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"Ich gestehe, ich brauche Geschichten, um die Welt zu verstehen." Die Vielfalt der Themen und die Entwicklung eines unvergleichlichen Stils treten in den Erzählungen von Siegfried Lenz deutlich hervor. Brillant verdichtet er auf engstem Raum und mit außerordentlicher Intensität Situationen und die Gefühlswelten seiner Figuren. In der Tradition der deutschen Novelle, der russischen Erzählung und der angelsächsischen Kurzgeschichte stehend, hat Siegfried Lenz die kurze Form zu einer in der Gegenwartsliteratur beispielhaften Meisterschaft geführt. "Lenz schreibt unglaubliche und letztlich, da mit künstlerischen Mitteln beglaubigt, doch glaubhafte Erzählungen; sie mögen einem bisweilen unwahrscheinlich vorkommen, aber sie sind immer wahr." Marcel Reich-Ranicki Diese eBook-Ausgabe wird durch zusätzliches Material zu Leben und Werk Siegfried Lenz ergänzt.
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Seitenzahl: 34
Veröffentlichungsjahr: 2013
Siegfried Lenz
Im Netz der Nachbarschaft
Erzählung
Hoffmann und Campe Verlag
Es führt kein anderer Weg zur Insel Alsen als über Düppel. Wer trocken hinüber will, muß, bevor er die Klappbrücke überquert, an den Düppeler Schanzen vorbei, ja, sogar mitten durch sie hindurch, denn die Wälle und Forts liegen gerecht verteilt, liegen unübersehbar zu beiden Seiten der Chaussee. Niemand kommt daran vorbei, es sei denn, er landet mit einem Boot, mit einem Flugzeug auf der Insel.
Auch wir wollten auf trockenem Weg nach Alsen hinüber, auf die dänische Insel, von der wir wenig gesehen, noch weniger gehört hatten; wir wollten Bürger von Alsen werden, und so mußten wir durch die Düppeler Schanzen hindurch. Nie hätte ich vermutet, daß der grüne, tiefgrüne Rücken des Berges, den wir hinauffuhren, die Düppeler Schanzen trug, doch ein Schild mit roten Buchstaben kündete sie an, und wir mußten den roten Buchstaben glauben und sahen uns an in sanftem Erschrecken, mit dem sanften Schauder, den manche Begegnungen mit der Geschichte hervorrufen. Und schreckhaft fiel mir Podbolec ein, mein stämmiger Geschichtslehrer – Turnen gab er, Geschichte und Erdkunde –, und ich dachte daran, daß man bei ihm die Geschichtszensuren an der Kletterstange, die Erdkundezensuren am Reck aufbessern konnte –, eine Möglichkeit, von der ich ausgiebig Gebrauch gemacht hatte. Doch obwohl die Grundlagen meiner historischen Bildung im wesentlichen von Waden- und Armmuskeln geschaffen wurden, fiel mir, als das Schild die Düppeler Schanzen ankündigte, sofort ein Name ein, ein kostbarer Name, den Podbolec mit einem Ausdruck grimmiger Ehrfurcht zu nennen pflegte: Klinke!
Wenn ihr jemals auf die Düppeler Schanzen kommt, hatte Podbolec uns in Masuren gelehrt, werdet ihr euch prompt erinnern: Klinke.
Ich erinnerte mich prompt des kostbaren Namens, Podbolec triumphierte nach vielen Jahren, und ich dachte, während wir den Berg hinauffuhren, an den Pionier Klinke, der eine Bresche in diese Schanzen gesprengt hatte, indem er, schwer mit Pulver bepackt, gegen die Wälle anlief und zu gegebener Zeit das Pulver auf seinem Rücken zur Explosion brachte, wonach er allerdings keine Möglichkeit mehr fand, sich von der Wirkung zu überzeugen. Ich dachte an Klinke: würden wir seine Spur entdecken? Ein Zeichen seiner geleisteten Arbeit, mit der er so rasch für eine Hinterbliebenenrente gesorgt hatte? Wie würde der Platz aussehen, das Feld, das sich die Geschichte für einen ihrer Tobsuchtsanfälle ausgesucht hatte? Würden wir überhaupt etwas wiederfinden, da doch Geschichte, wie ich lange geglaubt hatte, nur etwas war, was man lernen, hören, was man jedoch nie antreffen konnte? Alle Geschichte, hatte ich geglaubt, ist eine alte Legende, nie geschehen, nie erlitten, eine Legende, die von den Podbolecs hier und da nur wiedererzählt wird und deren mangelhafte Kenntnisse man am Reck, an der Kletterstange wettmachen kann.
Langsam und verwirrt fuhren wir zu den grünen Wällen hinauf, und ich beobachtete meine Frau aus den Augenwinkeln und sah, daß auch sie sich beklommen Fragen stellte: nein, es bestand kein Zweifel mehr: die Geschichte besaß ihre Spielplätze, ihre Bühnen und Arenen, sie hatte sich wirklich ereignet, und was Podbolec erzählt hatte, war keine Legende.
Die Düppeler Schanzen waren namentlich vorhanden. Sie lagen vor uns und waren grün, und wir fuhren sehr langsam auf sie zu, während die Phantasie ungeduldig vorauslief. Zu eindringlich hatte uns Podbolec die Schlacht geschildert, zu grimmig war sein Bericht über das, was sich hier 1864, am 18. April, 10 Uhr morgens – glücklicherweise also nach dem Frühstück –, ereignet hatte, und ich erwartete, oben auf ein graues Feld zu treten. Ich erwartete Schweigen, einen verhangenen Horizont, Schwermut über dem Land; ich war überzeugt, dort oben nur gedämpftes Seufzen zu hören und überall nur Traurigkeiten vorzufinden. Wir bereiteten uns darauf vor, ein altes Schlachtfeld zu betrachten –, das wir betrachten mußten, weil wir nach Alsen hinüber wollten, und der Weg hinauf war wie ein Weg in Quarantäne.
