Im Wind der Lagune - Maria Remo - E-Book

Im Wind der Lagune E-Book

Maria Remo

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Beschreibung

"Nur vom Boot aus kann man die Stadt verstehen und von Venedig erzählen", sagt Luca, der Filmregisseur. In seinen Filmen gleiten die bunten venezianischen Segelboote getragen von der Kraft des Windes durch die Lagune. Ihre Segel blähen sich in der gleißenden Sonne. Die Boote schneiden die Wellen und das Wasser kräuselt sich an den Rudern. "Der Wind ist der Atem des Universums. Beim Segeln hältst du ihn in den Händen." Maria und Peter schleppen Luca ab, als er mit seinem Segelboot auf dem Weg zur Regatta vor dem Markusplatz strandet. Auch sie bekommen es mit dem Wind zu tun. Er kommt ihnen kräftig entgegen und schläft dann plötzlich ein. Aber sie nehmen die Herausforderung an.

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Navigando controvento non sai cosa troverai ma se hai qualcosa dentro capirai...

(Lucio Dalla)

Inhaltsverzeichnis

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Eins

„Arriva la bella barca!“, höre ich einen Schuljungen rufen, als wir unter der kleinen Brücke hindurch zu unserer Anlegestelle fahren. Der Junge steht am Fenster des Klassenzimmers der Grundschule und winkt, einige seiner Klassenkameraden kommen zu ihm gelaufen und drücken sich die Nasen an den gekippten Scheiben platt. Ich winke zurück, die Lehrerin schimpft im Hintergrund und verlangt nach Aufmerksamkeit.

Wir freuen uns über diese unerwartete Begrüßung und machen an unseren pali fest. Ich klettere aus dem Boot und bin froh, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Meine Klamotten sind immer noch tropfnass und ich werfe alles auf den Steg.

Als wir am Morgen losgefahren sind, sah es nach einem ganz normalen Tag aus. Schon seit Jahren wollten wir mit Roberto und Luisa einen Ausflug in die nördliche Lagune machen. Aber immer ist etwas dazwischen gekommen. Allein in dieser Woche war es der dritte Versuch. Vorgestern ist der Hund von Luisa plötzlich krank geworden. Gestern haben wir das Boot klar gemacht und sind losgefahren, allerdings waren die Tore vor der Kanalausfahrt wegen Reparaturarbeiten geschlossen, so dass wir mit dem Boot nicht herausfahren konnten. Der ganze Bootsverkehr in dem Gebiet um unseren kleinen Hafen war für Stunden lahmgelegt und wir mussten unverrichteter Dinge wieder umkehren.

Heute sind die Tore wieder geöffnet und der Wettergott scheint uns hold. Wir holen Roberto und Luisa im Kanal vor ihrem Haus ab und starten in Richtung der Isola di San Francesco del Deserto, einer angeblich von Franz von Assisi gegründeten Klosterinsel, die immer noch von einer Handvoll Franziskanern bewohnt und bewirtschaftet wird. Der Legende nach hat Franz von Assisi die Insel im Jahr 1220 als Rückzugsort nach seiner Reise ins Heilige Land ausgesucht, weil dort so viele Vögel gesungen haben.

Die Mönche haben auf ihrer Webseite nur ein kurzes Zeitfenster für Besuche vorgesehen und wir versuchen, rechtzeitig dort zu sein. Die Insel ist nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar, aber es gibt eine kleine Anlegestelle und wir spekulieren darauf, dort einen Platz für das Boot zu finden.

„Was für ein Verkehr heute“, wundert sich Peter. „Normalerweise haben wir die Lagune an einem Werktag um diese Zeit fast für uns allein.“

Schon am Vormittag sind viele Jugendliche mit ihren Booten unterwegs, die sonst erst nach der Schule aufs Wasser gehen.

„Ich habe in der Zeitung von dem Klimastreik im Rahmen der Fridays for Future gelesen“, sagt Roberto. „Es gibt einen Dispens von der Schulpflicht, um auf die Demo zu gehen. Sie sollte wohl um 8.30 Uhr vor dem Bahnhof Santa Lucia starten“.

„Klar, dass sich alle frei nehmen“, lacht Luisa. „Aber das heißt ja nicht, dass sie auch auf die Demo gehen.“

Einige nutzen offensichtlich den freien Tag für ihre gar nicht klimafreundlichen Bootstouren. So ist es dann keine wirkliche Überraschung, dass vor der Klosterinsel, die sich mit ihren riesigen Zypressen wie ein grüner Hügel aus der heute besonders flachen Lagune abhebt, die barchini der Jugendlichen zu sehen sind, die mit voll aufgedrehten Stereoanlagen in den kleinen Kanal fahren. Überall sind Schilder angebracht, dass es sich um einen Ort der Ruhe und des Gebets handelt. Wir trauen uns kaum, laut zu sprechen.

Doch damit nicht genug: In dem Kanal liegen große Ausflugsboote mit leeren Plastikbechern auf den Tischen, in denen die Passagiere offenbar noch vor kurzem ein Picknick veranstaltet haben. Den Mönchen scheint das nichts auszumachen.

Während sich die Jugendlichen in den Booten gegenüber einem riesigen Holzkreuz die Zeit vertreiben und hin und wieder eine Wolke Hasch an uns vorbei weht, kommt ein blaues Lastenboot um die Ecke gefahren. Zuerst erspähe ich aus dem Augenwinkel nur den Teil des Bootsnamens: „… Deserto“. Als ich genauer hinschaue, merke ich, dass ein Franziskaner mit seiner braunen Kutte am Heck steht, die Sonnenbrille auf, in einer Hand die Pinne und in der anderen eine Zigarette. Versiert manövriert er das große Boot wie ein Transportfahrer durch den kleinen Kanal, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Wir sind beeindruckt von diesen Gegensätzen.

Im Inneren des Klosters erklärt ein Mönch einer Besuchergruppe die Ausstellungsstücke in der Kapelle. Ein kleiner Kreuzgang ist zugänglich, der zweite den Bewohnern der Klosterinsel vorbehalten und mit einer Tür verschlossen. Der Garten wirkt nach einigen Tagen in der kargen Lagune wie eine grüne Oase. Überall blühen Blumen, die hohen Bäume spenden angenehmen Schatten und Kunstobjekte zieren die Wege. Nach einer Biegung öffnet sich der Garten und gibt den Blick auf die Lagune und Burano frei. An einer Brüstung steht eine steinerne Engelsfigur mit gefalteten Händen und leicht geneigtem Kopf. Von ihrem Gegenstück auf der anderen Ecke existiert nur noch der Sockel. Im flachen Wasser der Lagune sehen wir weiße Kraniche mit viel zu großen gelben Füßen und hören lautes Vogelgeschrei.

„Da hinten sind Flamingos!“, ruft Peter plötzlich und zeigt in die Ferne.

Ich kneife die Augen zusammen und kann es kaum glauben. Aber die Silhouette ist eindeutig. Es sind fünf oder sechs von ihnen, die im flachen Wasser der Salzwiesen stehen. Immer mal wieder hatten wir gehört, dass es in der nördlichen Lagune Flamingos geben soll. Aber jetzt haben wir sie mit eigenen Augen gesehen.

„Wusstet ihr, dass Flamingos von Natur aus gar nicht rosa sind?“, sagt Roberto.

„Wie denn das?“, frage ich ungläubig.

„Sie müssen Algen und Krebse essen, damit sich ihr Gefieder rosa färbt. Je mehr sie davon essen, desto schöner wird ihre Farbe. Es ist wie bei den Babys, wenn sie zu viel Karotten essen.“

Alles ist in ein unwirkliches, gedämpftes hellblaues Licht getaucht. Das Rosa der Vögel passt dazu wie gemalt. Plötzlich deutet Luisa auf den Horizont, der sich merklich verdunkelt hat.

„Ist das Smog?“, fragt Roberto.

„Nein, vielleicht kommt wieder ein Unwetter wie beim letzten Mal. Lasst uns schnell zurückfahren!“, meint Luisa.

Wir gehen zurück zur Anlegestelle und legen mit dem Boot zügig ab, müssen aber wieder um die ganze Insel herumfahren, weil so starke Ebbe ist. Ein Motorboot, das gleichzeitig mit uns losfährt, nimmt die andere Richtung und Peter überlegt, wie das gehen kann. Wir sind die Abkürzung schon bei Flut gefahren und dabei auf einer Sandbank fast auf Grund gelaufen.

Später überholt uns das Boot, offensichtlich mussten sie im flachen Wasser umkehren und auch die längere Strecke durch die Fahrrinne nehmen.

Wir fahren auf spiegelglattem Wasser an Sant‘Erasmo vorbei und durch den Kanal von Vignole. Doch die Ruhe ist trügerisch. Vor dem Lido ändert sich alles. Hier tobt in der Hauptverkehrszeit der Wellengang, der moto ondoso heißt. Zahlreiche Ausflugsboote und Linienschiffe durchpflügen das Wasser und hinterlassen ein Wellenchaos. Dann passiert es in Sekundenschnelle: Wir werden von einer ersten Welle hochgehoben und eine zweite schießt über den Bug. Wassermassen ergießen sich über uns und wir bekommen einen unfreiwilligen Vollwaschgang.

Das Wasser ist überall, es läuft mir waagerecht in die Ärmel meiner eigentlich wasserdichten Jacke. Alle unsere Taschen schwimmen im Boot. Ich kann gerade noch meine Kamera retten, die zum Glück gut verpackt ist. Luisa will nur noch nach Hause und wir setzten sie und Roberto pitschnass an der ersten möglichen Anlegestelle ab. So endet unser Ausflug mit einem Wellenschlag.

Es dauert noch fast eine Stunde, bis wir wieder an unserem Liegeplatz sind. Endlich angekommen, will ich nur noch an Land und meine nassen Klamotten loswerden. Peter räumt das Boot aus. Überall schwappt das Wasser. Er schnappt sich die Schöpfkelle, hebt die Bodenbretter an und beginnt damit, das Wasser aus dem Boot zu schaufeln. Es ist eine mühsame Arbeit. Am Ende muss er den Rest mit einem Schwamm aufsaugen und alles trockenreiben, damit das Holz nicht quillt.

Zwei

Als wir an der Brücke in Murano auf Martin und Daniela warten, grüßt uns ein vorbeikommender Einheimischer freundlich. Wir können es kaum glauben. Gibt es noch höfliche Zeitgenossen, die sich nichts daraus machen, dass wir offensichtlich Touristen sind und hier ohne ersichtlichen Grund herumstehen? Nicht selten rempeln die Venezianer Touristen unsanft an, wenn sie an Brücken stehenbleiben oder gar Fotos machen. Ich erinnere mich an den alten Mann, der mit seinem Einkaufstrolley immer den engsten Weg über die Brücke beim Gemüseboot nimmt, egal wer dort sonst noch unterwegs ist. Unter groben Beschimpfungen schiebt er die unliebsamen Mitmenschen aus dem Weg. Auch sonst fällt mir auf, dass die Venezianer selten Platz machen, wenn ihnen jemand entgegenkommt. Sie gehen stur weiter und man muss selbst ausweichen, um eine Rempelei zu verhindern. So etwas wie ein Reißverschlussverfahren scheint hier nicht gebräuchlich zu sein. Das gilt sowohl für Fußgänger als auch auf dem Wasser.

Heute Morgen aber scheint alles ruhig und die Luft ist noch trocken und kühl. Im Nordwind haben wir auf der Fahrt nach Murano die Alpen gesehen, die Spitzen der Berggipfel mit Schnee bezuckert.

Aus einem Seitenkanal kommt ein riesiges Schnellboot der Carabinieri mit Blaulicht herangefahren und wir fragen uns, ob es einen Unfall gegeben hat. Die Polizisten müssen die Geschwindigkeit drosseln und den Lichtmast mit dem Blaulicht einklappen, damit sie unter der niedrigen Brücke durchkommen. Von einem Einsatz ist aber nichts zu sehen.

Dann nähert sich in der Ferne ein grünes Holzboot mit einer weißen Bimini.

„Das müssen sie sein“, sagt Peter. „Der Elektromotor ist kaum zu hören. Aber sie kommen nur langsam voran mit den wenigen Watt, die sie haben.“

Ich zücke mein Handy und mache Zielfotos. Daniela steht vorne im Boot wie eine Kapitänin auf der Brücke, Martin sitzt hinten an der Pinne. Sie fahren unter der Brücke durch an die Kaimauer der kleinen Werft. Wir klingeln an der unscheinbaren Metalltür, die sofort entriegelt wird. Ich frage den Mann, der uns öffnet, nach dem Chef. Er ruft ihn beim Vornamen und Paolo kommt sogleich um die Ecke. Er sieht blendend aus, in buona forma, wie ich ihm sage. Fast zwei Jahre haben wir uns nicht gesehen.

Peter geht zur Kaimauer und hilft Martin beim Anlegen an der Metalltreppe. Dann führt uns Paolo in einen Schuppen mit einem Dach aus Wellplastik, das grün angemalt ist gegen die Sonne. Dort steht der letzte cofano, den er gebaut hat, das Deck in hochglänzendem Mahagoni, die Flanken im unvermeidlichen Camouflage-Design. Es ist ein kleines schlankes Boot, nur gut fünf Meter lang, das zu den gebräuchlichsten in der Lagune zählt. Allerdings ist die überwiegende Anzahl der Boote heute nicht mehr aus Holz, sondern aus Kunststoff. Durch den starken Wellengang der Motorboote kann man sie kaum noch rudern, sondern es braucht einen kräftigen Außenborder, der ihnen Schub nach oben verleiht. Sonst schlagen die Wellen vorne über den Bug und das Wasser dringt in das Boot hinein.

„Mit einem kleinen Motor ist das Boot gefährlich“, warnt Paolo. „Der Bug kommt nicht weit genug aus dem Wasser. Auch beim Rudern bekommst du nicht genug Schub.“

Aber Martin will davon nichts wissen. Er ist Ruderer, schon seit Jahrzehnten. In seiner Jugend war er sogar im Kader der Olympiaruderer. Er will sich ein Holzboot bauen lassen zum Rudern in den kleinen Kanälen. Dazu ist er Frühaufsteher und kann schon bei Sonnenaufgang ins Boot steigen. Dann ist das Wasser der Lagune glatt wie ein See. Später am Tag machen die Motorboote so viel Wellen, dass Rudern kaum noch gefahrlos möglich ist.

Martin hat ganz eigene Vorstellungen von seinem neuen Ruderboot und wir besichtigen verschiedene Modelle, die Paolo uns vorführt. Ein Boot ist aus massivem Holz mit Teak-Deck, so stabil, dass es auch mit einem starken Motor gefahren werden kann. Als Wasserabweiser dient ein spitz zugeschnittener Aufsatz auf dem Bug, den Martin aber lieber abgerundet haben will, selbst wenn er dann das überschwappende Wasser nicht mehr so effektiv abhalten sollte. Lange diskutieren wir die Vermaßung, die Materialien und den Farbanstrich. So vergeht der ganze Vormittag und Paolo muss immer wieder unterbrechen, um Boote anderer Kunden zu kranen oder mit einem riesigen uralten Holzschlitten ans Land zu holen. Seine Bootswerft ist einige Generationen alt. In dem größten Gebäude hängt ein riesiges Gemälde eines Entenjägers in der Lagune. Er steht in grüner Uniform mit dem Rücken zum Betrachter und hat sein Gewehr geschultert. Im Hintergrund sieht man die Enten, die über das Marschland der nördlichen Lagune fliegen.

„Das Bild hat ein Künstler aus einer Glasbläserei gemalt. Es ist etwa 150 Jahre alt“, erzählt mir Paolo. „Früher war die ganze Werkstadt ausgemalt mit Szenen aus der Gegend. Viele Bilder hängen inzwischen in meiner Wohnung. Die Glasbläser können alle gut malen.“

„Ich habe die Portugiesische Galeere gesehen, die ein Glasbläser aus Murano naturgetreu gefertigt und dann an den Strand Al Bacan in den Sand gelegt hat“, erwidere ich. „Das Geschrei der Leute war riesengroß. Die Qualle sah so echt aus mit ihrem runden rosigblauen Körper und den langen Tentakeln, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie sei aus Glas.“

In der Werkstatt liegen überall Holzenten herum, die ebenfalls täuschend echt aussehen. Sie sind die Köder, die Paolo auslegt, um die Enten bei der Jagd anzulocken. Auf einer Salzwiese vor Sant’Erasmo sind sie dauerhaft auf Pfosten angebracht, immer mit ein bisschen Abstand, damit sich die echten Enten, die Gesellschaft suchen, zwischen die Holzenten setzen. Hier scheint ein gutes Jagdrevier zu sein.

Natürlich gibt es in der Werkstatt auch einen Jagdhund, der ausgelassen herumtollt. Die Bootsbauer werfen ihm Holzkeile ins Wasser, die er apportieren soll. Der Hund rennt an die Kaimauer, bremst, schaut, springt aber nicht, sondern läuft zur Slipanlage, um von dort bequem über die Rampe ins Wasser zu kommen. Dann schwimmt er in die Mitte des Kanals, findet den Holzkeil und kommt stolz mit ihm zurück. Wir klatschen alle.

Danach gehen wir zu Tisch in das Stammlokal der Bootsbauer direkt am Kanal. Es gibt frittierte Sardinen mit Polenta und Prosecco aus der Karaffe. Heute sind wir eingeladen.

Als wir von unserer Mittagspause zurück auf das Werftgelände kommen, sitzt Paolos Sohn auf einem Stuhl vor dem Bootskran im Schatten. Er hat einen schwarzen Frisierumhang um mit großen roten Herzen darauf. Der barbiere ist gekommen und schneidet ihm die Haare. Die Auftragsbücher sind so gut gefüllt, dass keine Zeit für einen Friseurbesuch bleibt. So kommt der Barbier in die Werkstatt.

„Drei Millimeter“, sagt Peter und deutet auf seinen Kurzhaarschnitt.

Der Friseur lacht und begrüßt uns mit Handschlag. Am liebsten hätten wir uns alle gleich hier im Freien inmitten der Boote die Haare frisieren lassen.

Drei

Bei der Regata Storica sind die Ruderboote vieler venezianischer Vereine mit Trauerflor gefahren, um gegen den moto ondoso zu demonstrieren. Ein schmaler schwarzer Stoffstreifen zierte die Bugspitzen der Boote, gemeinsam mit einer kleinen venezianischen Fahne. Ein stiller Protest gegen das Chaos, das sich tagein tagaus in den Kanälen und der Lagune abspielt. Einige Wettkampfteilnehmer weigerten sich jedoch, an der Aktion teilzunehmen, weil die Regatten mit kommunalen Booten ausgetragen werden und sie die Stadtoberen nicht provozieren wollten. Auch sei es nicht erlaubt, an den Wettkampfbooten Spruchbänder anzubringen. Die kommunalen Regattaboote dienen bei den Wettkämpfen der Chancengleichheit, damit niemand sein Vehikel frisiert und die Ergebnisse vergleichbar sind.

Die Regattaboote werden in einer großen Traglufthalle auf dem Lido gelagert und dann vor den Wettkämpfen an die Rennstrecke geschleppt. Danach werden sie wieder sorgsam verschlossen. Jedes Boot hat eine andere Farbe, die den Besatzungen zugelost wird. So soll jede Manipulation an den Booten vermieden werden. Allerdings ist absolute Gleichheit auch so kaum zu erreichen, denn die Boote müssen auch im identischen Erhaltungszustand sein, was nicht immer der Fall ist.

Bei den Ausscheidungskämpfen zur Regatta von Burano, die traditionell die Revanche für die Regata Storica darstellt, scheidet ein ehemaliger Favorit, der in der letzten Zeit nicht mehr an die alte Form anknüpfen kann, mit deutlichem Rückstand gegenüber der Konkurrenz aus. Er erhält nur einen Reserveplatz für den Fall, dass einer der qualifizierten Teilnehmer nicht antreten kann. Dieses niederschmetternde Ergebnis kann der ehemalige Champion nicht akzeptieren und unterzieht das Boot einer genauen Untersuchung. Nach seiner Meinung weist die Renngondel am Unterboden Algenbewuchs und Verkrustungen auf, die den Wasserwiderstand gegenüber den glattgeschliffenen Rümpfen der Konkurrenten deutlich verschlechtern.

Auch die Sieger der Ausscheidungskämpfe, die in dem anderen Vorlauf mit demselben Boot gefahren sind, haben einen Unterschied in der Wasserlage ausgemacht, der ihre Leistung aber offensichtlich nicht geschmälert hat. Sie können den Einspruch der abgehängten Konkurrenz zumindest nachvollziehen.

Die Stadt entschließt sich daraufhin, die Reservisten aus der schadhaften Gondel als zusätzliche Teilnehmer für den Wettbewerb zuzulassen, um den Ausscheidungskampf nicht wiederholen zu müssen und die Regatta zum Saisonabschluss nicht zu gefährden.

Das wiederum können die übrigen Teilnehmer, die sich für das Finale qualifiziert haben, nicht akzeptieren. Sie fordern eine Wiederholung der Ausscheidungsrennen. Sieben der Konkurrenten formulieren eine Protestnote und kündigen an, bei der Regatta am Sonntag nicht an den Start zu gehen, wenn die Stadt ihre Argumente nicht anhört.

Erscheinen nur die übrigen drei Renngondeln, die nicht protestieren, kann die Regatta wegen zu geringer Teilnehmerzahl nicht gestartet werden.

Die Verantwortlichen der Kommune schweigen. Noch am Abend zuvor weiß niemand, was nun eigentlich passieren wird.

Am Tag der Regatta dümpeln die Renngondeln in der Nähe des Regattafeldes herum, fahren aber nicht an die Startlinie, so dass das Rennen nicht gestartet wird. Stattdessen beschimpfen einige Ruderer den Reservisten, der sich aus ihrer Sicht unrechtmäßig einen Platz im Rennen erstritten hat: „Es ist Deine Schuld, dass wir nicht fahren können!“

„Die Kraft des Ruderers zeigt sich im Rennen und nicht in den Worten“, sagt der Ausgestoßene resigniert.

Das Rennen fällt aus, das Publikum an der Regattastrecke muss vor der Zeit nach Hause gehen und die Stimmung in der Rudergemeinde erreicht einen neuen Tiefpunkt.

„Das ist der Todesstoß für das venezianische Rudern“, sagen die einen.

„Es ist eine Technik, die als Welterbe kultiviert und bewahrt werden sollte, aber nicht durch halsstarrige Verantwortliche ins Lächerliche gezogen“, sagen andere.

Die Stadt lässt nicht mit sich reden.

Nach einer weiteren Woche werden alle Teilnehmer, die sich geweigert haben zu starten, von der Disziplinarkommission für ein Jahr gesperrt. Das Geschrei ist riesig. Jetzt kann nur noch eine Amnestie des Bürgermeisters helfen, wie es sie in der Vergangenheit schon einmal gegeben hat. Die Mitglieder der Kommission sind bis 31. Dezember im Amt. Danach mag Gnade walten. Der Bürgermeister kennt aber keine Gnade, sondern bekommt einen Wutanfall: Er lasse sich nicht erpressen und habe keine Angst vor niemanden. Die venezianischen Traditionen sollten nicht als Sprungbrett für persönliche Animositäten und Polemik dienen. Wer immer nur streiten wolle, müsse nun beiseitetreten und Platz für Jüngere machen.

Vier

Am Abend treffen wir Roberto und Luisa auf einen Aperitif und wollen die Dachterrasse eines neu renovierten und jetzt mit fünf Sternen dekorierten Hotels ausprobieren. Aber sie ist geschlossen. Die Filmfestspiele sind vorbei und der Lido fällt Mitte September schon wieder übergangslos in den Winterschlaf. Fast alle Strandbäder sind zu, diesmal noch vor der Zeit, weil für das nächste Jahr am Strand ein Schwimmbad gebaut werden soll. Das Wetter ist wie im Hochsommer, aber die Saison ist vorbei, die Schule hat wieder angefangen, da gibt es kein Pardon.

„Wir sind morgen auf eine Hochzeit eingeladen“, erzählt Luisa fröhlich und zeigt mir Fotos von dem Abendkleid, das sie anziehen will.

„Ich will da gar nicht dabei sein“, winkt Roberto ab, „150 Leute in einem riesigen Festsaal und ein untreuer Bräutigam!“

„Wie denn das?“, frage ich gespannt.

„Wir kennen das Brautpaar schon lange. Aber an einem Abend vor ungefähr drei Jahren war ich gerade dabei, das Boot festzumachen, da habe ich ihn gesehen in einem Kanal, wie er gerade eine junge Frau küsst. Ich wusste gar nicht, was ich machen soll“, sagt Roberto. „Ich habe mir dann die Plane des Boots über den Kopf gezogen, damit er mich nicht sieht.“

„Roberto hat mich damals angerufen und mir gesagt, ich müsse sofort nach Hause kommen, warum wusste ich nicht“, sagt Luisa. „Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass etwas passiert ist. Dann hat er mir erzählt, was er gesehen hat. Aber auch ich habe die Entdeckung nicht an meine Freundin berichtet. Denn ich wollte nicht die Verantwortung für die Folgen tragen.“

„Ich kann nicht einmal Liebesfilme im Fernsehen ansehen“, stöhnt Roberto und wir lachen alle.

„Bei Peter ist es genauso“, erzähle ich. „Wenn sie sich küssen, dann schaltet er um.“

Ich stelle mir vor, wie schwierig ein Seitensprung ist in einer so kleinen Stadt wie in Venedig, wo sich alle kennen und nichts geheim bleibt. Auch ich war einmal auf einer Hochzeit eingeladen, wo ich von den Eskapaden des Bräutigams wusste und das Leitmotiv der Hochzeitsfeier die blaue Farbe für die Treue war. Der Pfarrer sagte während der Trauung, dass die Ehe wie der Himmel sei: viele Wolken und ab und zu ein paar blaue Flecken.

Am Sonntag sind Roberto und Luisa schon wieder auf eine Hochzeit eingeladen. Aber da geht Roberto gar nicht mit, denn seine Familie liegt mit der des Ehemannes im Klinsch. Es gab schon zahllose Gerichtsprozesse bis hin zum Kassationshof. So bleibt Roberto zu Hause und Luisa muss allein hingehen.

Während ihre Freundinnen in großem Stil die jeweils zweite Eheschließung zelebrieren, bereitet sich Luisa auf ihre Silberhochzeit im nächsten Sommer vor, die sie stilvoll feiern will. Es fallen dann zwar die Bilder vom Heiratsantrag oder der Verlobung weg, die sie mir von ihren Freundinnen zeigt, mit großen Hüten in eleganten Restaurants am Canal Grande, aber ein romantisches Fest kann es dennoch geben. Besonders angesagt sind in Italien Feste voller Magie mit Stelzenläufern, die in aufwändigen Kostümen durch die feiernde Menge stolzieren und mit den Flügeln schlagen. Die Wege sind mit Fackeln gesäumt und die Gäste tragen tief ausgeschnittene Abendroben. Die Fotobox darf auf keinem Fest fehlen, wo sich alle ausgiebig mit Hüten, Brillen und Federboas in Szene setzen. Das gelungene Fotoalbum ist für die Italiener schon immer einer der wichtigsten Bestandteile solcher Feste gewesen. Dafür wird ein Vermögen ausgegeben. Heute muss das Fest vor allem instagrammabile sein. Den perfekten Fotos wird alles andere untergeordnet. Ob die Ehe im weiteren Verlauf dem Perfektionismus des Anfangs standhalten wird, steht auf einem anderen Blatt.

Fünf

Später schauen wir noch gemeinsam mit Luisa und Roberto einen Film. Wie alle auf dem Lido, sind sie eingefleischte Cineasten. Während der Festspiele können sie tagelang bei bestem Wetter in dunklen Kinosälen sitzen und einen Film nach dem anderen ansehen.

Heute ist es die Geschichte von Marco, der vom Festland kommt und auf den Spuren von Marco Polo durch die Welt reisen will. Dazu begibt er sich zum gleichnamigen Flughafen in Venedig und besteigt ein Flugzeug, das ihn in den Orient bringen soll.