Perlenfischen - Maria Remo - E-Book

Perlenfischen E-Book

Maria Remo

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Beschreibung

Venedig ist ein Sehnsuchtsort. Maria ist der Faszination der "Königin der Meere" schon seit langem erlegen. An einem Samstagmorgen steht sie auf der Hotelterrasse ihres Lieblingshotels am Canal Grande und schaut den Gondeln und den vorbeifahrenden Ruderbooten zu. So will sie auch über das Wasser gleiten. Doch dazu braucht sie ein Boot und muss rudern lernen wie ein Gondoliere. Ihre erste Ruderstunde ist das Beste, was sie in Venedig je gemacht hat: eine völlig neue Art, sich durch die Kanäle der Stadt und die Lagune zu bewegen.Irgendwann reift die Idee, sich ein Boot in Venedig zu suchen. Dabei lernt sie Roberto und Luisa kennen, die ein Fischerboot verkaufen. Bei gemeinsamen Bootsausflügen in der Lagune dringt sie immer tiefer vor in das Leben und den Alltag der Venezianer, der so eng mit dem Wasser verbunden ist. Sie trifft Bootsbauer und Kulissenschieber, Opernsänger und Segelmacher. Aber Venedig hat nicht nur Sonnenseiten, sondern auch Hochwasser, Wellenschlag, Massentourismus und Kriminalität. Von all diesen Seiten erzählt sie in dieser ungewöhnlichen Geschichte, die die LeserInnen eintauchen lässt in eine Stadt, von der sie vorher nur geträumt haben.

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Ich habe mehr gesehen als ich erinnere und erinnere mehr als ich gesehen habe.

… ho visto uno specchio e dentro ho visto il mare e dentro al mare una piccola barca per me.

(Paolo Conte)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Epilog

Prolog

Seit tausend Jahren feiert Venedig an Christi Himmelfahrt seine Vermählung mit dem Meer, die Festa della Sensa. Dazu werden die Honoratioren der Stadt in historischen Prunkschiffen zum Lido gerudert. Dort wirft das Stadtoberhaupt in einer feierlichen Zeremonie einen goldenen Ring ins Meer an der Stelle, wo frisches Wasser aus der Adria in die Lagune fließt.

In diesem Jahr fallen die Feierlichkeiten dem Virus zum Opfer. Nichts ist mehr wie es war und die Geschichten, die ich erzähle, klingen wie Traumreisen aus einem anderen Leben, aus einer anderen Zeit. So fremd all das Erlebte plötzlich klingt, ist es doch auch ein Memento für die Zukunft, für das, was kommen mag, wenn Venedig seine Pforten wieder öffnet. Jedenfalls wird sich der Campanile dann nicht mehr vor dem Markusplatz im klaren Wasser der Lagune spiegeln.

Das Wasser ist das Element, das das Leben der Venezianer seit jeher beherrschte. Es garantierte Sicherheit und Gesundheit in einer Stadt, die keine Mauern brauchte, weil sie das Wasser hatte. Das Leben der Venezianer spielt sich zu Wasser und zu Lande ab, sie bewegen sich wie Amphibienwesen, wenn das Treiben auf dem Wasser auch viel spektakulärer ist. Normalerweise entstehen jeden Tag chaotische Wimmelbilder, in denen die unterschiedlichsten Boote durch das Gewirr der Kanäle fahren und gleiten. Alles, was auf dem Festland mit dem Auto oder Lastwagen erledigt werden kann, muss in Venedig vom Wasser aus erfolgen, sei es der Personen- oder Klaviertransport, die Anlieferung von Waren oder die Fahrt zur Arbeit, mit dem Ambulanzboot ins Krankenhaus oder mit der Trauergondel zur Beerdigung.

Es ist immer wieder unglaublich, was man mit Booten alles transportieren und bewerkstelligen kann.

Wer Venedig und die Venezianer verstehen will, muss sich aufs Wasser begeben. Nur dann ist der Besucher Teil der Stadt und ihres Alltags. Natürlich gibt es die Touristenboote, Taxis und Gondeln, auf denen man auf dem Wasser transportiert wird. Das ist aber nicht vergleichbar mit dem Erlebnis, selbst ein Boot in Venedig zu fahren.

Die Venezianer leben im größten Wasserpark Europas. Aber nur den Einheimischen mit ihren Booten ist es vorbehalten, das Herz der Stadt zu befahren. Die komplizierten Verkehrsregeln auf dem Wasser werden wie die Techniken zur Beherrschung der Boote von Generation zu Generation weiter gegeben - genau wie die Kunst des venezianischen Ruderns. In dem Gewimmel der engen Kanäle und Brücken ist es überlebenswichtig, die notwendigen Verhaltensweisen zu kennen, wenn sich natürlich auch die Einheimischen häufig nicht an die Regeln halten.

Vor dem Lockdown war der Bootsverkehr in Venedig so chaotisch und gefährlich geworden, dass die Behörden immer neue Verbote für das Befahren der Kanäle der Altstadt aussprachen, wie zuletzt für Kajaks und Paddler. Zahlreiche Verkehrstote in der Lagune riefen nach Geschwindigkeitsbeschränkungen und schärferen Führerscheinauflagen, die aber von der Politik angesichts der Lobby der Motorbootfahrer nicht angepackt werden. Der durch die Motorboote verursachte Wellengang war außer Kontrolle geraten. Die Initiative „Pax in Aqua“, die den täglichen Kampf im Wasser zwischen Motor- und Traditionsbooten befrieden wollte, ist bisher gescheitert. Als zwei Fischer sterben, weil ihr Boot vor dem Lido von vier jungen Leuten mit überhöhter Geschwindigkeit gerammt wird, hofft Venedigs Bürgermeister lediglich, dies werde sich nicht wiederholen.

Entsprechend zeigt die Polizei Präsenz und versucht mit Verkehrskontrollen etwas Ordnung in das alltägliche Chaos zu bringen. Bei den ersten Fahrten mit unserem venezianischen Fischerboot durch die Kanäle der Altstadt beschleicht uns immer das Gefühl, die Polizei müsse uns gleich anhalten. Etwas weiter draußen in der Lagune während einer Ruderregatta ist es dann passiert. Ein carabiniere kam mit einem überdimensionalen, blau glänzenden Jetski rasant in einer Kurve auf uns zu gefahren.

Was hatten wir verbrochen? Waren wir zu nah an die Regattastrecke gekommen?

Der Polizist brachte sein Hightech-Geschoss kurz vor unserem Holzboot zum Stehen, klappte das Visier hoch und fragte uns nach dem Weg zum Kanal Sant‘ Erasmo. Wir wiesen ihm die Richtung und er fuhr mit Vollgas davon. So weit waren wir also schon. Wie es dazu kam, erzählt dieses Buch.

Eins

Angefangen hat alles mit einer fixen Idee, wie ich sie manchmal habe. Nicht aufzugeben, wenn man sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Da ist Peter genau wie ich. Jedes Jahr bin ich in Venedig gewesen, bestimmt zwanzigmal, zuletzt immer mit Anna zum Fotografieren. Jahrelang versuchten wir, das perfekte Bild zu machen, das ich vor vielen Jahren kaufen wollte, das aber bereits ausverkauft war. Es funktionierte natürlich nicht, es waren nur Abbilder, aber nicht das Original. 10 Jahre später spürte Peter den Künstler auf, irgendwann stand er in meiner Wohnung mit dem Bild, hängte es auf. Da hing es nun über meinem Schreibtisch und ich schaute jeden Tag auf ein unwirkliches Venedig, in goldenem Licht mit gestopptem Wasser, wie ich jetzt weiß, ein Sonnenaufgang im Mai während eines stabilen Hochs. Der Fotokünstler fährt mit seiner Plattenkamera überhaupt nur an seine Ziele, wenn für mindestens vier Tage in Folge Sonne und wolkenloser Himmel angesagt ist. Anna gab mir für dieses Jahr frei und so flog ich mit Peter nach Venedig – im März bei perfektem Wetter.

Was ich nicht wissen konnte, war, dass sich Peter sofort in diese Stadt verlieben würde.

Das Abenteuer begann mit einem Ruderkurs, den ich für uns gebucht hatte, etwas, was ich schon seit Jahren machen wollte. Anna aber wollte nicht einmal mit mir Gondel fahren, obwohl sie am Wasser aufgewachsen ist. Dabei hatte ich immer die Wasserperspektive für unsere Fotos vor Augen und ich wollte Rudern lernen wie ein gondoliere. Es war aber nichts zu machen. Anna machte zwar die schönsten Fotos von den gondolieri. Fast lebensgroß hatten wir sie uns aufgehängt. Besonders den mit dem traurigen Blick, den ich auch dieses Jahr wieder traf, irgendwo zwischen Markusplatz und Accademia. Ich fotografierte ihn mit weit geöffneter Hand, an der deutlich die Schwielen vom vielen Rudern zu sehen waren.

Jahrelang fand ich keinen richtigen Zugang zu solchen Ruderstunden. Zwar waren vereinzelt in den Reiseführern einige Rudervereine erwähnt, die angeblich Kurse für venezianisches Rudern anboten. Aus der Ferne war das aber kompliziert. Man musste Mitglied werden. Links verliefen sich im Nirgendwo. Dieses Jahr hatte ich mehr Glück und fand in einer Zeitschrift den Hinweis auf den Internetauftritt einer Non-Profit-Vereinigung, die auch ausdrücklich für Touristen Ruderstunden auf venezianischen Booten anbietet. Im Netz kann man schon auf Monate im Voraus eine Stunde buchen. Diese erste Stunde auf dem Ruderboot durch die engen Kanäle von Cannaregio hinaus in die weite Lagune war bisher wahrscheinlich das Beste, was ich je in Venedig gemacht habe.

Vorher habe ich immer nur die Leute bewundert, die am Samstagvormittag in ihren Ruderbooten vor unserer Hotelterrasse am Canal Grande vorbeifuhren. Da war der Sechser in einer caorlina mit fünf Männern und einer Frau, die keine Lust zu haben schien. Während die Männer sich ordentlich in die Riemen legten, zog die Frau in der Mitte ein Gesicht und hielt das Ruder aus dem Wasser. Am meisten beeindruckte mich ein Ehepaar, das in einem kleinen, eleganten puparin in Alltagskleidung einträchtig an mir vorbeizog. Beide strahlten: sie stand vorne im Boot, er hinten erhöht wie ein gondoliere. Das schien mir ein erstrebenswertes Ziel für ein Paar. In einer perfekten Umgebung zwischen unzähligen Booten den eigenen Rhythmus finden und dann auch halten, egal wie schwer die Bedingungen sind. Angeblich kann man diesen Sport bis ins hohe Alter ausüben - voga alla veneta oder besser voga alla veneziana.

Gerudert wird nur in Fahrtrichtung und im Stehen. Beim englischen Rudern, wie wir es kennen, würde man nicht genug sehen, um in dem chaotischen Verkehr Venedigs zu bestehen. Außerdem ist oft so viel los in den Kanälen, dass das Ruder viel zu weit ins Wasser ragen würde. Je enger es im Kanal ist, desto steiler muss das Ruder gehalten werden, damit man an anderen Booten oder auch an den Hauswänden vorbeikommt. Manchmal muss das Ruder auch ganz aus der nach hinten offenen Gabel, der fórcola, genommen werden, wenn sich zwei Boote an einer Engstelle begegnen. Dazu haben die venezianischen Boote kaum Tiefgang, weil die Lagune flach und völlig versandet ist. Bei starker Ebbe liegen die Gondeln schon mal im Schlamm und können nicht mehr fahren.

Wer einmal in eine Gondel gestiegen ist, weiß, wie wackelig das ist. Man kann sich in den venezianischen Booten eigentlich nur im Kriechgang fortbewegen, sonst kippen sie sofort um. Der gondoliere muss die Passagiere nach Größe und Gewicht genau sortieren, damit das ganze Gerät nicht umfällt. Immer wieder verlieren die Passagiere dabei das Gleichgewicht und fallen ins Wasser, wie man dann brandaktuell mit Bildern in der Lokalzeitung nachlesen kann. Die Schiffbrüchigen können aus eigener Kraft nicht wieder über die schwankende Bordwand in die Gondel einsteigen, sondern müssen zur Kaimauer an die nächste Treppe schwimmen. Einmal ist eine Gondel vor dem Markusplatz sogar gekentert, weil eine Gruppe von übergewichtigen Amerikanern beim Einsteigen alle auf dieselbe Seite getreten sind. Der Wellengang tat dann ein Übriges, die Gondel kam ins Rollen und kippte um, was auch der gondoliere nicht verhindern konnte. Er wurde mit ins Wasser gerissen – ein Berufsrisiko.

Die Gondel ist asymmetrisch gebaut, je nach Größe und Gewicht des gondoliere, der stets auf der linken Seite steht und das Ruder nach rechts in der fórcola führt. In den venezianischen Blogs mokieren sich die Venezianer, wenn auf einer Abbildung der gondoliere auf der falschen Seite steht. Sei es bei den Pantoffeln mit Gondelstickerei oder auf einem riesigen Werbeplakat im Flughafengebäude, das offensichtlich ein gespiegeltes Foto darstellt – Dilettanten. Lange wundere ich mich über ein Bild von Humphrey Bogart und Lauren Bacall in einer Gondel, das in einer Hotellobby auf dem Lido hängt und einfach nicht stimmig ist. Irgendwann fällt mir auf, dass der Gondoliere auf der falschen Seite steht, auch hier erfolgte der Abzug offensichtlich seitenverkehrt.

Wir warten also am vereinbarten Zeitpunkt auf unsere Rudertrainerin, nachdem uns der Concierge im Hotel eine buona vogata gewünscht hat. In ihrem Ruderverein waren anfangs nur Frauen aktiv. Ich stelle mir vor, dass es ein Alternativprogramm zu den männlichen gondolieri war, die traditionell die Gondeln geschäftsmäßig fahren. Zwar gibt es unter den 433 lizensierten gondolieri seit ein paar Jahren auch eine Frau, selbst Tochter eines gondoliere. Aber das ist doch irgendwie nicht dasselbe. Ein gondoliere muss meiner Meinung nach ein Mann sein, ein Venezianer. Schon als junges Mädchen hatte ich immer die Rufe gehört: „Gondola, Miss?“. Nie war ich bisher mit einer Gondel gefahren. In der Lizenz der gondoliera steht entsprechend auch die männliche Berufsbezeichnung und die vorgeschriebene Kleidung gibt es nur unisex.

Sämtliche Trainer des Ruderclubs sind Frauen, alle haben Regatten gefahren, viele davon siegreich. Frauenregatten gibt es in Venedig schon seit dem Ende des 15. Jahrhunderts. Bei der ersten Regatta im Jahr 1493 zu Ehren der Herzogin von Mailand sollen 50 junge Frauen teilgenommen haben. Als ich in der Fondazione Querini Stampalia das Gemälde Reggatta Delle Donne in Canal Grande um 1764 von Gabriele Bella sehe, kann ich es kaum glauben. Dort fahren die Frauen in leichten, kurzen Leinenkleidern mit flachen Holzbooten im Zweier, während die Männer ihnen von ihren geschmückten Paradeschiffen aus zusehen. Zu dieser Zeit begeistern sich auch die adligen Damen für diesen Sport und vor allem für die Dekoration ihrer Schiffe - Avantgarde in der Lagune.

Aber das Rudern war für die Frauen nicht nur Modeerscheinung, sondern auch Notwendigkeit. Die Bäuerinnen der Gemüseinsel Sant’Erasmo, die für ihre exzellenten Artischocken und ihre ausgezeichneten Ruderchampions bekannt ist, mussten ihr Gemüse auch an den Mann beziehungsweise an die Frau bringen. So ruderten sie mit ihren Schiffen voll mit Melonen, Kürbissen und Kartoffeln jeden Tag bis nach Venedig, was man auch heute noch erleben kann.

Zuerst wollten die Trainerinnen des Ruderclubs nur für Frauen Kurse anbieten und warben mit einer rosa Internetseite. Aber auch hier sind die Ruderinnen inzwischen aufgeschlossener geworden. Eineinhalb Stunden werden für etwa 80 Euro angeboten, genauso teuer wie eine Gondelfahrt, die aber inzwischen für diesen Preis nur noch 30 Minuten dauert.

Die gondolieri haben eine starke Lobby. Sie genießen erhebliche Steuervorteile. Anders als sonst ist beim Bezahlen einer Gondelfahrt keine Quittung, kein scontrino fiscale, erforderlich. Die gondolieri haben immer argumentiert, sie könnten auf dem Wasser keine Quittungen ausstellen. Mit diesem fadenscheinigen Argument haben sie sich durchgesetzt. Sie versteuern im Jahr einen Pauschalbetrag. Wenn sie mehr Umsatz machen, ist der Rest steuerfrei. Es fällt für die Personenbeförderung auch keine Mehrwertsteuer an.

Unsere Trainerin kommt ursprünglich aus Deutschland und hat einen Venezianer geheiratet. Sie führt uns in eine Marina im Norden der Stadt, wo ein wunderschönes Boot auf uns wartet. Die batela a coa de gambero ist ein traditionelles Boot mit hochgezogenem Heck, dem Krabbenschwanz, das eine bessere Wasserlage hat als die gebräuchlichen Rennboote. Wir werden also total verwöhnt, da das Boot viel stabiler ist als die anderen Ruderboote der Vereine. Abwechselnd bedienen wir zuerst das Ruder vorne links (prua). Danach dürfen wir dann wie ein gondoliere auf das Heck (poppa) steigen und oben rudern. Dafür fahren wir in die offene Lagune vor den Fondamente Nove, wo wir mehr Platz haben als in den engen Kanälen. Wenn allerdings ein Taxiboot auf dem Weg zum Flughafen vorbeifährt, dann gibt es auch dort schon ordentliche Wellen, die stabiles Gleichgewicht verlangen. Peter stellt sich als Naturtalent heraus. Unsere Trainerin nennt ihn forza naturale und muss ihn ständig bremsen, damit er als Schlagmann nicht zu schnell fährt und sie an der poppa mit den Steuerschlägen nachkommt. Eine andere batela, die vor uns losgefahren ist, hat er schnell eingeholt.

Am schönsten rudert es sich in den ruhigen Kanälen von Cannaregio, die den traditionellen Booten vorbehalten sind. Motorboote dürfen dort nur ausnahmsweise fahren, wenn es Anlieger sind, die dort auch einen Liegeplatz haben. Wir gleiten unter zum Trocknen aufgehängter Wäsche ruhig durch die Kanäle, das Wasser gluckert leise und an uns ziehen die Häuser und Lokale von Cannaregio vorbei; die Fondamenta dei Mori, das Hotel Ai Mori d’Oriente mit den pittoresken Sonnenschirmen, vor dem die Menschen entspannt beim aperitivo im Schatten am Kanal sitzen. Ein Lokal heißt Il Paradiso Perduto, Das verlorene Paradies, ein anderes einfach Al Timon, Zum Steuerruder. Dort hocken die Gäste mit ihrem Aperol auf zwei an der Kaimauer festgemachten Booten.

Schwierig wird es in den Kanälen, wenn Gegenverkehr kommt und wir das Ruder aus der fórcola nehmen müssen. Dann merkt man erst, wie schwer das Ruder ist. Es bedarf einer besonderen Technik, um es wieder zurück in die Gabel zu bekommen. Schaut man einen Augenblick auf die Umgebung und verliert die Konzentration, ist man sofort aus dem Rhythmus und das Ruder rutscht heraus. So meditativ das Rudern ist, so kompliziert ist es auch.

Zurück an Land erzählt unsere Trainerin, dass es auch in Deutschland auf Seen und Flüssen venezianische Ruderboote gibt.

Da sind wir extra nach Venedig gefahren, um das Rudern auszuprobieren und zu Hause kann man das auch. Im Netz finden wir einen Anbieter in der Nähe, der auf einem venezianischen Boot Ruderstunden gibt.

Zunächst verbringen wir aber noch einen ganzen Nachmittag in der Libreria Aqua Alta in Castello. Es ist die verrückteste Buchhandlung in Venedig. In feuchten Räumen direkt am Wasser herrscht ein unvorstellbares Chaos, das von Jahr zu Jahr größer wird. Die maritimen Bücher werden in einer ausrangierten Gondel mit schräger Dekoration präsentiert, auf der Terrasse wird ein Aussichtspunkt angekündigt. Es ist eine Treppe aus Büchern, auf die man steigen und dann über die Mauer in einen Kanal schauen kann. In dem Kanal liegt eine alte Gondel mit felze, in die man einsteigen und Fotos machen kann. Maximal vier Personen dürfen gleichzeitig auf die Gondel. Danach soll gespendet werden, was aber kaum jemand macht. Ganze Touristengruppen werden inzwischen durch den Laden geschleust, in dem es heute von Schnaken nur so wimmelt.

Peter ist in seinem Element und wälzt sämtliche verfügbaren Bücher über traditionelle venezianische Boote. Das Museo Storico Navale hat zu seinem großen Bedauern auf unabsehbare Zeit wegen Renovierungsarbeiten geschlossen, so dass wir uns die Boote nicht im Original anschauen können. Peter prägt sich aber die Silhouetten sämtlicher Boote ein und wir können sie bald unterscheiden.

Zuhause angekommen kontaktieren wir den heimischen Rudertrainer. Manuel freut sich über unser Interesse. Er hat in Venedig studiert, dort das Rudern gelernt und ein Regattaboot mit nach Deutschland gebracht. Allerdings hat die Resonanz inzwischen nachgelassen. Bis wir einen gemeinsamen Termin finden, vergehen ein paar Wochen, aber an Ostern ist es dann soweit. Bei knapp über Null Grad und Hagelschauern sind wir als einziges Boot auf dem Flussabschnitt unterwegs. Was wir allerdings nicht einkalkuliert haben, ist die Wasserlage seiner

mascareta. Beim Betreten des Boots fällt es praktisch sofort um. Ich habe Angst vor meiner eigenen Courage. Schließlich fehlen mir die Jahrzehnte an Erfahrung mit Booten, die Peter und Manuel mir voraushaben. Nur beim DLRG bin ich mal Rettungsboote gerudert, die aber zu eben diesem Zweck schön stabil waren. Man muss die Nichtschwimmer oder Schiffbrüchigen ja über die Bordwand ins Schiff zurückholen. Das wäre bei der mascareta nicht möglich. Wir kriechen also im Boot aneinander vorbei und ich halte die ganze Zeit die Luft an, dass wir nicht kentern.

Nach einigen Anfangsschwierigkeiten kommen wir ganz gut in Fahrt, Manuel hat als poppiere alles gut im Griff. Als ein Sturm aufzieht, legen wir für ein warmes Getränk und ein Stück Kuchen am Steg eines Cafés an und wärmen uns ein wenig auf. Danach geht es wieder aufs Boot. Der nächste Hagelschauer erwischt uns dort und wir harren in unseren Regenklamotten unter ein paar tiefhängenden Ästen in Ufernähe aus.

Bei unserem zweiten Ausflug ist zwar das Wetter besser, aber die Wassertiefe nicht ausreichend. Die Einsatzstellen für den Trailer sind rar und wir fahren an einen Seitenarm. Das Boot lässt sich noch recht einfach ins Wasser bringen. Mit einem Tiefgang von 7 cm brauchen wir nämlich eigentlich nicht viel Wasser, buchstäblich nur eine Handbreit, unter dem nicht vorhandenen Kiel. Aber der Seitenarm, den Manuel ein Jahr zuvor noch befahren hatte, ist völlig verschlammt. Wir sind zu dritt im Boot und drohen festzustecken.

„Wir müssen Gewicht reduzieren!“, ruft Manuel.

Peter und ich klettern also im Dickicht der Bäume am Ufer raus und Manuel stakt das Boot allein durch die seichte Stelle. Um die Kurve rum krabbeln wir dann wieder aufs Boot. Es wird eine wunderschöne Fahrt auf einem romantischen Flussabschnitt. Außer uns sind nur Schwäne unterwegs.

Zum Schluss gibt Manuel uns noch wichtige Anregungen bezüglich der venezianischen Boote und auch zum Bootskauf, wie mir Peter später berichtet.

Die meisten Boote in Venedig werden nicht im Internet verkauft. Meist befestigt der Verkäufer am Boot eine senkrechte Latte und oben waagerecht ein Schild mit einer Telefonnummer. Bei Booten mit Persenning machen die Italiener neuerdings einen VENDESI-Aufkleber darauf, wie man ihn auch bei Autos und Wohnungen benutzt. Es gibt auch einen venezianischen Witz dazu:

Man soll als Interessent auf eine Anzeige in Venedig nicht zu den Essenszeiten anrufen. Also hat jemand, dessen Boot schlecht verkäuflich war, unter die Telefonnummer geschrieben: “anche ore pasti” (auch zu Essenszeiten).

Ein Witzbold schrieb dann darunter: “mangi pure” (iss nur) - venezianischer Humor.

Manuel schickt uns einen Screenshot aus Facebook dazu. In dem Beitrag wird kritisiert, dass immer mehr traditionelle venezianische Boote zum Verkauf stehen und zu befürchten ist, dass die Kanäle bald mit modernen Motorbooten aus Plastik überfüllt werden, die keinen Bezug mehr zur Stadt und ihrer Geschichte haben. Der Verfasser eines Kommentars mokiert sich darüber, dass an der Fassade eines venezianischen Gebäudes kein Detail geändert werden darf, aber die Kanäle mit den Plastikbooten vermüllt werden dürfen. Das dazu gepostete Foto zeigt ein elegantes weißes topo mit weißem Außenborder, das im Rio di San Piero in der Nähe des Arsenals liegt. Auf der nagelneuen Persenning ist der VENDESI-Aufkleber zu sehen. So ein Boot würde Manuel gefallen.

Schon seit unserer Rückkehr aus Venedig sondiert Peter den Bootsmarkt und zappt sich, ohne mir zunächst davon zu erzählen, durch sämtliche einschlägigen Kleinanzeigen. Am zweiten Tag seiner Suche findet er in einem italienischen Anzeigenportal ein Fischerboot, das sowohl gerudert als auch gesegelt werden kann, eine sanpierota. Diesen Bootstyp hat Manuel ihm empfohlen, weil Peter langjährige Segelerfahrung hat.

Die sanpierota ist ein bauchiges sandolo (sandolo panciuto), das ein kompaktes kurzes Heck und einen hochgezogenen Bug hat, damit es auch bei Wellengang gefahren werden kann. Für den Ruderanfänger ist es leichter, weil es nicht so kippelig ist, sondern stabil im Wasser liegt. Gesegelt wird mit einem trapezförmigen Großsegel in kräftigen bunten Farben, das im Verhältnis von einem Drittel zu zwei Dritteln am Mast gehisst wird. Das venezianische Segeln heißt deswegen vela al terzo. Es ist eine archaische Form der Fortbewegung auf dem Wasser; die Boote mit den altmodischen Flaschenzügen sehen aus wie aus dem Mittelalter, werden aber immer noch in der Freizeit und in Regatten gefahren.

Das Boot aus der Anzeige ist auf dem Lido von Venedig zu besichtigen. Wir sind gerade von unserer Reise zurück und Peter fragt mich, wie wir es bewerkstelligen sollen, schon wieder nach Venedig zu fahren, um das Boot anzuschauen. Urlaub haben wir auch nicht mehr, viele Verpflichtungen halten uns in der Heimat. Peter hadert mit dem Schicksal, dass wohl nie der richtige Zeitpunkt kommen wird, um seinen Traum von einem eigenen Boot zu verwirklichen. Ich bringe kairos ins Spiel und schlage vor abzuwarten: „Wenn dies wirklich unser Boot sein soll, dann wird es auf uns warten.“

Inzwischen hat Peter herausgefunden, dass das Boot schon eine ganze Weile inseriert ist - auf drei verschiedenen Portalen zu drei unterschiedlichen Preisen.

„Das Boot muss eine Länge von mindestens sieben Metern haben“, erklärt mir Peter, „Länge läuft.“

Alles andere kommt für ihn nicht in Frage, selbst wenn die Boote auf den Fotos in Topzustand sind, aus glänzendem Mahagoni mit Kissen und Teppichen belegt, was mir gut gefallen würde. Besonders schick sind die Boote der Bootswerft Crea auf der Giudecca. Bei unserem ersten gemeinsamen Venedig-Aufenthalt waren wir zufällig auf das Werftgelände gelangt. Gute Freunde und Venedig-Kenner hatten uns einen Restauranttipp auf der Giudecca gegeben. Um dorthin zu gelangen bei perfektem Licht im Sonnenuntergang, mussten wir den Eingang eines Werksgeländes nehmen. Dort stand eine altertümliche Gondel, wie man sie gerudert hatte, als die Passagiere noch im Verborgenen saßen und die Dame, die etwas auf sich hielt, mit ihrem cicisbeo unterwegs war.

An diesem musealen Stück vorbei befanden wir uns bald auf einem Areal mit großen Ziegelbauten. Überall standen alte Boote herum, auch riesige Gondeln unter Palmen. Neugierig schauten wir in eine offene Werkshalle. Ein Mitarbeiter bedeutete uns hereinzukommen. Die Wände hingen voll von unzähligen Holzschablonen in jeder denkbaren Größe. Es gab Boote in sämtlichen Entwicklungszuständen.

Der Anfang eines Holzbootes ist praktisch nichts. Nur eine gebogene Leiste, die einmal die Grundform ergeben wird. Im Zentrum der Halle stand eine mit feinsten Holzschnitzereien verzierte Gondel, die überall mit geflügelten Engeln geschmückt war und den Wahlspruch amor vincit omnia trug, vielleicht für eine Hochzeit oder eine Beerdigung gebaut. Nicht weit entfernt entstand ein neues Taxiboot, schön schnittig und elegant. Lange blieben wir in der faszinierenden Halle, die nach Holzspänen duftete und voller Staub war.

Irgendwann rissen wir uns los und fanden das Restaurant, das über der Werft lag. Eine blaue Eisentreppe führt entlang der Außenfassade auf die Terrasse, von der aus die Lagune jenseits der Giudecca und die zugehörige Marina zu sehen war. Ein roter Teppich war ausgebreitet, eine Gondel lag wie zur Begrüßung daneben auf dem Trockenen, unmittelbar vor ankernden Motoryachten.

Zwischen Zitronenbäumen nahmen wir unseren aperitivo, während die Sonne sank. Nach dem Hauptgang kamen wir mit dem damaligen Wirt ins Gespräch. Es war der Schwiegersohn des Besitzers der Crea-Werft, des berühmten Gianfranco Vianello „Crea“, der als siegreicher Regattagewinner auf vielen Fotos im Saal des Restaurants zu sehen war. Als ich vor der Zeichnung eines bärtigen Mannes mit einer Krone stand, kam eben dieser bärtige Mann, der jeden Tag dort sein Mittagessen einnimmt, an mir vorbei auf seinem Weg zurück an die Arbeit. Der re del remo hatte die regata storica mindestens sechsmal in Folge gewonnen. Sein Markenzeichen war das gestreifte Rudershirt ohne Ärmel, das seine ausgeprägten Oberarmmuskeln eindrucksvoll betonte.

Auch die Boote der Crea-Werft sind berühmt und haben ihren Preis, der durch die besonders elegante und gefällige Linienführung gerechtfertigt ist. Nur die sanpierote von Crea besitzen ein Teak-Deck, das sie von ihren klobigeren Geschwistern anderer Bootsbauer unterscheidet. Insgesamt hat die Werft fünf dieser Boote gebaut.

Hat man sie einmal gesehen, kann man sich nur noch schlecht mit einem anderen Modell anfreunden. Zwei dieser fünf sanpierote von Crea werden gerade gebraucht angeboten, eins auf dem Lido und eins auf dem Festland in der Nähe von Pordenone. Das Boot auf dem Festland soll gleich komplett mit Hänger verkauft werden.

Peter zweifelt. Soll er einen italienischen Hänger kaufen, von dem er nicht weiß, ob er funktioniert und in Deutschland zulassungsfähig ist?