Immer auf dem Teppich bleiben - Dieter Kosslick - E-Book

Immer auf dem Teppich bleiben E-Book

Dieter Kosslick

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Beschreibung

Dieter Kosslick ruft dazu auf, das Kino zu retten – und beschreibt, wie das gelingen kann. Er schildert seine Liebe zum Film, seine abenteuerlichen Erlebnisse als Chef der Berlinale und warum er überzeugt ist, dass Filme die Welt verändern können.   Ob er eine Großbaustelle zum Stillstand bringen musste, damit die Rolling Stones schlafen konnten, ausgerechnet an 9/11 zum ersten Mal nach Hollywood reist, mit allen Mitteln Martin Scorsese überzeugen muss, nach Berlin zu kommen, nach Nordkorea zu Kim Jong-un, nach Kuba zu Fidel Castro oder in den Palast des größten Bollywoodstars  Shah Rukh Khan  reiste, oder Meryl Streep in der Not einen Blumenstrauß von der Tankstelle überreicht – Dieter Kosslick hat als Chef der Berlinale viel erlebt.   Wichtiger aber als Stars und Glamour war ihm stets der Anspruch, Filme zu zeigen, die die Kraft haben, die Gesellschaft zu verändern. Seine Mottos lauteten schon kurz nach der Jahrtausendwende »accept diversity« und »towards tolerance«. Engagement für Gerechtigkeit und Menschenwürde prägten den Charakter des Festivals, auch wurde die Berlinale zum ersten CO2-zertifizierten Filmfestival der Welt, denn der Klimawandel ist auch im Filmgeschäft von bedeutender, bislang unterschätzter Bedeutung. Kann Green Shooting dazu beitragen, das Klima zu schützen und darf die öffentliche Hand überhaupt noch Filme subventionieren, deren Produktion Taudende Tonnen CO2 verbraucht?    Mit Corona ist auch das Kino in eine schwere Krise gestürzt, die mit dem Aufkommen der Streamingdienste existenziell geworden ist. Dieter Kosslick gibt in diesem persönlichen und anekdotenreichen Buch Auskunft, wie Kino in Zukunft funktionieren muss und warum gerade auch die Filmbranche dringend lernen muss, nachhaltiger zu produzieren.   - Unterwegs mit Weltstars: ein höchst unterhaltsamer Blick hinter die Kulissen - Green Shooting: Wie Filmproduktion in Zeiten des Klimawandelns nachhaltiger werden kann und muss - Was wir dem Kino verdanken und warum wir es retten müssen  »Dieter Kosslick ist eine lebende Imagekampagne für den Kinofilm.« Maria Furtwängler   

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Seitenzahl: 320

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Dieter Kosslick

Immer auf dem Teppich bleiben

Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos

Hoffmann und Campe

Meiner Frau Wilma und unserem Sohn Fridolin

Vorwort

Magische Momente

Als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, hatte ich keine Vorstellung von der Zeit, in der ich es beenden würde. Damals diskutierte die Filmbranche weltweit die Frage, wie das Kino sich im Zeitalter der Streaming-Dienste behaupten könne. Ob das Kino überleben werde, ob es zu einem musealen Ort werde, und aus welchen Gründen es für die Kultur einer Gesellschaft gerettet werden sollte. In diesem Zusammenhang verschärfte sich auch die Debatte in der deutschen Filmbranche über die Qualität des deutschen Films, über die Ursachen des mutmaßlichen Qualitätsmangels und die Wege, diesen Mangel zu beheben.

Heute sind alle diese Debatten vom Strudel der Auseinandersetzungen über den Kampf gegen die Pandemie mitgerissen worden. Die Ereignisse überschlagen sich zeitweise täglich, und ich weiß nicht, wie die Situation sein wird, wenn dieses Buch erscheint. Dennoch wage ich einen Blick in die Zukunft. Einige Aspekte, die aktuell die Diskussion beherrschen, waren schon in den vergangenen Jahrzehnten keine Unbekannten: die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Filmförderung und Qualität der Kinofilme, nach Klima und Nachhaltigkeit in der Filmproduktion, nach der Funktion der Filmfestivals. Diese Themen – Kino, Klima, Kulinarik und Festivals – prägten mein berufliches Leben. Es zeigt sich, dass ihr Zusammenspiel bei allen politischen, gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen in der internationalen Filmindustrie aktueller ist denn je.

Während meiner fast zwei Jahrzehnte dauernden Zeit als Festivaldirektor der Berlinale begann sich das Blatt zu wenden, die Streaming-Dienste und der damit verbundene Serienboom kamen auf. Die Berlinale hat diese Entwicklung aufgegriffen, Serien präsentiert, eine eigene Reihe für Fachveranstaltungen ins Leben gerufen, Netflix-Filme in den Wettbewerb eingeladen, auf den Panels und Podien darüber zum Teil heftig diskutiert. Daneben blieb das Festival dem Kino treu und verhalf ausgewählten Kinofilmen auf klassische Weise, das Licht der Leinwand zu erblicken. Für viele Regisseurinnen und Regisseure bedeutete ihr Auftritt bei der Berlinale den Eintritt in die Filmwelt, und sie kamen immer wieder oder zogen weiter zu den anderen Festivals nach Cannes, Venedig und Toronto.

Wer das Glück hatte, im Leben Filmfestivaldirektor zu sein, hatte einen der schönsten Jobs der Welt. Eine Welt, die öffentlich zu sein scheint, aber in weiten Teilen auch verschlossen ist. Dieses Buch blickt hinter den Vorhang und plaudert zuweilen aus dem Nähkästchen, natürlich immer mit schwäbischer Diskretion.

Es gab während meiner Zeit bei der Berlinale kleine und große Pannen, Fehlschläge, Katastrophen. Es war nicht immer einfach, manchmal war es auch geradezu zum Verzweifeln. Aber die glücklichen Momente überwogen alles. Momente wie die Auftritte von Shah Rukh Khan, Kim Ki-duk, George Michael, Julianne Moore, Charlize Theron, Julia Jentsch, Marianne Faithfull, Lars von Trier, Michael Winterbottom, George Clooney, Arthur Penn, Wim Wenders, Gérard Depardieu, Tilda Swinton, Ildikó Enyedi, Helena Zengel, Willem Dafoe sowie Jafar Panahi.

Immer wieder gab es kontroverse Entscheidungen – ein Goldener Bär für einen Dokumentarfilm, ein Goldener Bär für einen Film aus Afrika, ein Goldener Bär für gleich zwei Filme – und auch Tränen, Wut und böse Kommentare für Gewinnerinnen und Gewinner, Verliererinnen und Verlierer. Einigkeit und Harmonie herrschten dagegen bei den Auszeichnungen für die iranischen Beiträge Jodaeiye Nader az Simin (deutscher Titel: Nader und Simin – Eine Trennung)* von Asghar Farhadi und Taxi (Taxi Teheran) von Jafar Panahi. Glückliche Momente waren die Präsentationen der deutschen Filmemacherinnen und Filmemacher wie Tom Tykwer, Andreas Dresen, Sebastian Schipper, Anne Zohra Berrached, Emily Atef, Nora Fingscheidt und Fatih Akin, der mit Gegen die Wand2004 den ersten Goldenen Bären für einen deutschen Film nach fast 20 Jahren gewann. Ein weniger glücklicher Moment war der Anblick der tausend enttäuschten Fans am roten Teppich bei der Berlinale-Eröffnung 2004. Jude Law, Nicole Kidman und Renée Zellweger hatten mir wenige Stunden zuvor abgesagt. Der Job des Festivaldirektors kann manchmal sehr einsam sein.

Niemand wird aus dem Nichts Festivaldirektor, und auch bei mir gab es ein Leben vor der Berlinale, das mit dem Film zusammenhing, mit Kommunikation und Politik. Ein weiter Weg war es bis nach Berlin, zu Tausenden Kontakten in der ganzen Welt, zu den Triumphen, zu den Niederlagen. Auch über diesen Weg berichte ich in diesem Buch.

Doch wie wird man überhaupt Festivaldirektor? In dieser Position, die ohnehin nicht per klassischer Ausbildung erreicht werden kann, benötigt man neben Professionalität und Netzwerk auch jede Menge Glück, Talent und Humor, um auf dem roten Teppich zu bleiben.

Entscheidungen im Filmgeschäft erscheinen Außenstehenden oft irrational und nicht nachvollziehbar. Es gibt unausgesprochene und ausgesprochene Regeln und Verhaltensweisen, die man kennen sollte, wenn man sich erfolgreich darin bewegen will. Auch die Provokation ist ein gängiges Mittel zur Herstellung von Öffentlichkeit.

Trotz allen kulturellen und wirtschaftlichen Kalküls, bei aller Eitelkeit, die so vieles verhindert, aber auch zustande bringt: Der persönliche Kontakt und die wechselseitige Sympathie sind die Garanten des Erfolgs, um gute und wichtige Filme auf die Festivalleinwand und den einen oder anderen Star auf den roten Teppich zu locken. Es gibt viele abenteuerliche Geschichten, wie es meinem Team und mir gelungen ist, Meryl Streep, Cate Blanchett, Madonna und die Rolling Stones, Wong Kar-Wai, Bill Murray, Frances McDormand, Catherine Deneuve, Juliette Binoche, George Clooney und die Coen-Brüder für das Festival zu gewinnen. Clint Eastwood konnte ich dank einer Verwechslung überzeugen, zum ersten Mal in seinem Leben zur Berlinale zu kommen. Ich habe alles dafür getan, dass während meiner Direktorenzeit nicht alle Weltpremieren großer Filme nach Cannes und Venedig gingen. Sind sie auch nicht.

Mehr als 1400 Stars, Filmteams und auch Studiobosse aus Hollywood hat unser Berlinale-Fotograf Gerhard Kassner in den 18 Jahren mit Hilfe neuester digitaler Technik in unvergessliche Porträts verwandelt.

Oft werden in diesem Buch die Stars und Filmkünstler*innen nur mit ihren Vornamen beschrieben. Das soll keine Angeberei sein, sondern die Art widerspiegeln, wie wir miteinander geredet haben. Angaben, die etwas ungenau erscheinen, sind dem Persönlichkeitsrecht geschuldet. Der Blick hinter die Kulissen will den Festivalalltag illustrieren, er soll nicht voyeuristisch sein. Wie gesagt: schwäbische Diskretion.

Es wird viel um Magie gehen, um die Magie des Kinos. Um den unvergleichlichen Moment, wenn der Film im Kino mit dem Publikum eins wird. Immer wieder wird zurzeit betont, wie wichtig diese Erfahrung ist, nicht nur im Kino, sondern auch im Theater, in der Oper und im Konzert. Das Buch handelt vom Lebenselixier der Illusionen, von der Bedeutung der Filme für unsere Gesellschaft und der Zukunft des Films.

Jetzt, in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, ist das Kino mal wieder in einer Krise. Vielleicht der größten Krise seiner Geschichte. Streaming und Coronavirus haben nicht nur die Welt verändert, sie verändern auch die Traumwelt des Films. Hunderte Kinos mussten bereits im Herbst 2020 weltweit geschlossen werden. Ein großes Kinosterben begann. Blockbuster wie der neue James-Bond-Film No Time To Die (Keine Zeit zu sterben) wurden immer wieder verschoben. Mit den bestehenden Pandemieregeln ist kaum genügend an den Kinokassen einzuspielen.

Haben die Filmpaläste und die kleinen Kinos eine Zukunft?

Ich denke, dass die Magie der Filmkunst, dieser jüngsten Kunst des 20. Jahrhunderts, auch diese Krise überwinden wird, obwohl sich manches ändern muss. Der Filmpremierentag am Donnerstag wird bleiben. Er kann dem Kino als »Thursday for Future« neue Perspektiven und Chancen eröffnen und die Kinokultur retten.

Nun lade ich Sie ein: Treten Sie näher ins gleißende Blitzlicht des roten Teppichs und kommen Sie herein in den dunklen Raum, der die Welt mit Licht und Lichtspiel erfüllt.

Fußnoten

*

Nachfolgend werden Filmtitel immer im Original und mit deutschem Titel in Klammer genannt. Sofern es keinen deutschen Titel gibt, dient zum besseren Verständnis der englische Titel.

Teil 1DIE HAND AUF DER KLINKE

Pferdeflüsterer

Mein erster Kinofilm auf einer riesigen Leinwand in einem richtigen Kino war ein Pferdefilm. Vielleicht der Pferdefilm der Filmgeschichte: Die aufgebrachte Menge jubelt frenetisch, als die Kontrahenten in die überwältigende Weite der Arena einreiten. Fanfarenstöße erklingen, riesige, muskelbepackte Bronzestatuen stehen im Hintergrund. Adrenalin ist spürbar. Die Energie der Pferde, die Entschlossenheit in den Augen der Männer sind mitreißend. Brot und Spiele, es geht um Leben und Tod, darum, alles zu verlieren oder als strahlender Sieger mit einem Lorbeerkranz geschmückt zu werden.

Die Kontrahenten begeben sich in Position, die Pferde, je vier pro Wagen, scheuen, bäumen sich auf. Als das Startsignal erfolgt, bricht sich ihre unbändige Kraft endlich Bahn. Es folgen atemberaubende Minuten voller Dynamik, Geschwindigkeit, Bewegung. Man hört nur die donnernden Hufe, das hemmungslose Knallen der Peitschen, das geifernde, schimpfende Gebrüll der aufgebrachten Menge.

Am Ende der zweiten Runde liegt unser Held Judah Ben-Hur mit seinem erbittertsten Gegner und Todfeind Messala gleichauf. Aber Messala spielt falsch, schlägt mit seiner Peitsche auf Judah ein, drängt ihn ab. Sein Blick ist sadistisch. So kann man nur hassen, was man einst geliebt hat. Zwei Wagen prallen ineinander, Pferde stürzen zu Boden. Die Bilder werden unscharf, wackeln. Judah fährt über einen der zerstörten Wagen, sein Körper fliegt durch die Luft, nur mit äußerster Mühe kann er sich halten. In Technicolor-Rot tropft das Blut von seiner Schläfe.

Noch drei Runden zu fahren. Messala und Ben-Hur liegen wieder gleichauf. Messala hat metallen blitzende Fräsen an die Naben seiner Räder angebracht. Sie bohren sich in Judahs Rad, nur knapp kann er entkommen, indem er mutig den Wagen herumreißt.

Noch zwei Runden. Die Kamera ist jetzt ganz nah, fängt den erbitterten Zweikampf der Männer ein, das zähe Ringen, den Hass, die Wut. Die Einstellungen wechseln immer schneller, atemloser. Und plötzlich wird Messalas Wagen im Spiel der Kräfte zerrissen, verwickelt in die Zügel, wird der Gegner von seinen Pferden einfach weitergeschleift. Bis er unter die heranstürmenden Hufe eines Verfolgers gerät, der Aufprall, das Erschrecken gräbt sich tief unter die eigene Haut.

Ich riss die Augen weit auf, hielt mich an der Sessellehne fest.

 

Ben Hur, mit dem legendären Charlton Heston, ist seither einer meiner Lieblingsfilme. Ich war elf Jahre alt, als er im Rio in der westlichen Karl-Friedrich-Straße 104 in Pforzheim, das zu dieser Zeit über eine der größten Leinwände in Baden-Württemberg verfügte, gezeigt wurde. Der Monumentalfilm von Regisseur William Wyler, für mich der monumentalste aller Monumentalfilme. Einer der spektakulärsten Hollywood-Filme, mit dem berühmten elf Minuten langen, atemberaubenden Wagenrennen und 1960 ausgezeichnet mit zwölf Oscars. Unvergesslich das filmische Wunderwerk von Schnitt, Kamera, Schauspielkunst und gigantischer Ausstattung. Mir kam damals das Wagenrennen zehnmal so lang vor.

Der Film war nichts für Elfjährige, er war ab zwölf, und ich musste mich am Eingang durchmogeln. Ich habe viele Filme im Laufe meines Lebens gesehen, es werden einige Tausend gewesen sein. Aber dieser Film, mein erster großer Hollywood-Film, hat meine Liebe zum Kino geweckt. Dieser unvergleichbar magische Moment, der schon beginnt, bevor der Vorhang aufgeht. So etwas kann es nur auf einer Kinoleinwand geben. Nur im Kino.

40 Jahre nach meinem Kinoabenteuer im Rio schaute ich in das kleine Büro von William Wyler im Haus seiner Tochter Catherine in Washington, DC. Sie erzählte mir von der detailversessenen Akribie, mit der ihr Vater diese Magie auf der Leinwand erzeugte. Ich besuchte sie mit Rainer Rother, damals Kurator beim Deutschen Historischen Museum, als wir in der Public Library in Washington nach Filmen für eine Retrospektive der »Marshall-Plan-Filme« recherchierten.

Ich bin mir sicher, dass solche Momente die Macht haben, das Leben eines Kinobesuchers zu verändern. In der Dunkelheit des Kinosaals blickt man fasziniert, weltvergessen und selbstversunken auf die Leinwand. 90 Minuten später (im Fall von Ben Hur222 Minuten), nach den ersten noch tapsigen Schritten hinaus in die Realität, wirkt diese Kraft noch lange nach. Jedenfalls ist das bei mir so gewesen, schon bei den dörflichen Kinobesuchen als Kind und Jugendlicher im Bali. Die Bahnhofslichtspiele der wunderbaren Elsa Fischer in meinem baden-württembergischen Heimatort sorgten für viele dieser Momente. Ich begann das Kino zu lieben und führte akribisch über alle dort gesehenen Filme Buch: den Titel, den Regisseur und den Hauptdarsteller. Dieser Schatz, ein kleines schwarzes DIN-A5-Brevier, ist leider irgendwann verloren gegangen. Die Filme aber blieben mir im Gedächtnis.

Das Bali befand sich im Saal der Bahnhofsgaststätte gegenüber der kleinen Bahnstation Ispringen auf der Strecke Pforzheim–Karlsruhe. Solche Bahnhofskinos erlebten in den 1950er Jahren eine wahre Blütezeit. Die Lust, sich aus der Kriegszeit wegzuträumen, war groß, und Fernsehgeräte standen noch nicht in jedem Haushalt. Das Kino war auch für mich die einzige Möglichkeit, Filme zu sehen. Ich musste nicht vom Fernseher weggelockt werden, denn wir hatten keinen. Zu erreichen war das Bali über eine Holztreppe am Hintereingang und dann über eine kleine Plattform und eine abweisende Holztür. Filme wurden am Sonntag gezeigt. Das Geld gab mir der neue Liebhaber meiner Mutter; er wollte mich für einige Stunden loswerden. Ich kam also der Liebe wegen zum Kino. Filmbeginn war um 15 Uhr, und ich war mittags der Erste an der Eingangstür. Die Türklinke hielt ich fest in der Hand und ließ sie bis zum Einlass zwei Stunden später nicht mehr los. Wer zuerst da war, hatte die Auswahl der besten Plätze. Die Eintrittskarte kostete 50 Pfennige, die Luxussessel waren 40 Pfennig teurer: acht dunkelrot gepolsterte Sessel auf der nur einen Meter breiten Empore direkt vor dem Projektionsraum. Beste Sicht, schlechtester Ton. Das Rattern des durchlaufenden Films machte den Kinobesuch zu einem sehr authentischen Erlebnis, doch den Filmgenuss konnte das nicht schmälern.

Es war die Zeit des deutschen Heimat- und Liebesfilms, Eskapismus pur im Kino der Nachkriegsjahre. Der jugendliche Anwalt mit dem roten Cabriolet bezirzt die hübsche Tochter des wohlhabenden Unternehmers aus Berlin. Sie alle machen Ferien in einem schönen Hotel am See. Papa will den jungen Schnösel nicht. Die Tochter keinen anderen und wird am Ende mit dem aufstrebenden Anwalt glücklich. So habe ich es in Erinnerung.

Schwarzwaldmädel war 1950 der erste westdeutsche Farbfilm und begründete eine wahre Flut an ähnlichen, enorm erfolgreichen Filmen. Das Traumpaar jener Zeit hieß Sonja Ziemann und Rudolf Prack, »Zieprack«, wie sie damals genannt wurden, sozusagen die »Brangelinas« der 1950er Jahre. Zahllose Filme folgten, viele mit »Schwarzwald« oder »Bodensee« im Titel. Sie prägten nachhaltig das Bild des Südwestens in den Köpfen von Millionen von Kinozuschauern. Eine unbezahlbare Werbung für die Region, lange bevor 1985 die Fernsehserie Schwarzwaldklinik die Nation bewegte und das Glottertal von Touristen überrannt wurde.[1]

Heute sind es nicht mehr Gerhard Riedmann und Marianne Hold aus Die Fischerin vom Bodensee, mit denen die Region assoziiert wird, sondern die Schwaben Roland Emmerich und Volker Engel, die an der Ludwigsburger Filmakademie gemeinsam mit Studenten 1997 die Visual Effects für einen der erfolgreichsten, Oscar-prämierten Hollywood-Filme Independence Day kreierten. Oder der Dokumentarfilmer Thomas Schadt, die Freiburger Produzenten und Filmemacher Gebrüder Danquart. Pepe Danquart wurde ebenfalls mit einem Oscar für seinen Kurzfilm Schwarzfahrer ausgezeichnet. Auch Peter Rommel, der erfolgreiche Produzent von Andreas Dresens Halbe Treppe, der auf der Berlinale 2002 den Silbernen Bären erhielt, kommt aus dem Ländle. Und einer der erfolgreichsten Film- und Fernsehproduzenten, Nico Hofmann, lehrt in Ludwigsburg. Nicht zu vergessen das Ulmer Filminstitut, das mit Filmemacher*innen wie Alexander Kluge, Ula Stöckl, Norbert Kückelmann, Edgar Reitz den gesamten deutschen Film beeinflusst hat. Das Biberacher Filmfest mit dem engagierten Adrian Kutter feiert seit über 40 Jahren den deutschen Film. Es ist ein Kult-Filmfest. Meine Heimatgegend: ein produktives Pflaster für große Regisseure, erfolgreiche Produzenten und kleines, feines Kino.

Doch damals, als kleiner Junge im Bali und im Rio, träumte ich mich in die Geschichten der Filme. Von der Filmindustrie wusste ich nichts. Auch nicht, dass nicht weit von Biberach ein gewisser Carl Laemmle aus Laupheim, Sohn einer jüdischen Familie, Ende des 19. Jahrhunderts nach Amerika auswanderte, um dort sein Glück zu suchen. Dieser Carl Laemmle war einer der großen Filmpioniere Hollywoods, er gründete dort 1912 die legendären Universal Studios. Spielfilme seien Kunst, und mit dieser Kunst könne man Massen begeistern, war seine Philosophie. Nach ihm ist heute der Produzentenpreis der Produzentenallianz benannt, der in Carl Laemmles Heimatort Laupheim verliehen wird.[2]

Dass ich 40 Jahre später selbst vor den Toren der Universal Studios im Stadtteil Burbank in Los Angeles stehen würde, um Filme für die Internationalen Filmfestspiele Berlin, die Berlinale, zu akquirieren, dass »Filme schauen« einmal mein Beruf sein und ich viel Zeit in dieser Traumfabrik verbringen würde – für den Elfjährigen mit der Hand auf der Türklinke unvorstellbar.

Der erste Hollywood-Besuch im Auftrag der Berlinale lief jedoch anders ab als geplant, denn er fiel auf den 11. September 2001.

Enemy at the Gates

Im Sommer 2001 begann mein neuer Job als Festivaldirektor, dem vierten seit der Gründung des Festivals 1951 in Berlin. Die Amtszeit des langjährigen Direktors Moritz de Hadeln und seiner Frau Erika ging zu Ende, die Berlinale wartete auf ihren Neustart. Moritz de Hadeln war de facto noch immer der Festivaldirektor, befand sich die meiste Zeit aber nicht in Berlin, als ich bereits für seine Nachfolge berufen wurde. Leider wollte de Hadeln nicht, dass ich die Räume der Filmfestspiele in seiner Abwesenheit betrat. So hatte ich nach meinem Amtsantritt am 1. Juni 2001 nur sieben Monate Zeit, die nächste Berlinale im Februar 2002 zu stemmen.

Das Festival gehörte vormals dem Land Berlin, organisiert unter dem Dach der »Berliner Festspiele«. Mit dem Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin im Jahr 2000 wurden einige Berliner Institutionen vom Bund übernommen. Seither ist die Berlinale Teil der bundeseigenen KBB, den Kulturveranstaltungen des Bundes in Berlin.

Als erster Staatsminister für Kultur und Medien im Kabinett Gerhard Schröder schrieb mir Michael Naumann noch einen Brief, in dem er mich auf meinem neuen Posten begrüßte. Er zitierte Heinrich Heine: »Manchmal ist es gut, von Zeit zu Zeit den Schreibtisch zu wechseln.« Dem konnte ich nur zustimmen und schrieb zurück: »Manchmal ist es gut, von Zeit zu Zeit zur Zeit zu wechseln.« Denn als ich in Berlin antrat, war er als Herausgeber zur Zeit gewechselt. Sein Nachfolger als Kulturstaatsminister wurde der Philosoph Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, der sich erst in seinem Amt einfinden musste. Also legte ich auf unkonventionelle Weise los, da ein konventioneller, geregelter Übergang nicht möglich war.

Noch nie in meinem Leben saß ich derart schweigenden Mitarbeiter*innen gegenüber wie beim ersten Treffen im Grand Hotel Esplanade am Lützowufer in Berlin. Im Hamburger Filmbüro – meinem ersten Job als Geschäftsführer der kulturellen Filmförderung 1983 – war es immer laut, kontrovers und basisdemokratisch zugegangen. In Nordrhein-Westfalen hatten wir bei der Filmstiftung ein humor- und temperamentvolles Team rheinischer Art, und nun lernte ich die Macher*innen der Berlinale kennen – sie schwiegen. Dabei wollte ich doch nur herausfinden, wie sie organisiert waren, um Schlüsse daraus zu ziehen, wo und wie wir uns verbessern könnten. Irgendwann erhob sich eine Kollegin und sagte, ohne mich dabei anzusehen: »Wissen Sie, wir sind es nicht gewohnt, in Anwesenheit des Direktors zu sprechen.«

Ich rief den Kellner und bestellte Wein. Nach dem zweiten Glas bekam ich dann Einblicke in das sehr spezielle organisatorische System. Ich machte mir Notizen. Ich hatte keine große Wahl, es musste sich viel, sehr viel ändern, um die Berlinale zu erneuern, und ich wollte nicht auf die wertvolle Erfahrung dieser langjährigen Mitarbeiter*innen verzichten.

Auf Prof. Nida-Rümelin im Amt des Staatsministers folgte die Literaturwissenschaftlerin Dr. Christina Weiss. Wir kannten uns aus Hamburger Zeiten, wo sie sich sehr für den Film engagierte. Ihr folgte der politik- und filmerfahrene Bernd Neumann. Und zuletzt Prof. Monika Grütters, eine langjährige Berliner Kulturpolitikerin. Sie liebte den roten Teppich am meisten. Alle Staatsminister*innen hatten Wünsche, wie die Berlinale sein sollte. Ich auch. Bereits während der Berlinale 2000 wollte der Tagesspiegel wissen, wie ich mir eine neue Berlinale vorstellen würde:

Tagesspiegel: Wie sollte das Festival reformiert werden?

Meine Antwort: Eigentlich ist die Berlinale ein schönes Filmfestival.

Tagesspiegel: Wie wünschen Sie sich die zukünftige Festivalleitung?

Meine Antwort: Groß, stark, mächtig, gläsern, kosmopolitisch, witzig, ein bisschen wie der Potsdamer Platz, Berlin-Mitte, der Hamburger Hafen, der Viktualienmarkt in München, die Thomaskirche in Leipzig, die Maultaschen in Stuttgart und der Karneval in Köln.[3]

Die Berlinale sollte, so die Erwartungshaltung des Kulturstaatsministers, publikumsfreundlicher werden, mehr internationale Stars präsentieren, den deutschen Film wieder ins Boot holen und gleichzeitig junge Talente fördern. Das war auch mein Plan. Mission impossible oder possible mission? Aus meiner Sicht brauchte es für so eine Herkulesaufgabe eine optimistische Organisation, in der jeder Ideen einbringen konnte. Es gab zweifellos viel zu tun, sieben Monate vor dem Festival 2002.

Dann wurde doch noch ein Termin beim noch amtierenden Festivaldirektor arrangiert. Mitte November 2000, morgens um 11 Uhr, durfte ich das erste Mal die heiligen Hallen betreten. Der Umzug der Berlinale aus dem Westen in die neue Mitte der Stadt am Potsdamer Platz war gerade mit Bravour beendet und die letzte Großtat des scheidenden Direktors und des Ehepaars de Hadeln gewesen. Er begrüßte mich zünftig mit einem Glas Whisky. Mittlerweile setzten die Kritiker*innen murmeltiermäßig Moritz de Hadeln heftig zu. Ein kleiner Vorgeschmack. Das sollte später auch ich noch lernen – diese spezielle Art persönlicher und bösartiger Filmkritik als Begleitmusik des Festivals.

Bei de Hadelns letzter Berlinale im Frühjahr 2001 war ausgerechnet Enemy at the Gates (Duell – Enemy at the Gates) von Jean-Jacques Annaud der Eröffnungsfilm gewesen, die Geschichte des Duells zweier Scharfschützen während der Schlacht um Stalingrad. Sie basiert auf dem Roman von William Craig, hat den Scharfschützen Wassili Saizew als Vorbild, der 300 feindliche Soldaten und Offiziere getötet haben soll, die meisten von ihnen Deutsche. Ein Grund für die Wahl des Films war, dass er mit deutschen Fördermitteln im Filmstudio Babelsberg gedreht wurde.

Dass die Kritiker*innen sich an der Machart des Films stören würden, war absehbar, und genauso kam es. Aber schlimmer noch war, dass das Publikum den Film ebenfalls nicht mochte. Jean-Jacques Annaud kündigte daraufhin an, künftig auf der Berlinale keinen seiner Filme mehr zu zeigen. Das blieb auch so bis zu meinem Abschied 18 Jahre später.

Für Moritz de Hadeln war es ein bitterer Abgang.

Ich hatte an jenem Abend im Berlinale Palast versucht nicht aufzufallen und mich in die letzte Reihe gesetzt. Schon während des Abspanns verließ ich das Kino, um als einer der Ersten zur Eröffnungsparty ins InterContinental zu gehen. Einen Platz in einer unauffälligen Ecke wollte ich mir suchen, um nicht das Medieninteresse auf mich zu ziehen.

Doch so leicht war das nicht, denn vor dem Eingang zur Premierenfeier hielten mich die Ordner auf. »Sie haben keine Einladung«, hieß es, »Sie dürfen nicht rein!«

In der Reihe hinter mir begannen Leute zu rufen: »Ja, spinnt ihr? Das ist der neue Direktor!«

Im Foyer gab es einen grauhaarigen Produzenten mit Berliner Humor, der nichts Besseres zu tun hatte, als die Ordner zu unterstützen: »Nee, den lassen Sie auf keinen Fall rein«, rief er laut. »Der probiert das immer wieder, das ist seine Masche.« Berliner Humor.

Ich habe den Abend dann mit Freunden in der Bar des InterConti und nicht beim Empfang verbracht. Enemy at the Gates eben.

Sind Sie einer von den Hollywood-Leuten?

Im Film Hail, Caesar! der Coen-Brüder, dem Eröffnungsfilm der Berlinale 2016, antwortet George Clooney auf diese Frage lakonisch: »Schon möglich.« Der kurze Dialog beschreibt treffend, wie es mir damals erging, als ich mich auf mein erstes Festival vorbereitete. Ich kannte zwar alle europäischen Filmemacher*innen, die aus Asien und Südamerika zum größten Teil. Auch das amerikanische Independent-Kino war mir vertraut. Doch wer waren all die Hollywood-Größen? Oder besser, die Größen hinter den Größen, die man kennen muss, um an Hollywood-Filme zu kommen?

Ich begann meine erste Filmauswahl-Reise im Herbst 2001 mit einem Besuch in Mexico City. Beim mexikanischen Filminstitut IMCINE hatte ich Freunde, und so wurde Mexiko in den kommenden Jahren ein wichtiges Land, um mit der vitalen zentralamerikanischen Filmszene in Kontakt zu bleiben. Der Journalist und Filmkritiker Alexis Grivas, mit griechischer und mexikanischer Staatsbürgerschaft, war mir dabei eine große Hilfe. Als international tätiger Kameramann lebte der Grieche schon viele Jahre in Mexiko und kannte die dortige Filmszene. Erst einmal musste ich aber Chicharrones essen, frittierte Schweineschwarten. Mittlerweile halte ich mich als Gemüsefreund eher an vegetarische Chile Relleno und an Guacamole. Damals wurde jedenfalls beim ersten offiziellen Essen die Schweineschwarte serviert. Eine gute Grundlage für Tequila und Mezcal, echte Freundschaftsgetränke, für lang andauernde Freundschaften, wie sich später herausstellte.

Vor der Abreise in Berlin hatte ich noch ein langes Gespräch mit dem österreichischen Filmexperten Alexander Horwath. Der war damals Direktor der Viennale, einem Filmfestival in Wien, und gerade dabei, seinen neuen Job als Direktor des Österreichischen Filmmuseums anzutreten. In vielen Büchern hatte er sich mit dem US-amerikanischen Film auseinandergesetzt und galt als ausgemachter Kenner der Szene.

»Dieter«, meinte er, »du brauchst nur den neuen Film von Wes Anderson, The Royal Tenenbaums (Die Royal Tenenbaums). Kriegst du den, bist du auf der sicheren Seite.«

Das war nicht nur ein kollegialer Tipp, sondern sollte sich als zutreffend erweisen. Der Regisseur Wes Anderson hatte 1998 mit Rushmore für viel Aufsehen gesorgt. Seine Geschichte über einen halbwüchsigen Sonderling, der sich in eine verwitwete Lehrerin verliebt und gleichzeitig eine Freundschaft zu einem deprimierten Geschäftsmann pflegt, war genau die richtige Mischung aus Independent-Film und Hollywood-Streifen, welche Zuschauer*innen und Kritiker*innen gefiel. Außerdem begründete sie die wunderbare Zusammenarbeit des Regisseurs mit dem Schauspieler Bill Murray, der 17 Jahre später den Silbernen Bären für die beste Regie für den Animationsfilm Isle of Dogs (Isle of Dogs – Ataris Reise) im Namen von Wes Anderson mit dem Satz entgegennahm: »Ich bin ein Berliner … Bär.« Er war auch in der Tragikomödie Die Royal Tenenbaums mit an Bord, zusammen mit Gene Hackman, Anjelica Huston, Gwyneth Paltrow, Ben Stiller, Luke Wilson, Owen Wilson und Danny Glover. Eine beeindruckende Riege von Stars, von denen ich den einen oder anderen auf jeden Fall auf meinen ersten roten Teppich nach Berlin locken wollte. Aber wie sollte ich das angehen? Ich konnte doch nicht monatelang in Los Angeles darauf warten, dass ich bei Partys einem von ihnen über den Weg laufen würde.

11. September 2001

Die Vorbereitungszeit auf die 52.Berlinale war kurz, aber gerade jetzt musste ich natürlich möglichst viele gute Filme akquirieren, um für einen guten Start zu sorgen. Es war meine erste Reise als Berlinale-Direktor, und ich nahm mir vor, mich nicht zu schonen und mit allen wichtigen Menschen zu sprechen. So verabredete ich mich mit der Hollywood-Expertin Frances Schoenberger in Kalifornien. Sie hatte die Kontakte. Als Mitglied der Foreign Press, der Organisation internationaler Filmjournalisten in Los Angeles, die jährlich die begehrten Golden Globes verleiht, hatte sie auch den Respekt der Filmszene und der Filmstudios. Die gebürtige Niederbayerin wurde meine Türöffnerin in die wundersame Gesellschaft von Hollywood.

Das Hollywood-Studio Disney sollte Die Royal Tenenbaums weltweit in die Kinos bringen. Für ein A-Filmfestival wie der Berlinale, das in einem offiziellen Wettbewerb internationale Premieren zu präsentieren hatte, ging es jetzt darum, diese Weltpremiere zu sichern und damit auch das Interesse bei der internationalen Presse zu wecken. Zu Disneys Weltvertrieb Buena Vista und dessen Chefin Terri Meyer pflegte Frances beste Kontakte. Ich verabredete, dass ich nach meiner Mexikoreise direkt von dort nach Hollywood fliegen würde. Das heißt, das war der Plan bis zum 10. September 2001. Am Tag danach wurde ich in meinem Hotel in Mexico City durch einen Anruf vom Berlinale-Festivalmanager Johannes Wachs geweckt. An diesem Morgen veränderte sich alles, die ganze Welt und damit auch meine Reiseroute.

»Schalt den Fernseher ein!«, bat er mich. Es war der 11. September 2001, und das Flugzeug der Terroristen bohrte sich in das World Trade Center.

Millionen Menschen starrten wahrscheinlich wie ich betäubt vor Entsetzen auf die Bildschirme. Irgendwann riss ich mich von den furchtbaren Bildern der brennenden Zwillingstürme in New York los, griff zum Telefon und rief Frances an.

»Alle Flüge sind gestrichen«, sagte sie kurz. »Es gibt nur eine Möglichkeit: Du fliegst zur mexikanischen Grenzstadt Tijuana, und ich hol dich dort ab. Dann versuchen wir, über die Grenze nach San Diego zu kommen, sofern das noch möglich ist, und ab nach Los Angeles.«

In Windeseile packte ich den Koffer. Ein Mitarbeiter des Filminstituts fuhr mich zum Flughafen und wünschte mir ¡Mucha suerte! Mein Reisekarma hatte ein Einsehen, und ich bekam einen Platz in der nächsten Maschine nach Tijuana. Als ich kurz nach Mittag landete, wartete Frances bereits am Gate.

»Herzufinden ist leicht«, sagte sie zur Begrüßung, »da folgt man den Schildern ›Aeropuerto‹. Zurück ist es schwieriger, denn die Grenze ist nicht ausgeschildert.« Wir waren bereits auf dem Weg dahin. »Also kurble das Fenster runter und frage jeden: ¿Donde esta la frontera? Wo ist die Grenze?«, sagte Frances. Ich mochte diesen frischen Optimismus an diesem Tag. An der Grenze wurden wir zur großen Verblüffung durchgewunken, und von da an ignorierte Frances jede Geschwindigkeitsbeschränkung. Um 15:50 Uhr fuhren wir durchs Tor der Disney-Studios in Burbank. Zehn Minuten später war unsere Verabredung mit Terri Meyer.

 

Das Studio war gespenstisch leer, man hatte alle Mitarbeiter*innen nach Hause geschickt. Nur die Vertriebschefin für den weltweiten Start des neuen Wes-Anderson-Films wartete auf uns. Als wir um 16 Uhr ihr Büro im vierten Stock betraten, rief sie laut und anerkennend: »What the fuck! You Germans are always on time.«

Das waren die ersten Sätze, die ich in einem Hollywood-Studio zu hören bekam. »Ich möchte die Royal Tenenbaums haben …« Etwas anderes fiel mir nicht ein. Dann begrüßten wir uns erst einmal und sprachen über das, was wichtiger war als alle Filme dieser Welt: das zerstörte World Trade Center und den Angriff auf die Weltordnung. Es dauerte, bis wir zu den Tenenbaums zurückkehrten. Terri Meyer kam in Hollywood-Manier direkt zum Punkt: »Du bekommst den Film, aber nur unter einer Bedingung.«

Damit hatte ich gerechnet. Man bekommt einen Film immer nur unter einer Bedingung, hatte man mich gewarnt. Meistens werden es dann sehr viele. Also aufgepasst.

Doch Terri Meyer hatte nur einen besonderen Wunsch: »Der Film muss am Donnerstag um 19:30 Uhr gezeigt werden.«

Donnerstag ist der traditionelle Eröffnungstag der Berlinale.

»Warum nicht?«, antwortete ich zögernd. Ich hatte den Film ja nicht gesehen. Aber zu unentschieden wollte ich auch nicht wirken. Bloß keinen Fehler machen. »Ja, klar, das ist bestimmt ein phantastischer Eröffnungsfilm.«

»Nein, nicht am ersten, sondern am zweiten Donnerstag des Festivals.«

Nun war ich völlig verwirrt. Der zweite Donnerstag gilt als wenig attraktiv. Das Festival läuft schon eine Woche, alle sind müde, die erste Welle der Journalist*innen reist gerade ab, die zweite Welle kommt erst am Wochenende wieder an. – Doch Terri Meyer beharrte auf diesem Termin.

»Going against the grain«, erläuterte sie ihre Strategie. Sie schwimme lieber gegen den Strom. Wir einigten uns auf ihren Wunschtermin, bei dem es all die Jahre geblieben ist: Wann immer ich von ihr einen Film bekam, lief er am zweiten Donnerstag des Festivals. Und immer mit großem Erfolg.

Nun ging es noch um die Stars. Wes Anderson hatte bei unserem Treffen dabei sein wollen, war aber bereits nach Hause gefahren, und von Bill Murray, Hauptdarsteller und Kultfigur, hatte ich keine Telefonnummer. Ich wusste, dass man ihn nur über eine 800er-Nummer erreichen und seine Wünsche auf Band sprechen konnte. Ob er zur Berlinale käme oder nicht, sollte in den folgenden Monaten zu einem dramatischen Telefonmarathon und Wettlauf mit der Zeit werden. Gefühlte hundert Mal rief ich später die 800er-Nummer an, immer bedrängt von Journalistenfragen. »Kommt er? Kommt er nicht?« Bill Murray nach Berlin zu bekommen, wurde für mich zum frühen Lehrstück, dass mein neuer Job mit keinem vorhergehenden vergleichbar war: extrem kompliziert, voller Fallen und Fallenstellern und immer gute Miene zum bösen Spiel machen. So druckte kurz vor dem Festival das Berliner Stadtmagazin TIP ein Interview mit Bill Murray ab. »Warum soll ich im kalten Winter nach Berlin zu einem Filmfestival gehen?«, kauzte er. Trotzdem warb das Magazin auf seinem Titel mit dem Star und suggerierte so, dass er nach Berlin käme.

Doch noch war ich in Los Angeles und nutzte die Zeit, um bei den wichtigsten Filmstudios die Klinken zu putzen. Bei der 20th Century Fox lernte ich den sympathischen Chef Jim Gianopulos kennen, heute Chief Executive Officer bei Paramount Pictures. Von ihm und durch seine Fürsprache bekam ich später viele wichtige Filme für die Berlinale. Vor allem von der engagierten Arthouse-Tochterfirma Fox Searchlight Pictures. Dort arbeiteten alte Bekannte aus meinen früheren Jobs: Rebecca Kearey und der Sundance-Filmfestival-Mitbegründer Tony Safford. Sie sollten mich dann über Jahre mit Weltpremieren wie Wes Andersons Grand Hotel Budapest oder Isle of Dogs – Ataris Reise versorgen. Aus der Zusammenarbeit mit dem Fox-Team und seinem deutschen Chef Vincent de La Tour entstand sogar eine Freundschaft – selten in diesem nur am Erfolg orientierten Geschäft.

Denke ich heute an diese Monate vor meiner ersten Berlinale zurück, scheint es mir, als hätte ich mich in einem Zeittunnel befunden. 400 Filme in 700 Vorführungen galt es zu organisieren. Ich zermarterte mir das Gehirn, um jede Kleinigkeit und nichts, aber auch gar nichts zu vergessen: Wie sollten die neuen Plakate aussehen, die neue Eröffnungsmusik klingen und der wichtige Trailer, der vor jedem Film das Festival repräsentiert und die neue Zeit symbolisieren sollte? Das Konzept dieses Trailers war seit Jahrzehnten nicht geändert worden, damit fingen wir an. Berlinale-Organisatorin Dagmar Forelle engagierte den Regisseur Uli M. Schueppel, der die bekannte Bären-Goldkugel animierte, basierend auf einer Idee und auf dem Storyboard der Berliner Künstlerin Angelika Margull. Mir ging es aber nicht nur um ein neues Design, sondern auch um eine Botschaft: »Accept Diversity« sollte als Motto auf das Plakat. Wir hatten insgesamt also nicht weniger vor, als das Festival runderneuert zu präsentieren.

No more pans – Keine Pannen mehr

Donnerstag, der 7. Februar, die feierliche Eröffnung der Berlinale 2002. Die Filmwelt blickte auf »the new guy«, wie es die internationale Filmzeitschrift Variety formulierte, und der war nervös. Es ging dann auch schief, was nur schiefgehen konnte. Am Eröffnungsfilm lag es nicht, denn dafür hatten wir einen deutschen Film ausgesucht, Tom Tykwers Heaven, mit Cate Blanchett und Giovanni Ribisi in den Hauptrollen. Der Film kam bei der Premiere sehr gut an. Weniger gut gelang mein erster »Show«-Auftritt. Ich hatte die berühmte »Ost-Schauspielerin« Corinna Harfouch und den berühmten »West-Kameramann« Michael Ballhaus darum gebeten, die Moderation zu übernehmen. Dies sollte meine Verbundenheit zu den Cinematographien von Ost und West symbolisieren. Mein Freund Michael arbeitete zu der Zeit gerade in New York, und zwar mit Martin Scorsese an dessen neuem Film Gangs of New York. Er musste dann kurzfristig absagen. Dafür sprang mutig der Schauspieler und Schriftsteller Hanns Zischler ein. Wolfgang Niedecken mit seiner Kultband BAP hatten wir gebeten, den Eröffnungsabend zu rocken. Wim Wenders’ Film Viel Passiert – der BAP-Film lief im offiziellen Programm.

Corinna trug ein atemberaubendes Kleid. Nur hatte niemand einen Gedanken daran verschwendet, dass es aus vergoldeten Metallplättchen bestand, die für schrille Rückkopplungen mit ihrem Mikrofon sorgten. Sobald sie das Wort ergriff, pfiff es ohrenbetäubend durch den Saal. Entsetzt sah ich, wie sich Gäste die Ohren zuhielten. Was gibt das für ein Bild in der Welt ab, dachte ich, leicht zitternd in der 20. Reihe. Wie einst Roberto Benigni bei der Oscar-Verleihung seines Films La vita è bella (Das Leben ist schön) kletterte ich über sämtliche Stuhlreihen und rannte nach vorne. Auf der Bühne angekommen, schnappte ich mir das Mikrofon. Da ich metallfrei angezogen war, funktionierte es. Ich begann einen Rede-Marathon. Eine Rede auf Deutsch und Englisch zu halten, vor den Stars und der Prominenz im Saal und dem Publikum an den Bildschirmen zu Hause und das völlig unvorbereitet? Nach all diesen Pannen und gefühlt zwei Stunden später, wie der damalige Kanzler und Premierengast Gerhard Schröder spottete, versprach ich dem Publikum: »I promise you, no more pans«, »ich versichere Ihnen, es gibt keine weiteren Pfannen.« Einige hatten pants, sprich: Hosen verstanden. Der Saal tobte.

Irgendwie habe ich das als meine Rettung im Kopf. Später sagte man mir, dass mein schwäbisches Englisch, Panne wortwörtlich als pan zu übersetzen, weil im Englischen going down the pan so viel bedeutet wie »den Bach runtergehen«, ein toller Wortwitz im doppelten Sinn gewesen sei. Das war zwar tröstend, aber alle wussten nun, dass mein Englisch an diesem Abend nicht ganz auf Weltniveau war.

Eigentlich wollte ich einfach nur BAP befreien, die im Orchestergraben auf ihren Einsatz warteten und schwitzten. Später meinte Bandchef Niedecken: »Wir mussten fast ’ne Stunde auf den Hintern vom Kollegen Kosslick starren.« Als ich endlich bei den Sponsoren angelangt war, nannte ich noch völlig benommen die falsche Mineralwasserfirma. Die Repräsentanten dankten mir diese pans auf ihre Weise, und schon waren wir den ersten Sponsor los.

Als dann noch der georgisch-französische Meisterregisseur Otar Iosseliani Cognac-gestärkt bei der Preisverleihung des Silbernen Bären für die beste Regie seines Films Lundi Matin (Montag Morgen) mit dem französischen Bonmot brillierte, er freue sich, dass Deutsche zu so einem petit bordel fähig seien, bedurfte es natürlich von mir keiner Übersetzung mehr. Die 2000 Gäste wussten, dass Iosseliani auf die turbulente Eröffnungszeremonie anspielte, und übersetzten petit bordel sofort richtig mit »kleines Durcheinander«. Nun ja. Alle wollten schließlich den Neuanfang, und der gelang auf allen Ebenen.

Am 13. Februar traf ich die BAP-Truppe nach ihrer Premiere. Ich ließ es mir nicht nehmen, zu später Stunde noch ins Kant Kino zu gehen, wo sie auftraten. Niedecken bat mich auf die Bühne, um in den frühen Morgenstunden mit ihnen zu jammen. Wim Wenders an den Bongos und Niedecken und ich an der Gitarre. Als drei Stunden später um acht Uhr morgens der Wecker klingelte, erwachte ich starr und steif. Nichts ging mehr. Ich hatte überall Krämpfe, mein Körper wollte mir nicht länger gehorchen. Mehr Wasser und weniger Alkohol, das wäre gut gewesen. Dann wurde ich vom Notarzt wieder fit gespritzt, und weiter ging es.

Von nun an lief es besser. Ich wollte den deutschen Film wieder zurück auf die Berlinale holen, und das war gelungen. Das Verhältnis der deutschen Filmszene und der Berlinale war tief gestört, dem Festivaldirektor de Hadeln hatte man vorgeworfen, den deutschen Film nicht zu mögen und ihn viel zu selten im Wettbewerb zu präsentieren. Von mir erwartete man, dass ich das änderte. Das tat ich auch, und es fiel mir nicht schwer. Durch meine jahrelange Tätigkeit bei verschiedenen Filmförderungen in Hamburg und Nordrhein-Westfalen hatte ich nicht nur gute Beziehungen zur deutschen Filmbranche und – viel wichtiger – eine gute Meinung vom deutschen Film. Mit neuen Initiativen wollte ich dem einheimischen Kino eine internationale Plattform bieten. So wurde der Filmjournalist und Verleiher Alfred Holighaus zum Leiter der neuen Reihe »Perspektive Deutsches Kino«, die er neun Jahre lang erfolgreich leitete. Seine Handschrift war schon im ersten Jahr 2002 deutlich sichtbar.

Neben dem Eröffnungsfilm Heaven von Tom Tykwer präsentierten wir weitere drei deutsche Filme im offiziellen Wettbewerb – eine Sensation: Halbe Treppe von Andreas Dresen, Baader von Christopher Roth, Der Felsen von Dominik Graf und dazu Wim Wenders’ BAP-Film im offiziellen Programm. Und die Regisseur*innen Mark Schlichter, Frieder Schlaich, Peter Lohmeyer, Esther Gronenborn und andere hatten für je 99 Euro eine Geschichte gedreht. Daraus war ein wilder, witziger, politischer Film entstanden, der unter dem Titel 99euro-films gezeigt wurde. Der deutsche Film war wieder sichtbar für das Publikum und die internationalen Filmeinkäufer*innen.