Im Sonnenwinkel 48 – Familienroman - Patricia Vandenberg - E-Book

Im Sonnenwinkel 48 – Familienroman E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Im Sonnenwinkel ist eine Familienroman-Serie, bestehend aus 75 in sich abgeschlossenen Romanen. Schauplätze sind der am Sternsee gelegene Sonnenwinkel und die Felsenburg, eine beachtliche Ruine von geschichtlicher Bedeutung. Wundervolle, Familienromane die die Herzen aller höherschlagen lassen. »Wie spät ist es genau, Mami?«, fragte Bambi Auerbach. »Halb drei«, erwiderte Inge Auerbach geduldig, obgleich sich diese Fragen seit zwei Uhr in kurzen Abständen wiederholten. »Ihr kommt schon zur rechten Zeit zum Zirkus. Die Karten haben wir doch schon.« In Hohenborn gastierte ein Wanderzirkus, und schon seit Tagen wartete Bambi voller Aufregung auf die erste Vorstellung. »Eine halbe Stunde vorher brauchen wir auch nicht da zu sein«, sagte Hannes. »Gott, was wird es da schon zu sehen geben. Versäumen werden wir bestimmt nichts.« »Das sagst du«, meinte Bambi. »Aber was können die armen Leute denn dafür, dass sie nicht so viele Tiere haben. Sie sind arm. Ein bisschen müssen wir sie unterstützen. Das sagt Mami auch. Und ein großer Zirkus kommt nicht nach Hohenborn.« »Das ist ja das Kreuz«, brummte Hannes. »Da kommt ja Manuel. Dann können wir starten, damit du nur ja nichts verpasst.« »Magst du nicht mit uns gehen?«, fragte Bambi betrübt. »Klar gehe ich mit, das ist doch abgemacht. Nun sei doch nicht gleich böse, Bambi.« »Ich bin nicht böse, ich bin traurig, wenn du gar keinen Spaß hast«, sagte Bambi. »Wollen wir doch erst mal sehen, ob du Spaß hast, Kleine«, meinte Hannes. Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Es behagte ihm nicht so recht, Kindermädchen bei den Kleineren zu spielen. Er fürchtete auch ein wenig den Spott seiner Klassenkameraden, von denen wahrscheinlich auch einige im Zirkus sein würden. Lieber wäre es ihm schon gewesen, seine Mutter wäre mit den Kindern gegangen, aber sie war beim Zahnarzt angemeldet, und das war wichtiger,

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Im Sonnenwinkel – 48 –

Erste Begegnung mit der Liebe

Patricia Vandenberg

»Wie spät ist es genau, Mami?«, fragte Bambi Auerbach.

»Halb drei«, erwiderte Inge Auerbach geduldig, obgleich sich diese Fragen seit zwei Uhr in kurzen Abständen wiederholten. »Ihr kommt schon zur rechten Zeit zum Zirkus. Die Karten haben wir doch schon.«

In Hohenborn gastierte ein Wanderzirkus, und schon seit Tagen wartete Bambi voller Aufregung auf die erste Vorstellung.

»Eine halbe Stunde vorher brauchen wir auch nicht da zu sein«, sagte Hannes. »Gott, was wird es da schon zu sehen geben. Versäumen werden wir bestimmt nichts.«

»Das sagst du«, meinte Bambi. »Aber was können die armen Leute denn dafür, dass sie nicht so viele Tiere haben. Sie sind arm. Ein bisschen müssen wir sie unterstützen. Das sagt Mami auch. Und ein großer Zirkus kommt nicht nach Hohenborn.«

»Das ist ja das Kreuz«, brummte Hannes. »Da kommt ja Manuel. Dann können wir starten, damit du nur ja nichts verpasst.«

»Magst du nicht mit uns gehen?«, fragte Bambi betrübt.

»Klar gehe ich mit, das ist doch abgemacht. Nun sei doch nicht gleich böse, Bambi.«

»Ich bin nicht böse, ich bin traurig, wenn du gar keinen Spaß hast«, sagte Bambi.

»Wollen wir doch erst mal sehen, ob du Spaß hast, Kleine«, meinte Hannes.

Er fühlte sich nicht ganz wohl in seiner Haut. Es behagte ihm nicht so recht, Kindermädchen bei den Kleineren zu spielen. Er fürchtete auch ein wenig den Spott seiner Klassenkameraden, von denen wahrscheinlich auch einige im Zirkus sein würden. Lieber wäre es ihm schon gewesen, seine Mutter wäre mit den Kindern gegangen, aber sie war beim Zahnarzt angemeldet, und das war wichtiger, da sie schon seit Tagen von Schmerzen geplagt wurde.

Sechs Kinder aus dem Sonnenwinkel fuhren mit.

Inge Auerbach brachte sie zu dem Platz, auf dem das Zirkuszelt aufgebaut worden war.

»Pass schön auf, Hannes«, ermahnte sie ihren Sohn.

»Wir sind schon brav, Tante Inge«, sagte Manuel Münster.

»Ich hole euch dann ab«, sagte Inge Auerbach. »Viel Spaß, Kinder.«

Sie winkte ihnen zu. Sie sah die schmale, kleine Gestalt nicht, die an einem Wohnwagen lehnte und zu den fröhlichen schwatzenden Kindern hinüberblickte.

Die sah nur Bambi, die blitzgeschwind ihre Blicke umherschweifen ließ, denn Zirkus war etwas, was Bambis Fantasie ungeheuer anregte.

»Jacky«, rief eine harte Stimme aus einem Wohnwagen. »Zieh dich um. Wo steckst du denn?«

Bambi fing einen Blick aus tiefblauen Augen auf. Das Kind, von dem Bambi nicht wusste, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, erklomm die Stufen zu dem Wohnwagen. Bambi stand still und rührte sich nicht.

Hannes hatte Bambis Hand gefasst. »Nun komm schon«, sagte er. »Du hast es doch gar nicht erwarten können.«

»Machen da auch Kinder mit?«, fragte Bambi ihren großen Bruder.

»Weiß ich doch nicht. Das werden wir schon sehen.«

Manuel drehte sich um. »Sind schon eine Menge Leute da«, sagte er. »Kommt endlich.«

»Wir haben doch nummerierte Plätze«, meinte Hannes.

»Und wenn sich doch einer hinsetzt?«, fragte Bambi.

»Dann muss er auch wieder aufstehen«, erwiderte Hannes ein wenig gereizt.

Aber sie bekamen ihre Plätze, und es ertönte auch schon blecherne Musik. Erwartungsvoll harrten die Kinder auf den Beginn der Vorstellung. Bambi saß ganz still da. Sie beteiligte sich nicht an der Unterhaltung. Sie starrte unentwegt auf den roten verschlissenen Vorhang, der sich dann endlich auftat.

*

Hannes fand es gar nicht so schlecht, was da geboten wurde. Er war ganz fasziniert, als die Ponys ihre Kunststücke zeigten. Und dann kam auf einem weißen Pferd ein Kind hereingeritten, das zu einer weißen Hose eine mit Goldbordüren verzierte Jacke trug. Das fand Hannes affig, aber die Akrobatik, die dieses winzig erscheinende Geschöpf im Sattel zeigte, rang ihm doch Bewunderung ab.

»Toll«, sagte er zu Bambi, die neben ihm saß und keinen Blick von der Manege wandte.

»Ist das ein Junge oder ein Mädchen?«, fragte Bambi.

»Natürlich wird das ein Junge sein«, meinte Hannes und begann zu klatschen, als Pferd und Kind hinausritten.

»Warum ist das natürlich?«, fragte Bambi, die zu Hannes’ Überraschung keinen Finger rührte.

»So was kann doch bloß ein Junge«, erwiderte er.

»Du traust Mädchen auch gar nichts zu«, sagte Bambi.

»Hat es dir nicht gefallen?«, fragte er.

»Doch, aber ich hatte immer Angst. Wenn es nun mal fällt. Wenn es sich wehtut. So gut gefällt mir Zirkus gar nicht, wenn Kinder mitmachen.«

»Bist ein Tschapperl«, sagte er. »Dafür zahlen wir doch Eintritt.«

»Was bekommt es denn dafür?«, fragte Bambi.

»Was du alles wissen willst. Vielleicht ist es das Kind von den Besitzern«, antwortete Hannes und machte damit den Fragen erst einmal ein Ende.

Sie sahen das Kind noch öfter in allen denkbaren Verkleidungen. Bambi erkannte immer nur die blauen Augen, die sogar nicht zu den Späßen zu passen schienen, die der kleine Clown zeigte.

»Es riecht nicht gut hier«, sagte sie, als das zierliche Persönchen nach ein paar Purzelbäumen hinter dem verschlissenen Vorhang verschwand.

»Jetzt ist auch Pause. Wir können Luft schnappen«, sagte Hannes. Und die Kinder erhoben sich von ihren Plätzen und verließen das Zelt.

Die Kinder lachten und schwatzten durcheinander. Bambi beteiligte sich nicht daran, was sehr verwunderlich war. Sie ließ ihre Blicke umherschweifen. Immer mehr Kinder drängten sich um sie, und das nutzte Bambi rasch aus und entwischte. Das Zirkuskind hatte ihr Interesse so sehr erregt, dass sie es nochmals von Nahem sehen wollte.

Unversehens fand sich Bambi zwischen den Wohnwagen wieder, und schon hörte sie eine kreischende Stimme.

»Schon wieder hast du Hunger, du unnützer Esser«, keifte eine hagere Frau mit roten Haaren, die Bambi ziemlich genau sehen konnte, als sie um den Wohnwagen lugte. Ein gewichtiger Mann kam aus einem anderen und gab dem Kind ein paar schallende Ohrfeigen.

Bambi zuckte zusammen. Ihr Gerechtigkeitssinn hätte sie fast zu einer Unbesonnenheit veranlasst. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie sah das Kind, das unter den heftigen Schlägen hin und her taumelte, aber keinen Laut von sich gab. Bambi musste die Lippen ganz fest aufeinanderpressen, um sich nicht auch zu verraten.

Sie duckte sich und kroch unter dem Wohnwagen hindurch.

»Du kriegst erst was, wenn du die Trapeznummer absolviert hast«, sagte die Frau. »Nimm dich zusammen, Jacky, sonst setzt es wieder was.«

»Ich habe aber Angst«, sagte das Kind jetzt leise. Fast konnte Bambi es nicht verstehen. »Mir wird schwindelig, wenn ich Hunger habe.«

Bambi war außer sich vor Zorn. Das wollte sie ihren Eltern erzählen und allen, die Spaß am Zirkus fanden.

»Jetzt ziehst du dich um«, sagte die Frau im Befehlston, der keinen Widerspruch duldete, zu dem Kind. »In zehn Minuten bist du dran.«

Der Mann war schon wieder in dem anderen Wohnwagen verschwunden. Die Frau folgte ihm. Das Kind blieb noch ein paar Sekunden stehen, dann sah Bambi, wie es geduckt davonlief.

Sie überlegte nicht mehr lange, kroch unter dem Wagen hervor und rannte dem Kleinen nach. An Hannes und die anderen Kinder dachte sie augenblicklich gar nicht.

Der Kleine war hinter den Büschen verschwunden. Bambi konnte ihn nicht sehen.

»Jacky«, rief sie, denn den Namen hatte sie gleich behalten. »Hab keine Angst. Ich heiße Bambi und tue dir nichts.«

»Pssst, sonst finden sie mich«, wisperte es hinter dem Gebüsch hervor. »Hier bin ich.« Eine kleine schmutzige Hand kam hervor. Bambi bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp. Da hockte das kleine Geschöpf am Boden, das Gesicht von Schminke, Tränen und Schmutz verschmiert. Die blauen Augen leuchteten jetzt aber auf, als Bambi sich auch hinhockte.

»Hab dich schon gesehen«, sagte Jacky.

»Ich dich auch. Habe auch alles gehört. Geschlagen hat er dich auch. Gemein ist das.«

»Sie schlagen mich noch mal tot«, flüsterte das Kind. »Aber ich laufe jetzt weg. Ich gehe nicht mehr zurück. Ich habe solche Angst.«

Bambi überlegte schnell. Wie sagte ihre Mami immer?

Man soll Menschen, die in Not sind, helfen, ohne lange zu überlegen. Manchmal können Minuten ein Leben entscheiden.

Ja, Minuten. Wenn diese schrecklicher Menschen kamen, war Jacky verloren.

»Ich bringe dich weg«, flüsterte sie. »Ich verstecke dich. Dann überlegen wir in Ruhe.«

»Kriegst du keine Schläge, wenn du fortläufst?«, fragte Jacky.

»Ich kriege nie Schläge, und ich laufe ja nicht fort. Ich will dir nur helfen.«

»Jacky«, hörten sie da eine dröhnende Stimme. »Sofort kommst du her, die Vorstellung beginnt.«

»Schreien kann der«, wisperte Bambi, »da fällt man bald um. Hab keine Angst, die finden dich nicht.«

Vertrauensvoll sahen die blauen Augen sie an. Bambi fühlte sich als Retterin. Sie hatte jetzt Mut für zwei. An sich selbst dachte sie gar nicht mehr, nur an Jacky, dieses arme, kleine Zirkuskind.

»Wo ist Bambi?«, fragte Hannes indessen aufgeregt. Ganz blass war er geworden, als die Kinder wieder ihre Plätze eingenommen hatten und Bambi fehlte.

»Die Kinder haben uns auseinandergedrängelt«, sagte Manuel ängstlich.

»Aber sie kann doch nicht fort sein.«

Hannes war voller Schuldbewusstsein, weil er sich mit seinen Freunden unterhalten hatte. Aber auf Bambi war doch Verlass. Sie lief nicht einfach fort. Und doch war sie nirgends zu sehen. Er rannte überall herum und rief ihren Namen, aber es entging ihm auch nicht, dass eine Frau und ein Mann ebenfalls herumliefen und »Jacky« riefen, allerdings nicht ängstlich, sondern wütend.

Sie fragten ihn, ob er nicht ein kleines Mädchen gesehen hätte. Hannes fand die Leute grässlich. »Ich suche selber eins«, brummte er. »Meine Schwester.«

Sie nahmen keine Notiz mehr von ihm, und nun kamen auch die anderen Kinder aus dem Sonnenwinkel aus dem Zirkuszelt, Manuel, Jerry, Flori und Beate, und vereint machten sie sich auf die Suche nach Bambi.

»Wenn sie nun einer entführt hat«, sagte der kleine Jerry ängstlich.

»Bambi lässt sich nicht entführen«, sagte Manuel.

»Macht mich bloß nicht schwach«, stöhnte Hannes. Ängstlich und besorgt schaute er herum, aber Bambi erblickte er nirgends.

»Es hat ihr gar nicht gefallen. Sie hat nicht mal geklatscht«, sagte Manuel. »Vielleicht ist sie zu eurer Mami gegangen, Hannes.«

»Sie rennt nicht einfach weg«, stieß Hannes hervor. »Wenn bloß nichts passiert ist.«

»Ist keine Polizei hier«, flüsterte Jerry.

»Da ist ein Polizist«, rief Beate.

In seiner Angst um Bambi zögerte Hannes nicht mehr, diesen um Hilfe zu bitten, was immer auch für ihn an Schwierigkeiten entstehen könnten.

*

Bambi und Jacky hatten indessen das Ufer des Sternsees erreicht. Sie waren beide außer Atem, und auch Bambi sah jetzt ganz hübsch schmutzig aus.

»Wenn wir immer am Ufer langgehen, kommen wir zu uns«, sagte sie. »Es ist ziemlich weit. Kannst du noch laufen?«

Jacky nickte.

»Du hast aber Hunger, ich habe es gehört. Ich habe nur noch einen Kaugummi.«Sie kramte ihn aus ihrer Hosentasche hervor.

»Habe so was noch nie gegessen«, sagte Jacky.

»Darf man auch nicht essen. Darf man nur kauen«, sagte Bambi. »Bist du ein Junge oder ein Mädchen?«

In die blauen Kinderaugen kam ein verwunderter Ausdruck.

»Ein Mädchen«, kam die stockende Antwort. »Sieht man das nicht? Habe doch lange Haare.«

»Buben haben auch manchmal lange Haare«, sagte Bambi. »Ein Mädchen zu schlagen ist noch gemeiner. Sind das deine Eltern?«

»Glaube ich nicht«, erwiderte Jacky.

Bambi staunte erst mal. »Du glaubst es nicht? Du musst es doch wissen, ob es deine Eltern sind.«

»Lia und Jaro heißen sie.« Sie begann auf dem Gummi herumzukauen.

»Schmeckt ganz gut. Wo sind die anderen Kinder?« Jacky sah ihre Begleiterin fragend an.

Bambis Gewissen begann sich zu rühren, aber sie entschuldigte sich damit, dass sie sich jetzt um die arme kleine Jacky kümmern müsse. Keinesfalls durfte sie zulassen, dass sie von diesen bösen Menschen noch mehr geschlagen wurde.

»Wie alt bist du?«, lenkte sie ab.

»Fünf. Werden dich die anderen Kinder nicht suchen.«

»Das werden sie schon, aber ich bin nachher wieder da. Kann dich doch nicht allein lassen. Du weißt hier doch nicht Bescheid.« Bambi fühlte sich ganz für das kleine Mädchen verantwortlich.

»Du bist lieb«, sagte Jacky, »aber wenn du nun Prügel kriegst?«

»Ich krieg’ schon keine.«

»Dann sollen sie mich prügeln. Ich bin es gewohnt«, sagte Jacky.

Bambi wurde mit einer Welt konfrontiert, die ihr völlig unbekannt war und ihr Entsetzen einflößte.

Dass ein Kind sogar gegen Prügel abgestumpft sein konnte, machte sie fassungslos.

»Kinder dürfen nicht misshandelt werden. Das weiß ich von meinen Eltern«, sagte sie.

»Was ist misshandelt?«, fragte Jacky.

»Wenn man Prügel kriegt und gestraft wird. Kinder dürfen auch nicht schwer arbeiten. Du musst es.« Empört und zornig hatte Bambi die Worte ausgestoßen.

»Reiten und Clown spielen geht ja«, sagte Jacky, »aber am Trapez habe ich schreckliche Angst. Wenn ich abstürze und gleich tot wäre, ginge es ja, aber wenn ich bloß so abstürze und noch lebe, werden Lia und Jaro ganz wild.

Dann kriege ich nie mehr was zu essen. Hunger tut mehr weh als Schläge.«

Bambis Entsetzen wurde immer größer. Unwillkürlich griff sie nach der kleinen Hand und drückte sie.

»Die können was erleben«, sagte sie zornig. »Die Lia und der Jaro. So was lassen wir nicht zu. Hab nur keine Angst, Jacky. Bei uns im Sonnenwinkel werden keine Kinder geschlagen und zu hungern brauchen sie auch nicht.«

»Ist das der Himmel?«, fragte Jacky.

»Was?«, fragte Bambi verwundert zurück.

»Der Sonnenwinkel, von dem du redest.«

»Das ist der Himmel auf Erden«, sagte Bambi.

»Den möchte ich mal kennen lernen«, sagte Jacky träumerisch.

»Wirst du doch. Wir müssen nur noch tüchtig laufen.«

Hoffentlich regt sich Mami nicht zu sehr auf, dachte sie aber doch. Hannes war ja auch schon manchmal später heimgekommen, aber das war wohl doch nicht so schlimm. Es war das erste Mal, dass Bambi etwas tat, was ihr Gewissen sehr belastete, aber wenn sie dann Jacky ansah, meinte sie, dass der liebe Gott es doch gutheißen würde.

*

In Hohenborn herrschte währenddessen schon Panikstimmung. Die Auerbachs waren wohlbekannt, und Bambi war überall beliebt.

Die Zirkusvorstellung war weitergegangen. Lia und Jaro wollten wegen Jacky nicht auch noch einen Verdienstausfall in Kauf nehmen. Dass es bei der Vorstellung hinten und vorn nicht stimmte, merkten die Zuschauer wohl. Als Lia dann mit wehleidiger Stimme ankündigte, dass der kleine Star Jacky verschwunden sei, breitete sich auch hier Anteilnahme aus, denn niemand ahnte, wie abscheulich dieses Kind behandelt worden war. Hätte Hannes davon gewusst, hätte er sich wohl noch andere Gedanken gemacht, denn er kannte Bambi sehr gut. Aber er hatte völlig vergessen, dass die Zirkusleute auch nach einem Kind gesucht hatten. Er musste jetzt bittere Vorwürfe von seiner Mutter einstecken. Inge Auerbach war völlig aufgelöst. Auch sich selbst machte sie Vorwürfe, aber sie suchte auch nach einer Erklärung für Bambis Verschwinden, denn sie war so abenteuerliche Einzelgänge von ihrer Jüngsten nicht gewohnt.

»Hat es denn etwas gegeben, was Bambi erschreckt hat?«, fragte sie bebend. »Ist ein Tier geschlagen worden, oder hatte sie Angst vor den Raubtieren?«

»Raubtiere haben wir noch gar nicht gesehen, Tante Inge«, sagte Manuel. »Aber Spaß hat es Bambi nicht gemacht. Nicht mal gefreut hat sie sich über das Zirkuskind, das so toll reiten kann. Ganz komisch war sie, als ich sie gefragt habe.«

»Wieso komisch?«, fragte Inge geistesabwesend.

»Hunger hat es, hat Bambi gesagt.«

»Wer hat Hunger?«, fragte Inge aufhorchend.

»Das Zirkuskind.«

Inges Gedanken arbeiteten fieberhaft. Bambis mitleidiges Herzchen! Ob sie dem Kind vielleicht etwas zu essen bringen wollte? Das war bei ihr durchaus möglich.

Es darf ihr nichts geschehen sein, dachte Inge unentwegt. Wir werden unseres Lebens nicht mehr froh. Ganz elend sah Hannes schon aus, Tränen standen ihm in den Augen.

»Wir wollen nicht die Nerven verlieren«, machte sich Inge selbst Mut. »Du rufst Papi an. Er soll die Straße entlangfahren. Weiß der Himmel, was sie veranlasst haben könnte, heimzulaufen, aber möglich ist auch das. Ich werde mal mit den Zirkusleuten sprechen.«

Die Vorstellung war vorzeitig beendet. Man redete durcheinander, aber Inge verstand nichts. In ihren Ohren brauste das Blut. Ich muss Bambi finden. Herrgott gib, dass meiner Kleinen nichts geschehen ist, dachte sie.

»Wenn ich dieses Luder finde, schlage ich es tot«, tönte da eine raue Männerstimme an ihr Ohr. »Jetzt habe ich genug.«

»Gröle nicht so, Jaro, sonst kriegen wir noch Ärger«, sagte eine Frauenstimme. »Weit kann sie nicht sein.«

Inge Auerbach war plötzlich ganz hellwach, und geistesgegenwärtig trat sie auf dieses unsympathische Paar zu.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie, »ich suche meine Tochter. Haben Sie sie vielleicht bemerkt? Sie ist sieben Jahre, hat dunkles Haar und …«

Sie kam nicht weiter. Der Mann schnitt ihr das Wort ab.

»Hören Sie mit Ihrer Tochter auf. Wir suchen unsere auch«, sagte er wütend. Dann blickte er Inge scharf an. »Ist Ihre eine Streunerin?«, fragte er vulgär.

»Nein!« Inge schrie es fast, aber plötzlich hatte sie noch mehr Angst, dass es hier mehr solche Typen geben könnte wie diesen Mann und Bambi tatsächlich in einer tödlichen Gefahr sein könnte.

Wie gejagt lief sie davon, und als Hannes ihr entgegenkam, brach sie in Tränen aus.

»Mami, es tut mir ja so schrecklich leid«, flüsterte er. »Mit Papi habe ich gesprochen. Im Sonnenwinkel sind sie jetzt bestimmt alle schon unterwegs. Wir müssen Bambi finden, sonst bringe ich mich um.«