Im Zeichen des Drachenkopfs: 3 Dicke Wikinger-Romane - Jonas Herlin - E-Book

Im Zeichen des Drachenkopfs: 3 Dicke Wikinger-Romane E-Book

Jonas Herlin

0,0

Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane Krieger des Nordens (Jonas Herlin) Erling der Mutige (R.M.Ballantyne) Der Drache und der Rabe (G.A.Henty) Nichts kann diese Wikingerflotte aufhalten - außer der Kampf zweier Brüder um die Anführerschaft. Die Langbootflotte des Wikingerfürsten Grimr Schädelspalter befindet sich auf dem Rhein mitten im Reich der Franken, als er nach einer Schlacht an seinen Wunden stirbt. Für seinen Sohn Olav ist klar, dass er nun die Führung der Flotte übernimmt. Doch sein Bruder Thorbrand greift ebenfalls nach der Macht. Plötzlich sind die Nordmänner in zwei Lager gespalten und können sich auf kein gemeinsames Vorgehen einigen, während sich ein Heer der Franken nähert. Was als gewinnbringendes Abenteur begann, endet in einem gewaltigen Kampf. Dem einen bringt er Ruhm, dem anderen den Tod.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 1288

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jonas Herlin, R.M.Ballantyne, G.A.Henty

Im Zeichen des Drachenkopfs: 3 Dicke Wikinger-Romane

UUID: d2f1b78b-4367-43e1-bdd2-4c84cfc31bce
Dieses eBook wurde mit StreetLib Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Im Zeichen des Drachenkopfs: 3 Dicke Wikinger-Romane

Copyright

Krieger des Nordens: Wikinger-Roman | Von Jonas Herlin

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

Kapitel 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Erling der Mutige: Wikinger Roman

Der Drache und der Rabe

Im Zeichen des Drachenkopfs: 3 Dicke Wikinger-Romane

Jonas Herlin, R.M.Ballantyne, G.A.Henty

Dieser Band enthält folgende Romane

Krieger des Nordens (Jonas Herlin)

Erling der Mutige (R.M.Ballantyne)

Der Drache und der Rabe (G.A.Henty)

Nichts kann diese Wikingerflotte aufhalten - außer der Kampf zweier Brüder um die Anführerschaft.

Die Langbootflotte des Wikingerfürsten Grimr Schädelspalter befindet sich auf dem Rhein mitten im Reich der Franken, als er nach einer Schlacht an seinen Wunden stirbt. Für seinen Sohn Olav ist klar, dass er nun die Führung der Flotte übernimmt. Doch sein Bruder Thorbrand greift ebenfalls nach der Macht. Plötzlich sind die Nordmänner in zwei Lager gespalten und können sich auf kein gemeinsames Vorgehen einigen, während sich ein Heer der Franken nähert. Was als gewinnbringendes Abenteur begann, endet in einem gewaltigen Kampf. Dem einen bringt er Ruhm, dem anderen den Tod.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

© Roman by Author

COVER A.PANADERO

Jonas Herlin ist ein Pseudonym von Alfred Bekker.

© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

Folge auf Facebook:

https://www.facebook.com/alfred.bekker.758/

Folge auf Twitter:

https://twitter.com/BekkerAlfred

Erfahre Neuigkeiten hier:

https://alfred-bekker-autor.business.site/

Zum Blog des Verlags!

Sei informiert über Neuerscheinungen und Hintergründe!

https://cassiopeia.press

Alles rund um Belletristik!

Krieger des Nordens: Wikinger-Roman | Von Jonas Herlin

Krieger des Nordens: Wikinger-Roman

Von Jonas Herlin

Nichts kann diese Wikingerflotte aufhalten - außer der Kampf zweier Brüder um die Anführerschaft.

Die Langbootflotte des Wikingerfürsten Grimr Schädelspalter befindet sich auf dem Rhein mitten im Reich der Franken, als er nach einer Schlacht an seinen Wunden stirbt. Für seinen Sohn Olav ist klar, dass er nun die Führung der Flotte übernimmt. Doch sein Bruder Thorbrand greift ebenfalls nach der Macht. Plötzlich sind die Nordmänner in zwei Lager gespalten und können sich auf kein gemeinsames Vorgehen einigen, während sich ein Heer der Franken nähert. Was als gewinnbringendes Abenteur begann, endet in einem gewaltigen Kampf. Dem einen bringt er Ruhm, dem anderen den Tod.

KAPITEL 1

Anno 842, in der Nähe von Xanten am Niederrhein.

„Olav! Thorbrand! Meine Söhne!”

Grimr Schädelspalter Grimssons mächtige Pranken legten sich auf jeweils eine Schulter der beiden jungen Männer, die am Bug der schlanken Skaid standen. Thorbrand und Olav waren gleich groß. Und ihre Gesichtszüge waren denen ihres Vaters so ähnlich, dass man nicht einen Augenblick lang daran zweifeln konnte, von wem sie abstammten. „Heute könnt ihr Ruhm erwerben, meine Söhne! Es wartet reiche Beute auf uns im Land der Franken! So viel Beute, wie selbst ich noch nie auf einem Haufen gesehen habe ...”

„Wir werden sie uns holen”, sagte Olav. „Bei Thor, wir werden sie uns holen!” Er grinste. „Indem sich die Königssöhne dieses Landes gegenseitig zerfleischen, statt ihre Küsten zu schützen, laden sie uns ja geradezu ein, sich das Gold ihrer Klöster und Städte zu holen!”

„Ja, aber lasst euch dies eine Warnung sein”, mahnte Grimr in ernstem Ton. Ein leichter Wind blies ihnen entgegen. Er kräuselte das Wasser des breiten Stroms, auf dem ihre Skaid zusammen mit Dutzenden anderer Schiffe flussaufwärts ruderte. Das Segel war eingeholt. Die Ruderblätter tauchten gleichmäßig ins Wasser.

Mit fast hundert Schiffen mit einigen tausend Nordmännern an Bord waren sie den Rhein flussaufwärts gefahren. Das öde Küstenland lohnte nicht für Plünderungen.Die schmalen, wendigen Skaids bildeten die Vorhut. Später folgten bauchige Knorr, auf denen sogar Reitpferde transportiert wurden. Der breite Strom war voll von Schiffen. Mit einer so großen Flotte war selbst der in Ehren ergraute Grimr noch nicht auf Fahrt gegangen. Allerdings standen die meisten dieser Schiffe auch nicht unter seinem Befehl, sondern unter dem von von Eirik „Axtmann“ Sturlason. Sein mit mehr als hundert Kriegern bemannter Draken war das größte Schiff der Flotte. Gemeinsam waren sie in Dänemark gestartet, die friesische Küste entlanggefahren und dann in Britannien gelandet.

Aber dort waren sie nicht lange geblieben, sondern hatten dann den Weg zur Rheinmündung gesucht.

Die sumpfige friesische Küstenwildnis hatten sie ungehindert durchquert, um ins Herz des fränkischen Reiches vorzustoßen. Ein Reich, in dem die drei Enkel von Karl dem Großen zurzeit um ihr Erbe einen verbissenen Krieg führten. Sie hatten von friesischen Händlern davon gehört, die mit ihren plumpen, an einen Schuh aus Holz erinnernden Schiffen regelmäßig über den Kanal fuhren, um im Land der Angelsachsen Handel zu treiben. Und einige gefangene Sachsen, die Kontakt zu ihren Verwandten im Regnum Francorum hatten, bestätigten diese Geschichten von den widerstreitenden Thronerben. Als sie dann auch noch erfuhren, dass unter den Sachsen die schwarzen Blattern wüteten, hatte Erik Axtmann beschlossen, die Küste der Angelsachsen zu verlassen. Grimr war gar nichts anderes übrig geblieben, als seinem mächtigen Bundesgenossen zu folgen, denn seine Männer allein wären niemals zahlreich genug gewesen, um sich gegen die Sachsen zu behaupten. Natürlich hatte die Aussicht auf leichte Beute im Reich der Franken die Entscheidung erleichtert, die Klöster von Wessex links liegen zu lassen.

„Macht dem Namen unserer Sippe Ehre, meine Söhne!”, sagte Grimr mit breitem Lächeln. „Thor und Odin mögen uns Glück bringen.”

„So sei es!”, sagte Olav, während sich seine Hand um den Schwertgriff legte. In seinen Augen blitzte es, als er Thorbrand einen höhnischen Blick zuwarf. „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob mein Bruder nicht insgeheim zum Christengott seiner fränkischen Mutter betet!”

Thorbrands Körperhaltung spannte sich unwillkürlich an. Das kantige Gesicht mit den hellblonden Bartstoppeln wurde von Zornesröte überzogen. Auch seine Hand umfasste den Griff des Schwertes an seiner Seite, und das so stark, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Was willst du damit sagen, Olav?”

„Nichts, was ich nicht ausgesprochen habe.”

„Dann wiederhole es in deutlicheren Worten!”

„Stimmt es nicht, dass du heimlich zum Christengott der Franken-Sklavin betest, die dich gebar?”

Thorbrand kochte innerlich. Man sah ihm an, dass er Mühe hatte, seine Wut im Zaum zu halten. Aber genau das wollte Olav nur. Dass er aus der Haut fuhr und Dinge sagte, die ihn wie einen wütenden Tölpel erscheinen ließen.Ehe Thorbrand jedoch etwas hätte erwidern können, ergriff Grimr das Wort. „Unsere Götter sind nicht eifersüchtig wie der der Franken”, sagte er. „Und zu vielen Göttern zu beten hilft vielleicht auch viel. Weder Thor noch Odin oder Njörd wären so dumm, die Hilfe eines anderen mächtigen Gottes abzulehnen.”

„Ja, so dumm ist nur der Christengott”, sagte Olav. „Aber dessen Sohn hat sich ja auch an Kreuz schlagen lassen. Was soll man von so einem Schwächling auch anderes erwarten, als dass er alle verflucht, die nicht einzig zu ihm beten. Er ist so eifersüchtig wie ein Weib. Vielleicht hat er ja auch dich verflucht, Thorbrand.”

„Heh, Grimr!”, rief in diesem Moment Bjarne, der Steuermann, ein baumlanger Kerl, dessen weißblonder Bart zu Zöpfen geflochten war, während sich das Haar auf seinem Haupt mit den Jahren schon merklich zurückgezogen und einer braungebrannten Glatze Platz gemacht hatte. Bjarne streckte den Arm aus. „Da sind Reiter am Ufer!”

Tatsächlich hoben sich am Flussufer einige Reiter als dunkle Schattenrisse gegen die tief stehende Morgensonne ab. Sie waren wie Geister aus den dichten Nebelbänken hervorgekommen, die die Flussufer umsäumten.

„Die sind weit weg“, meinte Grimr. Er lachte rau. „Und vor allem befinden sie sich auf der falschen Seite des Flusses. Die werden uns nicht gefährlich werden.”

Der Strom war zurzeit die Grenze, so hatten ihnen die Friesen erzählt, zwischen dem mittleren Teil des Reiches, den Kaiser Lothar beherrschte, und dem östlichen, regiert von Ludwig, während Karl von Paris aus den Westen des riesigen Reiches kontrollierte, dem sein Großvater und Namensvetter einst Gestalt und Größe verliehen hatte.

„Das werden Ludwigs Männer sein”, rief Grimr. „Sie haben keinen Grund, auch nur einen Finger zu rühren, wenn wir Xanten plündern!”

„Würdest du darauf wetten?”, fragte der Halmi der Graue. Niemand wusste genau, wie alt Halmi war. Seine lederne, faltige Haut ließ ihn aussehen, als wäre sein Gesicht aus grob behauenem Stein. Niemand hatte mehr erlebt als Halmi, niemand mehr Kämpfe ausgefochten, mehr Männer erschlagen, mehr fremde Länder gesehen und öfter Schiffbruch erlitten als dieser hagere Mann, der immer noch den federnden, sicheren Gang eines viel Jüngeren hatte. Nur ein zerfurchtes Gesicht ließ die Zahl der Jahre ahnen, die hinter ihm lagen. Er war allerdings auch zu alt, um Grimr die Führung über seine Männer streitig zu machen, und so vertraute dieser niemand anderem so sehr wie Halmi, nicht einmal seinen Söhnen.

„Auch wenn ich unrecht hätte“, entgegnete Grimr, „die Franken müssten zuerst einmal den Strom überqueren. Ohne Schiffe ist das nahezu unmöglich, und Brücken gibt es hier weit und breit nicht!”

Olav wandte sich an seinen Bruder. „Du hast mir noch nicht auf meine Frage geantwortet, Thorbrand. Betest du heimlich zum Gott deiner fränkischen Mutter, so wie sie es dir beigebracht hat, als du klein warst?”

In Olavs Augen blitzte es angriffslustig.

„Ich bin mir sicher, dass unser Vater mit meiner Mutter sehr viel mehr Freude hatte als mit deiner, Olav“, sagte Thorbrand gehässig, „vor deren Anblick er nicht einmal mehr zu fernen Küsten fliehen kann, seit du auf seinen Schiffen mitsegelst. Denn du siehst dieser hinterhältigen, faltig gewordenen Schlange aus Bragis Sippe bemitleidenswert ähnlich.”

Olav stutzte einen Augenblick, dann ließ wieder ein wölfisches Grinsen seine Zähne blitzen. „Gut gebrüllt, Walross! Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.”

„Ach nein?”

„Nein, ich hatte gedacht, deine Berserkerwut ginge mit dir durch und du würdest dich auf mich stürzen, sodass ich dich mit vollem Recht in mein Messer laufen lassen könnte. Aber dazu gibt es sicher noch eine Gelegenheit ...”

„Willst du nicht erst noch ein paar Franken erschlagen? Oder fehlt dir dazu der Mut, Olav?” Thorbrand machte eine ausholende Geste. „Das Land hier ist flach, da wirst du richtig kämpfen müssen, denn einen Hinterhalt zu legen, ist hier nicht gut möglich.”

Ein wildes Kriegsgeschrei erhob sich, als in den Nebeln des Ostufers die Umrisse von Mauern und Gebäuden auftauchten. Das musste Xanten sein. Hölzerne Palisaden umgaben den Ort. Es schien aber auch Gebäude aus Stein zu geben. Zumindest ragte ein steinerner Kirchturm über die Befestigungen hinaus.

Am Fluss lagen Dutzenden von Schiffen und Booten. Einige Fischer waren gerade damit beschäftigt, den Fang der letzten Nacht auszuladen. Aber als sie die Flotte der Nordmänner bemerkten, die sich dem Ort näherte, ließen sie die Netze und den Fang zurück und flohen augenblicklich. Ihre Schreie gellten bis zu den Drachenschiffen.

„Rudert schneller!”, rief Grimr und schwenkte die Streitaxt. „Ich kann es kaum erwarten, Franken zu töten!”

„Wenigstens gibt es einen Kirchturm”, meinte Olav. „Dann können wir ja hoffen, dass es auch ein Kloster und ein paar Schätze zu erbeuten gibt.”

Die ersten Skaids erreichten die Anfurten am Flussufer. Grimr und Thorbrand gehörten zu den Ersten, die an Land gingen. Sie stürmten die Uferböschung hinauf.

Olav hingegen hielt sich zurück. Die Götter liebten zwar die Tollkühnen und ließen sie in Walhall bewirten, um mit ihnen auf die letzte Schlacht zu warten, in der am Ende der Zeiten die Götter zusammen mit den toten Helden gegen die Riesen kämpften. Aber Olav war sich gar nicht so sicher, ob er wirklich daran teilnehmen wollte. Schließlich sagten die Legenden, dass in dieser Schlacht am Tag Ragnarök die Riesen den Sieg davontrugen. Man nannte dieses Ereignis nicht umsonst die Götterdämmerung. Die Ordnung der Welt würde zerstört werden und die Erde zu dem werden, was sie schon vor dem Beginn der Zeiten gewesen war - einem Ort des Chaos.Olav stand nicht gern auf der Seite der Verlierer. Niemals. Das Kriegsglück war nicht mit den tollkühnen Berserkern, sondern mit dem, der nur dann kämpfte, wenn er wusste, dass er auch gewann. Ein schneller Angriff aus dem Hinterhalt oder mit überlegenen Kräften - das war es, was die Götter in dieser Welt belohnten, auch wenn das als wenig heldenhaft galt. Doch das war Olav gleich, und so ging er erst an Land, als die meisten anderen Nordmänner schon längst auf die Palisaden von Xanten zugestürmt waren und die ersten von ihnen mit Pfeilen bespickt tot am Boden lagen.

„Na los, Olav! Dein Vater soll nicht sagen, dass du von einem alten Mann überholt worden bist!“, rief Halmi der Graue ihm zu.

In Pech getränkte Brandpfeile pfiffen durch die Luft und gingen wie Sternschnuppen zu Hunderten im Inneren des Umgrenzungswalls nieder. Vor allem die Männer aus Bragis Sippe galten als gute Bogenschützen. Diese Männer folgten Grimr seit vielen Jahren. Und dass Grimr eine ihrer Frauen geheiratet hatte, hatte die Verbindung zwischen beiden Sippen noch verfestigt. Grimr war bis zu einem gewissen Grad auf die Hilfe dieser Männer angewiesen. Krieger, die dem Feind mit einer langstieligen Dänenaxt den Schädel einschlagen konnten, gab es viele, aber gute Bogenschützen waren selten.

Nur ein Teil der Bogenschützen verschoss Brandpfeile. Die anderen hatten es auf die Kämpfer hinter den Palisaden abgesehen, die auf einem aufgeschütteten Wall errichteten waren. Die Anzahl dieser Kämpfer war nicht sehr hoch, doch auch unter ihnen gab es Bogenschützen, die Pfeil um Pfeil verschossen. Aber die Männer aus Bragis Sippe dezimierten sie schnell.

Das dem Fluss zugewandte Tor war längst verschlossen worden. Aber in den beiden Wachtürmen links und rechts davon steckten bereits mehrere Brandpfeile, und da diese Türme aus Holz waren, würden sie früher oder später in Brand geraten.

Der Großteil der Nordmänner stürmte einfach auf den Schutzwall zu. In den Schilden der meisten steckten bereits Pfeile, aber die Verluste hielten sich in Grenzen. Auch dafür sorgten die Männer aus Bragis Sippe, die die gegnerischen Bogenschützen unter Beschuss nahmen. Einer fiel schreiend über die Brüstung. Er lebte noch, als die ersten Nordmänner die aufgeschüttete, grasbewachsene Böschung hinaufstürmten.

Es war Grimr persönlich, der den Franken mit seinem Schwert ins Jenseits beförderte.

Thorbrand erreichte mit einigen anderen Kriegern die Palisaden. Anderthalb Mannhöhen ragten sie empor und waren oben angespitzt. Aber solche Wälle stellten für die Nordmänner kein Hindernis da. Einer der Krieger formte mit den Händen einen Tritt. Thorbrand steckte das Schwert ein und warf seinen Schild zur Seite, in dem ein halbes Dutzend Pfeile steckten. Ein Bogenschütze legte von oben auf ihn an. Aber noch bevor er die Bogensehne loslassen konnte, hatte ein Krieger aus Bragis Sippe ihn mit einem sicheren Schuss getötet.

Der Name dieses Kriegers war Gunjorn Gutauge. Er war ein Bruder von Grimrs Frau Solvejg. Gunjorns Helm fiel durch eine deutlich erkennbare Delle auf, die ihm der Kampf mit einem Sachsen eingebracht hatte. „Na los, über den Wall mit euch!“, rief er, während er beim Laufen einen weiteren Pfeil auf den Weg schickte, der einen anderen Gegner hinter der Brustwehr durchs Auge ins Hirn fuhr.

Thorbrand setzte den Fuß in die ineinander verschränkten Hände eines Kampfgefährten, schwang sich auf dessen Schultern, setzte einen Fuß zwischen die angespitzten Rundhölzer, aus denen die Umgrenzung gefertigt war, und sprang dann tollkühn über die Brüstung.

Er hatte so viel Schwung, dass er auf dem Wehrgang zu Boden taumelte. Er hielt einen Verteidiger mit einem wüsten Tritt auf Distanz und riss einen zweiten mit sich in die Tiefe. Thorbrand landete auf ihm und rutschte dann mit ihm zusammen die Aufschüttung für den Befestigungswall hinunter. Unten war er als Erster wieder auf den Beinen, riss eine kurzstielige, leichte Wurfaxt aus dem Gürtel und schleuderte sie mit einer fast wie beiläufig wirkenden Bewegung einem Verteidiger entgegen, der mit einer Axt in den Händen auf ihn zustürmte. Die Schneide des Beils traf dem Franken ins Gesicht und spaltete ihm fast den Schädel. Thorbrand riss das Schwert heraus und schwang die Klinge blitzschnell durch die Luft, gerade noch rechtzeitig, um damit den Angriff eines weiteren, herbeigeeilten Angreifers abzuwehren. Stahl klirrte gegen Stahl. Thorbrand ließ seine lange, schlanke Klinge mit einem wuchtigen Hieb zurückfahren und traf das Bein des Angreifers. Dessen Schrei gellte, als Thorbrands Schwert das Bein knapp unterhalb des Knies durchtrennte. Der fränkische Krieger stürzte und ruderte dabei mit dem Schwertarm durch die Luft. Thorbrand rollte zur Seite, um dem Fallenden auszuweichen und stieß ihm dann das Schwert in den Leib.

Rufe drangen an sein Ohr.

„Feuer! Es brennt!”, rief die heisere Stimme einer Frau, die wie von Sinnen klang. Dass es brannte, war unübersehbar, denn es stiegen dunkle, fast pechschwarze Rauchsäulen zum dunstigen Himmel empor, durch den kaum die Morgensonne zu dringen vermochte.

Der Klang dieser Worte erinnerte Thorbrand an seine Kindheit. An seine Mutter, eine Sklavin auf dem Hof von Grimr Schädelspalter. Sie hatte Thorbrand die Sprache der Franken gelehrt. Seine Mutter war an einem Fieber gestorben, bevor er zehn Jahre gewesen war. Aber den Klang ihrer Sprache hatte er noch immer im Ohr - gut genug, um sich darin zu verständigen. Die Unterschiede zur Sprache der Nordmänner waren auch nicht besonders groß.

Es war ein eigenartiges Gefühl für Thorbrand, in das Land seiner Mutter als Räuber und Plünderer einzudringen. Ein Land, das ihm durch ihre Erzählungen auf eigenartige Weise vertraut erschien, obwohl er es bisher noch nie betreten hatte.

Thorbrand fasste den Schwertgriff mit beiden Händen und wirbelte herum, als er im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Heisere Schreie waren zu hören. Todesschreie und barsche Befehle mischten sich. Innerhalb weniger Augenblicke war Thorbrand von mindestens einem Dutzend Franken umringt. Ein Speer wurde in seine Richtung gestoßen. Thorbrand wich zur Seite. Durch einen wuchtigen Hieb sorgte er dafür, dass seine Gegner mehr Distanz wahrten. Einen irren Schrei ausstoßend stürmte schließlich einer der Franken auf Thorbrand zu. Der parierte den ersten Schwerthieb und musste vor dem zweiten einen Schritt zurückweichen. Da er eingekreist war, blieb ihm nichts anderes übrig als ein blindwütiger Gegenangriff. Mit aller Kraft schlug er um sich. Die doppelschneidige Klinge wirbelte durch die Luft und klirrte gegen den Stahl des Gegners. Der Hieb war so heftig, dass dessen Klinge brach. Schlechter Stahl, der von Unkundigen gebrannt worden war. Schon im nächsten Augenblick hatte Thorbrands schneller Stich den Franken getötet. Der Nordmann wirbelte herum, trennte einem anderen Angreifer die Schwerthand vom Körper, wich einem Speer aus, der haarscharf an ihm vorbeiflog, und griff erneut an.

Da gellte ein Schrei. Ein zweiter Nordmann hatte es geschafft, die Palisaden zu überklettern und sprang tollkühn zwischen die Franken. Das war Hromund der Raue, einer der wenigen Männer aus Bragis Sippe, die schlecht im Bogenschießen waren. Dafür hatte Hromund andere Qualitäten. Er war selbst für die Verhältnisse der Nordmänner ein Riese. Thorbrand, obwohl hochgewachsen und breitschultrig, wirkte gegenüber diesem Koloss fast schmächtig. Die Muskeln seiner Arme, die sich unter seinem Wams abzeichneten, waren so dick, dass manch anderer sie gern als Oberschenkel gehabt hätte. Im Kampf trug er stets ein Bärenfell um die Schultern, weil er glaubte, dass dadurch die Kräfte des wilden Tieres auf ihn übergingen. Und er nahm vor jeder Schlacht eine Essenz bestimmter Pilze zu sich, die ihn in Rage brachte und dafür sorgte, dass er keine Furcht und keinen Schmerz fühlte.

Wild schreiend stürzte er sich sogleich auf seine Gegner. Einen von ihnen hatte er bereits mit einem Faustschlag außer Gefecht gesetzt. Einhändig führte er eine besonders lange Dänenaxt, deren Klinge deutlich größer war als die seiner Kampfgefährten. Ein Hieb fuhr dem nächstbesten Franken durch den Helm und spaltete ihm den Kopf bis zum Halsansatz. Blut schoss empor, als Hromund das Axtblatt aus dem knackenden Schädel zog, wobei er dem zuckenden Leib des Franken einen Tritt versetzte. Er schwang die furchtbare Waffe herum und senste mit einem Schlag gleich zwei Gegner nieder.

„Na, endlich!”, rief Thorbrand. „Ich dachte schon, ihr lasst mich allein!”

Hromund antwortete nur mit einem Knurren. Seine Augen waren blutunterlaufen und geweitet. In diesem Zustand sprach man ihn besser nicht an. Selbst seine Kampfgefährten vermieden das, denn wenn er in Berserker-Rage war, konnte sein wilder Zorn versehentlich auch einen Bundesgenossen treffen.

Weitere Krieger kamen über die Palisaden. Der irre Orm, dessen Haare zu Dutzenden Zöpfen geflochten waren und der nie einen Helm trug, packte einen Gegner mit bloßen Händen und rammte ihn auf die angespitzten Rundhölzer, aus denen die Palisaden bestanden. Der Schrei des Franken vermischte sich mit dem Schlachtenlärm, als sein Rückgrad brach.

Der irre Orm war ein jüngerer Bruder von Grimr Schädelspalter. Zwanzig Jahre trennten die beiden. Er gehörte eher in Thorbrands und Olavs Generation als in die seines Bruders Grimr.

Thorbrands Großvater, Grimr Schädelspalter der Ältere, hatte diesen Sohn mit seiner zweiten, sehr viel jüngeren Frau noch im hohen Alter gezeugt. Den Beinamen „der Irre“ hatte Orm erhalten, seit Hromund ihm gezeigt hatte, wie man das Pilzextrakt zubereitete, das einen Krieger vergessen ließ, dass er zu den Sterblichen gehörte.

Orm stürzte sich mit einem wilden Schrei auf einen weiteren Franken, stieß ihm zwei Dolche in den Leib und versetzte ihm gleichzeitig noch einen Kopfstoß mit der Stirn. Der Frankenkrieger fiel vom Wehrgang hinter den Palisaden. Im Nahkampf benutzte der irre Orm häufig ein Dolchpaar, da man damit dem Gegner gegenüber beweglicher war als mit dem Schwert, für das man eine gewisse Bewegungsfreiheit brauchte, um es effektiv einzusetzen. Der irre Orm trug sein Schwert auf dem Rücken gegürtet und war stolz darauf, es kaum zu benutzen. Denn niemand kam dem Feind näher als Orm.

Thorbrand hingegen hätte es als unter seiner Würde empfunden, auf diese Weise zu kämpfen. Die Waffe eines richtigen Kriegers war das Schwert oder die Axt. Allenfalls noch der Bogen, wenn man ihn mit der Kunstfertigkeit zu führen wusste wie viele der Männer aus Bragis Sippe.Der irre Orm sprang vom Wehrgang und auf einen der Frankenkrieger, der gerade einen Speer in Thorbrands Richtung werfe wollte. Er erwischte den Franken von hinten, rammte ihm mit der vollen Wucht seines Sprungs einen seinen Dolche in die Nieren und schlitzte ihm mit dem anderen den Hals auf. Das Blut spritzte aus der offenen Kehle, während der Franke zu Boden taumelte.

Hromunds Axtklinge hakte sich in die Kniekehle eines Franken. Ein weiterer Hieb mit der Dänenaxt zertrümmerte ihm den Schädel.

Mehrere Dutzend Nordmänner waren unterdessen über die Palisaden gelangt. Gleichzeitig gingen Brandpfeilen in der Stadt nieder. Einige Häuser standen bereits in Flammen. Es war aussichtslos, die Brände löschen zu wollen, während die Schlacht tobte und immer neue Brandpfeile abgeschossen wurden. Immer mehr Rauchsäulen stiegen zum Himmel auf.

„Zum Tor!”, rief Thorbrand. Denn das war jetzt das Wichtigste. Wenn es die Eindringlinge schafften, das Tor zu öffnen, würden gleich mehrere hundert Nordmänner in die Stadt gelangen. Damit wäre der Kampf entschieden. Doch selbst wenn das nicht gelang, war es nur eine Frage der Zeit, wann der Ort von den Nordmännern eingenommen werden konnte.

Thorbrand ließ immer wieder sein Schwert durch die Luft wirbeln. Er hatte diese Bewegungen so oft ausgeführt, dass sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Er brauchte nicht darüber nachzudenken, was er tat. Eine Schwertspitze traf ihn am Oberkörper und durchdrang den Lederbezug seines Wamses, blieb aber in den Lagen dicht gewebter Stoffe darunter stecken. Der Stoß warf nicht kraftvoll genug geführt worden. Thorbrand schlug die gegnerische Klinge beiseite, ehe sie ihn tatsächlich verletzen konnte, und stieß im nächsten Moment selber zu. Der Franke sank ächzend zu Boden, während Blut seine Kleidung rot färbte, das aus seiner offenen Kehle sprudelte. Es schoss ihm auch aus Mund und Nase. Er röchelte und zuckte noch wie ein geschlachtetes Huhn, als er schon am Boden lag.

Der irre Orm stürzte sich schreiend auf einen Franken, der mit schreckgeweiteten Augen vor diesem Berserker zurückwich. Hromund befand sich inzwischen ebenfalls in Thorbrands unmittelbarer Nähe. Und mit diesen beiden Berserkern an der Seite stürmte der junge Nordmann nun in Richtung des Haupttores auf der Flussseite der Stadt. Schon allein die Schreie von Hromund dem Rauen und die des irren Orm sorgten für Entsetzen unter den fränkischen Verteidigern.

Besonders stark besetzt war das Tor nicht. Die ganze Befestigungsanlage hatte auf Thorbrand schon auf den ersten Blick nicht den Eindruck gemacht, sehr zahlreich bemannt zu sein. Vielleicht hatte das mit dem Krieg der Könige zu tun, der zurzeit im Frankenreich tobte. Ein Umstand, der jedem in die Hand spielte, der den Mut hatte, sich zu nehmen, was nicht ausreichend beschützt wurde.

Das Tor war rasch freigekämpft. Augenblicke später humpelten drei Franken blutend davon, während ein halbes Dutzend anderer erschlagen am Boden lag.

––––––––

Thorbrand steckte das Schwert ein, und zusammen mit Hromund schob er die großen Balken zur Seite, die als Riegel dienten. Dann war es geschafft, das Tor konnte geöffnet werden, und die wilde Horde der Nordmänner stürmte herein. Selbst der große Hromund wurde fast umgerissen, als ihn einer der Krieger mit seinem Schild anrempelte.

Grimr Schädelspalter Grimsson und Eirik Sturlason waren unter den ersten. Etwas später folgten auch Olav und der alte Halmi.

Die Bogenschützen schossen unterdessen eine weitere Salve Brandpfeile ab, vermutlich die letzte, denn auch für die Schützen gab es kein Halten mehr. Niemand wollte bei der Plünderung der Letzte ein. Auch wenn der Großteil der Beute später gerecht und nach den Regeln der Sippen verteilt wurde, gab es doch auch das eine oder andere, was man sich so unter den Nagel reißen konnte. Ein gutes Schwert, ein goldenes Christenkreuz oder einen Sack Silbermünzen, den ein Händler vielleicht unter seinem Bett versteckt hatte.

„Gut gemacht, Thorbrand!”, rief Grimr Schädelspalter, und der Stolz auf seinen Sohn war ihm deutlich anzuhören.

Zu deutlich, denn Olavs Blick verfinsterte sich sogleich. Der Helm mit dem tiefen Nasenschutz ließ es nicht für jeden erkennen, aber Thorbrand bemerkte es sehr wohl. Er kannte seinen Bruder schließlich von klein auf. Gleich alt waren sie. Ihre Mütter - Grimrs Frau Solvejg Bragistochter und die Sklavin, die man einfach nur „die Fränkin“ genannt hatte - hatten am selben Tag entbunden. Niemand wusste mit Sicherheit zu sagen, wessen Schrei man zuerst gehört hatte. Die Einzige, die dies hätte wissen können, war die heilkundige Audhild. Aber die war damals schon sehr alt gewesen, älter als irgendjemand sonst, dem Thorbrand je begegnet war. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er als Fünfjähriger zu ihr gegangen war, als sie allein und in sich zusammengesunken an ihrem Feuer saß. Ganz ruhig hatte sie gewirkt. Er hatte sich zu ihr gesetzt, ihr von seinen Erlebnissen des Tages erzählt, und erst, als er sie wiederholt angesprochen und sie ihm keine Antwort gegeben hatte, hatte er begriffen, dass sie nicht mehr lebte. Ihr Geheimnis hatte sie mit in das Totenreich der Göttin Hel genommen, und dort würde es bewahrt bleiben, es sei denn, einer der beiden Halbbrüder machte sich irgendwann auf den Weg dorthin, um es der alten Audhild doch noch zu entreißen.

„Du wirst mal ein guter Anführer”, meinte Grimr, während er seinem Sohn auf die Schulter schlug. Dann ging er weiter und schrie: „Fangt alle Mönche und Nonnen! Die wissen, wo weitere Mönche und Nonnen sind und ihre Klöster mit den Goldschätzen! Habt ihr gehört?”

„Du wirst mal ein guter Anführer”, äffte Olav seinen Vater nach. Grimr war inzwischen weit genug entfernt, um die Worte nicht mehr zu hören, die allein für Thorbrand bestimmt waren.

„Na los, worauf wartest du?”, fragte Thorbrand. „Stürmen wie die Stadt!”

„Natürlich”, knurrte Olav, und er dachte: Ja, ein toller Anführer wirst du! Immer nach vorne, ohne nachzudenken! Genau wie unser Vater!Die charakterliche Ähnlichkeit zwischen den beiden war wohl auch der Grund dafür, dass Grimr Schädelspalter Thorbrand bevorzugte. Ausgerechnet ihn, ging es Olav nicht zum ersten Mal durch den Kopf, den Sohn der schwächlichen Franken-Sklavin, die schon vom ersten Ausbruch eines Fiebers dahingerafft worden war und ihrem Sohn nur die Gebete des Christengottes hinterlassen hatte. Ein Gott, der sich von seinen Feinden ans Kreuz nageln ließ und behauptete, dadurch die Welt zu erlösen, war mindestens so einfältig wie der irre Orm oder Hromund der Raue, nur auf andere Weise. Eines Tages, dachte Olav, wird alles mir zufallen. Alles, was mein Vater zusammengerafft und diesem Tölpel, der mein Halbbruder ist, vermachen will!

Mit einem Gesicht, das zu einem grimmigen Lächeln verzogen war, folgte Olav seinem Bruder und den anderen.

KAPITEL 2

Überall waren in der Stadt Schreie zu hören. Und der dichte Rauch raubte Freund und Feind schier den Atem. Die Nordmänner gingen von Haus zu Haus, um zu plündern oder zu vergewaltigen, wenn sie ein weibliches Wesen vorfanden. Kampfeslärm war kaum noch zu hören. Die Verteidiger waren geflohen oder tot. Manche der Bewohner hatten die Stadt ebenfalls Hals über Kopf verlassen, wie zu erwarten gewesen war. So würde sich die Nachricht vom Fall Xantens schnell verbreiten.

Regen setzte ein. Eiskalt war er, denn er wurde von einem rauen Wind aus dem Norden gebracht.

In der Mitte des Ortes gab es eine Kirche. Sie war größer, als Olav und Thorbrand je irgendwo eine andere gesehen hatten. Selbst Grimr und der schon weitgereiste Eirik waren einen Moment lang beeindruckt.

„Bei Odin!“, meinte Eirik. „Die Kirchen der Sachsen sind dagegen nur Hütten!” Er spuckte aus, während er auf seine Axt gestützt dastand. Der graue Bart wuchs ihm fast bis unter die Augen. Der heftiger werdende Regen tropfte vom Nasenschutz seines Helms, in den eine Goldmünze als schmückendes Beiwerk eingearbeitet war. Sie trug eine Aufschrift in Griechisch und Latein und stammte angeblich aus der sagenhaften Stadt Konstantinopel, über die man sich erzählte, dass es dort Kirchen mit Dächern aus purem Gold gäbe. Geschichten, die Olav nie so ganz hatte glauben wollen, wenn sie die Männer am Feuer erzählten. Auf welch verschlungenen Pfaden diese Münze ihren Weg aus der legendären Stadt der goldenen Dächer bis zum Helm von Eirik Axtmann Sturlason gefunden hatte, war nicht bekannt.

„Auf jeden Fall ist die Kirche ein guter Ort, um darin die Gefangenen zusammenzutreiben”, meinte Grimr.

„Ich denke, wir sollten dort auch übernachten.“ Eirik deutete in den grauen Himmel, aus dem es immer heftiger regnete. „Odins feuchte Grüße sind das!”

„Du denkst daran, länger hierzubleiben?”, fragte Grimr ein wenig verwundert.

„Wieso nicht?”

„Es ist besser, als wenn wir in der Nähe im Freien kampieren”, mischte sich Olav ein.

Eirik klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. „Dein Sohn versteht mich, Grimr. Wenn fränkische Krieger in der Nähe sein sollten, können wir uns besser hier als irgendwo sonst gegen sie verteidigen.”

Grimr grummelte etwas Unverständliches. Der Gedanke, auch nur eine Stunde länger als unbedingt notwendig an diesem Ort zu bleiben, gefiel ihm nicht, und das war ihm überdeutlich anzusehen. Aber Eirik hatte mehr Schiffe unter seinem Befehl als er. Und hier, schon zu tief im Reich der Franken, um einfach schnell wieder verschwinden zu können, war er auf Eiriks Schutz angewiesen.

––––––––

Der Regen wandelte sich in Hagel und schließlich in einen Schneesturm. Der eisige Wind blies Feuchtkalt über das flache Land. Der sumpfige Boden begann sich an manchen Stellen mit Eis zu bedecken.

Es gab keinen unter den Nordmännern, dessen Kleidung nicht durchnässt gewesen wäre. Selbst die aus verschiedenen Schichten bestehenden Wamse oder Pelze boten gegen solches Wetter keinen ausreichenden Schutz.

„Das Wetter muss der Christengott geschickt haben”, sagte Grimr finster, denn der Sturm ermöglichte mehr Einwohnern von Xanten die Flucht, als ihm lieb war. Andererseits hatten die Flüchtlinge so gut wie nichts mitnehmen können, und das wenige, das sie aus der Stadt zu schleppen versuchten, mussten sie größtenteils unterwegs zurücklassen, denn Pferdewagen und Ochsenkarren blieben in dem völlig aufgeweichten Boden stecken. Einige Dutzend der Nordmänner folgten den Flüchtlingszügen und sammelten die Beute ein.

Eirik gab den Befehl, alles, was zusammengerafft werden konnte, zunächst in das Kloster in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche zu bringen. Dessen Hauptgebäude schien ihm am geeignetsten.

––––––––

Die Gefangenen wurden in die Kirche getrieben. Unter ihnen waren besonders viele Mönche und Nonnen. Grimr hatte befohlen, besonders auf sie zu achten, damit keiner von ihnen entkam. Zusammengekauert saßen sie da in ihren schmutzbraunen Kutten.

„Wer von euch wegläuft, bevor ich es erlaube, wird erschlagen”, rief Grimr in der Sprache der Nordmänner, durchsetzt mit ein paar Worten, wie sie die Sachsen benutzten. „Habt ihr mich verstanden, ihr Christenbastarde?” Dann wandte er sich an Thorbrand. „Sprich du mit ihnen und erklär ihnen in ihrer Sprache, was ich gesagt habe”, forderte er. „Du kannst doch noch reden wie deine Mutter, oder?”

„Es gibt Dinge, die man nicht vergisst”, entgegnete Thorbrand.

Er ließ den Blick über die Gefangenen schweifen. Eine junge Frau fiel ihm auf. Es musste sich um eine Nonne handeln, auch wenn sie keine Haube trug. Die musste bei der Gefangennahme vom Kopf gerissen worden sein. Ihr Haar war kurz geschnitten, die Augen angstgeweitet. Sie zitterte vor Kälte, was nicht verwunderlich war. Thorbrand wusste, dass die meisten Ordensgemeinschaften ihren Mitgliedern eine ärmliche, unzureichende Kleidung vorschrieben. Thorbrand konnte den Blick nicht von ihr wenden. Die Nonne erwiderte ihn kurz, und ihr Entsetzen schien sich daraufhin noch zu steigern. Thorbrand begriff, dass sie seinen Blick missverstand. Sein Interesse hatte einzig damit zu tun, dass sie ihn an seine Mutter erinnerte, an „die Fränkin“.

„Ich habe keine Lust dazu, euch lange zu foltern, bis ihr mir verratet, was ich wissen will”, sagte Grimr. „Ich werde es aber tun, wenn mir eure Antworten nicht gefallen oder ich merke, dass ihr mich anlügt! Sag auch das diesen Hunden noch einmal in ihrer Sprache, Thorbrand!”

Thorbrand reagierte erst, nachdem ihm Grimr mit dem Ellenbogen anstieß, denn er war in Gedanken in der Vergangenheit gewesen. Die Frau, die man nur „die Fränkin“ genannt hatte, war stets erniedrigt worden. Vor allem von den anderen Frauen. Als eine Magd, die schon lange auf Grimrs Hof war, sie schlug, weil die Fränkin angeblich ihre Arbeit nicht gut genug verrichtet hatte, war Thorbrand in einem Anfall von Jähzorn auf das herrische Weib losgegangen, um seine Mutter zu schützen. Er hatte die Magd in ein Schlammloch gestoßen, wonach diese aussah, als wäre sie ein leibhaftiger Bergtroll, der gerade aus der Erde gestiegen war. Thorbrand erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. An diesem Tag war Grimr zum ersten Mal auf Thorbrand aufmerksam geworden. Er hatte den Jungen in Schutz genommen und vor allen verkündet: „Sie hat verdient, was der Junge getan hat!”

Viele, die dabeistanden, hatten gelacht. Nur nicht die über und über mit Schlamm beschmierte Magd - und Olav. Den finsteren Blick seines Halbbruders hatte Thorbrand ebenfalls nie vergessen.

Thorbrand übersetzte die Drohungen seines Vaters.

„Wir verstehen euch auch so, wenn ihr langsam sprecht”, fiel ihm einer der Mönche ins Wort. Es war ein älterer Mann mit weißem wirrem Haar.

Grimr wollte schon aufbrausen, weil der Alte seinen Sohn unterbrochen hatte, da schwang die Kirchentür knarrend auf, und ein Schwall kalter Luft wehte herein.

Es waren Bragi Bragison und ein paar Männer aus seiner Sippe, die in die Kirche traten, und sie trieben weitere Gefangene vor sich her. Ein paar Mönche waren darunter, aber bei den anderen handelte es sich um auffallend bemalte Frauen. Ihre Lippen waren so übertrieben rot, dass man auf den ersten Blick glauben mochte, man hätte sie blutig geschlagen. Aber das war nicht der Fall.

„Es gibt hier ein Webhaus!”, dröhnte Bragi. „Und genau da habe ich diese Bande hier aufgegabelt”, berichtete er.

„Die Frauen oder die Mönche?”, fragte Eirik grinsend.

„Beide”, knurrte Bragi.

„Meinst du eines dieser Häuser, in denen Frauen für Geld den Männern beiliegen?”, fragte Olav.

„Und weben oder spinnen, wenn niemand ihrer anderen Dienste bedarf”, bestätigte Bragi.

„Die Mönche zu den anderen Mönchen!”, befahl Grimr. „Und die Frauen ...” Er brach ab und musterte sie.

„Du sieht nicht gerade begeistert darüber aus, dass wir uns hier vermutlich noch gut amüsieren werden”, meinte Eirik Sturlason.

Grimr machte eine wegwerfende Handbewegung. „Du hättest besser ein paar Gefangene aufgetrieben, für die man ein Lösegeld erwarten kann.“

„Wir können nur wenige Gefangene mitnehmen, wenn wir noch weiter flussaufwärts fahren, um reiche Klöster zu plündern“, mischte sich Olav ein und dachte grimmig: Keiner dieser Narren denkt über den nächsten Tag hinaus.

„Dann kann man nur hoffen, dass das auch wirklich reiche Klöster sind“, maulte Bragi und stützte sich dabei auf seinen Bogen. „Das, was wir hier gefunden haben, ist jedenfalls eher eine Enttäuschung. Entweder waren die Brüder wirklich so bettelarm, wie sie sich kleiden, oder die wertvollsten Stücke wurden aus der Stadt geschleppt.“ Ein Tölpel wie du erkennt die wertvollsten Stücke nicht mal dann, wenn sie neben billigem Tand vor ihm lägen, dachte Olav, aber er behielt die bissige Bemerkung für sich. Er hatte sich vorgenommen, eines Tages die Nachfolge seines Vaters anzutreten, und er war überzeugt davon, ein besserer Anführer zu sein, als Grimr Schädelspalter Grimsson es je gewesen war. Allerdings wusste Olav, dass er dann auf die Unterstützung von Bragis Sippe angewiesen sein würde. Gute Bogenschützen waren eben selten, und gewisse Unternehmungen ließen sich nur mit deren Unterstützung durchführen.

„Ihr habt gehört, was ich gesagt habe“, wandte sich Grimr erneut an die Gefangenen und holte ein Pergament unter seinem Wams hervor, eine Karte, die er einem friesischen Händler an der Küste der Angelsachsen weggenommen hatte. Sie zeigte den Verlauf des Rheins von der Mündung bis tief hinein in das Reich der Franken. Einige Städte und Handelsplätze waren darauf verzeichnet und die Namen in lateinischen Buchstaben vermerkt; dahinter hatte der Händler römische Zahlen notiert. Hier und dort waren zudem christliche Kreuze zu sehen, die sehr wahrscheinlich für Kirchen oder Klöster standen. Aber auf der Karte befanden sich auch viele Zeichen, von denen Grimr nicht wusste, was sie bedeuten sollten. Abgesehen davon war die Karte sicherlich nicht vollständig. „Ich will von euch alles über die Kirchen und Klöster wissen, die es flussaufwärts gibt. Über die Schätze, die dort zu finden sind ... Übersetz ihnen das, Thorbrand, damit sie wirklich verstehen, was ich meine!”

Thorbrand gehorchte. Einer der Mönche begann zu beten. Er murmelte lateinische Wörter vor sich hin, von denen keiner der Nordmänner auch nur ein Wort verstand mit Ausnahme von Halmi dem Grauen. Der hatte sich einst von einem gefangenen Priester, der in die Sklaverei verkauft worden war, ein wenig von dieser Sprache beibringen lassen. Schließlich wusste man ja nicht, ob einen der Wind nicht irgendwann an die Küste eines Landes blies, wo man sich dieser Sprache bedienen musste.

„Er ruft den Beistand der Mutter Gottes und aller Heiligen an“, erklärte Halmi.

Der raue Hromund übertönte das Gebet mit einem durchdringenden Schrei. Sein Kopf war hochrot, die Augen so sehr geweitet, als wollten sie ihm im nächsten Moment aus dem Kopf fallen. Er riss einem der anderen Männer die Axt aus den Händen und stürzte sich auf den Mönch. Eigentlich hatte er diese besondere Stimmung für Feinde im Kampfgetümmel reserviert. Aber hin und wieder geriet er auch sonst in Rage, und dann ging man ihm besser aus dem Weg. So griff auch diesmal keiner der anderen Nordmänner ein, und im nächsten Augenblick war die Axtklinge dem betenden Mönch durch die Schädeldecke gefahren und spaltete ihm den Kopf bis zum Unterkiefer.

Hromund riss die Klinge aus dem Schädel und hieb noch einmal zu. Der dröhnende Laut, der dabei aus seinem Mund brach, hörte sich an wie der Schrei eines Tiers.

„Der sollte besser nicht mehr so viel von seinem Fliegenpilzextrakt nehmen”, murmelte Olav an Bragi Bragison gerichtet. Mit den Männern aus der Sippe einer Mutter verstand er sich zumeist recht gut. Das galt auch für Hromund. Allerdings war der etwas aus der Art geschlagen, und als Bogenschützen mit ruhiger Hand wie Bragi und die meisten anderen Männer dieser Sippe hätte man sich Hromund den Rauen kaum vorstellen können.

Hromund atmete tief durch und schlug sich das Bärenfell zurück auf den Rücken. Die anderen sahen ihn schweigend an. In diesem Moment war nicht ein einziger Laut im Inneren der Kirche zu vernehmen, nur das Brausen und Heulen des Sturms draußen war zu hören.

„Niemand tötet meine Gefangenen”, sagte Grimr ruhig, aber bestimmt. „Hast du verstanden?”

Hromund deutete auf den toten Mönch. „Sei froh, dass ich ihn erschlug, bevor er seinen Christenzauber wirken konnte. Das wäre uns schlecht bekommen.”

„So wie dir deine Fliegenpilz-Kost”, meinte Thorbrand.

„Lass ihn”, sagte Grimr zu seinem Sohn. „Nicht jeder ist von Natur aus ein Berserker wie du.” Er sah Hromund an. „Schaff die Leiche hier raus!“„Mönche gibt’s hier genug“, knurrte Hromund. „Einer weniger ist kein Grund, sich zu beklagen, Grimr.” Er winkte den irren Orm zu sich. Der fasste den Mönch bei den Füßen, während Hromund ihn bei den Schultern nahm. Gemeinsam trugen sie den Toten aus der Kirche. Eisige Luft drängte herein, als sie die Kirchentür kurz öffneten.

„Wir sollten froh sei, dass Hromund in unseren Reihen kämpft und nicht gegen uns”, meinte Eirik Sturlason. „Ich denke, es gibt keinen unter uns, der von sich behaupten könnte, mehr Franken und Sachsen erschlagen zu haben als er.”

„Ich bestreite seine Verdienste nicht”, erwiderte Grimr. „Aber vielleicht wäre es besser, Hromund würde für eine Weile nichts von seinen Pilzen zu sich nehmen und nur seinen Urin trinken.”

Der Genuss des Pilzextrakts war gefährlich, das Risiko hoch, dabei zu sterben. Der geringste Fehler in der Zubereitung konnte tödlich sein. Wenn ein Mann etwas davon zu sich nahm, um im Kampf zum Berserker zu werden, war es durchaus üblich, dass bis zu einem Dutzend weiterer Männer den Urin dieses Kriegers tranken. Dessen Wirkung war nicht ganz so stark wie das Extrakt selbst, aber dafür lief man nicht Gefahr, sich zu vergiften.

Olav wandte sich an Thorbrand. „Wir werden auf Hromund aufpassen müssen. Durch seine unbeherrschte Art könnte er uns in Schwierigkeiten bringen.”

„Nicht mehr als sonst auch”, meinte Thorbrand schulterzuckend. „Was erwartest du? Er ist ein Berserker!”

Olav nickte. „Ja, und es gibt etwas, was einen Berserker noch wilder macht als der Kampf oder diese von den Göttern verfluchten Pilze oder der Geist eines Bären, der in seinem Fell wohnt.”

Thorbrand hob die Augenbrauen. „Und das wäre?”

Olav grinste breit. „Die Langeweile. Das Wetter ist so schlecht, dass wir abwarten müssen, bis wir flussaufwärts fahren können.”

„Ich bezweifle, dass Eirik weiterfahren will”, murmelte Thorbrand.

„Er wird alt”, sagte Olav. „Genau wie unser Vater.”

„Den Eindruck habe ich bei beiden nicht.”

Olav tippte sich mit dem Finger gegen die Schläfe. „Die Schwäche beginnt hier, Thorbrand”, sagte er leise, „nicht in den Armen. Es ist immer gleich. Aber was Hromund angeht ... Man wird ihm etwas zu tun geben müssen, sonst schlägt er früher oder später nicht nur Mönchen den Schädel ein.”

Thorbrand sah seinen Halbruder nachdenklich an. Er war etwas verwirrt über die fast verschwörerische Art und Weise, in der Olav auf einmal mit ihm sprach. Solange sich Thorbrand zurückerinnern konnte, waren sie Rivalen gewesen. Gleichaltrig und gleich stark, aber sehr unterschiedlich im Charakter. Daran, dass sich Olavs Stimmung seinem Bruder gegenüber manchmal im Handumdrehen ändern konnte, hatte sich Thorbrand nie wirklich gewöhnen können. Er hatte auch nie verstanden, was diese plötzlichen Umschwünge bewirkte. Aber eins wusste er sehr genau: Sein Bruder tat selten etwas, ohne damit eine ganz bestimmte Absicht zu verfolgen.

„Thorbrand!”, rief ihn Grimr, der inzwischen damit begonnen hatte, die Mönche und Nonnen zu befragen. „Ich brauche die Hilfe eines Sprachkundigen!”

––––––––

„Du solltest dich nicht mit den alten Männern aufhalten, Vater”, sagte Olav, nachdem Grimr nicht viel mehr als stammelnde Gebete von den Mönchen zu hören bekommen hatte, und das auch, als er einen von ihnen mit dem Schwert etwas traktierte. Wo genau die Klöster flussaufwärts lagen und welche davon eine Plünderung lohnten, erfuhr er jedenfalls nicht.

Grimr wandte sich stirnrunzelnd Olav zu. „Ach, und was schlägst du vor?”, fragte er unwirsch.

Olav deutete auf die Gefangenen. „Es sind fast nur Männer, kaum Frauen”, stellte er fest.

„Die Christen trennen ihre Klöster nach Männern und Frauen, weil sie das Zusammensein von beiden als Sünde empfinden”, wusste Grimr. „Das mag absurd erscheinen, ist aber allgemein bekannt.”

„Das ist richtig. Aber überleg doch mal. Das Kloster in diesem Ort wurde offenbar von Männern bewohnt. Männer, die vermutlich schon seit Jahren nicht mehr die grauen Mauern verlassen haben, in die sie sich selbst einsperrten. Aber die Frauen, die Nonnen, die gehören nicht hierher. Vermutlich sind sie nur auf der Durchreise gewesen oder wurden mit irgendeiner Aufgabe ihres Ordens hierhergeschickt. Wenn du etwas über andere Klöster erfahren willst, dann frag sie.” Während er Letzteres sagte, deutete Olav auf jene junge Frau, die Thorbrand so sehr an seine fränkische Mutter erinnerte.

Grimr kratzte sich im Bart und überlegte. Ohne die Antwort seines Vaters abzuwarten, wandte sich Olav an die junge Nonne. Die beiden anderen Frauen waren sehr viel älter und schienen bereits vor Angst den Verstand verloren zu haben. Sie murmelten beständig irgendwelche Gebete vor sich hin.

„Woher kommst du?”, fragte Olav die junge Frau. „Du hast mich schon verstanden, also antworte!”

Sie kauerte am Boden und blickte auf. Die Gebete der anderen verstummten nicht, sondern wurden noch eindringlicher. Die junge Nonne zitterte und murmelte etwas. Nur ein Wort hörte Olav deutlich hervor: Novaesium.

„Das steht auf der Karte, die ich dem friesischen Händler abgenommen habe”, stellte Grimr fest. „In den Runen der Lateiner zwar, aber ich bin sicher, es heißt ›Novaesium‹.”

Die Nonne sprach weiter, aber sehr undeutlich. Und obwohl den Nordmännern viele ihrer Worte bekannt vorkamen, ergab das, was sie sagte, für sie zunächst keinen Sinn.

„Was brabbelt sie da, Thorbrand?”, wandte sich Olav an seinen Bruder.

„Sie sagt, dass sie aus dem Konvent Novaesium der armen Schwestern kommt und es dort nichts zu plündern gäbe, da sie sich der Armut verpflichtet hätten. Es sei ihnen nicht gestattet, Besitz anzuhäufen.”

„Bei den armen Schwestern gibt es vielleicht nichts zu holen, in Novaesium aber ganz sicher”, war Grimr überzeugt. Er hob die Karte, die er in der Hand hielt. „Ich kann die Runen der Lateiner nicht gut lesen, aber da steht das Wort ›Novaesium‹ und dahinter eine Anzahl von Strichen.”

Grimr faltete das Pergament auseinander und blinzelte. Es war nicht besonders hell in der Kirche.

Olav warf ebenfalls einen Blick auf die Karte. „Der Friesenhändler scheint mir diese Orte immer wieder angesteuert zu haben”, vermutete er. „Und die Striche stehen vielleicht für seine Einnahmen.”

„Dann gibt es in Novaesium also einen Markt”, schloss Grimr und grinste breit. „Und wo es einen Markt gibt, gibt es auch mehr als nur ein Kloster mit alten Weibern.” Er beugte sich zu der jungen Nonne aus Novaesium hinab. „Lies vor!”, befahl er. „Welche Namen stehen da? Lies sie alle vor!”

Sie schluckte. Es war vollkommen still in der Kirche. Selbst die Mönche, die zuvor noch leise Gebete gemurmelt hatten, schwiegen.

Die Nonne zögerte zunächst, dann aber las sie stockend vor. „Novaesium, Colonia, Diusburh ...” Sie konnte nicht gut lesen, obwohl sie es im Kloster zweifellos gelernt hatte. Vielleicht war sie noch nicht genug in dieser Kunst geübt.

––––––––

Die Nordmänner bedienten sich in den Vorratskammern des benachbarten Klosters, das auch über einen großen Weinkeller verfügte. Viele der Männer hätten das gewohnte Met natürlich vorgezogen. Aber Wein war immerhin besser als nichts. In der Kirche wurden Feuerstellen errichtet. Manche der Nordmänner vergnügten sich mit den Frauen aus dem Webhaus. Gelächter mischte sich mit schrillem Geschrei und zänkischem Stimmen.

Draußen tobte der Sturm. Hin und wieder kamen Männer herein, die zur Bewachung der Schiffe abkommandiert waren. Außerdem mussten die Pferde versorgt werden, die auf den großen Knorren mitgeführt wurden. Stallungen gab es genug, und sie standen überwiegend leer, denn die geflohenen Bewohner Xantens hatten ihr Vieh fortgetrieben, damit es den Nordmännern nicht in die Hände fiel, wohl in der Hoffnung, es später wieder einfangen zu können.

Eirik Sturlason hatte angeordnet, dass die Palisaden besetzt wurden. Besonders begeistert davon, bei diesem Wetter auf einem Wehrgang Wache zu halten, war keiner der Männer. Doch auch wenn es ziemlich unwahrscheinlich war, dass die Vertriebenen eine Rückkehr wagten, war es besser, die Augen aufzuhalten.

„Unser nächstes Ziel heißt Novaesium!”, sagte Grimr. „Wir müssen dorthin, und ich bin sicher, dass wir reiche Beute finden werden.”

„Zunächst mal bin ich froh darüber, dass wir einen Ort gefunden haben, in dem es wenigstens zwei Häuser aus Stein gibt”, ließ sich Eirik Sturlason vernehmen. Damit meinte er die Kirche und das Hauptgebäude des Klosters. Alle anderen Gebäude des Ortes waren aus Holz und etliche davon nur noch rauchende Trümmer. Eirik hatte sich schon zum dritten Mal sein Trinkhorn mit Wein gefüllt; er nahm einen tiefen Schluck und rülpste ungeniert. „Das schlechte Wetter hat viele der Holzhäuser gerettet, aber womöglich wird der Sturm sie jetzt davonwehen!”

„Solange du nicht in einem von ihnen sitzt, kann dir das gleich sein, Eirik”, meinte Grimr, und die Männer brachen in dröhnendes Gelächter aus. Das von Eirik Sturlason übertönte dabei selbst den irren Orm und Hromund den Rauen. Eiriks Augen wirkten bereits glasig. Er hatte schon mehr von dem Wein in sich hineingeschüttet, als er vertragen konnte.

Ein Schwein wurde in der Kirche über dem Altar gebraten. Dunkler Rauch stieg auf und zog unter die hohe Decke, wo er durch einen Luftzug verweht wurde. Nicht alle Fenster der Kirche waren mit bemaltem Glas gefüllt. Das konnte man sich hier offenbar nicht leisten. Aber dieser Umstand sorgte dafür, dass es einen gut funktionierenden Rauchabzug gab.

Es wurde damit begonnen, die Beute zu verteilen. Auch wenn das hiesige Kloster nicht gerade ein Beispiel für den Reichtum der christlichen Kirche abgab, war den Männern von Eirik Sturlason und Grimr Schädelspalter doch Einiges an Silber in die Hände gefallen, das zuvor den Bewohnern der Stadt gehört hatte. Der Wert einer Bibelhandschrift aus dem Kloster war ziemlich umstritten. Gegen wie viel Silber sollte man dieses noch nicht einmal vollendete Buch aufwiegen?

„Oh, es wurden schon mehrere Bauernhöfe gegen ein einziges Buch dieser Art getauscht“, wusste Halmi der Graue.

„Ganze Bauernhöfe?“, rief Bjarne der Steuermann dröhnend. „Für ein Bündel zusammengenähter und bekritzelter Pergamente? Das wäre ein schlechtes Geschäft, würde ich sagen.“

„Was weißt du schon von Geschäften!“, entgegnete Halmi verächtlich.

Bjarne zuckte mit den Schultern, nahm sein Trinkhorn und nahm einen tiefen Schluck. Auch er hatte inzwischen Geschmack an dem Wein gefunden.

„Ich verstehe mehr davon, als du denkst“, grollte er. „Zum Beispiel weiß ich, dass ein Bauernhof mehr wert sein muss als so ein Buch, weil man nämlich mit den Häuten aller Kühe diese Hofes mehr Pergament herstellen kann, als in so einem Buch zusammengenäht sind.”

„Es kommt auf das an, was drinsteht, du Hornochse!”, widersprach Halmi. „All die Buchstaben und Zeichnungen und die Verzierungen. Und davon abgesehen ist es das heilige Buch der Christen. Dafür zahlen die jeden Preis.”

Eirik Sturlason wandte sich mit einem breiten Grinsen an Grimr und schlug vor: „Wir können ja mal deinen Sohn danach fragen. Der kennt sich doch mit diesen Dingen bestens aus.”

Die anderen Männer lachten.

Thorbrand wurde rot im Gesicht und fühlte, wie in ihm blanker Zorn aufstieg. Durch seine ansonsten helle Haut und die blonden Haare fiel das besonders auf. Er mochte es nicht, wenn die anderen so taten, als würde er nicht ganz und gar einer der ihren ein. Früher hatte er jeden verprügelt, der eine Bemerkung über seine Abstammung machte, und auch jetzt ballte er instinktiv die Fäuste. Natürlich durfte er einem so wichtigen Mann wie Eirik Sturlason gegenüber seine Wut nicht zeigen, das war ihm wohl bewusst, aber es fiel ihm schwer. Glück für dich, dass wir die Unterstützung deiner Männer und deine Schiffe in diesem fremden Land brauchen, ging es ihm grimmig durch den Kopf. Glück für dich, dass ich den sanftmütigen Glauben meiner Mutter erfahren durfte, denn sonst würde ich dir den Kopf abschlagen!

Eirik Sturlason bemerkte den finsteren Blick, mit dem Thorbrand ihn bedachte. „Du hast zwei sehr unterschiedliche Söhne, Grimr”, murmelte er. „Und so wild wie die sind, wirst du damit rechnen müssen, dass dir eines Tages einer von ihnen die Kehle im Schlaf durchschneidet.”

KAPITEL 3

Auf dem Ostufer des Rheins preschten fränkische Ritter über die tief gelegenen, nebelverhangenen Uferauen. Der eiskalte Regen, der sich manchmal in Schnee oder Hagel verwandelte, klatschte ihnen ins Gesicht. Cunrad von Diusburh, ein hochgewachsener fränkischer Ritter, der seine Gefährten bei weitem überragte, führte den Trupp. Nicht nur Cunrad selbst war ungewöhnlich groß, sondern auch das Streitross, das ihn zu tragen hatte. Und Cunrad war in mehrfacher Hinsicht ein gewichtiger Mann. Er war sehr kräftig gebaut, hatte einen massigen Körper. Das Kettenhemd, das er trug, hatte doppelt so viele ineinander verhakte Eisenringe als üblich und wog dadurch auch entsprechend mehr.

Aber Cunrad hatte auch im übertragenen Sinn Gewicht, denn er verwaltete die königliche Festung Diusburh und kommandierte außerdem ein beträchtliches Kontingent an Truppen, das Ludwig, dem König des östlichen Frankenreichs, unterstanden. Jenem Ludwig, dessen gleichnamigen Vater man Ludwig den Frommen genannt hatte und dessen Großvater der Große Karl gewesen war, der erste Frankenherrscher, der die Krone eines römischen Kaisers getragen hatte.Nun führten die Enkel Krieg gegeneinander. So unerbittlich, wie man eigentlich nur gegenüber Heiden zu Felde ziehen durfte. Aber es ging um sehr viel. Das fränkische Erbrecht, das die Aufteilung des Reiches unter die Söhne des Herrschers verlangte, erwies sich nicht zum ersten Mal als verhängnisvoll.

Vermutlich würde seinem Herrn am Ende nur ein Weg bleiben, dachte Cunrad von Diusburh. Er musste seine Brüder töten. So, wie es schon der Große Karl und der selige Ludwig der Fromme getan hatten. Eine andere Möglichkeit gab es Cunrads Meinung nach nicht. Zumindest nicht auf Dauer, denn wie immer man das Reich auch aufteilte, so wurde doch keinem der Herrscher sein Teil auf lange Sicht genügen. Und trotz aller öffentlichen Bekundungen des Willens zum Frieden würde doch jeder der drei insgeheim vermuten, dass wiederum jeder der beiden anderen in Wahrheit die Alleinherrschaft anstrebte und nur auf eine günstige Gelegenheit wartete, um die Konkurrenten doch noch aus dem Feld zu schlagen.

Und war das nicht letztlich auch das Ziel, das jeder von ihnen schon im Interesse des eigenen Überlebens verfolgen musste?

Seit Monaten trafen sich die Unterhändler der drei Könige in Verdun. Aber Cunrad glaubte nicht daran, dass die Konflikte tatsächlich durch Beratungen zu lösen waren. Das Einzige, was einen längeren Krieg noch verhindern konnte, war ein übermächtiger Feind, gegen dessen Streitmacht sich alle vereinigen mussten. Aber die Zeiten, da die Araber von Spanien aus tief in das Frankenreich eindrangen, waren längst vorbei. Und die Gebiete der Elbslawen im Osten des Reiches waren inzwischen alle Lehensuntertanen der fränkischen Herrscher.

Cunrad zügelte sein gewaltiges Ross, das aus einer besonderen burgundischen Zucht stammte. Die anderen allesamt schwer bewaffneten Reiter folgten seinem Beispiel.

Der Boden war sehr tief und feucht. Die nasse Kälte drang bis ins Mark. Und die Kettenhemden und andere Metallteile, die zum Rüstzeug der Männer gehörten, leiteten die Kälte weiter, da half auch ein mehrlagiges Wams auf Dauer nicht. Der Hagelschauer ging wieder in gewöhnlichen Regen über. Cunrad erkannte es daran, dass das Klopfen auf seinem Helm weniger heftig wurde.

Vor ihnen lag der angeschwollene Strom. Zu breit, um ihn ohne gute Fähre überqueren zu können. Brücken gab es auf Hunderte von Meilen nicht. Und die Anlegestellen der Fährleute wurden von seinen Männern regelmäßig kontrolliert. Schließlich sollte es keinem von ihnen einfallen, den Kriegern von Kaiser Lothar über den Rhein zu helfen. Es hatte solche Fälle schon mehrfach seit Ausbruch der Feindseligkeiten zwischen Lothar und Ludwig gegeben. Allerdings waren es bisher nur Spähtrupps und Spione gewesen, die auf diese Weise die natürliche Grenze zwischen dem östlichen Reich und dem Mittelreich überquert hatten.

Cunrad stieg von seinem Pferd. Fast knöcheltief sanken die Stiefel in den sumpfig gewordenen Untergrund ein. Er strich dem Tier über den Nacken, denn es war unruhig. Das musste am Wetter liegen. Niemand war unter den zurzeit herrschenden Bedingungen gern im Freien, nicht einmal die Geschöpfe, die dafür eigentlich geschaffen waren.

Cunrad blickte zur anderen Flussseite, wo er den Kirchturm von Xanten erblickte. Bei den Anfurten am Flussufer drängten sich die Langschiffe nebeneinander. Die wenigen Flussschiffe, Boote und ein paar große Fährflöße, die schon vorher dort gelegen hatten, verloren sich in der zahlenmäßigen Übermacht jener Barbarenflotte, die wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Sie waren mit ihren wendigen Drachenschiffen schneller flussaufwärts gekommen als die Nachricht von ihrer Ankunft an der Rheinmündung.

„Drei Tage sind die Heiden jetzt schon in Xanten“, sagte Cunrad. „Als hätte sie sich dort eingenistet.”

„Das glaube ich nicht“, meldete sich einer der anderen Männer zu Wort. Das Pferd, auf dem er ritt, war klein und stämmig, er selbst hager und schlank. Er trug als einer der Wenigen im Trupp keinen Helm und schien auch nicht bewaffnet zu sein. Unter dem Mantel war ein graues Mönchsgewand zu sehen. Er hatte nicht einmal seine Kapuze über den Kopf gezogen, um sich vor Wind und Regen zu schützen. Das graue Haar klebte ihm am Schädel, die Tonsur warf schlecht geschnitten und hätte dringend nachgearbeitet werden müssen.

Cunrad drehte sich kurz zu dem blassgesichtigen Mönch um, dessen Alter nur sehr schwer zu schätzen war. „Ihr kennt die Absichten der Nordmänner besser, Bruder Branagorn?”

„Ich habe sie erlebt”, sagte der Mönch. „Ich habe erlebt, wie sie die Dörfer der Ostsee-Slawen geplündert haben.”

„Ihr wart unter den Heiden, Branagorn?”

Der Mönch nickte. „Ich hatte dort wichtige Verhandlungen für unseren seligen König zu führen, den man nicht umsonst Ludwig den Frommen nannte.”

„Seine Frömmigkeit hat ihn nicht daran gehindert, sich mit den Heiden an der Ostsee zu verbünden”, spottete Cunrad.

„Es ging auch um die Erlaubnis zur Errichtung von Klöstern”, stellte der Mönch klar. „Und davon abgesehen haben auch viele der Slawen inzwischen den rechten Glauben angenommen und sich dem Schutz unseres christlichen Königs unterstellt.”

Cunrad seufzte. Branagorn von Corvey war ein durch und durch ernster Mann, dem jegliche Art von Humor abging. Immer wieder hatte der Weg des sprachbegabten Mönchs, dessen Dienste Ludwig dem Frommen ebenso in Anspruch genommen hatte wie nun sein gleichnamiger Nachfolger, diesen auch nach Diusburh geführt. Und nicht selten war Cunrad zugegen gewesen, als der Mönch seinem König von seinen Reisen berichtet hatte. Die waren sicherlich von unschätzbarem diplomatischem Nutzen gewesen. Dass er die barbarischen Invasoren, die sich seit Kurzem auf der anderen Rheinseite festgesetzt hatten, besser einzuschätzen wusste, lag auf der Hand, wenn er ihnen schon früher begegnet war, zumal Cunrad als Verwalter der Königsburg in Diusburh kaum je über das Gebiet um die Flüsse Rhein und Ruhr hinausgekommen war.

„Die Nordmänner sind wie Heuschrecken“, sagte Branagorn von Corvey. „Sie fallen über einen Ort her, rauben alles, was sie auf die Schnelle zusammenraffen können, und ziehen dann weiter. Ist aber auch nur mit geringstem Widerstand zu rechnen, lassen sie von dem Ort ab und ziehen ein paar Meilen die Küste entlang, um einen anderen, möglichst wehrlosen Ort zu finden, der ihnen Beute zu einem geringen Risiko verspricht.“

„Also vor allem Klöster“, schloss Cunrad, „deren Bewohner bekanntlich nicht bewaffnet sind.“

„Ihr sagt es“, bestätigte Branagorn. „Nicht auszudenken, kämen sie auf den Gedanken, unsere Abtei in Corvey zu plündern. Die Schriften, die dort aufbewahrt werden, sind einzigartig in der ganzen Christenheit.“

Cunrad lachte dröhnend auf. Laut genug, dass es vielleicht sogar auf die andere Rheinseite zu hören gewesen wäre, hätte der Wind nicht gerade aus der falschen Richtung geweht.

„Was gibt es da zu lachen?”, fragte Branagorn.

„Eure Worte sind einfach so typisch für Euch, Branagorn.“

„Ach ja?“

„Ein paar bekritzelte Pergamente sind Euch wichtiger als die Leben all der Unschuldigen, die bei so einem Überfall zu Tode kämen.“

„Ihr missversteht meine Worte absichtlich, um mich zu verspotten“, war Branagorn überzeugt, und seine Stimme hatte einen eisigen Klang.

„Das würde ich mir doch nie erlauben“, behauptete Cunrad. „Und zudem könnt Ihr ganz beruhigt sein. Bis nach Corvey in Westfalen erstreckt sich kein schiffbares Gewässer, soweit mir bekannt ist. Diese Höllenboote können also niemals bis dorthin vordringen.”

„Sie sollen sogar schon bis ins ferne Konstantinopel gelangt sein, wie man sich im Norden erzählt.”

„Das sind doch Legenden.”

„Man hat mir Münzen gezeigt, die zweifellos von dort stammten”, erklärte Branagorn. „Nein, es gibt keinen Ort, an dem man vor ihnen sicher ist.”

Einige Nordmänner tauchten bei den Schiffen am anderen Flussufer auf. Schemenhafte Gestalten. Hier und dort sah man einen Speer oder eine Streitaxt. Cunrad blickte zu ihnen hinüber. Es war offensichtlich, dass sie die fränkischen Reiter auf der anderen Seite des Flusses bemerkt hatten. „Ich habe das Gefühl”, sagte Cunrad, „dass sie uns länger beschäftigen werden, als uns lieb sein kann.”

„König Ludwig hat strikten Befehl gegeben, nicht gegen sie vorzugehen”, erinnerte Branagorn von Corvey den Herrn von Diusburh.

„Ja, ich weiß“, murmelte Cunrad Ein törichter Befehl, der sich vielleicht noch rächen würde, ging es ihm durch den Kopf. Und das nur, um Lothar zu schaden. Cunrad fragte sich, ob sich König Ludwigs Einstellung ändern würde, fiele es den Nordmännern ein, als Nächstes eine Ortschaft auf der anderen Seite des Rheins anzugreifen.

Branagorn von Corvey schien die Gedanken des Herrn der Königsfestung in Diusburh zu erraten. „Ich weiß, dass Ihr diesen Befehl unseres Königs am liebsten missachten würdet, und ich kann Euch sehr gut verstehen.“

„Wo sind die ritterlichen Tugenden unseres Königs geblieben, Bruder Branagorn?“, murmelte Cunrad verdrossen. „Sind es die Christen auf der anderen Seite des Flusses etwa nicht wert, dass man sie vor diesen heidnischen Barbaren schützt? Ist es wirklich wichtiger, dass wir unsere Kräfte für einen Angriff von Lothars Heer bereithalten?“

Die Worte sprudelten aus Cunrad hervor, ohne dass er darüber nachgedacht hätte. Er war außer sich, und es war ihm in diesem Augenblick gleichgültig, ob sein Lehnsherr und König vielleicht von seiner Meinung erfuhr. Aber Cunrad hatte sich noch nie gut darauf verstanden, mit seinen Ansichten hinter dem Berg zu halten.

„Euer Zorn ist gerecht, Cunrad“, fand Branagorn. „Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ich habe recht, und die Nordmänner ziehen mit ihrer Beute ab, so schnell sie gekommen sind; dann können wir alle dem Herrn dankbar sein. Oder sie nisten sich tatsächlich ein, so wie Ihr es meint, und dann wird es schwer, sie zu vertreiben. Aber das könnte auch sein Gutes haben.“

„Ihr sprecht in Rätseln, Bruder Branagorn“, gab Cunrad seiner Verwirrung Ausdruck.

„Sind wir nicht beide der Meinung, dass es nichts gibt, was eine Einigung unter den Königen mehr fördern konnte als ein gemeinsamer Feind?“, fragte Branagorn und sprach damit jenen Gedanken aus, der Cunrad vorhin schon gekommen war.

KAPITEL 4

Die ersten Tage vergingen, ohne dass die Schiffe der Nordmänner weiter flussaufwärts fuhren. Thorbrand ärgerte das. Sein Vater hatte alles versucht, um Eirik Sturlason davon zu überzeugen, nach Novaesium weiterzuziehen, damit man dort Beute machen konnte. Aber Eirik war anderer Ansicht. Er wollte zunächst abwarten, ob man nicht für die Geiseln, die man genommen hatte, ein angemessenes Lösegeld erzielen konnte. Alle Gefangenen waren eingehend verhört worden. Zumindest einer der Mönche war der Spross adeliger Eltern, dessen Leben und Unversehrtheit sich wohl versilbern ließ. Zudem hatte man ein paar Angehörige von Händlerfamilien gefangen, die nicht schnell genug das Weite gesucht hatten, weil sie geglaubt hatten, etwas von ihren angehäuften Reichtümern retten zu können. Was mit den anderen Gefangenen geschehen sollte, war noch unklar. Man konnte sie nur mitnehmen, um sie auf den Sklavenmärkten des Nordens zu verkaufen, wenn man baldigst wieder in die Heimat zurückkehrte. Wollte man aber tatsächlich tiefer ins Reich der Franken vordringen, um wirklich große Beute zu machen, waren Gefangene eine Belastung. An diesem Tag war das Wetter so schlecht geworden, dass eine Weiterreise ohnehin nicht infrage kam.

Thorbrand stand mit ein paar anderen Nordmännern am Flussufer, während der Sturm an seiner Kleidung zerrte und ihm das Wasser vom Helm perlte. Mochte Thorbrand auch der Lieblingssohn und wahrscheinliche Nachfolge des großen Grimr Schädelspalter sein, so hieß das nicht, dass er irgendeine bevorzugte Behandlung genoss. Es war selbstverständlich, dass auch der Sohn des eines Anführers und Jarls die Schiffe an den Anfurten bewachte. Mochte die vereinigte Flotte von Eirik und Grimr auch größer sein als die meisten anderen Schiffsverbände, die alljährlich von den Küsten der Nordländer aus nach Süden zogen, waren ihnen die Franken trotzdem zahlenmäßig weit überlegen. Nicht an Entschlossenheit, Schnelligkeit, Mut oder Skrupellosigkeit und vom Geschick im Umgang mit Waffen und Schiffen ganz abgesehen. Aber das alles änderte nichts an der Tatsache, dass die Nordmänner letztlich nur eine Handvoll Krieger in einem Land voller Feinde waren. Das galt auch für die Angehörigen von Bragi Bragisons Sippe, aus der ebenfalls niemand auf irgendwelche Privilegien pochen konnte.

Und was das Privileg edler Geburt anging, musste Thorbrand ohnehin darauf achten, dies niemals in irgendeiner Weise ungebührlich herauszustellen. Wenn er tatsächlich eines Tages das Erbe seines Vaters antreten wollte, musste er sich der Gefolgschaft all der Männer sicher sein können, die bisher Grimr Schädelspalter die Treue hielten. Bei den Angehörigen von Bragis Sippe war das keineswegs selbstverständlich. Thorbrand wusste, dass sie viel lieber seinen Halbbruder Olav als Grimrs Nachfolger gesehen hätten. Schließlich war er der Sohn von Solvejg Bragistochter und damit einer von ihnen.

Neben Thorbrand stand Bjarne der Steuermann. Er stützte sich auf einen Speer. Bjarne war gut fünf Jahre älter als Thorbrand und ebenfalls der Sohn einer Sklavin. Das verband die beiden, und wann immer Thorbrand in Schwierigkeiten war, konnte er sich auf den Beistand von Bjarne verlassen. Für Thorbrand war Bjarne wie ein älterer Bruder. Ja, er fühlte sich mit Bjarne dem Steuermann viel mehr verbunden als mit Olav. Es schien eben doch nichts so entscheidend zu sein, ob tatsächlich das gleiche Blut in den Adern zweier Männer floss. Wichtiger war, ob man das gleiche Schicksal teilte.

„Sieh dir diese fränkischen Schweinehunde dort drüben am anderen Ufer an“, stieß Bjarne voller Verachtung hervor und spuckte aus. „Feiglinge sind das. Die werden sich nicht herübertrauen.“

„Das werden König Ludwigs Männer sein“, meinte Thorbrand. „Die haben uns schon beobachtet, als wir diesen verfluchten Fluss hinaufgefahren sind, aber nichts gegen uns unternommen.“

„Ja, die haben seelenruhig zugesehen, wie wir die Stadt geplündert und Franken geschlachtet haben“, sagte Bjarne.

„Wahrscheinlich denken sie, dass wir ihre unfreiwilligen Verbündeten sind.“