Im Paradies der weissen Häubchen - Alex Oberholzer - E-Book

Im Paradies der weissen Häubchen E-Book

Alex Oberholzer

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Beschreibung

Alex Oberholzer verbrachte seine ersten zwölf Lebensjahre im Kinderspital Affoltern am Albis bei Zürich, in einer hermetisch abgeschlossenen Welt und ohne Kontakt zu den Eltern. In knappen, berührenden Episoden erzählt der Autor vom Leben mit Behinderung, von Kuriosem und den prägenden Erlebnissen seiner ganz besonderen Kindheit und Jugend. «Erinnere ich mich zurück, so tauche ich ein in ein gigantisches Wechselbad der Gefühle. Von Schmerz, Qual und Ungerechtigkeit über Gleichgültigkeit und Langeweile bis hin zu grenzen­losem Glück, Euphorie und Triumph. Alles, was andere Mädchen und Jungs erleben, erlebte ich genauso, aufgrund der speziellen Umstände einfach etwas extremer.»

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Für Serafin, Sebastian, Leonard und Salome

Inhalt

Vorspann

Erste Erinnerung: Heimweh

Der Drang nach Bewegung

Kinder aus aller Welt

Das Geheimnis der Schwestern

Zähne putzen

Frische Wäsche

Zu viel Druck

Das Kreuz auf der Stirn

Essen

Mein erster Film

Herz im Korsett

Langeweile

Samichlaus

Ovomaltine und Weggli

Nachttischlampe

Schule

Abschiede

Kinderheim in Amden

Die Physiotherapeutinnen

Mysterium Fudi

Zwischen den Beinen

Beim Orthopäden

Die Welt öffnet sich

Der Mann

Die Hölle

Erste Gehversuche in die Welt

Faszination Flugplatz

Beim Berufsberater

Zurück im Kispi

Abenteuer Provence

Und dies zum Schluss

Nachwort

Literatur

Bildnachweis

Dank

Vorspann

Für meine Eltern war es furchtbar. Viel zu jung schwanger. Überstürzte Heirat. Schneller Umzug von der ländlichen Umgebung, wo jeder jede kannte, in die anonyme Grossstadt. Und dann kam ich. Eine Laune der Natur, geboren im Sommer 1953 in einem Spital in der Nähe von Zürich. Gesund und schreiend, aber auf der rechten Seite ohne Hand und Fuss, am linken Fuss mit nur drei Zehen, zwei davon zusammengewachsen. Für meine Eltern war das ein grosses Unglück und irgendwie wohl auch eine Strafe Gottes.

Bis dahin hatten sie es schon nicht einfach gehabt. Beide waren in ärmlichen Verhältnissen im Toggenburg aufgewachsen. Sie, aufgeweckt und neugierig, mit gutem Sekundarschulabschluss, wollte eine Lehre machen in einem Betrieb. Doch sie musste sofort Geld verdienen, also nahm sie eine Stelle an als Hilfskraft in einer Stickerei. Er verlor seinen Vater bereits als Kind, beendete kaum die obligatorische Schule, um schnellstmöglich bei den Bauern in der Umgebung als Knecht den Unterhalt für die Familie und die Ausbildung seines jüngeren Bruders zu finanzieren. Weil sie am Wochenende in einer Wirtsstube servierte, lernten sich die beiden kennen, waren bald ein Paar.

Ungewollt wurde sie schwanger. Um dem Gerede im Dorf zu entfliehen, zogen sie in die Nähe von Zürich und heirateten. Mein Vater nahm eine Stelle als Kondukteur bei der Sihltalbahn an. Dafür brauchte man keine Lehre. Zwar ging alles rasend schnell, aber immerhin hatte man jetzt einen kleinen Lohn, eine kleine Wohnung mit Kinderzimmer und einen geordneten Zivilstand.

Mit meiner Geburt kamen sie nicht klar. Zu gross waren die Selbstvorwürfe. Also gaben sie mich zu den Grosseltern, den Eltern meiner Mutter. Dort verbrachte ich die ersten Monate meines Lebens. In einem beschaulichen Dorf im Toggenburg.

Wieder zurück in der Agglomeration von Zürich, ich lernte gerade mit einer behelfsmässigen Prothesenkonstruktion laufen, da kam ein erneuter Schicksalsschlag. Die Sünden aus dem letzten Leben mussten gigantisch gewesen sein. War ich tatsächlich ein derartiger Schlingel? Oder badete ich gar etwas für andere aus? Ich erkrankte an Kinderlähmung. Poliomyelitis. Eine hoch ansteckende Viruserkrankung, welche bei fast einem Prozent der Infizierten zu lebenslangen Lähmungen oder zum Tod führt. Erst 1955 wurde ein wirksamer Impfstoff gefunden, ein Jahr nach der letzten grossen Epidemie mit 1628 Fällen in der Schweiz. Es war also gleichsam die letzte Welle, die im Jahr 1954 über Zürich und Umgebung schwappte. Kurz darauf gabs bekanntlich eine süsse Alternative: die Polio-Impfung, welche man auf einem Stück Würfelzucker landesweit verabreicht bekam und mit der man der Krankheit Herr wurde. Mich aber erwischte es noch. Eine Erinnerung daran habe ich nicht.

Meine Eltern erzählten mir viel später, dass mich plötzlich starke Fieberkrämpfe geplagt hätten und ich tags darauf nicht mehr aufstehen konnte. Ich lag mit grossen Schmerzen völlig unbeweglich im Bett.

Sofort wurde ich ins Kinderspital Zürich verlegt. Dort war schnell klar: Poliomyelitis, Typ 1, mit bleibenden Folgen. Wie diese aussehen würden, wusste man damals noch nicht. Viele der erkrankten Kinder erholten sich in den ersten Wochen nach der Ansteckung mit dem Virus wieder vollständig, andere konnten nicht mal mehr selbst atmen und mussten an die Lungenmaschine angeschlossen oder von Hand beatmet werden. Viele starben auch daran. Zwischen diesen Extremen war alles möglich.

Nach einigen Wochen im Kinderspital Zürich lautete meine Diagnose: linkes Bein total gelähmt, rechtes Bein sowie Bauch-, Rumpf- und Rückenmuskulatur fast vollständig gelähmt. Zusammen mit den angeborenen Missbildungen bedeutete das eine ziemlich einschränkende Behinderung. Ob ich jemals mit diversen Hilfsmitteln wie Orthese, Prothese und Korsett sowie Krücken würde gehen können, wusste niemand. Wie alle Langzeitpatientinnen und -patienten wurde ich in die Aussenstation des Kinderspitals Zürich verlegt, ins Kispi in Affoltern am Albis. Dort blieb ich zwölf Jahre.

Ich habe also meine ganze Kindheit in einem Heim verbracht. Nicht Vater und Mutter waren meine Bezugspersonen, sondern Pflegepersonal. Betreuerinnen, Schwestern, Ergo- und Physiotherapeutinnen.

Was heute unvorstellbar scheint, war damals üblich. Das Kinderspital war voll mit kleinen Patientinnen und Patienten mit Kinderlähmung. Die meisten – auch ich – entfremdeten sich von ihren Eltern. Diesen wurde gesagt, es sei besser für das Kind, wenn sie es nicht besuchen kämen. Wegen der Bazillen, der Viren und des immer wieder neu entfachten Heimwehs. Meine Eltern glaubten der Ärztin – der Göttin in Weiss – und besuchten mich nicht. Das Kispi wurde mein Zuhause.

Es war ein Schlösschen mit zwei Türmen, hoch thronend auf dem Mühleberg über Affoltern am Albis. Darin wohnten um die sechzig Kinder, verteilt auf drei Stockwerke.

Allen, die mich dort aufzogen und betreuten, den Schwestern, Physiotherapeutinnen, Ergotherapeutinnen und Lehrerinnen, ist dieses Buch gewidmet. Selbstverständlich all jenen, die mich liebten, pflegten, streichelten und trösteten, aber auch jenen, die mich beschimpften, plagten und schlugen. Mit jedem Wort, mit jeder Faser ihres Körpers, mit jedem Zipfel ihres Herzens und jedem Zucken ihrer Seele gaben sie mir etwas mit. Auch wenn sie schwiegen, auch wenn sie nichts taten. Allein durch ihre Präsenz, mit ihrer Anwesenheit, mit ihrer Persönlichkeit. Sie alle trugen zur Substanz bei, welche die Grundlage für mein damaliges und auch späteres Leben bildete.

Das Aufwachsen in einem derart hermetisch abgeschlossenen Raum fernab jeder Realität ist etwas ganz Besonderes. Es hatte zuweilen etwas Paradiesisches. Die Welt endete am Gartenzaun. Immer, wenn ich später Freunden oder Bekannten aus meiner Kindheit erzählte, sagten sie, darüber müsse ich ein Buch schreiben. Lange Zeit wollte ich das nicht, ich fand es zu privat.

Nun habe ich es doch getan.

Mit zwölf Jahren musste ich «nach Hause» zu meiner Familie. Absurd, denn das Kispi war doch mein Zuhause. Entsprechend grausam war der Übertritt. Ein riesiger Schock, die Vertreibung aus dem Paradies. In den ersten Jahren kam mir die Welt draussen vor wie die Hölle. Viele meiner behinderten Kolleginnen und Kollegen von damals schafften den Sprung in diese Welt, diesen Gang durch die Hölle nicht.

Wenn mich heute Menschen fragen, warum es ausgerechnet mir gelungen sei, in dieser Welt Tritt zu fassen, dann sage ich jeweils: Der Grund war das Personal, die Schwestern im Heim, die Lehrerinnen, die Physio- und Ergotherapeutinnen. Ich rede selbstverständlich bewusst nur in der weiblichen Form. Männer gab es in meiner Kindheit keine, Betreuerinnen aber sehr viele. Ich hatte die Wahl. Nicht direkt natürlich, ein Plan regelte meine ganz persönliche Betreuung. Aber da war doch genügend Abwechslung. An Freitagen, während der Ferien oder bei Stellenwechseln. Zudem gab es auf jedem Stockwerk für alle Kinder zuständige Schwesternhilfen.

In jener Zeit häuften sich unzählige Erlebnisse. Alle sind sie fest in mein Hirn, ja meinen ganzen Körper eingebrannt. Unvergessen seit der Kindheit und wohl bis zum Tod. Sie begleiten mein Leben – und bestimmen es mit. Die wichtigsten fanden Eingang in dieses Buch.

Ich kannte also bei meiner Ankunft daheim weder meine Eltern noch meine beiden jüngeren Geschwister. Es dauerte Jahre, bis ich mich in der Welt ausserhalb des Kinderspitals eingelebt hatte. Ein wichtiger Schritt dabei war der Besuch des Gymnasiums. Da merkte ich, dass ich mit Bildung von den körperlichen Defiziten ablenken konnte. Für die Umgebung wurde ich vom behinderten Kind zum intelligenten Jungen. Beides war lächerlich, aber ich war nun mal in diesem Alter, in dem es wichtiger war, was die Menschen um einen herum von einem dachten, als was man selbst von sich hielt.

Erinnere ich mich zurück, so tauche ich ein in ein gigantisches Wechselbad der Gefühle. Von Schmerz, Qual und Ungerechtigkeit über Gleichgültigkeit und Langeweile bis hin zu grenzenlosem Glück, Euphorie und Triumph. Alles, was andere Mädchen und Jungs erleben, erlebte ich genauso, aufgrund der speziellen Umstände einfach etwas extremer.

Heute bin ich 69 Jahre alt, habe nach dem Studium der Mathematik und Literaturwissenschaft kurz als Lehrer, dann fast ein Leben lang als Filmredaktor beim Radio gearbeitet, beim Fernsehen und in der Kommunikation des Bundes. Auch bin ich Vater von vier erwachsenen Kindern, denen ich – und darauf bin ich besonders stolz – jene Wärme und Zärtlichkeit geben konnte, welche ich als Kind so schmerzlich vermisste.

Erste Erinnerung: Heimweh

Keine Ahnung, wie alt ich war. Ich konnte jedenfalls sprechen und kannte die Bedeutung der Worte. Ich lag in meinem Bett in einem Zweierzimmer. Das andere Bett war leer. Ich war also allein. Es war frühmorgens, das Fenster stand weit offen, die Sonne schien herein. Es wehte ein angenehmes Lüftchen, Vögel zwitscherten. Trotz dieser schönen Stimmung war ich unendlich traurig. Ich hatte Heimweh. Und weinte leise. Eine Schwester trat herein, fragte mich, warum ich traurig sei. Da sagte ich, ich hätte grosses Heimweh. Ich wollte nach Hause zu meiner Mutter. Sie sagte mir, dass sie das verstehe, dass das jetzt halt aber nicht gehe.

Ich wollte mich nicht damit abfinden und fragte sie, wo denn meine Mutter sei. Sie sagte, soweit sie wisse, sei meine Mutter zu Hause in Zürich. Ich hatte keine Ahnung, wo oder was das sein sollte, und fragte, wo denn Zürich sei. Sie sagte, draussen, irgendwo auf der Welt. Ich fragte, wo denn die Welt sei. Sie zeigte mit dem Finger aus dem Fenster: Hier draussen, das ist die Welt. Die Sicht war klar. Mein Blick folgte also ihrem Finger, und ich sah am Ende, weit weg, das Dorf. In meiner Wahrnehmung zeigte der Finger auf ein bestimmtes Haus tief unten im Dorf. Dort also wohnte meine Mutter.

Als die Schwester wieder gegangen war, da wusste ich, ich musste jetzt einfach ungeheuer laut schreien, damit mich meine Mutter dort im Haus hört und holen kommt. Aus dem Weinen wurde ein Brüllen. Ich schrie, so laut ich konnte: Mami, Mami! Es muss wirklich laut gewesen sein, denn es kamen fast gleichzeitig drei Schwestern in mein Zimmer gerannt und fragten entsetzt, was denn Schlimmes passiert sei. Ich erklärte ihnen, ich hätte Heimweh, wollte zu meiner Mutter. Und weil sie sehr weit weg wohne, müsse ich halt so laut schreien. Vielleicht höre sie mich dann, draussen in der Welt. Die Schwestern zeigten Verständnis, versuchten mich zu beruhigen und zu trösten.

Die Schreie verhallten ungehört. Irgendwann vergass ich meine Mutter.

Der Drang nach Bewegung

Jedes Kind will sich bewegen, will vorwärtskommen, will dorthin, wo etwas Spannendes passiert. Für uns, deren Körper nicht so funktionierte, wie er eigentlich sollte, war das ein Problem. Aber wir lösten es, wie mir scheint, ganz geschickt und vor allem sehr individuell. Ich beispielsweise konnte aufgrund der Lähmung lange gar nicht laufen und brauchte später stets Hilfsmittel dazu. Deshalb kroch ich meistens herum. Meine Arme waren stark genug, mit ihnen konnte ich meinen Körper mitschleifen.

So machten es im Kinderspital die meisten Kinder. Die Ärztin mochte das nicht. Ihr Credo war der aufrechte Gang. Also mussten Orthesen her, um die lahmen Beine zu stabilisieren, Prothesen, um fehlende Glieder zu ersetzen, und Korsetts, um das Rückgrat zu strecken. Genauso qualvoll, wie sich diese Worte anhören, sind auch die Gerätschaften. Also zogen wir sie wann immer möglich aus und sind gekrochen.

Wir kamen so schneller vorwärts – und es bereitete weniger Schmerzen. Denn die Hilfsmittel taten weh. Es brauchte lange Zeit, bis sie sich dem Körper angepasst hatten und der Körper sich an sie gewöhnt hatte. Dauernd hatte man Druckstellen und Wunden. Wie bei neuen, harten Wanderschuhen. Nur enden diese oberhalb des Knöchels. Die orthopädischen Hilfsmittel reichten von der Fusssohle bis zum Hals. Und weil ein Kind ja jeden Tag wächst, passten sie eigentlich nie. Trotzdem mussten wir irgendwie laufen lernen. Also steckte man uns in diese Apparate. Wenigstens für die Physiotherapie, und manchmal wurde mit ihnen auch ein kleines Schrittchen gemacht. Vorwärts kam man so nicht.

Das bequemste Fortbewegungsmittel war eindeutig der Rollstuhl. Doch nur Kinder, bei welchen keine Aussicht darauf bestand, dass sie jemals würden gehen können, besassen einen eigenen Rollstuhl. Sie beneideten wir anderen sehr. Daneben gab es pro Stockwerk zwei Rollstühle, die reserviert waren für die Kinder, welche aufgrund einer Verletzung nicht zum Gehen gezwungen werden konnten. Diese Rollstühle waren sehr begehrt; kaum war einer frei, besetzte ihn einer von uns. Es gab also eine eindeutige Priorisierung der Fortbewegungsmittel. Am liebsten war man im Rollstuhl. Von denen gab es aber zu wenige. Also krochen wir. Das war schnell, führte uns zum Ziel und schmerzte nicht. Jedenfalls nicht sofort. Die Druckstellen an Händen und Knien wurden jeweils erst später spürbar.

Ärztin und Personal wollten natürlich, dass wir uns mit den Apparaten und den Stöcken fortbewegten. Schliesslich hatten sie einen Auftrag. Wir Kinder wollten das nicht. An Ort und Stelle stehend zu leiden, ist für Kinder keine Option. Das Spital aber musste uns vorbereiten auf die Welt danach. Wir kannten diese Welt nicht, und darum interessierte sie uns auch nicht.

Kinder aus aller Welt

Es waren immer etwa sechzig Kinder im Kispi Affoltern, welche sich über drei Stockwerke verteilten und zu zweit, zu dritt oder zu viert in einem Zimmer wohnten. Viele kamen aus dem Ausland. Schon damals brauchten Spitäler Privatpatienten, um zu überleben. Als ich etwa sechs Jahre alt war, bewohnte ich mit zwei anderen Knaben ein Dreierzimmer. Einer von ihnen war Gino. Er kam aus Italien. Und so lernte ich in kürzester Zeit Italienisch. Eine Weile waren Gino und ich Freunde. Das hatte auch damit zu tun, dass er alle drei Monate von seinem Vater Besuch bekam. Dieser reiste dann jeweils mit einem dunkelblau glänzenden Sportwagen aus Mailand an, blieb knappe zwei Stunden und schenkte Gino jedes Mal einen Koffer voller Modellautos der Marke Dinky Toys. Gino mochte es nicht, zu teilen, aber er hatte so viele Autos, dass wir anderen Kinder auch damit spielen durften. Mein Lieblingsauto war ein beigefarbener Chevrolet Impala mit bordeauxrotem Interieur. Er war nicht nur schön geformt, sondern auch perfekt gefedert. Er fuhr wie auf einem Luftbett. Zudem konnte man alle vier Türen sowie Motorhaube und Kofferraum öffnen. Ich denke, es war ein massstabsgetreu nachgebautes Modell. Und wenn man sein Dach auf einer Seite etwas antippte, dann winkelten sich die Vorderräder leicht ab, und der Wagen machte eine elegante Kurve. Natürlich gab es in Ginos Wagenpark auch viele Sondermodelle: Busse, Polizeifahrzeuge, Feuerwehrautos, Krankenwagen, Lastwagen und Kräne – mein Lieblingsauto aber blieb der Chevrolet. Zumindest so lange, bis eine Kofferladung später ein Jaguar E mein Kinderherz beglückte. Ohne es zu wissen, simulierten wir damals mit diesen Autospielen eine Welt, die wir noch gar nicht kannten.

Unvergessen sind die Auftritte von Ginos Vater, einem grossen, beleibten Mann mit Glatze auf kugelrundem Kopf. Sein Anzug hatte die gleiche dunkelblaue Farbe wie sein Auto. Dazu trug er ein weisses, wie mir schien ziemlich steifes Hemd mit goldenen Manschettenknöpfen und auffällige Schuhe. Diese glänzten derart, dass es mir fast leidtat, dass sie auf Schritt und Tritt mit unserem doch eher bescheidenen Spitalboden aus Linoleum in Kontakt kommen mussten.

Die Freundschaft mit Gino endete allerdings abrupt, als er mir einmal befahl, ich müsse, um ihm meine Freundschaft zu beweisen, ein paar Schlucke seines Urins trinken. Mit grosser Überwindung tat ich es tatsächlich. Es schmeckte salzig. Als er dann an der Reihe war, drehte er sich einfach um, kroch davon und sagte abfällig, nein, das mache er nicht. Die Freundschaft war vorbei. Mit dem Chevrolet und dem Jaguar E durfte ich nicht mehr spielen.

Es kamen immer wieder Kinder aus dem Ausland zu uns. Die Ärztin sagte, das sei deshalb, weil das Kinderspital über die Grenzen hinaus einen sehr guten Ruf habe. Wir Kinder rätselten dann jeweils, wer da wohl wen rufe und wo das Ausland wohl sei. Unsere Welt endete am Gartenzaun.

Erstaunlich war, dass fast alle diese Kinder perfektes Schweizerdeutsch sprachen, da sie von klein auf im Kinderspital lebten. Diese Besonderheit fällt mir erst heute auf. Damals war es selbstverständlich.

Wir wuchsen in Affoltern so multikulturell auf wie wohl nur wenige Kinder in der Schweiz in jener Zeit. Allein die Namen der Länder und Kinder klangen verheissungsvoll: Nada aus dem Oman, Zullmira aus Beirut, Yildez, Tamara, Moshe und Aaron aus Tel Aviv, Inge aus China, Emat aus Ägypten, Sämi aus dem Sudan, dazu Jochevette, Omri, Odilo und so weiter.

Amüsiert hat uns Kinder die Familiengeschichte von Adelah aus Kuwait. Sie hatte an die Wand über ihrem Bett ein grosses Bild gehängt: im Zentrum ein Mann mit weissem Turban. Um ihn herum standen und sassen rund vierzig Frauen. Aufgrund ihrer Verschleierung und der wallenden Gewänder waren die Menschen für uns nicht voneinander zu unterscheiden. Deshalb machten wir Kinder uns einen Spass daraus. Jedes Mal, wenn wir zu Adelah ins Zimmer kamen, fragten wir sie mit einer Mischung aus Neugierde, Witz und Verwunderung: Welches ist deine Mutter? Wir staunten nicht darüber, dass dieser Mann vierzig Frauen hatte. Nein. Wir wunderten uns, dass Adelah in dieser gleichförmigen Schar junger Frauen ihre Mutter immer so zielsicher fand.

Eine unangenehme Erinnerung verbindet mich mit Avri aus Israel. Ein äusserst liebenswürdiger Junge, der wegen einer vollständigen Lähmung völlig unbeweglich war. Er lag also den ganzen Tag im Bett. Aber er konnte Schach spielen. Das interessierte mich, und ich fragte ihn, ob er mir das Spiel beibringen würde. Grosszügig willigte er ein. Weil er seine Züge nicht selbst ausführen konnte, übernahm ich das für ihn. Natürlich verlor ich immer. Dann, nach einigen Wochen, ich begann das Spiel inzwischen zu beherrschen, realisierte ich aufgeregt, dass mein erster Sieg nahte. Ich sah ein Schach in zwei Zügen voraus. Ich sagte das Avri, worauf er völlig überzeugt entgegnete, ich hätte seinen letzten Zug falsch ausgeführt. Ich war mir absolut sicher, dass dem nicht so war.

Er aber beharrte darauf und weigerte sich, weiterzuspielen, wenn ich den Zug nicht rückgängig machen würde. Das ärgerte mich immens. Ich sah mich um meinen ersten, lang ersehnten Sieg betrogen. Ich wurde wütend und gab Avri eine Ohrfeige. Ja, ich gab einem wehrlos vor mir liegenden Kind eine Ohrfeige. Er verzog keine Miene, starrte mich nur ungläubig an. Ich erschrak über mich, zog mich zurück in mein Bett, versteckte mich beschämt unter der Decke und begann zu weinen.

Noch heute, wenn mich aus irgendeinem Grund die Erinnerung an diesen Vorfall einholt, ist mir das nicht nur unendlich unangenehm und peinlich. Nein, es war auch das erste einer Reihe von Ereignissen in meinem Leben, wie sie wohl jeder Mensch kennt: Sobald die Erinnerung daran aufpoppt, möchte man sofort vom Erdboden verschluckt werden.

Das Geheimnis der Schwestern