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Die preisgekrönte iranische Schriftstellerin Aliyeh Ataei erzählt bewegend von ihrer Familie - und von der stillen Rebellion der Frauen. »Meisterhafte Erzählungen von einer der wichtigsten Stimmen des Iran. Diese Geschichten handeln von dem, was die internationale Presse nicht berichten kann.« Taher Ben Jelloun, Le Point
Sie kommt in Südiran zur Welt, in der Grenzregion zu Afghanistan. Hierher waren ihre Eltern vor den sowjetischen Besatzern von Kabul geflohen. In neun Erzählungen, die dreißig Jahre umspannen, taucht Aliyeh Ataei ein in die eigene Geschichte und in die ihrer Familie. Sie erzählt vom frühen Tod des von Flucht und Krieg gezeichneten Vaters. Vom Verlust des jungen Mannes, der ihre große Liebe bleibt. Und sie erzählt von Frauen, die still aufbegehren. Von Malalai, die in Teheran auf offener Straße angegriffen wird. Von Mahboubeh, die unter Verdacht steht, mit den Kommunisten zu sympathisieren. Oder von Anar, die einst in Kabul Englisch studiert und viele Jahre in London gelebt hat. Doch als sie wieder in ihre Heimat zurückkehrt, sind die Taliban an der Macht, und alle Leichtigkeit ist aus ihrem Leben verschwunden.
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2025
Die preisgekrönte iranisch-afghanische Schriftstellerin Aliyeh Ataei erzählt bewegend von ihrer Familie – und von der stillen Rebellion der Frauen.
Als Kind flieht Aliyeh Ataei mit ihrer Familie vor den sowjetischen Besatzern von Kabul nach Südiran. Es beginnt ein Leben im Exil, in der Fremde, das sie als junge Frau nach Teheran führen wird. In neun Erzählungen, die dreißig Jahre umspannen, taucht Aliyeh Ataei ein in die eigene Geschichte und in die ihrer Familie. Sie erzählt vom frühen Tod des vom Krieg gezeichneten Vaters. Vom Verlust des Mannes, der ihre große Liebe bleibt. Und sie erzählt von Frauen, die still aufbegehren. Von Malalai, die in Teheran auf offener Straße angegriffen wird. Von Mahboubeh, die in Kabul von ihrer Schwiegermutter verachtet und ausgestoßen wird, weil sie unter Verdacht steht, mit den Kommunisten zu sympathisieren. Oder von Anar, die einst in Kabul Englisch studiert und viele Jahre in London gelebt hat. Doch als sie Jahrzehnte später wieder in ihre Heimat zurückkehrt, sind die Taliban an der Macht, und alle Leichtigkeit ist aus ihrem Leben verschwunden. Mehr noch: Für ihren Wunsch, Kindern Englisch beizubringen, muss sie einen hohen Preis zahlen.
»Meisterhafte Erzählungen von einer der wichtigsten Stimmen Irans. Diese Geschichten handeln von dem, was die internationale Presse nicht berichten kann.«
Tahar Ben Jelloun, Le Point
Aliyeh Ataei ist eine preisgekrönte iranische Autorin und Frauenrechtsaktivistin mit afghanischen Wurzeln. Sie gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Irans. Ihr Schreiben ist autobiografisch geprägt; mit einem besonderen Fokus auf das Schicksal von Frauen. Aliyeh Ataei, 1981 geboren, wuchs an der Grenze Irans zu Afghanistan auf und studierte an der Teheraner Universität Drehbuchschreiben. Im Land der Vergessenen wurde mit dem renommierten Mehregan-e-Adab-Preis als »Bestes Buch des Jahres« ausgezeichnet. Seit 2023 lebt Aliyeh Ataei in Paris.
Nuschin Maryam Mameghanian-Prenzlow ist Dozentin für Persisch an der FU Berlin und Übersetzerin, u. a. von Pajand Soleymani und Fariba Vafi. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Darstellung von Frauenbildern, Sexualität und Geschlechterverhältnissen in der modernen persischen Literatur. Sie wuchs zweisprachig in Teheran und Berlin auf.
ALIYEH ATAEI
Erzählungen
Aus dem Persischen von Nuschin Maryam Mameghanian-Prenzlow
Luchterhand
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Koorsorkhi« im Verlag Nashre-Cheshmeh, Teheran.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Das Vorwort wurde für die französische Ausgabe geschrieben, die bei Éditions Gallimard erschienen ist. Ins Deutsche übersetzt von Michaela Meßner.
Copyright © 2021 Nashre-Cheshmeh Publishing House, Teheran
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 Luchterhand Literaturverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)
Umschlaggestaltung: buxdesign I Ruth Botzenhardt unter Verwendung eines Motivs von © Ayesha Gamiet. All rights reserved 2025 / Bridgeman Images
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-32067-6V002
www.luchterhand-literaturverlag.de
facebook.com/luchterhandverlag
Vorwort
Hier ist die Grenze zwischen Iran und Afghanistan
Was weisst du schon vom Kommunismus? Du bist doch viel zu jung dafür
Die Usbeken müssen geschlafen haben, als die Russen bei uns einmarschiert sind
Ich bin Foads Traum; ein Traum, der Tod genannt wird
Der Krieg ist vorbei, Lehm und Ziegel werden wieder zusammengefügt
Zwei Kugeln steckten zwischen Den Wörtern Druckerei, Verlag und Ataei
Wenn man einer vom Krieg zerrütteten Familie beweisen möchte, dass man mit ihr verwandt ist
Meine vage afghanische Identität ist eine Qual
Im Dazwischen
Ich sitze an meinem Schreibtisch in Teheran, und alles scheint in Ordnung zu sein. Doch der Lärm der Gewehrsalven, der von der Straße herübertönt, lässt meine Finger auf den Tasten plötzlich erzittern. Es ist eine Mischung aus Angst und Wut, die mich in dem Augenblick überfällt, da ich diese Worte zu tippen beginne. Angst oder Wut? Melancholie oder Revolte? Das Gefühl ist so beklemmend, dass es mir nicht ganz gelingt, sein Wesen zu erfassen, während ich es mit jeder Faser meines Körpers belausche.
Im Land der Vergessenen ist die Geschichte von Frauen aus Iran und Afghanistan, Frauen, die dasselbe Schicksal vereint: Wer schreibt das Drehbuch ihres Lebens?
Das seit vielen Jahren andauernde Klima des Schreckens, dem sie Zeit ihres Lebens ausgesetzt sind, hat das Bild von der »unterdrückten Frau« des Orients hervorgebracht. Mit diesen Erzählungen wollte ich die Wand ihrer Sprachlosigkeit durchbrechen. Es ist ein Buch vieler Stimmen. Genau in diesem Augenblick kann ich draußen die Stimmen von Frauen hören, die »Azadi« rufen, ein Wort, das im Kugelhagel erstirbt. Die Frauen in unserem Land sind oft alles andere als hilflos. Sie sind bisweilen sogar sehr mutig. Und wenn man dem, was sie auf den Seiten dieses Buches zu erzählen haben, aufmerksam lauscht, wird man sie auch dann noch laut und deutlich vernehmen können, wenn sie vielleicht schon tot sind – authentische Stimmen von Frauen, die solches Leid ertragen mussten, ein Leid, das nicht nur Einzelne, sondern alle teilen.
Denn genau in dem Augenblick, in dem ich das Wort F-R-E-I-H-E-I-T tippe, könnte jemand die Stimme, die ich vor meinem Fenster das Wort »Freiheit« schreien höre, zum Schweigen bringen. Es ist November 2022. Wir befinden uns an einem Abend des Aufstands in Teheran. Und ich frage mich: Was suchen diese Frauen eigentlich? Hier die Antwort: menschliche Würde.
Ich bin eine Schriftstellerin, die beobachtet, und alles, was ich bisher geschrieben habe, geht auf Erlebtes zurück. Das Buch, das Sie in Ihren Händen halten, ist aus sehr persönlichen Erzählungen und Erfahrungen in vierzig Jahren meines Lebens in diesem Lande hervorgegangen. Es ist zum Echo der Stimmen aller Frauen im Nahen Osten geworden, einer Region, die die ganze Welt durch Gewalt zu beherrschen versucht und in der das einzelne Leben in den Augen der Mächtigen, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen, wertlos erscheint.
Eine Frau ist hier nicht einfach nur eine Frau. Solange Erdöl unter dieser Erde fließt, wird der Nahe Osten in Flammen stehen. Und Frauenrechte werden hier immer nur ein Täuschungsmanöver sein. Frauen können alles Mögliche bekommen, nur ihre Würde nicht und keinen Respekt.
Heute Abend beunruhigt mich der Lärm da draußen, denn ich werde nie erfahren, wie viele Frauen auf der Straße, in der ich wohne, getötet wurden, wie viele im Gefängnis landen oder für immer verschwinden. Während ich heute Abend diese Worte tippe, weiß ich nicht einmal, ob ich nicht vielleicht morgen früh schon Opfer meines eigenen Schreibens geworden sein werde. Auch weiß ich nicht, ob ich den Tag erleben werde, an dem mein Buch im Ausland erscheint. Aber ich bin Schriftstellerin, und ich finde mein Heil in diesen Worten, diesen Fragen: Warum tötet ihr uns? Warum besetzt ihr unsere Häuser? Warum gebt ihr uns keine Würde und keine Ehre? Und wo liegt dieses Zwangsparadies, in das ihr uns stecken wollt?
Eine Stimme in mir zwang mich, über die Frauen Im Land der Vergessenen zu schreiben, Frauen, die getötet wurden, ohne jemals auch nur die geringste Freiheit oder Sicherheit erfahren zu haben, Frauen, die in diesen fünfzig Jahren Krieg und Aufruhr in Afghanistan und an der iranischen Grenze ihr Leben verloren, Frauen, die keinen Fehler begangen haben, außer demjenigen, in eine Weltgegend hineingeboren zu sein, in der ihr Leben fast nichts wert ist.
Doch diese Worte wurden auch in der Hoffnung auf bessere Tage geschrieben. Ja, »Hoffnung« verkörpert den Akt des Schreibens genau dieser Worte. Hoffnung ist das, was jede afghanische Frau antreibt, die sich in ihrem Kampf für die Chance, eine Schule zu besuchen, gegen die drakonischen religiösen Gesetze der Taliban auflehnt. Hoffnung ist das, was in den ängstlichen afghanischen Kehlen steckt, die am Ende der Straße ihre Freiheit einfordern. Hoffnung steckt in den langen, wallenden Haaren, die sich die Frauen hier in Iran abschneiden – Frauen, die sich auf den Straßen versammeln, um lautstark zu protestieren.
Ich erlaube mir diese letzten Zeilen an die Leserinnen und Leser dieses Buches:
Ich bin verschlungene Wege gegangen, damit diese Worte Sie am Ende erreichen. Falls Sie darin meinen Schmerz spüren, müssen Sie wissen, dass der Schmerz nicht aufgehört hat, aber betrachten Sie mich nicht als Heldin. Meine Heldinnen sind die Frauen, die Sie gleich in diesen Seiten entdecken werden, und jene, die an diesem Abend aufrecht im Kugelhagel stehen und das Wort »Azadi« rufen.
Aliyeh Ataei
Teheran, 16. November 2022
»Ich habe, wie der Stein,
ein Gelübde der Geduld abgelegt.«
Nadia Anjuman
Zwei Männer, die den Krieg überlebt haben, unterhalten sich auf einem Feld.
Der eine sagt: »Hast du gesehen, wie wir die Russen vertrieben haben?« Der andere fragt: »Hast du ihre Panzer absichtlich zerstört?« Der Erste antwortet: »Die Kanonenrohre! Ich habe sie mit allen verfügbaren Lappen verstopft, sie haben keinen Schuss mehr abgegeben.«
Als Kind wusste ich nicht, dass man einen Panzer unbrauchbar machen kann, indem man die Kanonenrohre mit Tüchern verstopft. Jahre später sah ich auf dem Weg von Pandschir nach Paktia unzählige Panzerwracks, die im Schlamm steckten und nicht mehr zu gebrauchen waren. Sie sahen aus wie verrostete Blechhütten, verstreut in der Wüste, in den Bergen und Tälern, genutzt für alle möglichen Zwecke und von allen möglichen Leuten: Drogensüchtigen, Obdachlosen, einzelnen Mudschahed ohne Anführer, ein paar umherirrenden gläubigen Kommunisten, zwei ungläubigen Liebenden auf der Flucht …
Ich sah, wie der Krieg ein anderes Gesicht bekommen hatte, wie er zu einem anderen Leben erwacht war, doch ändert die Metamorphose der Objekte nichts daran, dass wir verdammt sind.
Diese Worte wurden für »uns« geschrieben.
1986 (1365 islamisches Sonnenjahr)
Südliches Khorassan/Provinz Farah,Grenzgebiet zwischen Iran und Afghanistan
Auf unseren Ausweisen steht:
Sehr geehrter Bewohner des Grenzgebiets,
mit dieser Karte haben Sie Zutritt zu den Verkaufsläden der ETKA-Filialen und zu den medizinischen Zentren der Armee und können den speziellen Lebensmittelrabatt in Anspruch nehmen. Diese Karte wird eigens für die Bewohner des Grenzabschnitts ausgestellt und hat in anderen Einrichtungen des Landes keine Gültigkeit.
Auf der Rückseite steht:
Der Inhaber dieses Ausweises ist den Gesetzen der Islamischen Republik Iran unterstellt. Unabhängig davon, ob er iranischer oder afghanischer Staatsbürger ist, ist er verpflichtet, im Kriegsfall unserem Land aufrecht und friedliebend zu dienen. Im Falle eines Krieges zwischen den beiden Nachbarländern Iran und Afghanistan entscheidet das Außenministerium oder das Hauptbüro für Staatsbürger der Islamischen Republik Iran, wie mit der Rekrutierung verfahren werden soll.
Mitte der 1980er-Jahre wusste mein Vater noch nichts von der Verpflichtung, die dieser Ausweis mit sich brachte. Er entschied sich aus freien Stücken, am Iran-Irak-Krieg teilzunehmen. Ehrlich gesagt bin ich mir seiner friedliebenden Absichten sicher, aber ich zweifle an seiner Aufrichtigkeit. Wenn jemand vor dem Krieg im eigenen Land flieht und dann in den Krieg des Nachbarlandes zieht, erscheint mir das nicht besonders konsequent.
Mein Vater ging zur Ausbildung ins Militärlager nach Birjand, kam aber nicht bis an die Front. Zwei Wochen später kehrte er mit Kopfschmerzen und starken körperlichen Beschwerden zurück. Er hatte Schwierigkeiten beim Sprechen und Hören, er zitterte und wurde immer wieder ohnmächtig. In den ersten Tagen nach seiner Rückkehr schafften mein Onkel und seine Freunde immer neue Ärzte zu ihm, bis es hieß, es habe keinen Zweck, er müsse zur Behandlung nach Teheran; der Arme sei an Epilepsie erkrankt.
Die Tatsache, dass sich mein Vater in so kurzer Zeit von einem wohlgenährten, lächelnden Mann in ein dünnes, weinendes Wesen verwandelt hatte, war für mich so seltsam, dass ich ihn nur fassungslos durch die Tür oder durch das Fenster beobachtete und mich nicht in seine Nähe wagte. Als dann Dr. Davudi, die ihn behandelnde Ärztin, uns mitteilte, dass er nach Teheran gebracht werden müsse, bestand ich darauf, ihn im Krankenwagen zu begleiten.
Fliegen, so die Ärztin, sei für meinen Vater viel zu riskant, da seine epileptischen Anfälle bis zu einer halben Stunde andauerten. Man müsse die Reise so planen, dass man bei einem Anfall jederzeit anhalten und die Hirnströme und Muskelzuckungen kontrollieren könne. Und so machten wir uns also mit meiner Mutter, Dr. Davudi sowie dem Sohn unseres Chauffeurs Yaqub in einem Toyota-Kleintransporter, der im hinteren Teil zum Krankenwagen umgebaut war, in Richtung Teheran auf.
Der Frühling neigte sich dem Ende zu, und wir waren 1200 km von Teheran entfernt. Meine Mutter saß vorne neben dem Fahrer, hinten neben meinem Vater waren Dr. Davudi, Yaqubs Sohn und ich. Ich weinte. Auf der unbefestigten Straße war die Strecke von unserem Haus nach Birjand nicht unter fünf Stunden zu schaffen. Aber alle halbe Stunde klopfte die Ärztin an die Trennwand zwischen uns und der Fahrerkabine und bat anzuhalten. Der Anfall meines Vaters ließ nicht lange auf sich warten. Er dauerte etwa zwanzig Minuten, doch vom ersten Zittern bis hin zu den Tränen danach vergingen eher dreißig.
So brauchten wir für die fünfstündige Fahrt nach Birjand am Ende fast zwölf Stunden.
Dr. Davudi vermutete, dass eine Kugel die Schläfe meines Vaters gestreift und diese neurologischen Schäden verursacht hatte. Und ich, die ich ihm zum ersten Mal seit seiner Rückkehr so nahe war, beobachtete ihn und bemerkte, dass sich bei einem bevorstehenden Anfall zuerst etwas in seinem Blick veränderte, dann ballte er die Hände zu Fäusten, erst danach begannen die Zuckungen.
Dr. Davudi hatte zwei unterschiedliche Kissen, eines dick und rund, das andere flach und schmal. Sie legte das Runde unter den Kopf meines Vaters, das andere schob sie ihm in den Mund. Wenn er hochschoss, schlug sein Kopf so heftig auf das Kissen zurück, dass die Ladefläche des Wagens bebte und das schreckliche Geräusch des vibrierenden Metalls mir das Trommelfell durchbohrte.
Als wir in Birjand ankamen, meinte Dr. Davudi, die Zeit dränge, und wir müssten rasch weiter. Ich weiß nicht, warum meine Mutter, die damals sehr nah am Wasser gebaut war, sie anflehte, noch eine Weile zu bleiben. Dr. Davudi erklärte uns, dass wir kein Risiko eingehen dürften, diese heftigen Anfälle könnten einen Schlaganfall auslösen. Wir müssten so schnell wie möglich in ein Krankenhaus, das einen Platz auf der Intensivstation frei habe. Dr. Davudi war Allgemeinärztin und bescheiden. Sie gestand ehrlich ein, dass sie nicht über das nötige Wissen verfügte, um Erkrankungen des Nervensystems zu behandeln. Und unsere Reise nach Teheran hatte gerade erst begonnen. Ein langer Weg lag vor uns, mitten durch die Wüste. Ich hielt mich an den Seitengittern des Lieferwagens fest und beobachtete jeden neuen Anfall aus einem Meter Entfernung. Wir hatten eine Arbeitsteilung: Yaqubs Sohn hielt die zuckenden Gliedmaßen fest, während die Ärztin den Kopf fixierte und meinem Vater das flache Kissen zwischen die Kiefer drückte.
Als Kind habe ich mich immer wieder gefragt, wie sehr mein Vater wohl unter den Schmerzen gelitten hat. Heute weiß ich, dass jemand, der so sehr um sein Leben kämpft, nicht viel über seine Schmerzen nachdenkt.
Gegen Abend fanden wir uns mitten in der Wüste Khor wieder. Mein Vater, der meine Anwesenheit im Transporter bemerkt zu haben schien, streckte seine Arme nach mir aus. Dr. Davudi hielt mich nicht auf, und so beugte ich mich zu ihm hinunter, und nach zwei Monaten, in denen ich Abstand zu ihm gehalten hatte, spürte ich seine Arme um meinen Körper.
Es waren nicht mehr die Hände, die er vorher gehabt hatte. Sie zitterten so stark, als würden sie meinen Körper schütteln. Ich, die ich seit seiner Rückkehr solche Angst davor gehabt hatte, ihn zu berühren, fürchtete mich in diesem Moment überhaupt nicht mehr.
Meine Mutter bereitete in aller Eile etwas zu essen zu, doch als sie sah, dass ich nichts davon anrührte, fing sie an zu weinen und bat mich, sie nicht noch mehr zu belasten. Da sie nicht aufhörte, aß ich mein Essen auf, obwohl mir übel war. Ich schwieg: Auch als Kind weiß man, wann man nicht krank sein darf.
Nach dem Dorf Biyabanak begann das Gebiet der Salzwüste, und in der mondhellen Nacht glitzerten die Salzkristalle. Der Fahrer spielte laute afghanische Musik:
Es regnet stets duftenden Moschus
Aus den Februarwolken von Kabul.
Es verbreitet sich frisches Grün
Wellen um Wellen inmitten der Gassen
Und Straßen von Kabul.
Die Musik drang durch das offene Fahrerfenster hinaus in die Wüste. Auf dem Boden, vor den Füßen meines Vaters, schlief zusammengerollt Yaqubs Sohn, sein Handgelenk war durch ein Seil mit dem Knöchel meines Vaters verbunden. Dr. Davudi lehnte sich an die Seitenwand und hielt ebenfalls das Ende eines Seils fest, das an das Handgelenk meines Vaters gebunden war.
Und Meister Sarban sang:
Die Wolken haben feuchte Augen,
Auch die Wiesen, tausende Federn und Flügel.
Sie haben einen wohltuenden Duft;
Die Zypressen und Lilien von Kabul.
Das Rütteln des Transporters ließ den Mond und die Sterne am Himmel flackern. Der Atem meines Vaters war zwischen den Fahrgeräuschen auf der Straße kaum zu hören. Ich hatte Bauchschmerzen, aber mein kindliches Gehirn war zu sehr damit beschäftigt herauszufinden, wie man Kugeln herstellt, die töten können. Ich war ganz versunken in den Gedanken, eine Fabrik zu bauen, die alle möglichen Waffen herstellte, um am Ende alle zu töten, die meinem Vater das angetan hatten.
In dem Moment bewegte er sich und zerrte an den Seilen, die an seinen Händen und Fußknöcheln befestigt waren. So etwas machte man nur mit Pferden, Kühen und Schafen, nicht mit meinem Vater.
Wahrscheinlich war meine Reaktion darauf von so etwas wie Stolz geleitet, Dr. Davudi schrieb es eher kindlicher Torheit zu. Denn ich löste die Seile, die ihn mit ihr und Yaqubs Sohn verbanden, und befreite meinen Vater.
Als er das erste Mal zuckte, schliefen die beiden noch. Es dauerte keine fünf Sekunden, bis der Anfall kam. Sein Kopf schnellte nach oben, das runde Kissen verrutschte, und sein Kopf schlug danach hart auf dem Boden des Transporters auf. Dr. Davudi und Yaqubs Sohn wachten auf. Der Fahrer machte eine Vollbremsung und hielt am Straßenrand an. Ich sah, wie der Kiefer meines Vaters zuschnappte und er sich auf die Zunge biss. Da das Kissen weg war und keine Zeit blieb, es zu suchen, steckte ich flugs meine kleine fünfjährige Hand in seinen Mund. Ich hörte das Knacken der winzigen Knochen meines Handrückens zwischen seinem Ober- und Unterkiefer. Seine Zähne gruben sich in meine zarte Hand, und aus seinen Mundwinkeln lief ein Rinnsal meines Blutes, vermischt mit weißlichem Schaum. Selbst als Kind wusste ich, dass sich sein Kiefer erst in zwanzig Minuten öffnen würde. Zum ersten Mal in meinem Leben verstand ich, was es heißt, Schmerzen geduldig zu ertragen.
Ich schloss instinktiv die Augen und begann, schnell und tief zu atmen, bis ich nur noch meinen Atem und die leisen Schreie hörte, die von meiner Mutter und Dr. Davudi im Hintergrund kamen. Als sich der Kiefer meines Vaters endlich öffnete, packte die Ärztin meine reglose rechte Hand. Ich griff sofort mit der anderen Hand nach meinem Rockzipfel und wischte ihm das Blut aus dem Mundwinkel. Dr. Davudi betupfte meine Hand mit einer scharfen Flüssigkeit und wickelte sie in einen Verband aus ihrer Arzttasche. Ich weinte nicht, ich beobachtete nur die Tränen meines hilflosen Vaters und fragte mich, ob ihm seine Zähne sehr wehtaten. Ob er starke Schmerzen hatte. Die Intensität seiner Schmerzen beschäftigte mich in diesem Moment mehr als alles andere.
Den Rest der Fahrt saß ich vorne neben dem Fahrer, der aus Afghanistan stammte und seit einiger Zeit in Iran lebte. Von Zeit zu Zeit fragte er mich, ob meine Hand noch wehtue, aber das tat sie nicht. Ich lauschte Sarbans Stimme, die ich bis heute nicht vergessen habe.
Neues Leben schenken sie,
Das kühle Wasser von Paghman
Und die schwarzen Weintrauben und Brombeeren von Parwan,
Der Seele von Kabul.
Ich war mit der Musik verschmolzen, und wahrscheinlich war der Schmerz so intensiv, dass ich ihn nicht mehr spürte.
Mein Vater hatte eine relativ glückliche Jugend in einer gebildeten und wohlhabenden Familie verbracht, die nach der sowjetischen Invasion in große Schwierigkeiten geraten war. Die meisten seiner Verwandten waren nach Iran geflohen. Die Ländereien der Familie lagen auf beiden Seiten der Grenze, ein Teil des Clans lebte in Iran, der andere in Afghanistan, und er selbst durchquerte unter unermesslichen Strapazen und Schmerzen die Wüsten Zentralirans auf dem Boden eines Lieferwagens.
Nach dreieinhalb Tagen Fahrt kamen wir endlich in Teheran an, und auf der Strecke zwischen dem Vorort Khavaran und dem Sasan-Krankenhaus sah ich sie zum ersten Mal vom Rücksitz eines Lieferwagens aus: die große Stadt voller Autos und moderner Gebäude.
Die neuropsychiatrische Abteilung war Tag und Nacht vom Schreien und Stöhnen der Kranken erfüllt. Die psychisch kranken Soldaten, die von der Front kamen, waren in zwei großen Sälen untergebracht, auf Betten, die durch blaue Vorhänge voneinander getrennt waren. Drei Tage nach unserer Ankunft durfte ich erstmals einige Stunden am Bett meines Vaters verbringen. Yaqub, unser Fahrer, und sein Sohn waren nach Hause zurückgekehrt, aber Dr. Davudi blieb bei uns. Manchmal erklärte sie mir Dinge in Kindersprache, zum Beispiel, dass die Ohren ein sehr wichtiges Organ sind, das mit dem Gehirn verbunden ist, und dass Lärm, der die Toleranzschwelle überschreitet, zu Beschwerden wie denen meines Vaters führen kann. Als ein Arzt Jahre später meinen Gehörgang untersuchte und eine Schädigung des Hörnervs feststellte, die er für angeboren hielt, wusste ich, dass das nicht stimmte. Ich hatte mein Ohr im Krankenhaus absichtlich taub gemacht, um stundenlang in der Nähe meines Vaters auf einem Stuhl, einer Bank oder manchmal auch auf dem Boden schlafen zu können, ohne dabei die Schreie der psychisch Kranken hören zu müssen.
Die Anfälle waren häufiger geworden, und wenn ich bei ihm war, trug ich die schönen Handschuhe, die meine Mutter gekauft hatte, damit er den Verband nicht sah und nicht fragte, was passiert war. Das sollte ein Geheimnis zwischen meiner Mutter und mir bleiben.
Als ich fünf Jahre alt war, war das Krankenhaus in Sasan für mich der sicherste Ort der Welt: Obwohl mein Vater nachts mit einer schweren Kette an die Gitterstäbe des Bettes gefesselt war, hatte man ihn am Leben erhalten, zumindest so weit, dass er wieder sprechen konnte.
Nach zehn Tagen begann er wieder zu essen, und zweieinhalb Monate später konnte er wieder normal sprechen. Ich lernte, mich hinter die Zimmertür zu stellen, wenn ein Anfall sich ankündigte. Ich wusste, wenn jemand den Vorhang um sein Bett zuzog, musste ich eine halbe Stunde im Krankenhaus herumlaufen, um nicht mit anzusehen, in welchem Zustand er sich befand. Es war, als würde ich mich instinktiv davor schützen, sein Leiden zu sehen. Wenn sein Arzt vor dem Bett stand und sagte: »Na, Mann aus Khorassan, wie sieht es heute aus?«, und mein Vater lachte, war die Welt unendlich friedlich und schön, und ich hüpfte auf den Mosaikfliesen im Flur herum. Ich war froh, dass er noch lebte, denn ich wusste nicht, dass Iran in einen Krieg verwickelt war.
Bis zu jener Nacht, als ich auf der Bank vor dem Zimmer meines Vaters schlief und ein unbekanntes Geräusch ertönte: Sirenen. Das Krankenhaus war plötzlich in ein schwaches rotes Licht getaucht. Die Leute rannten davon, und durch die halb offene Tür sah ich meinen Vater, der an die Gitterstäbe gefesselt war und dank der Schlaftabletten in einem tiefen Schlummer lag. Meine Mutter packte mich und sagte, wir sollten uns in Sicherheit bringen, aber wohin sollte ich gehen, wenn mein Vater an Ketten hing? Trotzig klammerte ich mich an der Bank fest und schrie die ganze Zeit aus Leibeskräften. Ich erinnere mich noch an die traurige Stimme der diensthabenden Krankenschwester, die mich einen Sturkopf nannte, und wie nach diesem Hin und Her plötzlich das Licht wieder anging und sich die Situation normalisierte.
Es ist erbärmlich, dem Krieg im eigenen Land zu entkommen und erst im Exil zu verstehen, was Krieg wirklich bedeutet, und selbst dann noch, Jahre später, angesichts des Terrors der Kommunisten, der Taliban oder des IS, zu dem Schluss zu kommen, dass manche Kriege besser zu sein scheinen als andere. Wie dieser hier, in dem zumindest eine Sirene ertönt, die darauf hinweist, dass man sterben könnte und dass man sich seines letzten Atemzuges vor dem Tod bewusst sein sollte.
Jedes Mal, wenn mein Vater nach einem Anfall wieder zu sich kam, verfiel er in ein Delirium. Er hatte plötzlich Angst, weinte und schrie: »Der Krieg folgt mir … er folgt mir überallhin …« Es muss herzzerreißend sein, vor dem Krieg geflohen zu sein und dennoch das Gefühl zu haben, von ihm verfolgt zu werden.
Meine Erinnerungen an das Teheran von damals sind die blauen und gelben Korridore und die Fenster, die auf den Boulevard mit seinen grünen Bäumenhinausgingen. Als wir drei Monate später nach Birjand zurückflogen, war es Herbst geworden. Meinem Vater g
