugte sich kopfschüttelnd über seine Pergamente.

»Hundertzwanzig sagtet Ihr?«, befragte der Junker den Geistlichen wie ein Orakel.

»Ja, mein Herr, hundertzwanzig.«

Nickel von Gerßdorff schnalzte mit der Zunge. »Hundertzwanzig.« Er zwirbelte das kleine dreieckige Bärtchen unter seiner Lippe. »Hundertzwanzig. So viel Geld hat einer wie du sein Leben lang nicht zusammen …« Kurz lachte er auf und schien sichtlich beeindruckt von der Schlagfertigkeit seines Untergebenen, bald aber gewann er wieder seine ernste Würde und fügte sachlich hinzu: »Dafür erhöhe ich deine Hofdienste um drei Tage pro Jahr und werde jede Verspätung des Zehnts mit Strafe belegen.«

Christoph nickte zögernd, aber eindeutig: »Abgemacht.« Jetzt zog er seinen unförmigen Lederhut vom Kopf und verneigte sich gerade so weit, dass er sich nicht gedemütigt fühlte. Der Junker tat diese Geste mit einem leichten Zucken seiner Mundwinkel ab, das nur von Christoph als schwaches Lächeln erkannt wurde. Der Geistliche blickte zwischen den beiden Männern wie ein geprügelter Hund hin und her. Er zückte seufzend seine Feder, tunkte sie in ein Tintenfass und schrieb auf einem speckigen Pergament zwei Zeilen unter den Text. Während Christoph das rasche Krakeln der Federspitze beobachtete, lag ihm der zusätzlich aufgezwungene Dienst auf dem Gut des Junkers wie ein schwer verdaulicher Hefekloß im Magen. Er war sich darüber im Klaren, was das bedeutete. Die für einen Erbbauern wie ihn wenigen Tage im Jahr, die er auf dem Gut zubrachte, fehlten ihm ohnehin schon auf seinem eigenen kleinen Hof. Drei mehr dieser Tage würden seinen Hof womöglich in den Ruin treiben. Sein Vorhaben würde verpuffen. Doch er war zu stolz, um jetzt einen Rückzieher zu machen. Er hatte erreicht, was er wollte. Arbeiten würde er in Zukunft ohnehin mehr als alle anderen in der Parochie. Wer sät, wird ernten. Das hatte schon sein Vater gesagt. Und mit dem Mädchen, das er sich ins Haus geholt hatte, würde er nicht länger in der ausgebeuteten Erbuntertänigkeit versacken. Als verheirateter Mann entrann Christoph der Willkür eines Nickel von Gerßdorff, der nur allzu gern die ledigen Bauernkinder für zusätzliche Dienste beanspruchte. Jetzt war er genau wie sein Vater ein Bauer mit Eigentumsrecht, jetzt konnte er beginnen, für sich selber, nicht mehr nur für die Erbherren zu ackern. Christoph verspürte den Drang zu grinsen, zu lachen, zu johlen, aber er blieb ruhig und beobachtete, was der Pfarrer tat.

»Wenn er nun endlich sein Kreuz setzen würde!«, presste der Geistliche zwischen schmalen Lippen hervor, und Christoph beugte sich über die Urkunde, ergriff die Feder und malte mit schwerer Hand, aber kurzer Bewegung sein Kreuz. »Es ist mir neu, dass der Bauer die Bedingung für einen Vertrag festsetzt«, näselte Pfarrer Czeppil, während er das dicke klobige Tintenkreuz des Bauern trocken pustete. Nickel von Gerßdorff hatte sich zum Gehen entschlossen und Christoph tat es ihm gleich.

Christoph sog die frische Morgenluft tief ein, als er auf seinen Karren stieg. Er trieb sein Ochsengespann vorbei an der kleinen Dorfkirche in Richtung des nicht weit entfernten Hofs vom Großbauern Hans Biehain, dem Schwager seines Vaters und Manne seiner Mutter Schwester. Hier bei dem kläglichen Rest der einst so weit gefächerten Rieger-Familie hatte Christoph seit dem Tode seiner Mutter mehr gewohnt, als nur gelegentlich vorbeigeschaut.

Als er in des Biehainers Stube trat, saßen der Alte und sein Weib noch beim Frühmahl. Wortlos, aber mit freundlichen Gesichtern wurde Christoph willkommen geheißen. Er zog seinen Hut vom Kopf und warf ihn auf eine Truhe nahe der Stubentür. Die Biehainin machte dem Gast ihren Platz frei und ging daran, den letzten Rest Haferbrei aus dem Kessel zu kratzen. Mit Schwung aus dem Handgelenk klatschte sie das weiße, klebrige Zeug in eine Holzschale und schob sie vor Christoph auf den Tisch.

»So früh hier draußen?«, erkundigte sich der Bauer Biehain mit hochgezogenen Augenbrauen. »Es gibt doch heute überhaupt keine Andacht.«