Im Visier - Lee Child - E-Book

Im Visier E-Book

Lee Child

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Beschreibung

»Der bislang beste Jack-Reacher-Roman.« Stephen King

John Kott ist einer der besten Scharfschützen, die die U.S. Army jemals hervorgebracht hat. Doch er ist auch ein skrupelloser Mörder, der den französischen Präsidenten erschießen wollte. Das Attentat schlug fehl, aber in Kürze wird er eine neue Gelegenheit haben: der G8-Gipfel in London. Es gibt nur einen Mann, der ihn aufhalten kann. Nur einen, der Kott ebenbürtig ist. Jener Mann, der Kott schon einmal ins Gefängnis brachte: Jack Reacher!

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Buch

John Kott ist einer der besten Scharfschützen, die die U. S. Army jemals hervorgebracht hat. Doch er ist auch ein skrupelloser Mörder, der den französischen Präsidenten erschießen wollte. Das Attentat schlug fehl, aber in Kürze wird er eine neue Gelegenheit haben: der G8-Gipfel in London. Es gibt nur einen Mann, der ihn aufhalten kann. Nur einen, der Kott ebenbürtig ist. Jener Mann, der Kott schon einmal ins Gefängnis brachte: Jack Reacher!

Autor

Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.

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Lee Child

Im Visier

Ein Jack-Reacher-Roman

Deutsch von Wulf Bergner

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Never go Back« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, A Random House Group Company, London.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright der Originalausgabe © 2014 by Lee ChildPublished by Agreement with Lee ChildDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: www.buerosued.deMann: Trevillion Images / Yolande de Kort (YDK22957)Brücke, Stadt, Himmel: www.buerosued.deHK · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-22106-5V003
www.blanvalet.de

Für Andrew Grant und Tasha Alexander,meinen Bruder und meine Schwägerin:klasse Autoren und klasse Leute

1

Bis vor einer Woche hatten Höhen und Tiefen mein Leben geprägt. Teils war es gut. Teils nicht so gut. Größtenteils war es gleichförmig. Lange träge Perioden, in denen nicht viel passierte, und zwischendurch kurzzeitig hektische Aktivität. Eigentlich wie beim Militär. Und auf diese Weise fanden sie mich. Man kann die Army verlassen, aber sie verlässt einen nie. Nicht endgültig. Nicht vollständig.

Die Fahndung der Army nach mir begann zwei Tage nachdem irgendein Kerl auf den französischen Präsidenten geschossen hatte. Davon hatte ich in der Zeitung gelesen. Ein Attentat aus großer Entfernung mit einem Scharfschützengewehr. Damit hatte ich nichts zu tun. Ich war fast sechstausend Meilen weit entfernt in Kalifornien mit einer jungen Frau zusammen, die ich in einem Bus kennengelernt hatte. Sie wollte zum Film. Ich nicht. Deshalb ging sie nach achtundvierzig Stunden in L. A. ihres Weges, und ich fuhr mit dem Bus weiter. Erst für ein paar Tage nach San Francisco, anschließend nach Portland, Oregon, wo ich drei Tage blieb, und dann weiter nach Seattle. Auf dieser Strecke hielt der Bus an der Abzweigung nach Fort Lewis, wo zwei Frauen in Uniform ausstiegen. Dabei ließen sie auf dem Sitz jenseits des Mittelgangs ein Exemplar der Army Times vom Vortag liegen.

Die Army Times ist eine seltsame alte Zeitung. Sie wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen, erscheint weiterhin wöchentlich, ist voller Nachrichten von gestern und bringt alle möglichen praktischen Tipps und Informationen, wie die Schlagzeilen dieser Ausgabe verkündeten: Neue Bestimmungen! Änderungen bei Abzeichen und Aufnähern! Vier weitere Uniformänderungen geplant! Gerüchten nach sind die Nachrichten von gestern, weil sie aus alten AP-Zusammenfassungen abgeschrieben werden, aber wer die Texte genauer analysiert, entdeckt manchmal wirklichen Sarkasmus zwischen den Zeilen. Die Leitartikel sind gelegentlich mutig, die Nachrufe manchmal interessant.

Was der einzige Grund dafür war, dass ich nach der Zeitung griff. Manchmal sterben Leute, deren Tod einen freut. Oder auch nicht. In beiden Fällen muss man davon erfahren. Aber so weit kam ich nie, denn auf der Suche nach den Nachrufen blieb ich bei den Kleinanzeigen hängen. Wie immer suchten dort Veteranen andere Veteranen. In Dutzenden von Anzeigen, alle mit ähnlichem Text.

Darunter eine mit meinem Namen.

Genau mitten auf der Seite standen eingerahmt fünf Wörter in Fettdruck: Jack Reacher Rick Shoemaker anrufen.

Das musste Tom O’Days Werk sein. Allein deshalb kam ich mir später ein bisschen lahm vor. Nicht dass O’Day kein cleverer Typ gewesen wäre. Das musste er sein, denn er hatte lange überlebt. Sogar sehr lange. Ihn gab es seit ewigen Zeiten. Wie ein Hundertjähriger hatte er schon vor zwanzig Jahren ausgesehen. Dieser große, dürre, hagere, ausgezehrte Mann bewegte sich, als könnte er jeden Augenblick wie eine defekte Stehleiter zusammenklappen. Er entsprach niemandes Vorstellung von einem Infanteriegeneral, sondern sah eher wie ein Professor aus. O’Day hätte ein Anthropologe sein können. Seine Überlegung war jedenfalls schlüssig gewesen: Reacher bleibt unter dem Radar, was Busse und Züge, Wartesäle und Schnellrestaurants betrifft, die – zufällig oder nicht – der wirtschaftlich vernünftige Lebensraum von Mannschaftsdienstgraden sind, die im PX eher die Army Times als irgendeine andere Zeitung kaufen und sie um sich herum verbreiten, wie Vögel Beerensamen verbreiten.

Und er konnte damit rechnen, dass mir ein Exemplar in die Hände fallen würde. Irgendwie. Früher oder später. Irgendwann. Weil ich mich informieren wollte. Man kann die Army verlassen, aber sie verlässt einen nie. Nicht vollständig. Betrachtete man die Army Times als Kommunikationsmittel, durch das man mit jemandem Kontakt aufnehmen konnte, musste er sich ausgerechnet haben, dass zehn bis zwölf nacheinander erscheinende Anzeigen eine kleine, aber realistische Chance auf Erfolg hatten.

Aber schon der erste Versuch hatte Erfolg. Einen Tag nach dem Erscheinen der Zeitung. Deshalb kam ich mir später lahm vor.

Ich war berechenbar.

Rick Shoemaker war Tom O’Days rechte Hand. Inzwischen vermutlich sein Stellvertreter. An sich leicht zu ignorieren. Aber ich war Shoemaker einen Gefallen schuldig, was O’Day offenbar wusste. Deshalb hatte er seinen Namen in die Anzeige gesetzt.

Und deshalb würde ich mich melden müssen.

Berechenbar.

Seattle war trocken, als ich aus dem Bus stieg. Und warm. Und in dem Sinn auf Zack, dass überall Unmengen von Kaffee getrunken wurden, was es zu meiner Art Stadt machte, und in dem Sinn, dass es überall Wifi-Hotspots und Smartphones gab, die mich nicht interessierten, und altmodische Münztelefone an Straßenecken deshalb schwer zu finden waren. Drunten am Fischmarkt gab es jedoch eines, deshalb stand ich von Meeresgerüchen umgeben in der salzhaltigen Brise und wählte eine gebührenfreie Nummer im Pentagon. Eine Nummer, die ich vor vielen Jahren auswendig lernte. Eine spezielle Nummer nur für Notfälle. Weil man nicht immer einen Quarter in der Tasche hatte.

Eine Telefonistin meldete sich. Ich verlangte Shoemaker und wurde weiterverbunden – innerhalb des Gebäudes oder der USA oder weltweit, und nach mehrmaligem Klicken und Zischen und einer langen Pause, in der man gar nichts hörte, war Shoemaker endlich dran und sagte: »Ja?«

»Hier ist Jack Reacher«, sagte ich.

»Wo sind Sie?«

»Haben Sie nicht alle möglichen Geräte, die das automatisch anzeigen?«

»Ja«, sagte er. »Sie sind in Seattle, an einem Münztelefon drunten am Fischmarkt. Aber uns ist’s lieber, wenn Leute solche Auskünfte freiwillig geben. Wir finden, dass das anschließende Gespräch dann flüssiger wird. Weil sie schon kooperieren. Sie beweisen Interesse.«

»Woran?«

»An dem Gespräch.«

»Führen wir ein Gespräch?«

»Eigentlich nicht. Was sehen Sie direkt vor sich?«

Ich sah hin.

»Eine Straße«, sagte ich.

»Links?«

»Fischläden.«

»Rechts?«

»Einen Coffeeshop schräg gegenüber nach der Ampel.«

»Name?«

Ich gab ihn durch.

Er sagte: »Setzen Sie sich dort rein und warten Sie.«

»Worauf?«

»Dass Sie abgeholt werden. Dauert ungefähr eine halbe Stunde«, antwortete er und legte auf.

Niemand weiß wirklich, weshalb Kaffee in Seattle eine so wichtige Rolle spielt. Seattle ist eine Hafenstadt, deshalb war es vielleicht vernünftig, den Kaffee dort zu rösten, wo er ins Land kam, und ihn anschließend auch dort zu verkaufen, was weitere Kaffeeröster anlockte, genau wie die Autobauer alle in Detroit landeten. Oder vielleicht ist das Wasser genau richtig. Oder es liegt an der Ortshöhe, der Temperatur oder der Luftfeuchtigkeit. Jedenfalls gibt es in jedem Straßenblock einen Coffeeshop, und wer gern Kaffee trinkt, muss dafür einen vierstelligen Betrag pro Jahr ansetzen. Der Coffeeshop schräg gegenüber nach der Ampel war beispielhaft. Er hatte kastanienbraune Farbe und Sichtmauerwerk, naturbelassenes Holz und eine Tafel, auf der mit Kreide Dinge angeschrieben waren, von denen neunzig Prozent nicht in einen Kaffee gehörten: Milchprodukte in verschiedenen Geschmacksrichtungen und Temperaturen, seltsame Aromen auf Nussbasis und weitere Verunreinigungen. Ich bestellte die Hausmarke, schwarz, ohne Zucker, in einem mittelgroßen Becher, keinen Grande-Eimer, wie ihn manche Leute mögen, mit einem großen Stück Zitronenkuchen und saß damit allein auf einem harten Holzstuhl an einem Zweiertisch.

Der Kuchen beschäftigte mich fünf Minuten, der Kaffee weitere fünf, und achtzehn Minuten später kam Shoemakers Mann herein. Was bedeutete, dass er bei der Marine war, denn achtundzwanzig Minuten war ziemlich schnell, und die Navy befand sich hier in Seattle. Sein Wagen war dunkelblau. Er fuhr eine Limousine in Einfachausstattung, nicht sehr ansprechend, aber auf Hochglanz poliert. Der Kerl selbst war Anfang dreißig, drahtig und durchtrainiert. Er trug Zivil. Einen blauen Blazer über einem blauen Polohemd, dazu khakifarbene Chinos. Der Blazer war abgewetzt, Hemd und Hose waren schon tausendmal gewaschen worden. Vermutlich ein Senior Chief Petty Officer, ein Hauptbootsmann, wahrscheinlich bei den Special Forces, mutmaßlich ein SEAL, ein Kampfschwimmer, bestimmt an irgendeinem zweifelhaften Unternehmen beteiligt, das unter O’Days Aufsicht stand.

Er betrat den Coffeeshop mit einem raschen, ausdruckslosen Rundblick, als hätte er ungefähr eine Fünftelsekunde Zeit, Freund oder Feind auszumachen, bevor er zu schießen begann. Seine knappe Einweisung, sicher aus einer alten Personalakte, musste mündlich erfolgt sein, aber er hatte die Eckpunkte eins fünfundneunzig und hundertzehn Kilo. Alle anderen Gäste waren Asiaten, überwiegend Frauen, die meisten klein und zierlich. Der Kerl kam geradewegs auf mich zu und fragte: »Major Reacher?«

Ich sagte: »Nicht mehr.«

Er fragte: »Dann Mr. Reacher?«

Ich sagte: »Ja.«

»Sir, General Shoemaker möchte, dass Sie mitkommen.«

Ich fragte: »Wohin?«

»Nicht weit.«

»Wie viele Sterne?

»Sir, ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Hat General Shoemaker?«

»Einen, Sir. Brigadegeneral Shoemaker, Sir.«

»Wann?«

»Wann was, Sir?«

»Ist er befördert worden?«

»Vor zwei Jahren.«

»Finden Sie das so ungewöhnlich wie ich?«

Der Kerl schwieg einen Moment, dann sagte er: »Sir, dazu habe ich keine Meinung.«

»Und wie geht es General O’Day?«

Der Mann zögerte nochmals, dann sagte er: »Sir, ich kenne niemanden, der so heißt.«

Der blaue Wagen war ein Chevrolet Impala mit Polizeifelgen und Stoffsitzen. Das Neueste an ihm schien seine Politur zu sein. Der Kerl in dem Blazer fuhr mit mir durch die Innenstadt und auf der I-5 nach Süden. Auf dieser Interstate war ich mit dem Bus nach Seattle gekommen. Wir fuhren wieder am Boeing Field und am Sea-Tac Airport vorbei, weiter in Richtung Tacoma. Der Kerl in dem Blazer sagte nichts. Ich schwieg ebenfalls. Wir saßen beide stumm da, als wollten wir einander beweisen, dass der eine länger schweigen konnte als der andere. Ich sah aus dem Seitenfenster. Hügel und Meer und Bäume, alles grün.

Wir passierten Tacoma und wurden vor der Bushaltestelle langsamer, an der die beiden Soldatinnen ausgestiegen waren und die Army Times zurückgelassen hatten. Wir nahmen dieselbe Ausfahrt. Die Wegweiser zeigten an, dass vor uns nur drei Kleinstädte und ein riesiger Militärstützpunkt lagen. Folglich konnte ich ziemlich sicher davon ausgehen, dass wir nach Fort Lewis wollten. Aber dann zeigte sich, dass wir doch nicht dorthin fuhren. Heute vielleicht theoretisch, aber früher wäre das nicht der Fall gewesen. Wir waren zur ehemaligen McChord Air Force Base unterwegs, jetzt die silberglänzende Hälfte der Joint Base Lewis-McChord. Reformen. Politiker schrecken vor nichts zurück, um ein paar Dollar einzusparen.

Ich erwartete ein kleines Hin und Her am Tor, das von Army und Air Force gemeinsam bewacht wurde, während Wagen und Fahrer zur Navy gehörten und ich ein absoluter Niemand war. Nur das Marinekorps und die Vereinten Nationen fehlten noch. Aber O’Days Einfluss war so groß, dass wir die Geschwindigkeit kaum drosseln mussten. Wir rauschten hindurch, bogen links ab, dann rechts, wurden an einem zweiten Tor durchgewinkt und fuhren aufs Vorfeld hinaus, auf dem riesige Transporter C-17 Globemaster standen, unter denen man sich wie eine Maus im Wald vorkam. Wir rollten unter einer gigantischen grauen Tragfläche hindurch und fuhren über schwarzen Asphalt genau auf ein kleines weiße Flugzeug zu, das auf einer speziell gekennzeichneten Abstellfläche stand. Ein zweistrahliges Geschäftsreiseflugzeug. Ein Learjet oder eine Gulfstream, oder was reiche Leute sich heutzutage sonst zulegten. Die Lackierung glänzte in der Sonne. Die einzige Beschriftung des Flugzeugs war das Kennzeichen auf dem Seitenleitwerk. Kein Name, kein Logo. Nur weißer Lack. Seine Triebwerke brummten im Leerlauf, und unter der offenen Kabinentür war die Fluggasttreppe heruntergeklappt.

Der Kerl in dem Blazer fuhr geschickt einen Halbkreis und kam so zum Stehen, dass meine Tür kaum zwei Meter von der Kabinentreppe entfernt war. Was ich als Wink auffasste. Ich stieg aus und blieb kurz in der Sonne stehen. Der Frühling war endlich da und hatte mildes Wetter mitgebracht. Hinter mir fuhr die Limousine weg. In der ovalen Türöffnung über mir erschien ein uniformierter Steward. Er sagte: »Sir, bitte kommen Sie an Bord.«

Unter meinem Gewicht gab die Treppe leicht nach. Ich musste den Kopf etwas einziehen, um in die Kabine zu gelangen. Während der Steward sich nach rechts verzog, tauchte links von mir ein weiterer Mann in Uniform aus dem Cockpit auf und sagte: »Willkommen an Bord, Sir. Heute wird die Crew ganz von der Air Force gestellt, und wir bringen Sie schnellstens hin.«

Ich fragte: »Wohin?«

»An Ihr Ziel.« Der Mann zwängte sich wieder in seinen Sitz neben dem Kopiloten, und beide fingen an, eine Checkliste abzuarbeiten. Ich folgte dem Steward und fand mich in einer Kabine mit karamellbraunem Leder und Walnusspaneelen wieder. Als einziger Passagier ließ ich mich in den nächstbesten Sessel fallen. Der Steward zog die Fluggasttreppe hoch, verriegelte die Kabinentür und nahm auf dem Klappsitz hinter den beiden Piloten Platz. Zwei Minuten später waren wir in der Luft und stiegen steil weiter auf.

2

Ich rechnete mir aus, dass wir von McChord aus nach Osten flogen. Allerdings blieb uns kaum eine andere Wahl. Im Westen lagen Russland, Japan und China, und ich bezweifelte, dass ein so kleines Flugzeug genug Reichweite gehabt hätte. Als ich den Steward nach unserem Ziel fragte, sagte er, er habe den Flugplan nicht gesehen. Was natürlich Bullshit war. Aber ich bohrte nicht nach. Bei allen anderen Themen erwies er sich als ziemlich redselig. Er teilte mir mit, das Flugzeug sei eine Gulfstream IV, die bei einem betrügerischen Hedgefonds beschlagnahmt und der Air Force übergeben worden war, die sie für VIP-Flüge einsetzte. In diesem Fall konnten die VIPs der Luftwaffe sich glücklich schätzen. Das Flugzeug war sensationell. Es war leise und solide, und die nach allen Richtungen verstellbaren Sessel waren ultrabequem. Und in der Bordküche gab es Kaffee. Ganz altmodisch aufgebrüht. Ich forderte den Mann auf, die Kaffeemaschine laufen zu lassen, und erklärte ihm, ich würde mir meinen Kaffee selbst holen. Das nahm er dankbar zur Kenntnis. Vermutlich hielt er das für einen Beweis meines Respekts. Natürlich war er kein echter Steward, sondern irgendein Sicherheitsmann, der tough genug war, um diesen Job zu bekommen, und stolz darauf, dass ich das wusste.

Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete als Erstes die Rocky Mountains mit den dunkelgrünen Wäldern in niedrigen Lagen und blendend weißen Schneegipfeln in den Höhen. Dann zogen die braungrünen Ebenen des Mittleren Westens vorbei: in winzige Mosaikflächen unterteilt, gepflügt, bestellt und abgeerntet, wieder und wieder, ohne viel Regen abzubekommen. Ich hatte den Eindruck, wir schnitten eine Ecke von South Dakota ab und sähen ein Stück von Nebraska, bevor wir die Etappe über Iowa in Angriff nahmen. Was wegen der geometrischen Kompliziertheit eines Flugs in großen Höhen vermutlich bedeutete, dass unser Ziel weit im Süden lag. Wir flogen auf einer Großkreisroute, die auf einer Landkarte verrückt ausgesehen hätte, aber für einen kugelförmigen Planeten genau richtig war. Unser Ziel war Kentucky, Tennessee oder die Carolinas. Vielleicht sogar Georgia.

Während ich nach und nach eine Kanne Kaffee leerte, brummten wir Stunde um Stunde weiter, bis die Erde wieder näher kam. Anfangs tippte ich auf Virginia, aber dann hielt ich North Carolina doch für wahrscheinlicher. Ich sah zwei Städte, die nur Winston-Salem und Greensboro sein konnten. Sie lagen an Backbord und wurden etwas kleiner, was bedeutete, dass wir uns auf dem Weg nach Südosten befanden. Die nächste Stadt war erst Fayetteville, aber kurz davor kam Fort Bragg. Dort lag das Hauptquartier der Special Forces, Tom O’Days natürlicher Lebensraum.

Wieder falsch. Oder theoretisch richtig, aber nur dem Namen nach. Wir landeten in der Abenddämmerung auf der ehemaligen und inzwischen an die Army übergegangenen Pope Air Force Base. Jetzt hieß der Platz nur Pope Field und war lediglich eine kleine Ecke von Fort Bragg, das ständig weiterwuchs. Reformen. Politiker schrecken vor nichts zurück, um ein paar Dollar einzusparen.

Wir rollten lange, sehr lange, winzig auf Landebahnen und Rollwegen, die man für Transportstaffeln angelegt hatte. Dann kamen wir vor einem kleinen Verwaltungsgebäude zum Stehen, an dessen Fassade 47th Logistics, Tactical Support Command zu lesen war. Die Triebwerke wurden abgestellt, und der Steward öffnete die Kabinentür und klappte die Passagiertreppe aus.

»Welche Tür?«, fragte ich.

»Die rote«, antwortete er.

Ich stieg die wenigen Stufen hinunter und ging über das beleuchtete Vorfeld auf das Gebäude zu. Es hatte nur eine rote Tür, die sich öffnete, als ich bis auf fünf Meter herangekommen war. Eine junge Frau in einem schwarzen Nadelstreifenkostüm erschien. Blickdichte Nylonstrümpfe. Gute Schuhe. Eine noch ziemlich junge Frau. Ich schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie hatte blondes Haar und grüne Augen und ein herzförmiges Gesicht, auf dem ein freundliches Willkommenslächeln stand.

Sie sagte: »Ich bin Casey Nice.«

Ich fragte: »Casey was?«

»Nice.«

»Ich bin Jack Reacher.«

»Ja, ich weiß. Ich arbeite im Außenministerium.«

»In D.C.?«

»Nein, hier«, sagte sie.

Was irgendwie logisch war. Die Special Forces stellten den bewaffneten Arm der CIA dar, die wiederum die Einsatztruppe des Außenministeriums war, und es gab bestimmte Entscheidungen, die von allen dreien gemeinsam getroffen werden mussten. Daher ihre Anwesenheit auf dem Stützpunkt, auch wenn sie sehr jung für diesen Job wirkte. Vielleicht war sie ein Verhandlungsgenie. Irgendeine Art Wunderkind. Ich fragte sie: »Ist Shoemaker hier?«

Sie sagte: »Kommen Sie, wir wollen reingehen.«

Sie führte mich in einen kleinen Raum mit Drahtglasfenstern. Möbliert war er mit drei Sesseln, die nicht zusammenpassten, alle ein bisschen traurig und verlassen. Miss Nice bot mir mit einer Handbewegung einen davon an und nahm mir gegenüber Platz.

Ich fragte: »Wozu bin ich hier?«

Sie sagte: »Als Erstes müssen Sie verstehen, dass alles, was Sie ab jetzt hören, streng geheim ist. Auf Verstöße gegen Geheimhaltungsvorschriften stehen schwere Strafen.«

»Wieso sollten Sie mir Geheimnisse anvertrauen? Sie kennen mich überhaupt nicht. Sie wissen nichts über mich.«

»Ihre Personalakte war im Umlauf. Sie hatten eine Sicherheitsfreigabe. Die ist nie widerrufen worden. Sie sind nach wie vor daran gebunden.«

»Kann ich jetzt gehen?«

»Uns wär’s lieber, wenn Sie blieben.«

»Wozu?«

»Wir wollen mit Ihnen reden.«

»Das Außenministerium?«

»Sind Sie bereit, sich an die Geheimhaltungsvorschriften zu halten?«

Ich nickte. »Was will das Außenministerium von mir?«

»Wir haben bestimmte Verpflichtungen.«

»In welcher Beziehung?«

»Jemand hat auf den französischen Präsidenten geschossen.«

»In Paris.«

»Die Franzosen haben um internationale Unterstützung gebeten bei der Fahndung nach dem Täter.«

»Ich war’s nicht. Ich war in L. A.«

»Wir wissen, dass Sie’s nicht waren. Sie stehen nicht auf der Liste.«

»Es gibt eine Liste?«

Statt meine Frage zu beantworten, griff sie in die Innentasche ihrer Kostümjacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das sie mir übergab. Es war von ihrem Körper warm und leicht gebogen. Aber es war keine Liste, sondern die Zusammenfassung des Berichts unserer Botschaft in Paris. Vermutlich von dem CIA-Stationsleiter verfasst. Die nüchternen Details des Anschlags.

Die Entfernung war ungewöhnlich gewesen. Der dreizehnhundert Meter entfernte Balkon einer Wohnung war als Versteck des Schützen identifiziert worden. Der französische Präsident hatte im Freien auf einem Podium hinter dicken Panzerglasscheiben gestanden. Aus irgendeinem verbesserten neuen Material. Außer ihm selbst hatte niemand den Schuss gesehen. Er hatte einen unwahrscheinlich fernen Mündungsblitz wahrgenommen – klein, hoch und weit links –, und drei Sekunden später war auf dem Glas ein winziger weißer Stern erschienen. Ein weiter, weiter Schuss. Aber das Glas hatte gehalten und das einschlagende Geschoss sofortige Reaktionen ausgelöst: Der Präsident wurde augenblicklich unter einer Traube von Leibwächtern begraben. Später waren Metallsplitter gefunden worden, die auf ein panzerbrechendes Geschoss Kaliber .50 schließen ließen.

Ich sagte: »Ich stehe nicht auf der Liste, weil ich nicht gut genug bin. Bei einem nur kopfgroßen Ziel sind dreizehnhundert Meter eine verdammt weite Entfernung. Das Geschoss ist volle drei Sekunden lang in der Luft. Als ließe man einen Stein in einen sehr tiefen Brunnen fallen.«

Casey Nice nickte. »Die Liste ist sehr kurz. Deshalb sind die Franzosen besorgt.«

Sie waren nicht gleich besorgt gewesen. Das war offensichtlich. Dem Bericht nach hatten sie die ersten vierundzwanzig Stunden damit verbracht, sich zu ihren Absperrmaßnahmen, die eine so große Schussentfernung erzwungen hatten, und ihrem neuen Panzerglas zu gratulieren. Dann hatte die Realität sich durchgesetzt, und sie begannen hektisch herumzutelefonieren. Wer kannte einen Scharfschützen, der so gut war?

»Bullshit«, sagte ich.

Casey Nice fragte: »Welcher Teil?«

»Sie machen sich nichts aus den Franzosen. Nicht so viel. Sie hätten vielleicht ein paar mitfühlende Worte gefunden und Praktikanten eine Ausarbeitung darüber schreiben lassen. Aber dieser Bericht hat O’Day vorgelegen. Mindestens fünf Sekunden. Was bedeutet, dass die Sache wichtig ist. Und dann haben Sie binnen achtundzwanzig Minuten einen SEAL auf mich angesetzt und mich danach mit einer Privatmaschine quer über Amerika geflogen. Der SEAL und das Flugzeug haben offensichtlich in Bereitschaft gestanden, aber ebenso offensichtlich wussten Sie nicht, wo ich mich aufhielt oder wann ich anrufen würde, sodass überall im Land Tag und Nacht SEALs und Privatjets bereitgestanden haben müssen. Für alle Fälle. Und wenn Sie diesen Aufwand für mich getrieben haben, bin ich nicht der Einzige. Hier läuft das volle Programm ab.«

»Es würde alles komplizieren, wenn der Schütze ein Amerikaner wäre.«

»In welcher Beziehung?«

»Wir hoffen, dass es keiner war.«

»Was kann ich also für Sie tun, das ein Privatflugzeug wert ist?«

Ihr Handy klingelte in ihrer Tasche. Sie meldete sich, hörte kurz zu und steckte das Smartphone wieder ein. Sie sagte: »Das erklärt Ihnen General O’Day. Er hat jetzt Zeit für Sie.«

3

Casey Nice führte mich in ein Dienstzimmer im ersten Stock. Das Gebäude war abgenutzt, schien nur vorübergehend eingerichtet zu sein. Ein Kerl wie O’Day war ständig unterwegs. Einen Monat hier, einen Monat dort, in provisorischen Unterkünften mit sinnlosen Bezeichnungen wie 47th Logistics, TacticalSupport Command. Für den Fall, dass jemand ihn beobachtete. Oder weil jemand ihn beobachtete, würde er sagen. Irgendjemand beobachtete einen immer. Trotzdem hatte er lange überlebt.

Er saß hinter einem Schreibtisch, an dessen Seite Shoemaker Platz genommen hatte, wie es einem guten Stellvertreter zustand. Shoemaker war zwanzig Jahre gealtert, was mich nicht verwunderte, weil ich ihn vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen hatte. Er hatte zugenommen. Sein rotblondes Haar war jetzt eher aschblond und sein pausbäckiges Gesicht gerötet. Er trug einen Kampfanzug mit Tarnmuster und einem auffällig großen Stern auf den Schulterklappen.

O’Day schien überhaupt nicht gealtert zu sein. Er sah noch immer wie hundert aus. Und er trug, was er immer getragen hatte: einen fadenscheinigen schwarzen Blazer über einem Pullover mit V-Ausschnitt, der ebenfalls schwarz und schon so oft gestopft war, dass die geflickten Stellen überwogen. Das bewies, dass auch Mrs. O’Day gesund und munter war, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand für ihn Nadel und Stopfgarn in die Hand genommen hätte.

Auf seinem hohlwangigen Gesicht lag ein schwaches Lächeln, als er mich mit ausdruckslosem Blick betrachtete und sagte: »Freut mich, Sie wiederzusehen, Reacher.«

Ich sagte: »Ihr Glück, dass ich keinen wichtigen Termin hatte. Sonst würde ich mich beschweren.«

Er äußerte sich nicht dazu. Ich setzte mich auf einen Metallklappstuhl, anscheinend aus Navy-Beständen, und Casey Nice nahm neben mir Platz.

O’Day fragte: »Hat sie Ihnen gesagt, dass dies alles geheim ist?«

»Ja«, erwiderte ich, und Casey Nice nickte nachdrücklich, als wollte sie bestätigen, dass sie seinen Auftrag ausgeführt hatte. So wirkte O’Day auf Untergebene.

Er fragte mich: »Haben Sie den zusammenfassenden Bericht gelesen?«

Ich sagte: »Ja«, und Casey Nice nickte nochmals.

Er sagte: »Was halten Sie davon?«

Ich sagte: »Der Kerl ist ein verdammt guter Schütze, denke ich.«

»Stimmt«, meinte O’Day. »Das muss er sein, wenn er seinen Auftraggebern einen garantierten Treffer mit nur einem Schuss aus dreizehnhundert Metern verkauft hat.«

Das war eine für O’Day typische Äußerung. Sokratisch nannte man so was im College. Ein intellektuelles Hin und Her, um Wahrheiten zu verkünden, die jedem vernunftbegabten Wesen bewusst waren. Ich sagte: »Er hat nicht einen Treffer mit nur einem Schuss garantiert. Geplant waren zwei mit zwei Schüssen. Der erste sollte das Glas zersplittern lassen, der zweite tödlich treffen. Wäre das Glas zersplittert, hätte er noch mal geschossen. Eine blitzschnell zu treffende Entscheidung. Noch mal abdrücken oder verschwinden. Eine eindrucksvolle Leistung. War das Geschoss tatsächlich panzerbrechend?«

O’Day nickte. »Das hat die Untersuchung mit dem Gaschromatografen ergeben.«

»Haben wir solches Glas für unseren Präsidenten?«

»Das bekommen wir morgen.«

»Hatte es wirklich Kaliber .50?«

»Auch das ist nachgewiesen.«

»Das macht alles noch eindrucksvoller. Dafür braucht man ein großes hässliches Gewehr.«

»Das Ziele noch in sechzehnhundert Metern Entfernung treffen kann, in Afghanistan einmal sogar aus über zwei Kilometern Entfernung. Also sind dreizehnhundert Meter vielleicht doch nicht so sensationell.«

Sokratisch.

Ich sagte: »Zweimal aus dreizehnhundert Metern zu treffen, ist weit schwieriger als einmal aus größerer Entfernung, denke ich. Hier geht’s um Wiederholbarkeit. Der Kerl hat Talent.«

»Genau«, sagte O’Day. »Glauben Sie, dass er irgendwo beim Militär war?«

»Natürlich. Nur dort kann man so gut werden.«

»Glauben Sie, dass er noch irgendwo beim Militär ist?«

»Nein. Das würde ihn zu sehr einengen.«

»Ganz Ihrer Meinung.«

Ich fragte: »Wissen wir bestimmt, dass er seine Leistung verkauft hat?«

»Wie groß ist die Chance, dass ein Wutbürger früher mal ein erstklassiger Scharfschütze war? Wahrscheinlicher ist, dass dieser Wutbürger auf dem freien Markt etwas Geld ausgegeben hat. Vielleicht eine kleine Gruppe von Wutbürgern. Mit anderen Worten eine Interessengruppe. Die dann natürlich mehr Geld aufbringen könnte.«

»Was kümmert uns das? Die Zielperson war ein Franzose.«

»Das Geschoss war amerikanisch.«

»Woher wissen wir das?«

»Das sagt uns der Gaschromatograf. Vor einigen Jahren ist eine Vereinbarung getroffen worden, von der die Öffentlichkeit nicht viel erfahren hat. Tatsächlich überhaupt nichts. Jeder Hersteller verwendet eine bestimmte Legierung. Die Unterschiede sind gering, aber messbar. Wie eine Signatur.«

»Die halbe Welt kauft amerikanische Munition.«

»Dieser Kerl ist neu in der Szene, Reacher. Sein Profil ist noch nirgends aufgetaucht. Dies war sein erster Job. Er macht sich hier einen Namen. Mit einem verdammt schwierigen Auftrag. Er muss mit einer Kaliber-fünfzig-Kanone zweimal rasch nacheinander aus dreizehnhundert Metern Entfernung treffen. Schafft er das, ist er für den Rest seines Lebens in der Major League. Trifft er nicht, bleibt er ewig in der Bush League. Das ist viel zu riskant. Der Einsatz ist einfach zu hoch. Aber er schießt trotzdem. Was bedeutet, dass er wusste, dass er treffen würde. Zweimal mit totalem Selbstvertrauen aus dreizehnhundert Metern. Wie viele Scharfschützen dieser Klasse gibt es?«

Das war eine sehr gute Frage. Ich sagte: »Ehrlich? Unter uns? So gut? Ich glaube, dass wir uns glücklich schätzen könnten, in jeder Generation einen bei den SEALs, zwei bei den Marines und zwei in der Army zu haben. Also fünf in allen Teilstreitkräften.«

»Aber Sie haben eben bestätigt, dass er nicht beim Militär ist.«

»Deshalb gibt es fünf weitere Männer aus der vorigen Generation: noch nicht lange draußen, alt genug, um nichts mit sich anzufangen zu wissen, aber noch jung genug, um gut zu funktionieren. Das sind die Kerle, nach denen Sie fahnden sollten.«

»Das wären Ihre Kandidaten? Die vorige Generation?«

»Ich sehe nicht, wer sonst dafür geeignet wäre.«

»Und wie viele Staaten kommen tatsächlich für solche Jobs infrage?«

»Mit uns vielleicht fünf.«

»Bei durchschnittlich fünf Kandidaten in jedem Land wären das weltweit fünfundzwanzig. Korrekt?«

»Grob geschätzt.«

»Durchaus nicht. Fünfundzwanzig ist die exakte Anzahl von ehemaligen Elitescharfschützen, die Geheimdiensten in aller Welt bekannt ist. Glauben Sie, dass ihre Regierungen sie penibel überwachen lassen?«

»Bestimmt.«

»Und wie viele dieser Männer hätten Ihrer Meinung nach für jeden beliebigen Tag ein felsenfestes Alibi?«

Weil sie sehr sorgfältig überwacht wurden, sagte ich: »Zwanzig?«

»Einundzwanzig«, antwortete O’Day. »Also haben wir’s mit vier Kerlen zu tun. Und damit beginnen die diplomatischen Probleme. Wir gleichen vier Kerlen in einem Raum, die sich gegenseitig anstarren. Und ich kann’s nicht brauchen, dass die Munition von hier war.«

»Einer der unseren ist nicht nachweisbar?«

»Nicht hundertprozentig.«

»Wer?«

»Wie viele so gute Scharfschützen kennen Sie?«

»Keinen«, sagte ich. »Ich hänge nicht mit Scharfschützen rum.«

»Wie viele haben Sie jemals gekannt?«

»Einen«, sagte ich. »Aber der war’s offenbar nicht.«

»Und das wissen Sie, weil?«

»Weil er im Gefängnis sitzt.«

»Und das wissen Sie, weil?«

»Weil ich ihn hinter Gitter gebracht habe.«

»Er hat fünfzehn Jahre bekommen, richtig?«

»Meiner Erinnerung nach.«

»Wann?«

Sokratisch. Ich rechnete im Kopf nach. So viele Jahre. So viel Wasser unter der Brücke. So viele verschiedene Orte, verschiedene Leute. Ich sagte: »Scheiße.«

O’Day nickte.

»Vor sechzehn Jahren«, sagte er. »Wie die Zeit verfliegt, wenn man sich gut amüsiert.«

»Er ist wieder draußen?«

»Seit einem Jahr.«

»Wo ist er?«

»Nicht zu Hause.«

4

John Kott war der einzige Sohn eines tschechischen Emigrantenpaars, das im Kalten Krieg vor dem kommunistischen Regime flüchtete und sich in Arkansas niederließ. Seine drahtige osteuropäische Erscheinung passte gut zu den ärmlichen einheimischen Jugendlichen, mit denen er als einer der ihren aufwuchs. Sah man von seinem Namen und seinen slawischen Wangenknochen ab, hätte er ein Cousin fast aller sein können. Mit sechzehn konnte er Eichhörnchen, die außer ihm fast keiner sah, von weit entfernten Bäumen schießen. Mit siebzehn erschoss er seine Eltern – zumindest nach Überzeugung des County Sheriffs. Es gab keinen handfesten Beweis, aber reichlich Verdachtsmomente. Das alles schien den Werber der U. S. Army, bei dem er ein Jahr später unterschrieb, nicht sonderlich zu stören.

Kott war für einen hageren, drahtigen Kerl außergewöhnlich ruhig und still. Er konnte seinen Puls auf wenig über dreißig absenken und stundenlang in Stellung liegen, ohne sich zu bewegen. Er sah übermenschlich gut. Mit anderen Worten: Er war der geborene Scharfschütze. Das erkannte sogar die U. S. Army. Er wurde auf mehrere Spezialschulen geschickt und anschließend zur Delta Force versetzt. Dort baute er seine Talente durch unermüdliche harte Arbeit aus und entwickelte sich in dieser zwielichtigen Black-ops-Welt zu einem Star.

Für einen Soldaten der Special Forces ungewöhnlich war jedoch, dass in seinem Kopf die Trennung zwischen dienstlichen und privaten Belangen nicht hundertprozentig funktionierte. Um einen Menschen aus tausend Metern zu erschießen, braucht man mehr als nur Talent und sportliche Fähigkeiten. Dazu benötigt man die Erlaubnis des ältesten Teils des Gehirns, in dem grundlegende Hemmungen entweder verstärkt oder gelockert werden. Der Schütze muss wirklich glauben: Das ist in Ordnung. Er ist dein Feind. Du bist besser als er. Du bist der Weltbeste. Wer sich dir entgegenstellt, verdient zu sterben. Die meisten Kerle verfügen über einen Ausschalter. Doch Kotts Schalter schloss nicht ganz.

Drei Wochen nachdem in Kolumbien ein Mann in einem Gebüsch hinter einer abgelegenen Bar mit durchschnittener Kehle aufgefunden worden war, lernte ich ihn kennen. Bei dem toten Kerl handelte es sich um einen Ranger, einen Sergeant der U. S. Army. Die Bar war das Stammlokal einer von der CIA geführten Einheit der Special Forces, deren Soldaten dort ihre Freizeit verbrachten, wenn sie nicht im Dschungel Jagd auf Kartellangehörige machten. So beschränkte sich der Kreis der Verdächtigen auf sehr wenige und äußerst schweigsame Personen. Ich war damals beim 99th MP und bekam den Auftrag, den Fall aufzuklären. Aber nur, weil der Tote ein amerikanischer Militärangehöriger gewesen war. Bei einem einheimischen Zivilisten hätte das Pentagon sich das Flugticket gespart.

Alle redeten viel, aber keiner packte aus. Ich wusste, wer sich in der Bar aufgehalten hatte, ließ mir von allen den Abend schildern und erfuhr von jedem irgendeine Kleinigkeit. So konnte ich mir allmählich ein Bild machen. Ein Kerl tat dieses, ein anderer jenes. Dieser Typ ging um elf, jener um Mitternacht. Der andere saß neben dem ersten, der kein Bier, sondern Rum trank. Und so weiter und so fort. Ich legte mir die Choreografie im Kopf zurecht und passte sie immer wieder neu an, bis sich ein stimmiger Ablauf ergab.

Bis auf John Kott, der kaum mehr als ein Loch in der Luft war.

Niemand hatte besonders viel über ihn gesagt. Nichts darüber, wo er gesessen, was er getan und mit wem er geredet hatte. Er blieb mehr oder weniger unerwähnt. Das konnte alle möglichen Gründe haben – möglicherweise auch den, dass ihn zwar niemand aus seiner Einheit verpfeifen, aber auch keiner irgendwelche Dinge für ihn erfinden wollte. Irgendeine Art Ehrenkodex. Oder Mangel an Fantasie. In beiden Fällen eine kluge Wahl. Erfundene Storys werden unweigerlich enttarnt. Da ist’s besser, nichts zu sagen. So konnte in einem hypothetischen Fall ein erbitterter Streit mit einem später ermordet aufgefundenen Kerl zu … nichts werden. Zu nichts weiter als einem Loch in der Luft.

Ein schwacher Fall mit unbewiesenen Schlussfolgerungen und einem Star in der Schattenwelt geheimdienstlicher Operationen – aber zur Ehre der Army muss gesagt werden, dass sie ihn sich ansah. Und ganz richtig feststellte, dass wir ohne Geständnis nicht weiterkommen würden.

Sie ließ mich Kott in Untersuchungshaft stecken.

Bei Vernehmungen kommt es entscheidend darauf an, sich die Antworten anzuhören, und ich hörte Kott lange zu, bevor ich zu dem Schluss kam, der Mann werde von einer unglaublichen Arroganz gesteuert. Und er konnte nicht zwischen Dienst und Privatleben unterscheiden. Wer sich dir entgegenstellt, verdient zu sterben, ist ein Schlachtruf, kein Motto für den Alltag.

Aber mit solchen Leuten hatte ich mein Leben lang zu tun. Ich war das Produkt solcher Leute. Sie wollen einem alles darüber erzählen. Sie wollen, dass man ihre Motive versteht. Sie wollen, dass man sie billigt. Okay, vielleicht hatten sie theoretisch gegen irgendeine dumme kleinliche Vorschrift verstoßen, aber sie waren wichtiger als solche Bestimmungen. Das waren sie doch? Richtig?

Ich ließ ihn reden, dann trieb ich ihn in die Enge und rang ihm das Geständnis ab, irgendwann an diesem Abend mit dem später Ermordeten geredet zu haben. Daraus ergab sich zügig alles Weitere. Aber die Sache war keineswegs ein Selbstläufer, sondern erforderte weiter harte Arbeit.

Zwei Stunden später unterschrieb er eine lange, detaillierte Aussage. Der später Ermordete hatte ihn im Prinzip einen Schlappschwanz genannt. Dummes Gerede, das aus dem Ruder gelaufen war. Irgendeine Reaktion hätte erfolgen müssen. Manche Dinge waren einfach unentschuldbar. Stimmt’s?

Weil Kott ein Star und dies ein Geheimunternehmen war, profitierte er von einem Deal: Geständnis gegen mildere Strafe. Fünfzehn Jahre für Totschlag im Affekt. Mir war das nur recht. Weil es kein Kriegsgerichtsverfahren gab, verbrachte ich die gewonnene Woche auf den Fidschiinseln und lernte dort eine unvergessliche Australierin kennen. Also hatte ich keinen Grund, mich zu beschweren.

O’Day sagte: »Wir dürfen nicht von unbewiesenen Annahmen ausgehen. Nichts deutet darauf hin, dass er jemals wieder eine Waffe auch nur angesehen hat.«

»Aber er steht auf der Liste?«

»Logischerweise.«

»Wie hoch sind die Chancen?«

»Eins zu vier, versteht sich.«

»Würden Sie darauf wetten?«

»Ich behaupte nicht, dass er unser Mann ist. Ich stelle nur fest, dass er mit fünfundzwanzigprozentiger Wahrscheinlichkeit der Täter ist.«

»Wer steht noch auf der Liste?«

»Ein Russe, ein Israeli, ein Brite.«

Ich sagte: »Kott hat fünfzehn Jahre lang gesessen.«

O’Day nickte und meinte: »Überlegen wir also, wie sich das bei ihm ausgewirkt haben dürfte.«

Wieder eine sehr gute Frage. Was konnten fünfzehn Jahre hinter Gittern einem Scharfschützen antun? Gutes Schießen basiert auf allen möglichen Voraussetzungen. In der Haft konnte seine Körperbeherrschung gelitten haben. Gutes Schießen setzt voraus, dass man weich und hart zugleich ist. Weich genug, um winzige Zitterbewegungen abzufangen; hart genug, um eine gewaltige Detonation zu kontrollieren. Auch seine körperliche Verfassung konnte Schaden genommen haben, denn zu dem Deal gehören ebenso langsamer Herzschlag und gutes Lungenvolumen.

Letztlich sagte ich jedoch: »Sehvermögen.«

O’Day fragte: »Weil?«

»Was er in den letzten fünfzehn Jahren zu sehen bekommen hat, war alles sehr nahe. Hauptsächlich Mauern. Selbst beim Hofgang. Seit er ein junger Mann war, haben seine Augen kein weit entferntes Objekt mehr fixiert.« Das klang gut, fand ich. Mir gefiel die mentale Vorstellung. Kott, der weich geworden war, jetzt vielleicht sogar ein bisschen zittrig, leicht gebeugt und mit Brille.

Dann las O’Day mir eine Passage aus dem Entlassungsbericht vor.

Auch wenn John Kott aus Tschechien stammte und in Alabama aufgewachsen war, hatte er seine fünfzehn Jahre hinter Gittern wie ein mythischer orientalischer Weiser verbracht. Er hatte Yoga und Meditation praktiziert, täglich ein wenig trainiert, um kräftig und beweglich zu bleiben, aber auch stundenlang kaum atmend mit dem leeren Tausendmeterblick dagesessen, den er laut eigener Aussage üben musste.

O’Day erklärte: »Ich habe ein bisschen herumgefragt. Vor allem bei den Frauen, die hier arbeiten. Sie sagen, dass Kotts Yoga auf Stille und entspannter Kraft basiert. Man blendet sich immer weiter aus, dann nimmt man – peng! – die nächste Stellung ein. Das gilt auch für seine Meditation. Vergiss, was dich bedrückt. Stell dir deinen Erfolg vor.«

»Soll das heißen, dass er besser aus dem Gefängnis raus- als reingegangen ist?«

»Er hat fünfzehn Jahre hart an sich gearbeitet. Auf einzigartig konzentrierte Weise. Und ein Gewehr ist schließlich nur ein Werkzeug aus Metall. Erfolg entsteht durch das Zusammenwirken von Geist und Körper.«

»Wie hätte er nach Paris kommen können? Besitzt er überhaupt einen Reisepass?«

»Denken Sie an die Gruppe Unzufriedener. Denken Sie an ihre gebündelte Finanzkraft. Ein gefälschter Reisepass ist ihr geringstes Problem.«

»Als ich ihn zuletzt gesehen habe, hat er sein Geständnis unterschrieben. Das war offenbar vor über sechzehn Jahren. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen jetzt helfen könnte.«

»Ich darf nichts unversucht lassen.«

»Und was könnte ich dazu beitragen?«

»Sie haben ihn schon einmal geschnappt«, sagte O’Day. »Notfalls schaffen Sie das wieder.«

5

An dieser Stelle mischte Shoemaker sich ein, als wäre der Überblick abgeschlossen und jetzt Zeit für die Einzelheiten. Viel hing vom Motiv für den Anschlag ab. Bestimmte Kreise würden niemals einen Israeli engagieren, was die Chancen auf eins zu drei verbessert hätte, aber offenbar sah der Israeli irgendwie irisch aus und trug einen neutralen Decknamen. Vielleicht wussten die Gruppen das nicht, was Verwirrung stiften konnte. Aber letztlich war die Suche nach einem Tatmotiv eingestellt worden. Die Liste des Außenministeriums mit Franzosenhassern war ziemlich lang. Daher wurden alle vier Verdächtigen gleichbehandelt. Profiling war nicht gestattet.

Ich wandte mich an Casey Nice und sagte: »Das ist noch immer Bullshit.«

Wie zuvor fragte sie: »Welcher Teil?«

»Der gleiche. Dies ist alles weit übertrieben. Sie würden nicht auf die Franzosen pissen, wenn sie in Flammen stünden – und trotzdem sind Sie hier. Sie tun so, als wäre dies ein zweites Pearl Harbor. Wieso? Was könnte Frankreich gegen uns unternehmen? Uns keinen Käse mehr schicken?«

»Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als unternähmen wir nichts.«

»Sie sind praktisch unsichtbar. Ziehen von Ort zu Ort und verstecken sich hinter gefälschten Schildern. Was gut ist. Kein Beobachter aus irgendeiner Botschaft kann herausfinden, wer Sie sind oder was Sie tun. Nicht mal aus der französischen Botschaft. Die weiß nicht, ob Sie helfen oder nicht. Wozu machen Sie sich also die Mühe?«

»Hier geht’s um unseren Ruf.«

»Die Chancen stehen eins zu vier, dass ein vorbestrafter Amerikaner irgendwo auf der Welt freiberuflich seine Dienste anbietet. Er wird nicht der Erste sein und bestimmt nicht der Letzte. Diese kleine Beschädigung verkraftet unser Ruf ohne Weiteres, besonders weil der Franzose noch lebt. Kein Schaden, kein Foul.«

O’Day hob abwehrend eine Hand und sagte: »Die politischen Entscheidungen treffen andere.«

»Als die zuletzt auf den Kongress gehört haben, war Abraham Lincoln ein Junge in kurzer Hose.«

»Aber auf wen höre ich?«

»Auf den Präsidenten«, sagte ich knapp.

O’Day sagte: »Alle sind auf die Franzosen wütend, was sich letztlich so auswirkt, als wäre niemand auf sie wütend. Keiner hatte einen speziellen Grund, den Kerl umzulegen. Nicht dieses Jahr. Nicht mehr als sonst. Deshalb sind die klugen Leute sich darüber einig, dass dies ein Vorspiel war. Unser Knabe wollte sich bewähren, sich für Größeres qualifizieren. Und wer könnte das sein? Das weiß niemand, aber alle wetten darauf, dass sie’s sind. Und warum auch nicht? Sie gehören zu den wichtigsten Menschen der Welt. In nächster Zeit wollen sich die Staats- und Regierungschefs der EU treffen, bevor G8- und G20-Treffen auf dem Programm stehen. Dort kommen zwanzig Spitzenpolitiker zusammen. Alle stellen sich für ein Gruppenfoto auf. Sie stehen still und lächeln. Vermutlich auf den Stufen vor irgendeinem öffentlichen Gebäude. Sie alle möchten nicht, dass ein Kerl, der aus über tausend Metern treffen kann, frei herumläuft.«

»Die Politiker wollen ihren Arsch retten?«

»Buchstäblich. Auf der ganzen Welt.«

»Auch unser Mann?«

»Was er persönlich denkt, spielt keine Rolle. Der Secret Service flippt stellvertretend für ihn aus.«

»Daher der Privatjet für mich.«

»Geld spielt keine Rolle.«

»Aber nicht nur ich, stimmt’s? Bitte sagen Sie mir, dass Sie sich nicht nur auf einen Mann verlassen.«

O’Day entgegnete: »Wir bekommen alle Hilfe, die wir brauchen.«

Ich meinte: »Kott war’s wahrscheinlich nicht.«

»Drei von ihnen sind’s garantiert nicht. Wollen Sie würfeln oder sich an die Arbeit machen?«

Ich gab keine Antwort. Shoemaker erklärte mir, ich würde in der Nähe untergebracht und dürfte diesen Teil des Stützpunkts nicht verlassen. Sollte ich offiziell oder beiläufig gefragt werden, müsste ich behaupten, als ziviler Berater für Palettenversand tätig zu sein. Genügte das nicht, sollte ich sagen, ich arbeitete mit dem 47th Logistics an einem Problem in der Türkei zusammen. Was nur vernünftig war. Sobald ich die Türkei erwähnte, würden alle Fragesteller an Raketen denken, und die guten Kerle würden dann keine weiteren Fragen mehr stellen, während die bösen falsch informiert waren – aus General O’Days Sicht ein sehr wünschenswertes Ergebnis.

Ich fragte: »Wer fahndet nach den anderen drei Kerlen?«

O’Day sagte: »Ihre eigenen Leute, in ihren eigenen Ländern.«

»Nicht die Franzosen in Frankreich?«

»Sie vermuten, dass er in seine Heimat gereist ist, um dort unterzutauchen.«

»Vielleicht befindet er sich im Exil. Ein Russe, der in Frankreich lebt. Oder ein Israeli, vielleicht ein Kerl aus Großbritannien. In einem alten Bauernhaus oder einer Villa am Meer.«

»Daran haben sie vielleicht nicht gedacht.«

»Ist Kott nach Frankreich übergesiedelt?«

O’Day schüttelte den Kopf und sagte: »Er ist nach Arkansas zurückgegangen.«

»Und?«

»In den ersten Wochen haben wir sein Haus mehrmals von einer Drohne kontrollieren lassen. Dabei war nichts Verdächtiges zu erkennen. Dann wurde die Drohne anderswo gebraucht und Kott nicht weiter überwacht.«

»Und jetzt?«

»Wir haben die Drohne zurückbekommen. Sein Haus ist leer. Kein Lebenszeichen.«

Casey Nice begleitete mich zu der von Shoemaker erwähnten Unterkunft, die sich als improvisiertes kleines Dorf erwies, das aus vorgefertigten transportablen Wohncontainern bestand, deren Abmessungen den weltweit üblichen 53-Fuß-Frachtcontainern entsprachen. Knapp zweieinhalb Meter hoch und zweieinhalb Meter breit, mit herausgeschnittenen Fenstern und Türen, klimatisiert und mit angeschlossenen Strom-, Wasser- und Abwasserleitungen. Meiner war sandgelb gestrichen, vermutlich aus dem Irak zurückgeholt. Ich hatte schon schlechtere Unterkünfte. Die Nacht war angenehm mild. Frühling in North Carolina. Zu früh im Jahr, um heiß, zu spät, um noch kalt zu sein. Am Nachthimmel funkelten Sterne, an denen geisterhafte Wolkenschleier vorüberzogen.

Wir machten vor meiner Stahltür halt, und ich fragte: »Wohnen Sie auch in einem dieser Dinger?«

Casey Nice zeigte auf die nächste Reihe. »In dem weißen«, antwortete sie. Wenn sie in der First Street wohnte, war dies die Second Street. Ich fragte: »Ist dies hier das, wofür Sie unterschrieben haben?«

»Jedenfalls findet hier die Action statt«, sagte sie. »Ich bin ganz zufrieden.«

»Kott war’s wahrscheinlich nicht«, wiederholte ich. »Statistisch gesehen haben die Russen die meisten und die besten Scharfschützen und die Israelis eine Vorliebe für das Kaliber .50. Also kommen diese beiden am ehesten in Betracht.«

»Aber uns macht das Yogatraining Sorge. Kott hatte offenbar ein bestimmtes Ziel. Er wollte nach der Entlassung weitermachen können, wo er aufgehört hatte.« Sie nickte vor sich hin, als wäre ihr Auftrag damit erledigt, ließ mich stehen und ging ohne ein weiteres Wort davon. Ich öffnete meine Tür und trat ein.

Drinnen sah es genau wie in einem 53-Fuß-Frachtcontainer aus: überall glänzend weiß lackiertes Wellblech, in dem Wohnzimmer, Küche, Dusche mit Toilette und Schlafzimmer hintereinander angeordnet waren. Wie in einem altmodischen Schlafwagenabteil. Die Splitterschutzabdeckungen vor den Fenstern ließen sich heruntergeklappt als Arbeitsflächen nutzen. Der Fußboden bestand aus Birkensperrholz. Ich packte aus, indem ich meine Zahnbürste aus der Tasche holte, sie aufklappte und in ein Zahnputzglas stellte. Während ich noch überlegte, ob ich duschen solle, klopfte es an meiner Tür. Ich ging durch das vollgestellte schmale Rechteck zurück und machte auf.

Draußen stand eine weitere Frau, die ein anthrazitgraues Nadelstreifenkostüm, blickdichte Nylons und gute Schuhe trug. Sie war eher in meinem Alter und wirkte selbstbewusst und befehlsgewohnt. Ihr schwarzes Haar war von silbernen Strähnen durchzogen und sehr gut geschnitten, aber nicht gestylt oder gefärbt. Sie musste früher hübsch gewesen sein; jetzt war sie attraktiv. Sie sagte: »Mr. Reacher? Ich bin Joan Scarangello.«

Dabei streckte sie die Hand aus. Ich ergriff sie und schüttelte sie. Eine schmale, aber kräftige Hand. Kurz geschnittene Nägel, farbloser Nagellack. Keine Ringe. Ich fragte: »CIA?«

»So offensichtlich sollte es eigentlich nicht sein«, meinte sie lächelnd.

»Mit Außenministerium und Special Forces habe ich schon gesprochen. Also musste die dritte Kraft logischerweise auch bald aufkreuzen.«

»Darf ich reinkommen?«

Mein Wohnraum war zweieinhalb Meter hoch, zweieinhalb Meter breit und etwa vier Meter lang. Groß genug für zwei, aber nur knapp. Die Möbel waren auf dem Boden festgeschraubt: ein zweisitziges Sofa und zwei kleine Sessel, die eine kompakte kleine Sitzgarnitur bildeten. Wie in einem Wohnmobil oder einer Designstudie für eine neue Gulfstream-Kabine. Ich setzte mich aufs Sofa, Joan Scarangello auf einen der Sessel. Wir drehten uns beide leicht zur Seite, damit wir uns ansehen konnten.

Sie sagte: »Wir sind Ihnen für Ihre Hilfe sehr dankbar.«

Ich sagte: »Ich habe noch nichts getan.«

»Aber Sie tun bestimmt etwas, wenn’s nötig ist.«

»Gibt es das FBI nicht mehr? Ist es nicht normalerweise dafür zuständig, amerikanische Staatsbürger in den USA aufzuspüren?«

»Kott ist vielleicht nicht in Amerika. Nicht im Augenblick.«

»Dann wäre das Ihr Job.«

»Und wir arbeiten daran. Dazu gehört, dass wir uns die bestmögliche Hilfe holen. Alles andere wäre fahrlässig. Sie kennen den Mann.«

»Ich habe ihn vor sechzehn Jahren hinter Gitter gebracht. Ansonsten weiß ich nichts über ihn.«

»Die EU, dann die G8 und die G20«, erklärte sie. »Die Europäische Union, dann die acht führenden Industrienationen und die zwanzig größten Volkswirtschaften der Welt. Zahlreiche an einem Ort versammelte Staatsoberhäupter. Per Definition alle bis auf den Gastgeber auf unbekanntem Gelände. Fällt einer einem Attentat zum Opfer, ist’s ein Unglück. Gibt es mehrere Tote, ist’s eine Katastrophe. Und Sie selbst haben darauf hingewiesen, glaube ich, dass der Pariser Scharfschütze zweimal schießen wollte. Und wozu sollte er nach nur zwei Schüssen aufhören? Stellen Sie sich vor, drei oder vier würden tödlich getroffen. Völlige Lähmung wäre die Folge. Die Märkte würden weltweit einbrechen, und wir hätten wieder eine Rezession. Menschen würden hungern. Kriege könnten ausbrechen. Die ganze Welt könnte ins Chaos fallen.«

»Vielleicht sollten sie ihre Gipfeltreffen absagen.«

»Das Ergebnis bliebe gleich. Die Welt muss regiert werden. Das geht nicht nur am Telefon.«

»Aber bestimmt ein, zwei Monate lang.«

»Wer sollte das vorschlagen? Wer blinzelt als Erster? Wir, von den Russen beobachtet? Die Russen, von uns beobachtet? Die Chinesen, von allen beobachtet?«

»Das ist also eine Testosteronsache?«

Joan Scarangello fragte: »Was ist das nicht?«

Ich antwortete: »Weil wir gerade davon reden, dass die Welt regiert werden muss … Ich habe nicht mal ein Handy.«

Sie fragte: »Möchten Sie eins?«

»Ich will darauf hinaus, dass John Kott ein Mann ist, mit dem ich vor sechzehn Jahren mal einen Tag lang zu tun hatte. Ich habe keine Ressourcen, keine Nachrichtenmittel, keine Datenbanken, keine Systeme, überhaupt nichts.«

»Über all das verfügen wir. Sie bekommen von uns alle Hinweise, die Sie brauchen.«

»Und dann schicken Sie mich los, um ihn zu erledigen?«

Sie gab keine Antwort.

Ich sagte: »Soll ich Ihnen etwas verraten, Miss Scarangello? Obwohl ich eben erst angekommen bin, bin ich nicht von gestern. Wenn Kott der Kerl ist, soll ich tollpatschig durch die Gegend tapsen, damit seine Geldgeber versuchen, mich beseitigen zu lassen. Interessierte Kreise, wie O’Day sie gern nennt. Ich soll sie aus der Deckung locken. Das ist alles. Ich bin nur ein Köder.«

Sie gab keine Antwort.

Ich sagte: »Oder vielleicht wollen Sie, dass Kott selbst Jagd auf mich macht. Schließlich ist er verdammt wütend auf mich. Ich habe ihn für fünfzehn lange Jahre hinter Gitter gebracht. Das muss seine Lebensplanung ziemlich durcheinandergebracht haben. Ich denke, dass er entsprechend sauer auf mich ist. Vielleicht hat der ganze Yogazirkus nicht der Verbesserung seiner Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sondern vor allem mir gegolten.«

»Niemand hält Sie für einen bloßen Köder.«

»Bullshit. Tom O’Day denkt an alles und wählt das billigste und effektivste Mittel.«

»Haben Sie Angst?«

»Kennen Sie irgendwelche Infanteristen?«

»Hier auf dem Stützpunkt gibt’s viele.«

»Reden Sie mit denen. Infanteristen halten allen möglichen Scheiß aus. Sie hausen frierend, nass, schlammig, hungernd in Löchern im Erdboden, werden mit Granatwerfern, Artillerie und Raketen beschossen, müssen Angriffe mit Bomben, Giftgas und Lenkwaffen aushalten und haben alldem nichts entgegenzusetzen als Stacheldraht und MG-Nester. Aber wissen Sie, was sie am meisten fürchten?«

»Scharfschützen«, sagte sie.

»Korrekt«, sagte ich. »Willkürlicher Tod, aus dem Nichts, jederzeit, überall, ohne Ankündigung, ohne Vorwarnung. Zu jeder Minute jedes Tages. Pausenlos. Irgendwann wird der Stress unerträglich. Manche drehen davon tatsächlich durch. Und ich kann verstehen, weshalb. Im Augenblick sitze ich hier in einer kleinen Metallbox, und das gefällt mir schon besser, als gesund für mich ist.«

»Ich habe Ihren Bruder gekannt«, sagte Scarangello.

»Wirklich?«

Sie nickte. »Joe Reacher. Ich war eine junge Agentenführerin und er in der Army beim Nachrichtendienst. Wir haben in einem Fall zusammengearbeitet.«

»Und jetzt werden Sie mir erzählen, er habe gut über mich gesprochen, mich den toughsten Hundesohn weit und breit genannt. Sie werden einen Toten instrumentalisieren, der sich nicht mehr wehren kann.«

»Tut mir leid, dass er tot ist. Aber er hat gut über Sie geredet.«

»Wäre Joe hier, würde er mir raten, diese Sache möglichst schnell hinter mir zu lassen. Schließlich war er beim Nachrichtendienst. Und er hat auch O’Day gekannt.«

»Sie mögen O’Day nicht, stimmt’s?«

»Ich finde, jemand sollte ihm einen Orden verleihen, ihm eine Kugel in den Kopf jagen und eine Brücke nach ihm benennen.«

»Vielleicht war Ihre Reaktivierung keine gute Idee.«

»Mich wundert, dass er noch im Geschäft ist.«

»Solche Dinge machen ihn unentbehrlich. Mehr denn je. Er steht absolut im Brennpunkt.«

Ich schwieg.

Joan Scarangello sagte: »Wir können Sie nicht zum Bleiben zwingen.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Ich bin Rick Shoemaker einen Gefallen schuldig«, entgegnete ich. »Also bleibe ich erst mal da.«

Berechenbar.

6

Scarangello verließ wenig später die Metallbox und hinterließ den schwachen Duft eines teuren Parfüms. Ich ging unter die Dusche und ins Bett. O’Day hatte die Gewohnheit, jeden Tag mit einer Besprechung zu beginnen, und ich wollte gleich nach dem Frühstück dort sein. Nur ich konnte keines finden. Beim ersten Tageslicht sah ich, dass wir uns in einer entfernten Ecke von Pope Field befanden, das riesig war. Ich rechnete mir aus, dass ich mich vermutlich über eine Meile, sogar vielleicht über fünf Meilen von der nächsten Kantine entfernt aufhielt. Und ich konnte mich nicht frei bewegen. Unbefugt zu Fuß in Fort Bragg unterwegs zu sein war nicht die cleverste Idee. Nicht unter den gegebenen Umständen. Eigentlich unter gar keinen Umständen.

Also ging ich zu der roten Tür zurück und traf Casey Nice in einem Raum mit einem Tisch an. Der Tisch bog sich unter dem Gewicht von Muffins, Gebäck auf Papptellern und großen Cateringboxen mit Kaffee. Dunkin’ Donuts, aber nicht aus einer Heeresbäckerei. Privates Catering. Reformen. Alles, um einen Dollar zu sparen.

Casey Nice fragte: »Gute Unterkunft?«

Ich antwortete: »Besser, als in einem hohlen Baumstamm zu schlafen.«

»Tun Sie das normalerweise?«

»Redewendung«, sagte ich.

»Aber Sie haben gut geschlafen?«

»Erstklassig.«

»Haben Sie gestern noch mit jemandem gesprochen?«

»Mit einer Frau namens Joan Scarangello.«

»Gut.«

»Wer ist sie genau?«

»Die Stellvertreterin des stellvertretenden Direktors der Operationsabteilung.«

Das klang nicht nach hohem Rang, aber dieser Eindruck trog. Als D-DDO, wie sie im CIA-Sprech hieß, gehörte Scarangello zum höchsten Führungszirkel ihres Dienstes. Eine von zehn bis zwölf der am besten informierten und vernetzten Personen der Welt. Ihr natürlicher Lebensraum würde ein Büro in Langley sein, das ungefähr achtmal so groß wie mein Wohncontainer war – vermutlich mit mehr Telefonen auf dem Schreibtisch, als ich je im Leben gesehen hatte. Ich sagte: »Die dort oben nehmen diese Sache wirklich ernst, was?«

»Das müssen sie, finden Sie nicht auch?«

Ich gab keine Antwort, und dann kam Scarangello selbst herein. Sie nickte grüßend, griff sich ein Stück Teegebäck und einen Becher Kaffee und verschwand wieder. Ich nahm zwei Stück Gebäck, einen leeren Pappbecher und eine ganze Kaffeebox, um sie mit dem Ausgießer zu mir an die Konferenztischkante zu stellen. So konnte ich mir nachschenken, wann immer ich wollte. Wie ein Alkoholiker hinter einer Bartheke.

Die Morgenbesprechung fand in einem Raum neben Tom O’Days Dienstzimmer im ersten Stock statt. Nichts Luxuriöses, nur vier zusammengeschobene einfache Tische, die ein Quadrat bildeten, und acht Stühle für uns fünf. Shoemaker, O’Day und Scarangello hatten ihre Plätze bereits eingenommen. Casey Nice setzte sich neben Scarangello, und ich entschied mich für einen Platz, an dem ich auf beiden Seiten einen leeren Stuhl neben mir hatte. Ich rückte die Kaffeebox zurecht und biss in ein Stück Teekuchen.

Shoemaker ergriff als Erster das Wort. Er trug wieder einen Arbeitsanzug mit dem großen Stern, was keine Überraschung war, aber seine einleitende Analyse hörte sich scharfsinnig genug an, um zu suggerieren, dass er sich die Beförderung verdient hatte. Er führte aus: »Die polnische Regierung spricht davon, überraschend Neuwahlen ansetzen zu wollen, und die Griechen haben das anscheinend auch vor. Das sieht nach Demokratie in Aktion aus, aber bei genauerem Hinsehen enthält die europäische Verfassung einen Passus, dass Gipfelkonferenzen verschoben werden können, wenn in zwei oder mehr Mitgliedsstaaten Wahlen anstehen. Mit anderen Worten: Sie flüchten in die Berge. Die Staatschefs der Europäischen Union werden also nicht zusammentreffen. Damit sind wir beim G8-Gipfel in drei Wochen angelangt, der weiterhin auf dem Plan steht. Also dürften der Zeitpunkt und die Zielpersonen feststehen.«

Ich holte Luft, um zu sprechen, aber O’Day streckte mir einen hageren Arm mit erhobener Handfläche entgegen, als würde er einem Hund »Platz!«, befehlen, und sagte: »Sie wollen uns warnen, dass wir hier von einer sehr gewichtigen Annahme ausgehen und die wahre Zielperson jemand ganz anderer sein könnte. Das ist korrekt, aber Sie müssen bitte verstehen, dass uns keine andere interessiert. Gilt der Anschlag sonst jemandem, tanzen wir hier auf den Tischen. Aber bis dahin gehen wir für operative Zwecke davon aus, dass der geplante Mordanschlag auf einen Spitzenpolitiker eine schon bewiesene Tatsache ist.«

Ich sagte: »Ich wollte fragen, wer die G8 sind.«

Das schien eine dämliche Frage zu sein, denn alle rutschten unruhig hin und her, aber keiner antwortete. Zuletzt sagte Casey Nice: »Wir und Kanada, Großbritannien und Frankreich, Deutschland und Italien, Japan und Russland.«

Ich sagte: »Das sind nicht die acht größten Volkswirtschaften der Welt.«

»Sie waren es mal«, erklärte Scarangello. »Manche Dinge sind wie in Stein gehauen.«

»Hat der Anschlag persönliche oder nationalistische Gründe, könnte er jeden dieser Staaten treffen. Soll er jedoch eine große terroristische Botschaft verkünden, kommt Italien bei allem Respekt wohl kaum infrage. Ich meine, wer würde das schon merken? Dort wechseln die Regierungschefs ohnehin jedes Vierteljahr. Kanada auch nicht. Den Kerl würde man nicht erkennen, wenn er einem im Supermarkt über den Weg liefe. Bei Japan sieht’s ähnlich aus. Und auch bei Frankreich. Ebenso bei Großbritannien. Der Tod des Premierministers würde die Welt nicht destabilisieren. Deutschland wäre eher problematisch, denke ich.«

Joan Scarangello nickte. »Der größte Exporteur der Welt, ein Stabilitätsanker der Europäischen Union mit einer ganz neuen Psyche, die unbedingt darauf angewiesen ist, dass keine Politiker erschossen werden. Dadurch könnte alles außer Kontrolle geraten. Und bei Deutschland wäre das ein tiefer Absturz.«

»Also kommen nur wir, Russland und Deutschland in Betracht. Das macht die Sache einfach. Es geht lediglich darum, diese drei wegzusperren. Keine frische Luft mehr für sie. Die anderen fünf können sich weiterhin frei bewegen. Oder wir schicken auch die Vizepräsidenten los, lassen sie Fototermine wahrnehmen. Das wäre sogar ein PR-Gag. Wir und die Russen haben so viel Mumm, dass wir uns das trauen.«

»Das ist der schon ausgearbeitete Plan B«, sagte O’Day. »Plan A ist, John Kott zu finden und zu hoffen, dass London, Moskau und Tel Aviv ähnlich erfolgreich sind.«

»Wissen wir irgendwas über deren Kerle?«

»Wir wissen nahezu alles über sie. Der Brite ist ein ehemaliger SAS-Angehöriger namens Carson. In Uniform hat er in aller Welt über fünfzig Männer erschossen, auch wenn das nie jemand zugeben würde, davon einen aus achtzehnhundert Metern, alles dokumentiert und verifiziert. Der Russe ist ein Mann namens Dazow. Sein erster Ausbilder hat noch in Stalingrad gekämpft, was eine harte Schule war. Bei dem Israeli handelt es sich um einen gewissen Rosan. Der beste Mann mit einem Barrett Kaliber .50, den sie jemals hatten – und das will bei den israelischen Verteidigungsstreitkräften einiges heißen.«

»Alle drei scheinen besser als Kott zu sein.«

»Nein, sie sind etwa so gut wie er. Dreizehnhundert Meter waren nichts für Kott. Bloße Routine. Das heißt, bis Sie ihn hinter Gitter gebracht haben.«

»Das klingt fast so, als hätte ich’s nicht tun sollen.«

»Für uns war er wertvoller als der Soldat, den er umgelegt hat.«

Ich fragte: »Wo findet das G8-Treffen statt?«

»London«, antwortete O’Day. »Theoretisch knapp außerhalb. In einem Herrenhaus oder einem alten Schloss. Irgendwas in dieser Art.«

»Hat es einen Wassergraben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Vielleicht sollten sie anfangen, einen zu graben.«

»Die Idee ist, es nicht erst so weit kommen zu lassen.«

»Dort kann ich Ihnen ohnehin nicht helfen. Mein Reisepass ist abgelaufen.«

O’Day sagte: »Darüber sollten Sie mit dem Außenministerium reden.« Er nickte Casey Nice zu, die in ihre Kostümjacke griff, wie sie es getan hatte, als sie mir den CIA-Bericht gezeigt hatte, und ein dünnes blaues Heftchen herauszog, das sie mir über den Tisch hinschob. Es fühlte sich ebenfalls leicht warm an.

Vor mir lag ein Reisepass mit meinem Namen und meinem Foto, am Vortag ausgestellt, zehn Jahre gültig.

7

Nach der Morgenbesprechung nahm Rick Shoemaker mich in sein Dienstzimmer mit, wo er mich aufforderte, einen detaillierten taktischen Plan für einen Trip nach Arkansas auszuarbeiten. Was lächerlich war. Für Arkansas brauchte man keinen detaillierten taktischen Plan. Und es lag in der falschen Richtung. Ich sagte: »Er ist bestimmt in Europa geblieben. Wahrscheinlich befindet er sich schon in London. Wenn er’s überhaupt war.«

Shoemaker sagte: »Von Joan Scarangello haben wir gehört, dass Ihnen klar ist, welche Rolle Sie spielen.«

Ich bin nur ein Köder.

Ich fragte: »Ist das Ihr Ernst?«

Er sagte: »Das ist keine große Sache. Wie Sie selbst festgestellt haben, hält Kott sich wahrscheinlich nicht dort auf, wenn er unser Mann ist. Aber wenn er’s ist, hat er da vielleicht Leute, die unsere Fortschritte überwachen. Arkansas ist ein logisches erstes Etappenziel. Dort sollten wir uns auf jeden Fall umsehen. Wir brauchen eine Bestätigung dafür, dass er wieder zu schießen angefangen hat. Wenn nicht, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Mit Yoga und Meditation allein kommt man nicht weit. Man muss auch mit der Waffe trainieren. Diese Leute rechnen bestimmt damit, dass wir das überprüfen. Ich denke, dass sie gewöhnliche Leute sind. Kein Problem für Sie. Aber vielleicht kann man doch was aus ihnen rauskriegen.«

»Falls er’s ist.«

»Und wenn er’s nicht ist, haben Sie noch weniger Grund zur Sorge.«

»Wieso ich? Haben wir nicht genügend FBI-Agenten? Die wären sogar bessere Köder als ich. Sie könnten mit Blinklicht und Sirenengeheul vorfahren.«

»Wissen Sie, wie viele Amerikaner Zugang zu streng geheimen Unterlagen haben?«

»Keine Ahnung.«

»Fast eine Million, von denen die Hälfte Zivilisten sind. Firmenchefs und Geschäftsleute, Unternehmer und Subunternehmer. Und selbst im besten Fall sind von jeder Million einige hundert Menschen echte Verräter.«

»Da höre ich O’Day reden.«

»Er hat meistens recht.«

»Und leidet immer unter Verfolgungswahn.«