ImpulsE zur Verbesserung der Impuls- und Emotionsregulation - Hanna Preuss - E-Book

ImpulsE zur Verbesserung der Impuls- und Emotionsregulation E-Book

Hanna Preuss

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Beschreibung

Das Manual stellt einen kognitiv-behavioralen Therapieleitfaden zur Verbesserung der Handlungs- und Impulskontrolle sowie der Emotionsregulation für Patienten mit Adipositas und pathologischem Essverhalten vor. Im Rahmen der Therapie sollen gezielt Faktoren, die die Adipositas und das übermäßige Essverhalten aufrechterhalten, abgebaut werden, so dass sich die Essstörungspathologie verbessert und eine langfristige Gewichtsreduktion erreicht werden kann. Das Manual kann sowohl im Einzel- als auch im Gruppensetting angewandt werden. Nach einer Beschreibung des Störungsbildes und des diagnostischen Vorgehens wird die Durchführung der einzelnen ImpulsE-Module praxisorientiert dargestellt. Es werden Fertigkeiten zur Impulskontrolle vermittelt, welche daran ansetzen einen bereits initiierten Handlungsimpuls auf Nahrungsstimuli zu hemmen. Um dysfunktionales emotionsgesteuertes Essverhalten abzubauen, werden ferner Techniken zur verbesserten Emotionsregulation aufgezeigt. Hierdurch soll besonders das Selbstwirksamkeitserleben von Betroffenen im Umgang mit Nahrungsmitteln gesteigert werden. Weiterhin enthält das Manual Module zur motivationalen Stärkung, zum Ess- und Ernährungsverhalten, zur Förderung des Bewegungsverhaltens und von Stressbewältigungsfertigkeiten. Zahlreiche Arbeitsmaterialien werden auf der beiliegenden CD-ROM zum direkten Ausdrucken bereitgestellt.

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Hanna Preuss

Katja Schnicker

Tanja Legenbauer

ImpulsE zur Verbesserung der Impuls- und Emotionsregulation

Ein kognitiv-behavioraler Therapieansatz für Patienten mit Adipositas und pathologischem Essverhalten

Dipl.-Psych. Hanna Preuss, geb. 1987. 2006–2012 Studium der Psychologie in Marburg und Madrid. 2016 Approbation als Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie) und zertifizierte Schematherapeutin nach den Kriterien der ISST e. V. 2013–2016 Promotionsstipendiatin und Therapeutin des Behandlungs- und Forschungsschwerpunktes für Essstörungen der Poliklinischen Institutsambulanz für Psychotherapie der Universität Mainz. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Therapeutin im Essstörungsschwerpunkt der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz.

Dr. phil. Katja Schnicker, geb. 1974. 1999–2004 Studium der Psychologie in Mainz. 2001–2007 Mitarbeiterin im Institut für Kinder- und Jugendhilfe in Mainz. 2008 Approbation als Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie). 2008–2009 Psychotherapeutin in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (St. Valentinushaus) in Bad Soden am Taunus. 2012 Promotion. Seit 2009 Psychotherapeutische Leiterin des Behandlungs- und Forschungsschwerpunktes für Essstörungen der Poliklinischen Institutsambulanz für Psychotherapie der Universität Mainz. Zertifizierte Schmerzpsychotherapeutin der DGPSF.

Prof. Dr. rer. nat. Tanja Legenbauer, geb. 1973. 1993–1998 Studium der Psychologie in Frankfurt und Marburg. 1998–2002 psychotherapeutische Tätigkeit in der Psychosomatischen Fachklinik St. Franziska-Stift in Bad Kreuznach. 2002 Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin. 2002 Promotion. 2002–2007 Wissenschaftliche Assistentin in der Abteilung Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Mainz und von 2003–2007 Leitung des Behandlungs- und Forschungsschwerpunktes für Essstörungen der Poliklinischen Institutsambulanz. 2010 Habilitation. 2007–2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, LWL Klinik Dortmund. Seit 2011 Leitung der Forschungsabteilung der LWL Universitätsklinik Hamm für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit 2014 Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der LWL Universitätsklinik Hamm, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Ruhr-Universität Bochum.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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www.hogrefe.de

Illustrationen: Dorothee Grix, Frankfurt am Main

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

Format EPUB

1. Auflage 2018

© 2018Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2754-6; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2754-7)

ISBN 978-3-8017-2754-3

http://doi.org/10.1026/02754-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Theoretischer Hintergrund

Kapitel 1 Adipositas und pathologisches Essverhalten

1.1 Symptomatik und Klassifikation

1.2 Differenzialdiagnostik, Komorbidität und Folgen

1.3 Ätiologische Annahmen

1.4 Stand der Therapieforschung

1.4.1 Behandlung der Adipositas

1.4.2 Behandlung der Binge-Eating-Störung

Kapitel 2 Impulsivität, Emotionsregulation und Essverhalten

2.1 Impulsivität und Inhibitionsfertigkeiten

2.2 Einfluss von Impulsivität auf Essverhalten und Körpergewicht

2.3 Zusammenhänge zwischen Impulsivität, Emotionsregulation und Essverhalten

2.4 Stand der Therapieforschung

Kapitel 3 Evaluation des vorliegenden Therapiemanuals

3.1 Konzeption des Therapieansatzes ImpulsE

3.2 Studiendesign zur Wirksamkeitsüberprüfung

3.3 Ergebnisse der Evaluationsstudie

II. Therapeutischer Leitfaden

Kapitel 4 Therapievorbereitung

4.1 Ablauf des Erstgesprächs

4.2 Diagnostische Empfehlungen

4.2.1 Diagnostik von Impulsivität

4.2.2 Diagnostik von Emotionswahrnehmung/-regulation

4.2.3 Diagnostik von Essstörungen und pathologischem Essverhalten

4.2.4 Diagnostik von weiteren komorbiden psychischen Störungen

4.3 Integration in ein umfassendes Konzept der Adipositas- und Essstörungsbehandlung

Kapitel 5 ImpulsE im Überblick

5.1 Einbettung der ImpulsE-Module in das Störungsmodell

5.2 Allgemeine Hinweise zum therapeutischen Vorgehen

5.2.1 Therapeutisches Setting

5.2.2 Zeitliche Struktur

5.2.3 Indikationen und Kontraindikationen zur Teilnahme an ImpulsE

5.3 ImpulsE im Gruppensetting

5.3.1 Exemplarischer Ablaufplan von ImpulsE

5.3.2 Allgemeine Übung zur Stärkung der Gruppenkohäsion

5.3.3 Herausfordernde Therapiesituationen im Gruppensetting

5.4 Arbeitsmaterialien

Kapitel 6 Die ImpulsE-Module

6.1 Modul I – Aufbau eines Verständnisses für die Entstehung und Aufrechterhaltung des eigenen pathologischen Essverhaltens

6.2 Modul II – Etablierung einer Bereitschaft zum bedürfnis- und zielorientierten Handeln

6.3 Modul III – Ausbau von funktionalen Emotionsregulationsfertigkeiten

6.4 Modul IV – Verbesserte Hemmung von Störfaktoren

6.5 Modul V – Ausbau eines angemessenen Belohnungsaufschubs

6.6 Modul VI – Verbesserung der Handlungskontrolle

6.7 Modul VII – Rückfallprävention aus einer werteorientierten Perspektive

Kapitel 7 Zusatzmodule

7.1 Zusatzmodul I – Etablierung eines gesunden Ess- und Ernährungsverhaltens

7.2 Zusatzmodul II – Aufbau eines regelmäßigen Bewegungsverhaltens

7.3 Zusatzmodul III – Ausbau von Stressbewältigungsfertigkeiten

7.4 Zusatzmodul IV – Weitere Stabilisierung des Gewichtsverlustes

Literatur

Anhang

Materialien auf CD-ROM

Vorwort

Warum kann ich nicht, obwohl ich will, was ich muss?

(nach Kant, 1789)

Patienten und Patientinnen mit Adipositas stellen eine besondere Behandlungsgruppe im psychotherapeutischen Kontext dar. So gilt Adipositas nicht als primär psychische Erkrankung, sondern als Übermaß an Fettgewebe. Die Ursachen sind komplex, wobei neben einer deutlichen genetischen Komponente von psychischen Einflussfaktoren ausgegangen wird. Eine besondere Gruppe Patienten und Patientinnen mit Adipositas stellen dabei jene dar, die ein pathologisches Essverhalten, wie z. B. Überessen, ausgeprägtes Verlangen nach Süßem oder „Grazing“-Verhalten und Essanfälle mit gänzlichem Kontrollverlusterleben, aufweisen. Patienten und Patientinnen mit Adipositas und pathologischem Essverhalten gelten als psychisch stark belastet und als besonders schwer zu behandeln. Zum einen greifen die herkömmlichen Gewichtsreduktionsprogramme nicht, zum anderen wirken psychotherapeutische Programme zur Behandlung der Essstörungspathologie nicht reduzierend auf das Gewicht. Insgesamt fehlt es hier an Behandlungsprogrammen, die auf die Bedürfnisse dieser speziellen Patientengruppe eingehen. Motivationale Stärkung gemeinsam mit einer Verbesserung des Ernährungs-, Bewegungs- und Stressmanagements scheinen nicht ausreichend zu sein, um eine Normalisierung des Essverhaltens und eine dauerhafte Gewichtsreduktion zu erreichen. Unbedachte Ermahnungen von Angehörigen und Vertretern des Gesundheitssystems, wie „Sie müssen abnehmen – essen Sie weniger und bewegen Sie sich mehr.“ sind für die Betroffenen meist nur frustrierend. Die Vertretung von Kants Idealvorstellung und dem meist doch unterschwellig bestehenden Adipositasstigma, oftmals selbst internalisiert von den betroffenen Patienten und Patientinnen, führt eher zu weiterem Scham- und Schulderleben und damit einhergehender Bagatellisierung von ungünstigen Essverhaltensmustern sowie Aufrechterhaltung des enthemmten Essverhaltens zur Regulation dieses aversiven emotionalen Erlebens.

In den letzten Jahren gibt es Hinweise darauf, dass insbesondere eine hohe Impulsivität den Therapieverlauf von Patienten und Patientinnen mit Adipositas und pathologischem Essverhalten negativ beeinflusst, während beispielsweise erfolgreiche Abnehmer, die auch langfristig ihr Gewicht halten, insbesondere durch gute Selbstkontroll- und Emotionsregulationsfertigkeiten auffallen. Vor diesem Hintergrund wurden erste experimentelle Trainingsprogramme zur Steigerung der Impulskontrolle entwickelt. Ergebnisse dieser bislang sehr vorläufigen Untersuchungen an populationsbasierten Stichproben sind vielversprechend, weisen sie doch darauf hin, dass eine hochkalorische Nahrungsaufnahme durch solch ein Training zumindest kurzfristig reduziert werden kann. Auch die Integration von Interventionen zur Verbesserung der Emotionsregulation scheint zu einer schnelleren Reduktion der Essstörungspathologie zu führen und mit niedrigeren Abbruchquoten einherzugehen.

Der hier dargestellte kognitiv-behaviorale Therapieansatz ImpulsE1 ist der erste, welcher gezielt auf Defizite in der inhibitorischen Kontrolle und der Emotionsregulation als dysfunktionale aufrechterhaltende Faktoren eingeht und an einer klinischen Stichprobe von Patienten und Patientinnen mit Adipositas und pathologischem Essverhalten evaluiert wurde. Neben motivationaler Stärkung und einer Verbesserung verschiedener Inhibitionsfertigkeiten und der Emotionsregulation unterstützen die eingesetzten therapeutischen Interventionen das Erleben von Selbstwirksamkeit. Der vorliegende Therapieansatz gründet |8|sich auf theoretischen Überlegungen, zu denen wir angesichts bereits durchgeführter Studien zu den Themen Impulsivität und Adipositas, bzw. Essanfällen, ausführlichen Literaturrecherchen sowie unserer langjährigen klinischen Erfahrung in der Behandlung von Patienten und Patientinnen mit Essstörungen und/oder Übergewicht und Adipositas gelangten. Im Rahmen einer ersten randomisiert-kontrollierten Evaluationsstudie erwies sich ImpulsE bereits als effektiver alternativer Therapieansatz zu einer Richtlinienbehandlung bei hoher Behandlungszufriedenheit der Patienten und Patientinnen. Sowohl Selbstkontrollfertigkeiten als auch die Essstörungspathologie hatten sich in beiden Behandlungsgruppen bedeutsam verbessert, wobei ImpulsE hypothesenkonform die nahrungsbezogene interruptive Inhibition2 effizienter zu verbessern scheint. Die therapeutischen Effekte stabilisierten sich bis zur 3-Monats-Katamnese. Darüber hinaus scheint sich ein zusätzlicher positiver Effekt von ImpulsE auf den längerfristigen Gewichtsverlauf generell bei Patienten und Patientinnen mit Adipositas und pathologischem Essverhalten und speziell in der Reduktion der objektiven Essanfälle in der Subgruppe von Patienten und Patientinnen mit diagnostizierter Binge-Eating-Störung zu ergeben. Bei rund 56 % der bislang behandelten Patienten und Patientinnen mit ImpulsE war eine vollständige Remission der Essstörungssymptomatik drei Monate nach Therapieende zu erkennen. Eines unserer Hauptanliegen ist es mit dem vorliegenden Therapieansatz Behandlern in Beratung und Psychotherapie für oftmals entmutigte Patienten und Patientinnen mit Adipositas und pathologischem Essverhalten psychotherapeutische Interventionen an die Hand zu geben, die an mitunter entscheidenden aufrechterhaltenden Mechanismen ansetzen.

Im Folgenden verzichten wir aus Gründen der Lesbarkeit und Einfachheit auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen. Wir sprechen von Patienten und (Psycho-)Therapeuten, wohl wissend, dass es sich dabei ebenfalls um Patientinnen und (Psycho-)Therapeutinnen handelt. Die dargestellten Inhalte gelten somit gleichwohl für Personen beiderlei Geschlechts.

Wir wünschen Ihnen eine anregende, erkenntnisreiche Lektüre sowie viel Freude und Erfolg bei der Umsetzung der therapeutischen Techniken in der Arbeit mit Patienten mit Adipositas und pathologischem Essverhalten.

1

Akronym für Impulsivität und ihre Interaktion mit Emotionsregulation.

2

Handlungskontrolle; Fertigkeit der Impulskontrolle, einen bereits initiierten Handlungsimpuls auf schmackhafte Nahrungsstimuli zu hemmen.

Danksagung

Dieses Therapiemanual entstand im Rahmen einer dreijährigen Therapiestudie am Behandlungs- und Forschungsschwerpunkt für Essstörungen der Poliklinischen Institutsambulanz für Psychotherapie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Während dieser Zeit wurden wir bei der Konzeption, Rekrutierung, Datenerhebung und Durchführung der Gruppentherapien großartig von unseren studentischen Hilfskräften und Praktikantinnen Eva-Maria Beitzel, Ariane Blaschke, Verena Gehrmann, Paula Geigges, Martina Kühnel, Larissa Leister und Gabriele Twistel sowie von unseren wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Lena Herdt, Alexandra Kaluza, Carina Pika und Catalina Schmitz unterstützt – vielen Dank für eure wertvolle Mitarbeit. Für die Anfertigung der wundervollen Zeichnungen möchten wir uns ganz herzlich bei Dorothee Grix bedanken. Darüber hinaus möchten wir an dieser Stelle auch Rita Leist, Dr. Dipl.-Psych. Manuela Schäfer und Univ.-Prof. Dr. Dipl.-Psych. Michael Witthöft für jegliche Unterstützung bei unserer Studienorganisation in der Poliklinischen Institutsambulanz für Psychotherapie herzlich danken. Zudem gilt für die äußerst kooperative Zusammenarbeit und die Möglichkeit, ein zweites Studienzentrum in Frankfurt am Main zu eröffnen, ein weiterer herzlicher Dank Dipl.-Psych. Urban Leim-Frübis, Dipl.-Psych. Gitte Tullius und Dipl.-Psych. Anne-Marie Maasch des Frankfurter Institutes für Verhaltenstherapie FIVE-AMB. Unseren Kollegen aus der Impulsivitätsforschung, Dr. Dipl.-Psych. Adrian Meule, Dipl.-Psych. Nathalie Deux und Dr. Dipl.-Psych. Marlies Pinnow, möchten wir ebenfalls für die wertvollen Anregungen und Diskussionen danken. Der größte Dank gilt jedoch den an unserer Therapiestudie teilnehmenden Patienten und Patientinnen, die wir ein Stück ihres Weges begleiten durften. Nur durch ihr Vertrauen, ihre motivierte Mitarbeit sowie ihre überaus hilfreichen Rückmeldungen ist es uns gelungen dieses Therapiemanual zu der jetzigen Endfassung zu bringen.

Mainz und Hamm, im März 2018

Hanna Preuss, Katja Schnicker und Tanja Legenbauer

|9|I. Theoretischer Hintergrund

|11|Kapitel 1Adipositas und pathologisches Essverhalten

Übergewicht und Adipositas sind in den letzten Jahren zu einer Panepidemie erklärt worden und stellen ein ernstzunehmendes Gesundheitsrisiko mit hoher Chronifizierungsgefahr dar. Assoziiert mit dem starken Übergewicht sind körperliche Folgeerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 und kardiovaskuläre Erkrankungen. Auch ist von einem erhöhten Mortalitätsrisiko auszugehen. Neben körperlichen Folgeerkrankungen sind zudem psychische Belastungen und komorbide Störungen zu beachten, die sich auch erschwerend auf die Behandlung auswirken können. Dazu gehören insbesondere die Binge-Eating-Störung wie auch andere nicht näher bezeichnete Formen pathologischen Essverhaltens sowie depressive und Angsterkrankungen. In diesem Kapitel wird daher ein Überblick über die Klassifikation von Übergewicht und pathologischem Essverhalten gegeben, differenzialdiagnostische Überlegungen dargestellt und mögliche Komorbidität und Folgen aufgezeigt. Zudem werden aktuelle ätiologische Erklärungen zur Entwicklung von Übergewicht und Adipositas und gestörtem Essverhalten erläutert und der aktuelle Stand der Therapieforschung zusammenfassend beschrieben.

1.1 Symptomatik und Klassifikation

Adipositas ist definiert als ein an der Körpergröße standardisiertes Körpergewicht von größer oder gleich 30 kg/m2. Seit 2013 gilt Adipositas als chronische Erkrankung (Kyle, Dhurandhar & Allison, 2016), die mit schweren körperlichen, psychischen und sozialen Belastungen einhergeht. So ist die Sterblichkeitsrate bei adipösen Menschen deutlich erhöht, verschiedenste Körperfunktionen sind beeinträchtigt und können zu schweren gesundheitlichen Schäden und Funktionsbeeinträchtigungen führen (Sjöström, 2013). Insbesondere kardiovaskuläre Erkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall, erhöhter Bluthochdruck und Diabetes mellitus, aber auch Krebserkrankungen kommen bei adipösen Menschen häufiger vor als bei normalgewichtigen Personen (Baker & Sørensen, 2011). Darüber hinaus werden adipöse Menschen stärker diskriminiert und stigmatisiert, womit möglicherweise auch eine stärkere psychische Belastung und eine generell niedrigere Lebensqualität zusammenhängen. Insbesondere Angsterkrankungen und depressive Störungen treten gehäuft auf (Legenbauer et al., 2009; Luppino et al., 2010; Rankin et al., 2016).

Trotz der eindeutig nachgewiesenen genetischen Komponente von Essverhalten und Körpergewicht ist davon auszugehen, dass auch Umweltfaktoren wie Ernährung und körperliche Bewegung das Körpergewicht nicht unerheblich beeinflussen (Herpertz, 2015). Insbesondere die Imbalance zwischen Energieaufnahme und -abgabe in Richtung einer positiven Energiebilanz führt zu einem stetig steigenden Körpergewicht und unterstützt die Entwicklung von Übergewicht bzw. Adipositas. Angenommen wird, dass hier die Etablierung einer ungünstigen Ernährungsweise bei gleichzeitig eher inaktivem Lebensstil eine Rolle spielt. Darüber hinaus scheint bei einer Subgruppe an adipösen Menschen die Nahrungsaufnahme an seelische Prozesse gekoppelt zu sein und neben der Hungersättigung weitere, psychische Funktionen zu übernehmen wie die Regulation von negativen Gefühlszuständen. Die Ausprägung des pathologischen Essverhaltens variiert dabei von Überessen bei Mahlzeiten über Heißhunger auf besondere Nahrungsmittel bis hin zu regelmäßigen Essanfällen im Sinne einer Binge-Eating-Störung (Williamson & Martin, 1999). Letztere ist seit 2013 als eigenständige psychische Störung in das Diagnostische und Statistische Manual der amerikanischen Psychiatrievereinigung (DSM-5; American Psychiatric Association [APA], 2013) aufgenommen worden.

Im Vergleich zu normalgewichtigen Personen ist eine erhöhte Auftretenshäufigkeit von Essstörungssymp|12|tomen bei adipösen Personen zu finden. Insbesondere die Binge-Eating-Störung wird als häufige komorbide Störung bei adipösen Personen beobachtet. Liegt die Prävalenz der Binge-Eating-Störung in der allgemeinen Bevölkerung bei ca. 3 % (Hudson, Hiripi, Pope & Kessler, 2007), so finden sich unter Teilnehmern in Gewichtsreduktionsprogrammen ca. 30 % Betroffene mit Adipositas und Binge-Eating-Störung (Treasure, Claudino & Zucker, 2010). Untersuchungen an Patienten mit Binge-Eating-Störung zeigen eine komorbide Adipositas bei ca. 65 bis 70 % der Patienten (siehe bspw. Grucza, Przybeck & Cloninger, 2007; Striegel-Moore et al., 2001).

Das Hauptkriterium der Binge-Eating-Störung sind regelmäßig auftretende Essanfälle mit dem Gefühl des Kontrollverlustes. Die Essanfälle sollen einmal pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten auftreten (nach DSM-5 APA, 2013). Viele Betroffene berichten keine klar umgrenzten Essanfälle, sondern nehmen über mehrere Stunden hinweg unkontrolliert Nahrung zu sich (Williamson & Martin, 1999), so dass in diesen Fällen nicht die Anzahl der Essanfälle zur Diagnosestellung relevant ist, sondern die Anzahl der Tage, an welchen Essanfälle auftreten (ein Tag pro Woche über drei Monate). Das Ausmaß der Essanfälle kann sich soweit entwickeln, dass die Betroffenen nicht mehr sozialen oder beruflichen Verpflichtungen nachgehen können. Die bei Essanfällen verzehrten Kalorien sind bei Betroffenen mit Binge-Eating-Störung mit 600 bis 3.000 kcal in der Regel geringer als bei Patientinnen mit Bulimia nervosa (Walsh & Boudreau, 2003). Als Auslöser für Essanfälle können z. B. negative emotionale Reize (z. B. eine negative Stimmungslage) oder zwischenmenschliche Konflikte fungieren (Greeno, Wing & Shiffman, 2000). Im Gegensatz zur Bulimia nervosa führen die Betroffenen mit einer Binge-Eating-Störung keine gegenregulatorischen Maßnahmen durch, wie z. B. übermäßiges Sportverhalten oder Erbrechen. Dennoch machen auch sie sporadisch Diäten (z. B. mithilfe des Auslassens von Mahlzeiten und vermehrter körperlicher Betätigung; Grilo, Masheb & Wilson, 2001), welche einen Versuch darstellen, die Kontrolle über das sonst sehr chaotische Essverhalten (Phasen mit enthemmtem oder gehemmtem Essverhalten, Überessen) zurückzuerlangen (Guss, Kissileff, Devlin, Zimmerli & Walsh, 2002). Das kompensatorische Verhalten ist in Bezug auf Regelmäßigkeit und Intensität somit deutlich unterschiedlich im Vergleich zur Bulimia nervosa, was sich im ansteigenden Gewichtsverlauf zeigt. Zusätzlich zu den Essanfällen sind zur Diagnosestellung verschiedene Verhaltensweisen gefordert, wie z. B. alleine Essen aus Schamgefühlen, Essen ohne Hunger, Gefühl von Ekel, Traurigkeit oder Schuld nach dem Essen (vgl. Kasten zu den diagnostischen Kriterien nach DSM-5).

Obwohl in den Diagnosekriterien zur Binge-Eating-Störung die Körperbildstörung nicht aufgeführt ist, besteht auch bei den Betroffenen eine Überbewertung der eigenen Figur und des Gewichts im Hinblick auf die Stabilisierung des Selbstwertes (Fairburn & Harrison, 2003; Legenbauer et al., 2011). Es wurde diskutiert, das Kriterium der „übermäßigen Beschäftigung mit Figur und Gewicht“ in die Diagnosekriterien aufzunehmen (Mond, Hay, Rodgers & Owen, 2007). Dies ist jedoch in der 5. Fassung des DSM nicht umgesetzt worden. Im Folgenden sind die Diagnosekriterien für die Binge-Eating-Störung des DSM-5 aufgeführt:

Diagnostische Kriterien der Binge-Eating-Störung nach DSM-5 (Abdruck erfolgt mit Genehmigung aus der deutschen Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition © 2013, dt. Ausgabe © 2015, American Psychiatric Association. Alle Rechte vorbehalten)

Wiederholte Episoden von Essanfällen. Ein Essanfall ist durch die folgenden beiden Merkmale gekennzeichnet:

Verzehr einer Nahrungsmenge in einem bestimmten Zeitraum (z. B. innerhalb eines Zeitraums von 2 Stunden), wobei diese Nahrungsmenge erheblich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum unter vergleichbaren Bedingungen essen würden.

Das Gefühl, während der Episode die Kontrolle über das Essverhalten zu verlieren (z. B. das Gefühl, nicht mit dem Essen aufhören zu können oder keine Kontrolle über Art und Menge der Nahrung zu haben).

Die Essanfälle treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf:

Wesentlich schneller essen als normal.

Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl.

Essen großer Nahrungsmengen, wenn man sich körperlich nicht hungrig fühlt.

Alleine essen aus Scham über die Menge, die man isst.

Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem übermäßigen Essen.

Es besteht deutlicher Leidensdruck wegen der Essanfälle.

Die Essanfälle treten im Durchschnitt mindestens einmal pro Woche über einen Zeitraum von 3 Monaten auf.

|13|Die Essanfälle treten nicht gemeinsam mit wiederholten unangemessenen kompensatorischen Maßnahmen wie bei der Bulimia Nervosa und nicht ausschließlich im Verlauf einer Bulimia Nervosa oder Anorexia Nervosa auf.

Bestimme, ob:

Teilremittiert: Nachdem zuvor alle Kriterien einer Binge-Eating-Störung erfüllt waren, treten die Essanfälle seit einem längeren Zeitraum durchschnittlich seltener als einmal pro Woche auf.

Vollremittiert: Nachdem zuvor alle Kriterien einer Binge-Eating-Störung erfüllt waren, tritt keines der Kriterien seit einem längeren Zeitraum auf.

Bestimme den aktuellen Schweregrad:

Die minimale Ausprägung des Schweregrades wird über die Häufigkeit der Essanfälle bestimmt (siehe unten). Der Schweregrad kann höher angesetzt werden, um andere Symptome und den Grad der funktionellen Beeinträchtigung zu verdeutlichen.

Leicht: 1 bis 3 Essanfälle pro Woche

Mittel: 4 bis 7 Essanfälle pro Woche

Schwer: 8 bis 13 Essanfälle pro Woche

Extrem: 14 oder mehr Essanfälle pro Woche

Neben objektivierbaren Essanfällen werden weitere Formen pathologischen Essverhaltens beschrieben wie bspw. „grazing“ oder „nibbling“. Dabei werden kleinere Mengen über den Tag verteilt zwischen den Mahlzeiten oder auch statt der Mahlzeiten gegessen. Als pathologisch wird dieses häufige Essen kleinerer Mengen angesehen, wenn das Essen ohne Hungergefühl und mit einem Kontrollverlust einhergeht (siehe bspw. Conason, 2014; Conceição et al., 2014; Lane & Szabó, 2013).

Abzugrenzen von der Binge-Eating-Störung ist des Weiteren die Bulimia Nervosa vom Non-purging Typus, bei der die Betroffenen – ebenso wie bei der Binge-Eating-Störung – kein Erbrechen als Kompensation durchführen, dafür aber Fasten oder übermäßiges Sportverhalten. Betroffene mit Binge-Eating-Störung zeigen zwar auch phasenweise Diätverhalten/restriktives Essen, jedoch nicht in dem Ausmaß wie bei der Bulimia nervosa. Dieser Unterschied der Bulimia nervosa im Vergleich zur Binge-Eating-Störung führt dazu, dass das Gewicht von Betroffenen mit Bulimia nervosa häufig im Bereich des Normalgewichts liegt. Im Vergleich zur Bulimia nervosa berichten Patienten mit Binge-Eating-Störung, dass sie das Essen sowie den Geruch auch genießen und während des Essens entspannen können. Dennoch zeigt sich nach den Essanfällen auch bei Betroffenen mit Binge-Eating-Störung verstärktes körperliches Unwohlsein und Angst (Mitchell et al., 1999).

Ferner ist ein übermäßiges Essverhalten, welches nicht die Ausmaße der Essanfälle mit Kontrollverlusterleben wie bei der Binge-Eating-Störung annimmt, von der Diagnose der Binge-Eating-Störung abzugrenzen. Dies kann z. B. im Verlauf einer Major Depression auftreten. Abzugrenzen ist zudem gestörtes Essverhalten, welches durch medizinische Krankheitsfaktoren (z. B. Kleine-Levine-Syndrom) verursacht wird.

Darüber hinaus sind im DSM-5 weitere Störungen im Essverhalten aufgeführt, welche auch bei adipösen Personen auftreten können, über deren Prävalenz und auch deren Auswirkung auf das Gewicht und den Therapieverlauf allerdings oft nicht viel bekannt ist. Dabei handelt es sich beispielsweise um Personen, die Essanfälle berichten, aber nicht alle Kriterien einer Binge-Eating-Störung erfüllen (bspw. geringere Häufigkeit, begrenzte Dauer [DSM-5]) sowie Personen, die insbesondere und ausschließlich nächtliches Essen (nachdem bereits geschlafen wurde) oder exzessives Essen nach dem Abendessen als Hauptproblematik schildern, das sogenannte Night Eating-Syndrom (DSM-5); dieses ist abzugrenzen von einer Binge-Eating-Störung (Zwaan, Müller, Allison, Brähler & Hilbert, 2014).

Neben diesen umschriebenen Formen pathologischen Essverhaltens sind zudem nicht näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen zu nennen (DSM-5). Dabei liegen zwar charakteristische Symptome einer Fütter- oder Essstörung vor, die klinisches Leiden verursachen, jedoch die Kriterien einer spezifischen Störung nicht erfüllen.

Zudem wird Food Craving – das suchtartige Verlangen nach bestimmten Nahrungsmitteln – mit Übergewicht und Adipositas assoziiert. Aktuell ist Food Craving nicht als eigenständige Störung in den Klassifikationssystemen enthalten, die Übertragung der Kriterien für Suchterkrankungen auf ein gestörtes Essverhalten im Zusammenhang mit spezifischen Nahrungsmitteln wird in der Wissenschaft aber lebhaft diskutiert (bspw. Hebebrand et al., 2014; Meule & Gearhardt, 2014).

Insgesamt finden sich bei Menschen mit Adipositas verschiedenste Formen pathologischen Essverhaltens, welche zu identifizieren und gemäß den oben dargestellten Kriterien zu charakterisieren sind, um diese in der Behandlung adäquat berücksichtigen zu können; denn adipöse Patienten mit pathologischem Essverhalten stellen eine besondere Gruppe dar.

|14|Im Vergleich zu Personen mit ausschließlicher Adipositas zeigen adipöse Patienten mit pathologischem Essverhalten ein insgesamt deutlich stärker beeinträchtigtes Essverhalten, eine verminderte Lebensqualität mit einem hohen Leidensdruck und soziale Beeinträchtigung mit interpersonellen Problemen. Ferner berichten Frauen mit Übergewicht und pathologischem Essverhalten im Vergleich zu Frauen mit Übergewicht ohne pathologisches Essverhalten einen früheren Beginn des Übergewichts (Zwaan & Mitchell, 1992), ein höheres Gewicht mit häufigeren Gewichtsschwankungen, eine größere Unzufriedenheit mit Gewicht und Körperform, ein geringeres Selbstwertgefühl sowie eine höhere psychiatrische Komorbidität. Die Stärke des Leidensdrucks ist dabei unabhängig vom BMI und auf das Kontrollverlusterleben im Zusammenhang mit dem pathologischen Essverhalten zurückzuführen (Latner & Clyne, 2008).

Bereits 1997 wurde Adipositas von der Weltgesundheitsorganisation als chronische Erkrankung mit epidemischem Ausmaß eingestuft, seitdem sind die Zahlen weiter gestiegen. So gelten aktuell etwa 14 % der weltweiten Bevölkerung als adipös (Feneberg & Malfertheiner, 2012). In westlichen Nationen wie Europa und den Vereinigten Staaten liegen die Prävalenzraten mit 20 bis 30 % Anteil adipöser Menschen an der Bevölkerung deutlich höher (Gutiérrez-Fisac et al., 2012; Mensink et al., 2013; Ogden et al., 2006; Prugger & Keil, 2007). Zwar scheint es, dass sich die Zahlen auf diesem hohen Niveau stabilisieren, allerdings zeichnen sich weitere Anstiege in der Prävalenz extremer Adipositas (Body-Mass-Index [BMI] > 40 kg/m2) ab. In Deutschland werden ca. 23 % der Männer sowie 24 % der Frauen als adipös (BMI ≥ 30 kg/m2) eingestuft. Auch die Entwicklung bei Kindern ist besorgniserregend. In Entwicklungsländern sind ca. 24 % der Jungen und knapp 23 % der Mädchen als übergewichtig oder adipös einzustufen (Ng et al., 2014). In Deutschland gelten laut Kinder- und Jugendsurvey KiGGS  14,8 % der Kinder- und Jugendlichen im Alter zwischen 2 und 17 Jahren als übergewichtig, davon ca. 6 % als adipös (Kurth & Schaffrath Rosario, 2010). Damit haben sich die Zahlen für diese Altersgruppe seit den 1990er-Jahren verdoppelt.

1.2 Differenzialdiagnostik, Komorbidität und Folgen

Die genaue Erfassung des Ausmaßes pathologischen Essverhaltens ist für die Klassifikation der Essstörungssymptomatik unerlässlich. Hinweise zur Erfassung des Essverhaltens sind in Kapitel 4.2 zu finden. Abzugrenzen ist das Vorliegen einer Essstörung von hyperkalorischem Essverhalten, welches im Rahmen anderer psychischer Störungen wie bspw. einer (atypischen) depressiven Störung auftreten kann (Herpertz, 2015).

Unter differenzialdiagnostischen Aspekten ist zudem zu prüfen, inwiefern eine Gewichtszunahme möglicherweise medikamenteninduziert ist. Insbesondere bestimmte Antipsychotika wie Clozapin und Olanzapin wirken sich erheblich auf das Gewicht aus (innerhalb von 10 Wochen 4 bis 5 kg); auch Risperidon und Quetiapin (innerhalb von 10 Wochen Zunahme von ca. 2,5 kg; Lederbogen, 2015) scheinen eine Rolle zu spielen. Des Weiteren sind trizyklische Antidepressiva (bspw. Amitriptylin), selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (Paroxetin, Citalopram, Fluvoxamin, Fluoxetin und Sertralin), Antiepileptika und Lithium mit Gewichtssteigerungen während der Behandlung in Verbindung gebracht worden. Oft wird das Ausgangsgewicht nach Absetzen der Medikation nicht wieder erreicht. Für eine ausführliche Übersicht zum Thema medikamenteninduzierte Adipositas verweisen wir auf Lederbogen (2015).

Neben differenzialdiagnostischen Überlegungen hinsichtlich des gestörten Essverhaltens sind zudem körperliche Komorbiditäten und Folgen der Adipositas zu beachten. Die Betroffenen schildern häufig vermehrtes Schwitzen, Gelenk- und Rückenbeschwerden. Insgesamt ist die körperliche Belastung mit steigendem Gewicht häufig sehr ausgeprägt und kann mit empfindlichen Einschränkungen in der Lebensqualität einhergehen. Insbesondere alltägliche Aktivitäten sind oft nur eingeschränkt möglich. Zudem ist Adipositas mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko vor allem aufgrund kardiovaskulärer Erstereignisse wie Schlaganfall und Herzinfarkt assoziiert. Neben den bereits genannten sind eine Vielzahl körperlicher Beschwerden bei adipösen Menschen zu finden, welche neben gastrointestinalen Beschwerden wie Reflux auch pulmonale Komplikationen wie das obstruktive Schlafapnoesyndrom beinhalten kann. Dieses ist häufig mit erhöhter Tagesmüdigkeit und verminderter Leistungsfähigkeit mit Konzentrationsstörungen verbunden. Insbesondere bei Frauen finden sich zudem hormonell bedingte Störungen wie das Polyzystische Ovarialsyndrom (PCOS).

Je nach Ausmaß des Übergewichts und der spezifischen Körperfettverteilung findet sich ein erhöhtes Risiko für ein metabolisches Syndrom (vgl. auch Tabelle 1), welches sich auf das Auftreten einer Kombination verschiedener kardiovaskulärer Risikofaktoren bezieht: erhöhte Triglyzeride (≥ 150 mg/dl), erniedrigtes HDL-Cholesterin (< 50 mg/dl bei Frauen, < 40 mg/dl bei Männern), ein erhöhter Blutdruck (≥ 130/85 mmHg) |15|und erhöhte Nüchternplasmaglukose (≥ 100 mg/dl). In Tabelle 1 sind zudem die Kennwerte für die Verteilung des abdominalen Fettes dargestellt, die ein erhöhtes metabolisches Risiko indizieren. Auch wenn die Kriterien für das metabolische Syndrom nicht erfüllt sind, können Hypertonie oder Dyslipidämien vorliegen. Darüber hinaus können Hyperurikämien durch die vermehrte Aufnahme purinhaltiger Nahrungsmittel bei gleichzeitig verminderter renaler Ausscheidung auftreten und das Risiko für einen akuten Gichtanfall erhöhen. Das extreme Übergewicht ist zudem ein Risikofaktor für Gallensteine und die Entwicklung einer Fettleber. Diese ist wiederum eng verbunden mit einer verringerten Insulinsensitivität (je höher der intrahepatische Lipidgehalt, desto geringer die Insulinsensitivität). Entsprechend ist zu prüfen, ob ein komorbider Diabetes mellitus (DM) vorliegt. Rund 80 % der Menschen mit DM Typ 2 sind adipös. Begründet ist dies im Anstieg der viszeralen Fettmasse, welcher mit der Entwicklung einer Insulinresistenz in Zusammenhang steht. Daher ist auch das Ziel der DM Typ 2-Behandlung die Verbesserung der Stoffwechsellage durch Gewichtsreduktion (je nach Grad des Übergewichts zwischen 5 bis 10 %; Leitlinie der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, 2014). Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2007 zeigte beispielsweise, dass durch Ernährungsumstellung und regelmäßige körperliche Aktivität das relative Risiko, einen DM Typ 2 zu entwickeln, um 49 % reduziert werden konnte und die Diabetesinzidenz um 15,8 % sank (Gillies et al., 2007). Eine ausführliche Darstellung der klinischen Aspekte und körperlicher Komorbiditäten von Adipositas findet sich in Hamann (2008).

Tabelle 1: Taillenumfang und Waist-to-hip ratio zur Bestimmung des metabolischen Risikos (modifiziert nach Wirth & Hauner, 2013)

Metabolisches Risiko/Risiko für Folgeerkrankungen

Taillenumfang (cm)

Taille-Hüft-Verhältnis

Body-Mass-Index (kg/m²)

Männer

Frauen

Männer

Frauen

Erhöht

≥ 94

≥ 80

≥ 1,0

≥ 0,85

≥ 30

Deutlich erhöht/hoch

≥ 102

≥ 88

≥ 35

Neben körperlichen Erkrankungen finden sich zudem gehäuft psychiatrische Komorbiditäten; insbesondere sind hier depressive Störungen und Angststörungen zu nennen. In einer nationalen Kohortenstudie in den Vereinigten Staaten wurde das Risiko, an einer psychischen Erkrankung zu leiden, in Abhängigkeit des Ausmaßes an Übergewicht untersucht. Dabei zeigte sich, dass insbesondere stark adipöse Menschen ein erhöhtes Risiko für spezifische affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen haben (Petry, Barry, Pietrzak & Wagner, 2008). Dabei scheint ein höheres Gewicht mit einer höheren Prävalenz von Achse II-Störungen assoziiert zu sein. Dieser Befund wird von weiteren Studien unterstützt – beispielsweise erfüllten 24 % der Menschen mit Adipositas Grad III in einer populationsbasierten Studie die Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung (Gerlach, Loeber & Herpertz, 2016). Daneben gelten Menschen mit Adipositas als anfälliger für somatoforme Störungen und Substanzmissbrauch (Gerlach et al., 2016; Herpertz et al., 2006). Zudem scheint es, dass das Vorhandensein einer Achse II-Störung mit einer geringeren Gewichtsreduktion in konservativen Gewichtsreduktionsmaßnahmen einhergeht (De Panfilis et al., 2007). In Tabelle 2 sind die Lebenszeitprävalenz sowie erhöhte Risiken (Odds Ratios) für verschiedene psychische Erkrankungen bei Übergewicht bzw. Adipositas im Vergleich zu normalgewichtigen Personen in Anlehnung an Petry und Kollegen (2008) dargestellt.

1.3 Ätiologische Annahmen

Adipositas gilt als multifaktorielle Erkrankung, wobei primär eine Interaktion zwischen zu hoher Kalorienaufnahme (Kral, Paez & Wolfe, 2009), zu geringer körperlicher Bewegung (Kim et al., 2005; Weinsier, Hunter, Heini, Goran & Sell, 1998) und genetischen Faktoren (Speliotes et al., 2010) angenommen wird. Insbesondere Störungen der Hunger- und Sättigungsregulation, ungünstiges Ernährungsverhalten im Sinne einer eher fettreichen und zuckerlastigen Ernährung sowie soziokulturelle Einflüsse wie zu große Portionsgrößen, das Fast Food-Angebot und die ungünstige Verteilung der Mahlzeiten über den Tag sowie ein niedriger sozialer Status und Schlafmangel gelten als relevante Risikofaktoren für die Entwicklung einer Adipositas (Wirth & Hauner, 2013). Inwieweit pathologisches Essverhalten im Sinne einer Binge-Eating-Störung ursächlich für die Adipositas ist oder eher Folge des Übergewichts ist, ist bislang nicht geklärt (Tanofsky-Kraff et al., 2013).

Für die Entstehung der Binge-Eating-Störung gibt es bisher keine einheitliche Befundlage (Striegel-Moore & Bulik, 2007), da kaum prospektive Längsschnittuntersuchungen existieren. Die bisherigen Erkenntnisse basieren meist auf Querschnitts- oder retrospektiven |16|Untersuchungen. Ähnlich zu anderen psychischen Störungen werden verschiedene psychologische, soziale und biologische Faktoren angenommen, die eine multifaktorielle Genese nahelegen. Folgende Faktoren können dabei eine Rolle spielen:

Genetik,

Ess- und Ernährungsverhalten in der Ursprungsfamilie (besonders das Essverhalten der Mutter),

Übergewicht in der Kindheit,

Negative Erfahrungen vor Beginn der Störung (z. B. Ausgrenzungen durch die Peergroup, evtl. wegen Übergewicht),

Psychische Vulnerabilität,

Familiäre Probleme,

Figur- und gewichtbezogene Kritik,

Diäten (jedoch weniger häufig Auslöser im Vergleich zu den beiden anderen Essstörungsformen, Anorexia und Bulimia nervosa; Reas & Grilo, 2008),

Starker Schlankheitsdrang bei einem in der Gesellschaft vorhandenen Überangebot an Nahrung.

Tabelle 2: Übersicht von Lebenszeitprävalenz und erhöhtem Erkrankungsrisiko in Abhängigkeit der Gewichtskategorie

Normalgewicht (BMI 18,5–24,9 kg/m2)

Übergewicht (BMI 25–29,9 kg/m2)

Adipositas (BMI 30–39,9 kg/m2)

Extreme Adipositas (BMI ≥ 40,0 kg/m2)

Affektive Störungen

LP (%, SD)

OR (95 % KI)

19,19 (0,48)

1,00 (0,83 – 1,30)

17,12 (0,47)

1,06 (0,97 – 1,15)

24,05 (0,67)

1,56 (1,44 – 1,69)

32,10 (1,51)

2,00 (1,74 – 2,31)

Angststörungen

LP (%, SD)

OR (95 % KI)

15,96 (0,53)

1,00 (1,00)

16,10 (0,53)

1,19-(1,09 – 1,30)

20,72 (0,66)

1,54 (1,41 – 1,68)

27,56 (1,56)

1,97 (1,67 – 2,31)

Persönlichkeitsstörungen

LP (%, SD)

OR (95 % Kl)

13,91 (0,47)

1,00 (1,00)

14,02 (0,43)

1,09 (1,00 – 1,18)

17,96 (0,56)

1,46 (1,31 – 1,62)

23,39 (1,42)

1,95 (1,66 – 2,27)

Substanzbezogene Störungen (Alkohol)

LP (%, SD)

OR (95 % Kl)

28,18 (0,91)

1,00

33,39 (0,89)

1,12 (1,04 – 1,21)

33,01 (0,91)

1,21 (1,11- 1,33)

31,64 (1,75)

1,33 (1,12 – 1,58)

Substanzbezogene Störungen (Drogen)

LP (%, SD)

OR (95 % Kl)

10,69 (0,43)

1,00

10,5 (0,40)

1,01 (0,91 – 1,12)

10,32 (0,47)

1,06 (0,94 – 1,19)

12,53 (1,38)

1,41 (1,07 – 1,85)

Anmerkung: LP = Lebenszeitprävalenz in %, SD = Standardabweichung; 95 %KI = 95 %iger Konfidenzintervall; OR = Odds Ratio*. Folgende Einzeldiagnosen sind in die Gesamtkategorien eingegangen: Affektive Störungen (Major Depression, Dysthymia, Manische Episode, Hypomanische Episode), Angststörungen (Generalisierte Angststörung, Panikstörung ohne Panik, Soziale Phobie, spezifische Phobie), Persönlichkeitsstörungen (Antisoziale, Vermeidende, Abhängige, Zwanghafte, Paranoide, Schizoide und Histrionische), Substanzbezogene Störungen (Alkoholmissbrauch, Alkoholabhängigkeit). Zu drogenbezogenem Substanzmissbrauch/-abhängigkeit wurde im Artikel von Petry et al. (2008) keine weitere Differenzierung vorgenommen; * Ein Odds ratio von 1 bedeutet kein erhöhtes Risiko, größere Werte zeigen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko im Vergleich zu normalgewichtigen Personen.

Als weitere mögliche auslösende Faktoren sind ferner traumatische Ereignisse in der Kindheit, emotionaler, körperlicher oder sexueller Missbrauch oder ein überhöhter Perfektionismus zu nennen, die jedoch keine spezifischen Faktoren bei der Entstehung darstellen. Begünstigend für die Entstehung einer Binge-Eating-Störung kann auch eine starke Abhängigkeit des eigenen Selbstwertes von der Anerkennung anderer wirken. Neben auslösenden Faktoren wird von verschiedenen aufrechterhaltenden Faktoren ausgegangen. Dazu zählen folgende Faktoren:

Gestörtes/chaotisches Essverhalten (Überessenstendenzen, Diätversuche an „Non-Binge-Tagen“, emotionales oder externales Essen, d. h. durch externe Stimuli und nicht durch interne Bedürfnisse gesteuert),

Negative oder depressive Stimmung verbunden mit dysfunktionaler Emotionsregulation,

Negatives Körperbild mit körperbezogener Vermeidung oder körperlichem Kontrollverhalten,

Stigmatisierungserfahrungen,

Defizitäre Impulsregulation (erhöhte essensbezogene Belohnungssensitivität verbunden mit der verminderten Fähigkeit zur Hemmung von Impulsen),

|17|Interpersonelle Probleme verbunden mit erhöhtem Stresserleben (z. B. Hypersensitivität gegenüber Kritik, wenige reziproke Beziehungen),

Konditionierungsprozesse (Essen als klassisch konditionierte Reaktion, d. h. der Anblick/Geruch von Nahrung ruft physiologische/psychologische Reaktionen hervor, die einen unwiderstehlichen Drang nach Nahrung verursachen).

Häufig ist die Sexualität in Folge der Erkrankung langfristig beeinträchtigt. Betroffene mit einer Binge-Eating-Störung weisen zudem vielfach ein geringes bzw. negatives Selbstwertgefühl auf, welches wie bei den anderen Essstörungen stark an die Figur und das Gewicht gekoppelt ist. Es liegen wie oben erwähnt interpersonelle Probleme sowie affektive (Depressivität oder Defizite in der Affektregulation) oder Angststörungen vor, welche eine negative Grundstimmung verursachen.

Vor dem Hintergrund dieser vorausgehenden Bedingungen entsteht ein sich selbst aufrechterhaltender Teufelskreis der Binge-Eating-Störung: die Betroffenen erliegen dem Versuch – oder auch nur dem Vorhaben – Diäten durchzuführen, ernähren sich unregelmäßig oder haben ein schlechtes Gewissen beim Essen, so dass sich ein chaotisches Essverhalten bzw. Essanfälle entwickeln. Daraus resultieren wiederum Schuldgefühle, die das negative Selbst- und Körperbild aufrechterhalten, welches durch Diäten wieder stabilisiert werden soll. Psychosoziale Folgen können z. B. in Folge einer begleitenden Adipositas auftreten durch Stigmatisierungen oder soziale Diskriminierung, wodurch die negative Grundstimmung verstärkt wird und die Wahrscheinlichkeit für eine dysfunktionale Kompensation der Emotionen durch Essanfälle steigt.

Medizinische Folgeprobleme ergeben sich durch eine begleitende Adipositas, wie z. B. kardiovaskuläre Erkrankungen, DM Typ II, wodurch Personen mit Adipositas und Binge-Eating-Störung die Gesundheitsversorgung mehr in Anspruch nehmen als Adipöse ohne Binge-Eating-Störung.

1.4 Stand der Therapieforschung

1.4.1 Behandlung der Adipositas

Bislang gibt es nur wenige Programme, welche sowohl auf Gewichtsreduktion als auch pathologisches Essverhalten abzielen. Die bestehenden Therapieverfahren für Adipositas setzen an einer Veränderung des Essverhaltens und Steigerung körperlicher Aktivität zur Induktion von Gewichtsreduktion an (Limbers, Turner & Varni, 2008). Als dritte Säule dieser konservativen Maßnahmen werden lebensstilverändernde, psychoedukative und verhaltenstherapeutische Elemente mit in die Behandlung aufgenommen. Ein solches multimodales Behandlungskonzept wird für die Dauer eines Jahres empfohlen. Metaanalysen zeigen allerdings, dass trotz einer guten Gewichtsabnahme im Rahmen dieser Programme eine langfristige Gewichtsabnahme nur einem kleinen Teil an Personen gelingt und der Großteil der Betroffenen innerhalb von zwei bis fünf Jahren wieder auf das Ausgangsgewicht zunimmt (Casazza et al., 2013; Rydén & Torgerson, 2006; Teixeira et al., 2010; Teufel, Becker, Rieber, Stephan & Zipfel, 2011). Dieser Problematik soll durch eine längere Begleitung der Betroffenen, sog. „Weight Maintenance“ Behandlungen mit Betreuung über ein weiteres Jahr in größeren Abständen, entgegengewirkt werden. Diese sind allerdings eher als Forschungsverfahren einzustufen und im klinischen Alltag noch nicht durchgängig etabliert.

Aufgrund dessen, dass konventionelle Verfahren oft nicht zum Erfolg führen, wurden in den letzten Jahren chirurgische Maßnahmen der Gewichtsreduktion als alternative Behandlungsform in Betracht gezogen (Zwaan, Wolf & Herpertz, 2007). Insbesondere für stark übergewichtige Patienten mit einem BMI größer 40 kg/m2 (Jackson & Hutter, 2012; Picot, Jones, Colquitt, Loveman & Clegg, 2012) oder solche, die einen BMI über 35 kg/m2 aufweisen und zusätzlich an akuten Beeinträchtigungen der Gesundheit durch komorbide Erkrankungen wie bspw. DM oder Bluthochdruck leiden, wird dieses Verfahren in Betracht gezogen. Es gibt unterschiedliche chirurgische Maßnahmen, welche je nach Methode zu Gewichtsreduktionen von bis zu 60 % des Übergewichts, d. h. dem Anteil des Körpergewichts, der über dem Normalgewicht liegt, führen (Monteforte & Turkelson, 2000; O’Brien et al., 2010). Der Großteil der Patienten nimmt durch diesen Eingriff, der nicht nur durch eine Volumenreduktion, sondern auch durch die Veränderung der hormonellen Prozesse im Körper wirkt, erfolgreich ab. Nur 15 bis 20 % gelten als Therapieversager, das heißt, diese Patienten nehmen weniger als 50 % ihres Übergewichts ab (Carlin et al., 2013; Livhits et al., 2012; Maggard-Gibbons et al., 2013; Wadden et al., 2007). Neben dem Körpergewicht verbessern sich zudem körperliche Erkrankungen wie ein DM, so dass mittlerweile von metabolischer Chirurgie gesprochen wird. Während weltweit die Zahlen der bariatrisch behandelten adipösen Menschen daher stetig steigen, sind in Deutschland die Zugänge zu solch einem Eingriff deutlich erschwert. Die Adipositaschirurgie gilt immer noch als ultima ratio. Dies zeigt sich auch in aktuellen Zahlen: |18|die Zahl bariatrischer Eingriffe in Deutschland ist mit 10,5 pro 100.000 Einwohner immer noch deutlich niedriger als in europäischen Nachbarländern. Beispielsweise werden in Schweden ungefähr 114,8 Einwohner pro 100.000, in Frankreich 86 und in der Schweiz 51,9 pro 100.000 Einwohner jährlich operiert (Stroh et al., 2016). Langzeitverläufe zeigen, dass auch in Deutschland die langfristige Gewichtsabnahme gelingt, allerdings scheinen die psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen sich wieder zu verschlechtern und komorbide psychische Erkrankungen durchaus weiter zu bestehen (Herpertz et al., 2015). Neue Ansätze in der Behandlung der Adipositas unter Berücksichtigung individueller und therapieerschwerender Aspekte sind daher dringend notwendig.

In den letzten Jahren hat sich die Forschung daher vermehrt möglichen zusätzlichen Einflussfaktoren zugewandt, die einen günstigen Behandlungsverlauf beeinträchtigen können. Aus sogenannten Registerstudien wissen wir, dass insbesondere Selbstkontrollfertigkeiten helfen, die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten und die Etablierung eines aktiveren Lebensstils zu erreichen. Psychische Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und Essstörungen, welche bei adipösen Menschen signifikant häufiger auftreten, beeinflussen in unterschiedlicher Art und Weise Selbstkontrollfertigkeiten. Insbesondere ein unkontrolliertes Essverhalten im Rahmen einer Essstörung gilt als therapieerschwerend. Daher zielt dieses Manual im Besonderen auf die Gruppe der Personen ab, die aufgrund einer komorbiden Essstörungspathologie Schwierigkeiten in der (nahrungsbezogenen) Selbstkontrolle erlebt und daher eher geringere Chancen auf eine langfristige, ausreichende Gewichtsreduktion hat. In Kapitel 2 werden die Befunde zur Impulsivität detaillierter ausgeführt.

1.4.2 Behandlung der Binge-Eating-Störung

Zur Behandlung der Binge-Eating-Störung existieren bisher unterschiedliche Behandlungsverfahren, wobei die Psychotherapie (allgemein) neben Selbsthilfe als effektivstes Verfahren gilt (Metaanalyse von Vocks et al., 2010). Als Methode der Wahl bei psychotherapeutischen Verfahren gelten störungsspezifische kognitiv-behaviorale Ansätze (bspw. CBT-E von Fairburn, 1993). Aufgrund empirischer Evidenz gilt aktuell die Empfehlung, dass diese vor allem im Gruppensetting und erst bei mangelnder Verfügbarkeit oder Ablehnung durch den Patienten auch im Einzelsetting anzubieten sind (National Institute for Health and Care Excellence [NICE], 2017). KVT-basierte Programme beinhalten meist Ernährungsmanagement, Reduktion von Essanfällen, Abbau dysfunktionaler Kognitionen im Hinblick auf Essen, Gewicht, Figur und Psychoedukation bzgl. Gewichtsreduktion. Circa 50 % der Betroffenen in KVT-basierten Programmen konnten Essanfälle komplett reduzieren (Grilo, Masheb & Wilson, 2006). Kognitiv-behaviorale Therapien zeigten sich in der Metaanalyse von Vocks und Kollegen (2010) als hochwirksam mit Effektstärken von d = 0,82 bis d = 1,04 (Evidenzgrad Ia, 6 RCTs lagen vor). Bezüglich einer möglichen Gewichtsreduktion konnten jedoch keine Effekte gefunden werden. Eine aktuellere Arbeit verglich im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie 162 Teilnehmer einer ambulanten kognitiven Verhaltenstherapie mit Interpersoneller Therapie über einen Zeitraum von fünf Jahren (Hilbert et al., 2012). Die Teilnehmer führten jeweils 20 Gruppen- sowie drei Einzelsitzungen durch. Unter beiden Behandlungsbedingungen zeigten sich auch im Langzeitverlauf eine stabile Reduktion der Essanfälle sowie der depressiven Symptome. Das Gewicht (Body-Mass-Index) blieb unterdessen unverändert. Dies ist möglicherweise darin begründet, dass nur stellenweise in existierenden Behandlungsprogrammen für Binge-Eating-Störung auch auf komorbides Übergewicht eingegangen wird. Beispiele für KVT basierte Therapiemanuale für Binge-Eating-Störung unter Beachtung komorbiden Übergewichts finden sich bei Hilbert und Tuschen-Caffier (2010) oder Munsch, Biedert und Schlup (2011).

Da auch Betroffene mit einer Binge-Eating-Störung, ähnlich wie Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, dysfunktionale Spannungsregulationsmechanismen anwenden (d. h. Essanfälle zur Spannungsreduktion), wurden Elemente Dialektisch-Behavioraler Therapie in die Behandlung der Binge-Eating-Störung integriert. Telch und Kollegen (2000) konnten deren Wirksamkeit bei Betroffenen mit Binge-Eating-Störung nachweisen. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass Selbsthilfeprogramme hilfreich zur Bewältigung der Essstörungssymptomatik sind (Reduktion der Essanfälle mit Effektstärke von d = 0,84, Evidenzgrad Ib), allerdings ohne dass eine positive Wirkung auf das Gewicht zu verzeichnen ist. Zudem gilt, dass Selbsthilfegruppen, ohne therapeutische oder strukturierte Anleitung, eine geringere Wirksamkeit aufweisen (Peterson, Mitchell, Crow, Crosby & Wonderlich, 2009).

Neben diesen psychotherapeutischen Ansätzen gibt es bislang keine medikamentöse Behandlungsmöglichkeit. Mögliche Medikamente bei Binge-Eating-Störung finden bislang nur im Off-Label-Use Verwendung. In einer Metaanalyse (Evidenzgrad Ia), welche die pharmakologische Behandlung der Binge-Eating-|19|Störung untersuchte (Stefano, Bacaltchuk, Blay & Appolinário, 2008 – sieben Studien), zeigte sich, dass die Betroffenen mit Binge-Eating-Störung mit der Einnahme von Antidepressiva höhere Remissionsraten aufwiesen, als unter der Einnahme eines Placebos. Der Gewichtsverlauf unterschied sich in beiden Gruppen nicht. In einer weiteren Metaanalyse (Reas & Grilo, 2008 – 14 Studien) fanden die Autoren ebenso einen signifikanten Unterschied in den Remissionsraten; bei ca. 48 % der Patienten mit Pharmakobehandlung lag eine vollständige Remission des Binge Eating vor, während in der Gruppe, welche ein Placebo einnahm, nur ca. 28 % der Betroffenen remittierten. Das Antikonvulsiva Topiramat zeigte dabei die größte Wirksamkeit. Reas und Grilo (2008) überprüften in ihrer Metaanalyse zudem die Wirksamkeit von einer Kombinationsbehandlung (Pharmakotherapie und Psychotherapie) mit reiner Psychotherapie. Die zusätzliche Gabe von Medikamenten zeigte keine zusätzlichen Effekte neben der kognitiven Verhaltenstherapie im Hinblick auf die Essstörungssymptomatik, aber geringe Effekte für den Gewichtsverlust, wobei dieser nur unter der Medikation mit Topiramat und Orlistat eintrat. Bei einem Vergleich der KVT und der alleinigen pharmakologischen Behandlung war die KVT überlegen. Zusammenfassend muss im Hinblick auf die pharmakologische Behandlung der Binge-Eating-Störung erwähnt werden, das die Langzeiteffekte dieser Behandlungsform bisher nicht ausreichend erforscht wurden und eine langfristige Verordnung von Medikamenten bei Binge-Eating-Störung derzeit nicht empfohlen werden kann (Herpertz, Herpertz-Dahlmann, Fichter, Tuschen-Caffier & Zeeck, 2011).

Obwohl in Gewichtsreduktionsprogrammen ein Abbau der Essanfälle nicht explizit als Behandlungsziel gilt, sondern im Fokus Ernährungs- und Bewegungsmanagement zur Gewichtsabnahme stehen, fanden Wilson und Kollegen (2010), dass die Reduktion der Essanfälle in diesen Programmen gleich hoch ist wie in KVT-Programmen. Im längerfristigen Verlauf zeigte sich die KVT jedoch überlegen. Studien, in denen die Effekte von Gewichtsreduktionsprogrammen und KVT (oder einzelner Behandlungselemente davon) untersucht wurden, fanden keinen zusätzlichen Effekt der KVT-Elemente in Hinblick auf die Essstörungssymptomatik (Herpertz et al., 2011). Zusammengefasst zeigt sich, dass adipöse Betroffene mit und ohne Binge-Eating-Störung ähnlich von den Gewichtsreduktionsprogrammen profitieren (Wonderlich, Zwaan, Mitchell, Peterson & Crow, 2003). Jedoch muss beachtet werden, dass im Vergleich zu rein adipösen Betroffenen Patienten mit Binge-Eating-Störung die Teilnahme an Gewichtsreduktionsprogrammen doppelt so häufig vorzeitig beenden. Die Vermutung, dass kalorienreduziertes Essverhalten, welches häufig in den Gewichtsreduktionsprogrammen empfohlen wird, zu einer Zunahme von Binge Eating führt, konnte nicht bestätigt werden (Munsch et al., 2007).

Zusammenfassend muss abschließend erwähnt werden, dass sowohl in Gewichtsreduktions- als auch in KVT-Programmen das Körpergewicht im Verlauf von fünf Jahren wieder ansteigt, jedoch die Essstörungspathologie gebessert bleibt (Fairburn, Cooper, Doll, Norman & O’Connor, 2000). An diesen Befund anknüpfend wurde das vorliegende Behandlungsmanual mit dem Vorhaben entwickelt, über eine Verbesserung des enthemmten Essverhaltens eine langfristige Gewichtsreduktion und Stabilisierung des reduzierten Gewichtes zu erreichen (vgl. Kapitel 3.1 zur Konzeption des Therapieansatzes ImpulsE).

|20|Kapitel 2Impulsivität, Emotionsregulation und Essverhalten

Auf der Suche nach additiven Behandlungselementen erwies sich der Ausbau der Impuls- und Emotionsregulation als vielversprechend. Dem vorliegenden Behandlungsansatz liegen jüngste Studienergebnisse zugrunde, nach denen defizitäre Inhibitions- und Emotionsregulationsfertigkeiten bislang unterschätzte, aufrechterhaltende Faktoren für Adipositas und die Binge-Eating-Störung sein könnten (Fitzpatrick, Gilbert & Serpell, 2013; Kittel, Brauhardt & Hilbert, 2015; Leehr et al., 2015; Schag, Schönleber, Teufel, Zipfel & Giel, 2013). Der theoretische Ansatz und die bisherigen Studienergebnisse zu den Zusammenhängen zwischen Impulsivität, Emotionsregulation und Essverhalten sollen im folgenden Kapitel erläutert werden. Zunächst soll ein kurzer Überblick über das facettenreiche Konstrukt der Impulsivität und der Inhibitionsfertigkeiten erfolgen, um im Anschluss den Einfluss von Impulsivität und Emotionsregulation und deren Interaktion auf Essverhalten und Körpergewicht näher zu beschreiben. Zuletzt wird der aktuelle Stand der Therapieforschung zur Verbesserung der Impuls- und Emotionsregulation bei Patientinnen mit Adipositas und pathologischem Essverhalten dargestellt.

2.1 Impulsivität und Inhibitionsfertigkeiten

Die bekanntesten Definitionen verstehen Impulsivität als eine „Tendenz zu unüberlegtem Handeln“ (Barratt, 1959), im Sinne eines „schnellen und ungeplanten Reagierens auf internale und externale Reize, ohne dabei die negativen Konsequenzen dieser Reaktionen für sich selbst oder andere zu berücksichtigen“ (Moeller, Barratt, Dougherty, Schmitz & Swann, 2001). Während über die Mehrdimensionalität des Konstruktes Impulsivität Konsens besteht, variieren die Dimensionen inhaltlich erheblich je nach zugrunde liegendem theoretischen Konstrukt, Forschungsgebiet (Persönlichkeitspsychologie, Kognitive Neurowissenschaften oder Neurobiologie) und eingesetzten Messinstrumenten (vgl. Tabelle 3 für einen Überblick häufig verwendeter Konzeptionen).

Tabelle 3: Mehrdimensionalität des Konstruktes „Impulsivität“

Autoren

Definition von Impulsivität

Facetten

Kagan (1966)

Impulsivität als kognitiver Stil

Spontanes Reagieren ohne mögliche Handlungsalternativen reflexiv zu berücksichtigen

Ainslie (1974); Chung & Herrnstein (1967) 

Delay discounting als impulsives Verhalten bei Entscheidungen

Abwerten zukünftiger Belohnungen, zukünftige Belohnungen erhalten weniger Gewicht verglichen mit unmittelbaren Belohnungen

Eysenck & Eysenck (1968, 1977)

Impulsivität als Aspekt der beiden Traits Extraversion und Psychotizismus (Big Three-Modell)

Impulsiveness (Neigung aus einem Impuls heraus etwas zu tun, ohne Nachzudenken)

Venturesomeness (Abenteuerlust, bewusstes Risikoverhalten)

|21|Gray (1972, 1994)

Impulsivität als verstärktes Annäherungsverhalten und/oder verringertes Vermeidungsverhalten

Behavioral approach system (BAS, Verhaltensaktivierungssystem, Annäherungverhalten aufgrund antizipierter Belohnung)