Übergebt sie den Flammen! - Tilman Röhrig - E-Book

Übergebt sie den Flammen! E-Book

Tilman Röhrig

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Beschreibung

Kein Autor kombiniert pralles Sittengemälde und sorgfältig recherchierten Historienroman so glanzvoll wie Tilman Röhrig - ein historischer Roman während der ReformationFeuer! Die Schriften Luthers brennen. Für den Seminaristen Johan wird dieses Erlebnis zum Wendepunkt in seinem Leben. Aus dem braven Priesteranwärter wird ein furchtloser Anhänger Luthers, der sich von niemanden mehr etwas vorschreiben lässt. Als er Wendel begegnet, die nach dem Tod ihres Vaters mutig allein dessen Werkstatt führt, verliebt sich Johan auf der Stelle in sie. Gegen alle äußeren Widerstände heiraten sie - und müssen nach Münster flüchten, der Hochburg der Wiedertäufer. Doch auch hier droht ihnen Gefahr.

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© Piper Verlag GmbH, München 2014, 2020© 1988, Arena Verlag, WürzburgCovergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutztKonvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow.

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Inhalt

Cover & Impressum

Mit geschlossenen Lidern versuche ich, …

Novembernebel, vermischt mit dem Gestank …

Dort ging der Fremde, …

Am Ende des Flurs leuchtete die …

Seit einer Viertelstunde beobachtete Johann …

Neben dem Fahrweg pflanze ich den Jakobstab, …

An der Uferböschung endeten die tiefen Narben …

Noch weit entfernt.

»Nichts ist zu Ende, Mutter.

Draußen war Jahrmarkt.

»Pfaffenhure.« Dicht hinter ihr, …

Am unteren Rand des Rathausplatzes, …

Das Feldtor öffnete Büderich zum Süden …

Die Blicke der Gemeinde richteten sich nach vorn …

Noch schien die Sonne vergeblich, …

Die Nacht war vorüber, …

»Nichts hat sich verändert, Adolph.

Um ihre Füße schwappten die seichten …

Ratten überleben nicht, die nicht!

Er will mich verhungern lassen, …

Drei aufgerissene Mäuler, …

Regen, seit Monaten regnete es, …

Kappen, Wollhauben, Baretts, Leute ohne Kopfbedeckung, …

Der Irrweg öffnet mir den Blick:

»Genau in der Mitte, Greet.«

Weiter. Nur weiter.

»Ist heute Sonntag?«

Im prachtvollen Bogenhaus des Bürgermeisters …

Drei Reifen schnellten durch die Luft …

Johann schritt durch die Nacht, …

Hohe Wände, in gleichmäßigen Abständen …

Mit geschlossenen Lidern versuche ich, Schleier zu durchdringen, Vorhänge vor gewebten Unwahrheiten. Nein, kein Rufen mehr nach dem Nichtgreifbaren, kein Heraufbeschwören der Gepeinigten. Sie gehen vor mir her: Pulversäcke um die Hälse gebunden, das Bekenntnis laut auf den Lippen. Keine Folter hat die Herzen zerstört.

Menschengnade wird ihnen zuteil. Erst fasst das Feuer nach dem Schwefel, bevor es das Fleisch verkohlt. Und die gaffende Menge applaudiert einer Gerechtigkeit.

Wie viel Fuß liegen zwischen dem Leben und solch einem Tod? Wer misst diese Strecke? Still, frage nicht.

Die Bilder fallen zurück in die Schleier, verbergen sich hinter gewebten Vorhängen. Ich öffne die Augen. Der Tag hat begonnen.

Novembernebel, vermischt mit dem Gestank des Hafens, ein schwacher Südost trieb die schweren Schwaden, vollgesogen mit fauligem Fischgeruch, bis zum Domplatz hinauf.

Der Holzstoß, größer als sonst, kein Pfahl in der Mitte, nichts war wie sonst. Nur die Tribüne war fest gezimmert, hoch und breit wie immer, doch sie stand am falschen Platz. Entweder an den Heumarkt, besser noch auf Melaten vor der Stadt, dorthin gehörte sie an solch einem Tag, und nicht direkt vor das Angesicht des Kölner Doms.

»Bis ich das begreife!« Christoff Heftrich spuckte in den Scheiterhaufen. Früh war es noch, gerade grau, mit Nebel begann der Novembermorgen noch später als sonst. Zwei Schritte, sein rechter Stiefel traf einen Bettler in den Leib. Der Alte krümmte sich auf dem Boden, kroch erst und schlich zu der lauernden Gruppe zurück.

»Bis ich einen von euch hier brate mit einem Stock im Arsch wie eine Sau!«

Als Antwort feixten die Bettler, drohten mit ihren Knüppeln. Ein Holzscheit von diesem Stoß! Die Nächte waren wieder klamm bis in die Lumpen, wurden kälter. Holz vom Stoß, das müsste heizen, Höllenglut im Ofen! Das zu stehlen war eine Mutprobe, fast ein Spiel mit dem Bösen. Nie war es gelungen, bis heute nicht, vielleicht schon beim nächsten Versuch.

»Nicht bei mir!« Christoff Heftrich zeigte ihnen die Fäuste.

»Blutschinder! Hanss! Hanss!«, schrien sie.

Ihr Spott hetzte seinen Atem, er bleckte die Zähne und biss sich auf die Knöchel. Die Lücke links neben den großen Zähnen machte aus seinem Gesicht bei jedem Wutgrinsen, auch jedem Lachen, eine Fratze. Durch diese Lücke spuckte er über die kleine Flamme des Feuertopfs zu den Bettlern hin. Kein Speichelgeschoss, die Zunge trieb einen langen Strahl, und stets führte sein Mund viel Wasser.

Unter dem braunen Mantelumhang trug er das ärmellose Wams aus weißem Schafspelz, sein Winterfell, darunter Rot, vom Halsrand bis zu den Handgelenken, bis zur Hüfte, eng, nach unten im gleichen Rot die Hose, eng bis in die Stiefel.

Heute sollte es nicht so heiß werden, nicht durchs Feuer und nicht von innen her. »Was soll ein Scheiterhaufen, wenn kein Mensch verbrannt wird? Bis ich das begreife!« Er solle den Haufen schichten, langes Holz und viel Stroh. Gut brennen solle es, mehr war ihm vom Greven nicht gesagt worden.

Vorsorglich hatte Christoff Heftrich seinen Huren verboten, ihn heute bei der Arbeit zu beobachten, selbst denen, die im letzten Monat nicht gezahlt hatten.

Sonst war es schon nützlich, den Weibern die Kraft zu zeigen. Nicht nur mit Feuer oder dem schnellen Würgegriff. Das Schwert schlägt den Kopf ab. Das macht Eindruck, wenn das Blut aus dem Rumpf schießt, der Kopf auf die Stange gespießt wird wie beim Fest des heiligen Martin eine ausgehöhlte Rübe. Das machte die Weiber still und gehorsam. Die schönste Lust pulst erst, wenn Angst das Fleisch willig macht. Seine Weiber! Schließlich war er der Henker von Köln, schließlich war er der Beschützer der Huren.

Die rechte Hand glitt in den Umhang, tastete unter das Schafsfell, mit den Fingerkuppen rieb er den roten Stoff über dem Zeichen, seinem Mal. Ein Blutschwamm, der neben dem Herzen begann und zwei Handteller breit bis unter die Achseln wucherte. Das Mal des Satans. Er, der Henker von Köln, war gezeichnet. Niemand durfte es sehen, dafür sorgte er. Niemand, außer seiner Lisbeth, doch die war stumm.

Heftrich zog die Hand zurück und fuhr sich über die Lippen, dicke wulstige, nicht rote, eher wie geronnen, manchmal mehr blau. Seine Nase spreizte sich breitflügelig unter den Augen, die weiß und geädert bis zu den schwarzen Punkten wie nachträglich angebracht schienen, an den Lidern verklebte Wimpern, und hätte er die rote Kappe abgezogen, wäre die Kopfhaut unbedeckt, nur Haut. Schön war er nicht.

An den Henker denkt man, schaut ihm aber nicht ins Gesicht. Die Dirnen konnte er zwingen, ihn anzusehen, das bereitete ihm Lust, und für die Verurteilten, nach der Folter, auf dem Weg zur Hinrichtung, war er längst kein menschliches Wesen mehr. Er führte die Hand Gottes, und den Gepeinigten war er der Schreck vor dem Schrecken.

Immer noch keiften die Bettler, wagten sich näher, sprangen zurück und bellten ihn an. Christoff ließ die gespreizte Hand wie ein Hackmesser niedersausen. »Zack!«, flüsterte er. Weit streckte er beide Arme aus, schloss Hand um Hand, führte sie langsam zurück an der rechten Schulter vorbei, drehte den Oberkörper, dehnte sich nach rechts, ohne die Füße zu bewegen, bis zum äußersten Punkt, dann gab er die Kraft frei, waagerecht zerschnitt er die Luft, den Schwung der Pirouette fing er mit einem Schritt zur Seite auf, wie es Tänzern gelingt.

»Zack«, und noch leiser: »Das bin ich.«

Sofort verstummten die Bettler, als wäre ihnen der Schnitt durch die Mäuler gefahren.

Und als wäre der Schnitt ein Signal gewesen. Aus dem Dunst der Torbögen und Straßenlöcher kamen Menschen, unten aus der Gasse neben der Hacht, dem Gefängnis, vom Hafen und von Norden aus der Schmier, dieser langen Straße der Bettler, Wirtshäuser, Kramhändler und Studenten, aus den Ecken und Winkeln des Doms, als hätten sie dort auf das Zeichen gewartet, auch aus den Straßen der feineren Häuser kamen sie in Scharen gelaufen, von überall her.

Der Nebel hatte den Domhof freigegeben. Fest vermummt in Mänteln oder Jacken näherten sich die Bürger dem riesigen Holzstoß. Ihre Stimmen blieben halblaut, wenn ein Kind lachte, dämpfte die Hand der Mutter den Lärm, fügte ihn in das gleichmäßige Raunen. Dichter rückte das Volk um den Scheiterhaufen.

Christoff stellte sich vor den Feuertopf, niemand durfte ihn umstoßen, später sollte die Flamme das Holz entzünden.

Durch die Menge bahnten sich Büttel und Gewaltdiener einen Weg, blieben keuchend vor dem Henker stehen.

»Bis ihr zu euerm eigenen Begräbnis zu spät kommt!«, fauchte Heftrich. »Bald muss es neun Uhr sein. An die Arbeit, schafft Platz!«

Grob drängten die Gewaltdiener gegen die Wartenden. Ihre zweigespitzten, zweifarbigen Hüte gaben ihnen Respekt, mit den Fäusten halfen sie nach. Schnell wichen die Gaffer zurück, ein weiter Kreis entstand, ihn spalteten die Lanzenschäfte und öffneten eine breite Gasse bis zur Tribüne hin. Der Blick war frei.

Christoff lächelte. Federhüte, fremde Farben, galante Waffen an den Gürteln, Hände ruhten auf schräg gestellten Stöckchen, neben der Holztreppe warteten feine fremde Herren.

Meine Gäste. Noch vor zwei Wochen waren sie in Aachen gewesen. Unser hoher Herr selbst hatte dem Kaiser die Königskrone aufgesetzt. Hoch lebe unser Erzbischof Hermann! Nach der Krönung war der Kaiser mit seinem Gefolge in Köln eingezogen. Jetzt sind sie zu mir gekommen, nicht der Kaiser, auch nicht unser Erzbischof, aber die vornehmen Hofherren, sie sind gekommen. Sie werden mich sehen, und sie werden dem Kaiser von mir erzählen. »Schad, dass ich meinen guten Schlag nicht zeigen kann.«

Von allen Türmen her setzte Läuten ein, Glockensturm, und Köln wurde von vielen Kirchen beherrscht.

Dem Zug vorweg trabten zwei Reiter auf den Domhof, Stadtsoldaten, Blashörner in den Händen. Mit gewichtigen Schritten erschienen die Vornehmen der Universität, alle nach ihrer Würde gekleidet, gefolgt von den Männern des Domkapitels mit wichtigen Mienen und den Ratsgesichtern der Stadt, zum Schluss die Studenten, alle unter ihren dunklen Kapuzen. Nur der Inquisitor Jakob von Hochstraten und der Kanzler der Universität, nur die Würdigsten von Kirche und Stadt stiegen auf die Tribüne, im Spalier ordneten sich unten die Dekane und Professoren, den freien Raum bis zur Volksmenge füllten die Studenten.

»Das war noch nie!« Aufgerichtet stand der Henker neben seinem Holzstoß, stemmte eine Hand in die Seite, stand da. Davon hatte er geträumt, von einer Hinrichtung im Angesicht aller Herrschaften. Mit einem Seitenblick prüfte er den Feuertopf. Ruhig flackerte die Flamme, daneben lag seine Pechfackel. »Wird nicht zu feucht sein«, beruhigte er sich.

Der Nebel war gestiegen, bis zu den Häusergiebeln hatte sich der Vorhang gehoben, sein loser Saum verhüllte noch die stumpfen Türme des Doms, hing dicht über dem Portal, diesem aufgesperrten Fischmaul, oben kleine gezackte Baldachine über den Aposteln, Heiligenzähne, und unten der Schlund.

Die Glocken verstummten.

Zwei Studenten schleppten einen Korb heran und stellten ihn, für alle sichtbar, vor die Tribüne.

Angestrengt kniff Heftrich die Augen zusammen. »Bis ich das begreife!« Er wollte spucken, besann sich, doch seine Zunge war schon halb auf dem Weg, und Speichel rann ihm über das Kinn, den Hals hinunter.

Der Beauftragte des Erzbischofs hob beide Hände, nicht um das Volk zu segnen, nur, bis die Menge schwieg. »Der Heilige Vater in Rom hat seinen Bann geschleudert!« Schweigen, bis der Satz in die Menschen eingedrungen war. »Die heilige Kirche gegen Martin Luther. Dieser Ketzer, Aufrührer. Thesen des Teufels. Schriften. Bann! Bann! Er hat nicht widerrufen! Verdammung. Ins Feuer mit Schriften, Büchern, Ideen. Der 12. November 1520. In Köln wird es keine Ketzer geben!«

Christoff Heftrich verstand nichts, auch die Leute in seiner Nähe begriffen nicht. Weiter vorn nickten die Studenten und Professoren, vor der Tribüne stimmten alle zu, selbst die Stadträte schienen zu wissen, worum es ging.

Mit den Augen kehrte Heftrich zu den Studenten zurück. Ein Gesicht fiel ihm auf, der junge Mann hielt die Lippen fest aufeinandergepresst. Erstaunt suchte der Henker, entdeckte dort wütende Augen, und da Hände, die sich in Stoff krallten. Empörung, Christoff kannte solche Gesichter. Was geht es mich an? Noch geht es mich nichts an.

Über die spitzen Kapuzen hinweg sah er Fremde in dunklen Umhängen. Sicher Advokaten, Magister und Doktoren. Wenn meine Huren fleißig sind, gibt es heute ein gutes Geschäft. Wenn die Weiber gescheit sind, schnappen sie sich ihre Fische, verschwinden schnell zum Hafen runter oder in die Schmier, und gleich sind sie wieder zurück.

Der Beauftragte des Erzbischofs beugte sich über das Geländer der Tribüne, zeigte mit dem Finger auf die Professoren und Studenten. »Bringt die Bücher dieses Ketzers hierher! Von ihm darf kein Buch, keine Schrift mehr in Köln zu finden sein. Wer sich diesem Befehl widersetzt, dem drohe ich mit Bann und Verfolgung!«

Nach seiner Rede blieb Schweigen. Nur die Stiefelschritte des Inquisitors entlang der Tribüne und die Holzstufen hinunter zerhackten die Stille. Kurzes Fingerschnippen, das Zeichen für den Greven, der befahl mit einem Wink beide Knechte des Schinders zum Bücherkorb und wies auf den Scheiterhaufen. Gleichmütig packten die zerlumpten Kerle den Korb, schleiften ihn über Kot und Abfall durch die freie Gasse, vor dem Henker ließen sie ihn los und traten zurück, machten Platz für den Inquisitor der rheinischen Bistümer. Zwei Schritte nach ihm erreichte der Greve den Holzstoß und wandte sich zur Tribüne um. Sein Umhang, der samtbesetzte Hut, mit der ganzen Würde seines Amtes glänzte er neben dem Inquisitor.

Von innen her fühlte Christoff die Unruhe aufsteigen, seine Arme zitterten, die Beine. Was wollen die von mir? Das sind doch nur Bücher, nur Papier, und ich bin der Scharfrichter von Köln. »Was soll ich tun, Herr?« Selbst die Stimme zitterte.

»Verbrennen, du Idiot!« Der Inquisitor hatte den Kopf nicht bewegt.

»Bis ich das …«

»Fang an, sonst brennst du selbst.« Auch der Greve war unbeweglich stehen geblieben.

Heftrich spürte alle Augen, sie starrten ihn an, warteten. Auf dem Domplatz wurde es still. Wehe dem Henker, der zittert und tötet nicht beim ersten Schlag!

Ich versteh mein Handwerk, es gibt keinen besseren. Heftrich stieß den Atem aus und mit ihm alle Unruhe. Selbst die gespreizten Hände des Inquisitors machten ihm keine Angst. In gekonntem Schwung warf der Scharfrichter seinen Mantel von den Schultern. Rot. Unter dem Stoff zeigten sich Muskeln, eng umspannte die Hose seine Hüften, alles zeigte sich. Und Heftrich war ein starker Mann.

Er sog die Lungen voll. »Ist dieser Mann nach Fug und Recht verdammt?« Bis zur Tribüne schallte seine Stimme, doch keine Antwort kam. Christoff wiederholte. Nichts. Niemand regte sich von den vornehmen Herren. Erst die Frage, dann die Antwort, so war es vorgeschrieben, weiter wusste er nicht.

Halb wandte der Inquisitor den Kopf. »Soll ich seine Schriften verbrennen?« Schnelle leise Worte, laut genug, Heftrich hatte verstanden.

»Ist dieser Mann nach Fug und Recht verdammt? Soll ich seine Schriften verbrennen?«

Erlösung. Die hellen Baretts, die Federhüte senkten sich. Heftrich griff nach dem Korb, wollte ihn ganz in den Holzstoß leeren, doch Bücher waren schwer, schwerer als ein Mensch. Hart schwollen die Adern an seinem Hals. Kein Fehler durfte dem Henker unterlaufen! Mit beiden Händen packte er noch einmal zu, ging in die Hocke, wuchtete das Gewicht auf seine Knie, atmete und keuchte den Korb nach oben. Staunen, leise Rufe aus der Menge.

An gestreckten Armen hielt er die Last über dem Kopf, schwankte nicht. Das sollten meine Weiber sehen. Hätte sie doch in die erste Reihe stellen sollen.

Langsam kippte er den Korb, und die Bücher stürzten zwischen die hochgestellten Balken auf kleinere Holzscheite, in das Stroh.

Diesen Korb behalt ich für mich. Von meinen Hingerichteten bekomme ich die Kleider, die stehen mir zu. Heute nehm ich den Korb. Sorgsam stellte er ihn neben seinen Umhang.

Jetzt war alles wieder gewohnte Arbeit. Christoff entzündete die Pechfackel und stieß die Flamme ins Stroh. Der Südost blies seinen Gestank und fachte das Feuer. Bücher brennen, brennen besser noch als Menschen. Hochrufe, Beifall, das Volk klatschte dem Henker zu. Lange Hornsignale der beiden Reiter unterbrachen die Begeisterung, verlangten Ruhe.

Nur im Feuer sangen noch die Bücher gemeinsam mit den feuchten Balken.

»Jeder bringe die ketzerischen Schriften, die in seinem Besitz sind, zu dem Holzstoß!«

Eifrig rannten die Studenten. »Übergebt sie mir!« Der Scharfrichter wollte sie aufhalten, doch sie wichen ihm aus und warfen die Bücher selbst in die Flammen. Einige tanzten, Feuer treibt das Blut.

Ungläubig stemmte Heftrich die Hände in die Hüften. Das war sein Amt, niemand durfte die Arbeit des Henkers tun, diese Gotteslästerer! Und kein Inquisitor noch der Greve schritten ein. Sonst, bei Menschen, geht alles nach seiner Ordnung. Papier! Heftrich spuckte einen langen Strahl.

Auch die Gelehrten und Stadträte brachten Bücher, warfen sie vor dem Korb auf den Boden, selbst Handwerksmeister schoben sich heran, ließen sie aus ihren Mänteln fallen, mit den Händen versuchten die Ehrbaren ihre Gesichter zu verbergen, doch Heftrich kannte sie. »Was? Du liest Bücher?« Diesen Bäckermeister hatte er oft im Goldenen Hirschen gesehen. Keine Antwort. Mit dem Henker spricht kein guter Bürger. Christoff grinste hinter dem Bäcker her. »Bis ich so was lese, sollen mir doch die Augen rausfallen.« Schreiben und lesen konnte er, das Schreiben reichte für die Rechnungen an den Greven, das Lesen für die Anordnungen, die ihm der Gewaltbote brachte.

Weiter wuchs der Bücherberg. »Verbrennen sollst du sie!« Zornrot stand der Greve vor dem Henker.

»Aber die Leute laufen doch noch.«

»Tu deine Pflicht. Kerl!«

Also keine Ordnung mehr! Heute konnte nicht einmal der Scharfrichter seine Arbeit in Ruhe und Ordnung verrichten. Während um ihn herum Studenten über Späße lachten, Bücher geworfen wurden, das Durcheinander um den Scheiterhaufen zum Volksvergnügen wuchs, verschaffte sich Christoff Heftrich Platz, packte in den Schriftenberg. Niemand achtet mich hier, dachte er. Von den Feinen auf der Tribüne sieht mich jetzt auch niemand mehr, lustlos warf er das Papier ins Feuer. Das ist doch keine Hinrichtung, nur Bücher verbrennen. Das ist nicht mein Amt, jeder Büttel kann das ebenso gut. Jeder Gaukler, Schausteller, selbst ein Pfaffe braucht Ordnung, da die Gläubigen und hier der Pfaff, schön getrennt.

Wieder bückte sich Heftrich. Erst bemerkte er neben dem Bücherhaufen nur die beiden Stiefel, lehmverschmierte, darüber dunkle Beinkleider, den Saum eines schwarzen Rocks, wie ihn Prediger, Studenten oder Magister trugen. Die Stiefelspitzen schoben einige Bücher zur Seite, jetzt hockte sich der Mann, wählte, nahm drei Schriften in die Hand.

Ohne auf den Henker zu achten, blätterte er kurz, las das Deckblatt.

Egal, soll er sie ins Feuer werfen, sollen die Gelehrten ihr Papier selbst verbrennen.

Der Mann schob die Bücher in seinen Umhang, stand wieder.

Die einen bringen das Zeug, die andern nehmen es wieder mit? »Nicht bei mir!« Heftrich wollte eingreifen, ließ es dann. »Egal. Soll der Greve aufpassen.« Beide Arme hochbeladen richtete er sich auf, sah noch das Gesicht des Mannes, mager, brennend dunkle Augen, scharf stach die Nase aus dem schwarzen Bart an Wangen und Kinn. Der Fremde wandte sich ab. Eine große Gestalt, hager. Die köpf ich gern, die Hageren mit den langen Hälsen.

Ein junger Student hielt den Bärtigen am Mantel fest, zeigte in das Feuer, versperrte den Weg, der Dieb wollte ausweichen, vergeblich. Keiner sprach. Die hellen Haare des Studenten lockten sich über dem Kragen. Entschlossen wollte er den Mann zum Scheiterhaufen drängen, da stieß ihn der Fremde zurück, so heftig, dass er stolperte und fiel. Ohne Hast verließ der Bücherdieb die Nähe des Feuers und war in der Menge verschwunden. Der junge Student sprang auf die Füße und rannte ihm nach.

Christoff Heftrich nahm die Gesichter der beiden in sich auf. Sein Gedächtnis sammelte Gesichter. Nie vergaß er den letzten Blick eines Menschen, den Ausdruck vor dem Tod, da veränderte sich nichts mehr. Doch auch lebendige Gesichter sammelte er, oft nur einseitige Bekanntschaften seiner Augen, geschlossen in Wirtshäusern, im Vorübergehen oder in Momenten ungewöhnlicher Ereignisse, vor allem aber sammelte er die heimlichen Gesichter, die Verbotenes verbergen wollten.

Besser, ich meid es doch, aber ich gebe euch Zeit. Dieser junge Kerl! Ein Gesichtchen ohne Bart, so fein und hell. Meinen Weibern gefällt so einer, nur Geld haben diese Jüngelchen keins.

Der Scharfrichter warf die Bücher ins Feuer. Längst waren das Holz verbrannt, die schräg gestellten Balken eingeknickt, das Stroh verlodert. Nur aus dem Krater des weißlichen Haufens schlugen noch Flammen. Glut, schon bedeckt mit weicher Asche, doch im Innern noch wie eine Sonne.

Aus einiger Entfernung beobachteten Inquisitor und Greve das Feuer und die Menge, flüsterten miteinander. Vergeblich versuchte Christoff mit Handzeichen, die Aufmerksamkeit des Greven zu erlangen, ihn herüberzubitten. Entschlossen: »Herr!«, so laut er konnte, durch den Lärm hindurch.

»Was gibt es?«

»Den Korb nehm ich.«

Großzügig nickte der Greve.

»Was bekomme ich? Ist doch eine Hinrichtung mit Brennen, oder?«

Das Stirnrunzeln kannte Heftrich, der Greve wollte wieder nicht nach Vorschrift bezahlen, dieser Kerl schacherte um jeden Stuber und verdiente in seine eigene Tasche.

»Was ist?«, bohrte er.

»Morgen, wir rechnen morgen in aller Ruhe ab.«

»Ich, ich bekomm meinen vollen Lohn!«

»Ruhig, Scharfrichter. In Ruhe morgen.«

Heftrich beugte den Oberkörper, schob sein Gesicht vor, sofort wich der Greve einen Schritt zur Seite.

»Wart doch. Heute ist alles wie verflucht. Die einen bringen was, die andern nehmen es wieder mit.«

Wachgeschreckt sah ihm der Greve jetzt voll ins Gesicht, und Christoff Heftrich genoss diesen Augenblick.

»Sag schon!«

»Gerade hat einer von den Studierten drei Bücher aus dem Haufen gesucht und weg.«

»Wie hat er ausgesehen? War der Kerl allein? Wohin ist er verschwunden?«

»Was regst du dich auf?«

»Sag schon!«

Mit dem rechten Arm zeigte der Henker nach Süden, in Richtung Altermarkt, genau beschrieb er den Hageren, auch den jungen Studenten, der ihn verfolgte.

»Die gehören zusammen, du Idiot! Ab heute sind das Ketzer. Wir sollen sie jagen wie Hexen oder Gotteslästerer. Vor das Inquisitionsgericht mit ihnen!«

»Nur weil sie Bücher lesen? Bis ich das begreife!«

»Hast du vorhin nicht zugehört? Kerl, ich muss die Stadt von ihnen säubern, bevor sie sich heimlich irgendwo treffen, sich organisieren. Die ersten hätten wir gleich hier schnappen können, und du lässt sie einfach laufen, du Kurzab!«

»Bis ich meine Arbeit gemacht hab, bleib ich dabei.«

Als sich der Greve umwandte, zum Inquisitor hinüberstürmte, verfolgte ihn Heftrich mit beiden Zeigefingern. Kurzab? Nein, du beleidigst mich nicht. Jeder hat sein Amt. Du bist der mächtige Greve von Köln, und ich bin nur dein Scharfrichter. Fang du die Ketzer, von mir bekommen sie dann schon alles, was ihnen zusteht.

Ein hastiger Wortwechsel, dann erhielten zwei Büttel ihre Befehle. Grob drängten sie durch die Menge bis zur Tribüne, bis zu den Stadtsoldaten, die sich immer noch mühsam aufrecht in den Sätteln hielten. Satzfetzen, Handzeichen, gemeinsam verließen Büttel und Reiter den Platz. Die Verfolgung begann.

Endlich brannten auch die letzten Bücher auf dem Scheiterhaufen. Nachdem die Würdigen von der Tribüne gestiegen waren, der Zug der feinen Gäste, Gelehrte und Studenten, auch Stadträte und die Männer des Kapitels den Domhof verlassen hatten, flackerte in der Menge das Fest auf, überschlug sich mit Lachen. Händler boten aus Bauchläden ihre Waren an, Dirnen priesen sich selbst, ein Taschendieb wurde geprügelt.

Eng drängte sich das Volk um die Flammen, für die Bürger war es nur noch ein Feuer im November, eine Glut, die kurze Zeit wärmte, bevor sie weiß und grau zerfiel.

Gegen Mittag legte sich Christoff Heftrich den Mantel um. Die Menge hatte sich zerstreut. Vor dem Domportal hockten Bettler. Am Heilig-Geist-Spital, gleich neben dem Dom, warteten Arme auf ihre Mahlzeit. Das Schauspiel war vorüber.

Mit der Hand griff Heftrich unter das Schafsfell, fest rieb er die Stelle über seinem Herzen und weiter bis unter die Achsel.

Von meinen Hingerichteten bekomme ich die Kleider. Das lohnt sich. Besser, ich hätt heute den Mann verbrannt und nicht nur seine Bücher. Ist bestimmt ein Gelehrter mit feinen Sachen, so einer lohnt sich. Er spie einen Strahl, nahm den Korb und verließ den Domhof.

Hinter ihm rissen die Knechte des Schinders mit Stöcken den Scheiterhaufen auseinander und zertraten die Glut zur Asche.

Dort ging der Fremde, den Kopf erhoben, fester Schritt, ohne sich umzusehen, ohne Vorsicht bog er in die dunkle Herzogstraße ein.

Nach vorn springen, nur zwei Sätze, schon bin ich hinter ihm, packe seine Schultern. Er würde zusammenfahren. Doch, er muss sich erschrecken, jeder der Unrecht begeht, muss in Angst leben. Auf die Knie würde ich ihn zwingen, bis er die Bücher herausgibt.

In diesen Gedanken hinein atmete Johann, richtete den Oberkörper auf, löste sich von den Hauswänden, ging so sicher wie der Mann, den er seit Stunden verfolgte. Längst war das Mittagsläuten vorüber, längst hatte der Fremde die Gegend um den Altermarkt verlassen, schritt weiter nach Norden, durch kleine Gassen.

»Nein, er hat mich nicht bemerkt«, beruhigte sich Johann und wischte mit dem Ärmel des Studentenrocks über sein kaltfeuchtes Gesicht. Leise warnte ein Gedanke, dass der Fremde ihn aus der belebten Innenstadt herauslocken wollte, der Fuchs den Jäger in die Falle lockte. Bis jetzt hatte Johann nicht gewagt, ihn zu stellen, noch nicht. Immer wieder hatte er auf einen günstigeren Augenblick gehofft, von Straße zu Gasse, gewartet auf die nächste Gelegenheit, dann aber bestimmt, und doch wieder aufgeschoben.

Die hagere Gestalt verlangsamte den Schritt. Hastig sprang Johann zur Seite, wollte in die Sicherheit der Winkel, Ecken und Nischen, rutschte und schlug mit dem Rücken gegen eine Hauswand, versuchte sich hochzustemmen, doch die Schuhe glitten im weichen Untergrund weg, gerade noch fassten seine Hände einen Mauervorsprung, an den er sich klammerte, bis seine Füße wieder festen Stand fanden. »Diese Stadt ist ein einziger Dreckhaufen«, keuchte er.

Das nebelnasse Wetter hatte Kot und faulenden Unrat vor den Hauseingängen aufgeweicht und die Blauköpfe der Straße mit einer schmierigen Schicht überzogen.

Tief drückte Johann seine Kapuze in die Stirn. Der Fremde war vor einem Haus stehen geblieben, sah nicht nach rechts oder links, klopfte laut, bis ihm geöffnet wurde, Johann hörte die freudige Begrüßung, so unbekümmert, dass es ihn ärgerte, als Gast wurde der Fremde hereingebeten.

Wieder, zum fünften Mal, seit Johann ihm nachging, hatte dieser Mann ein Haus betreten, mal ein vornehmes Gebäude, mal eine von Holz und Lehm zusammengehaltene Hütte oder ein Bürgerhaus wie dieses hier, Wand an Wand festverbunden mit den Nachbarhäusern. Nie hatten seine Besuche lange gedauert. Wer war dieser Fremde, gekleidet wie ein Magister, oder war er sogar Doktor?

Oder ist er ein Betrüger, getarnt mit der Tracht eines Gelehrten? Ein Aufschneider, der gegen die Ordnung verstößt, und das Barett trägt, ohne befugt zu sein. Scharf sog Johann den Atem ein. Bei hohen Geldstrafen war es jeder Frau, jedem Mann untersagt, durch die Kleidung einen besseren Stand vorzutäuschen. Perlenbestickte, gold- oder silberverzierte Gewänder waren nur den Vornehmen des Adels erlaubt, und nur nach bestandenem Examen durfte ein Mann den Kragen und das Barett tragen.

Dieser Fremde musste ein Scharlatan sein, wie er verhält sich kein rechtschaffener Mensch. Vor den Augen des Inquisitors stiehlt er die von heute an mit dem Bann belegten Schriften des Ketzers Martin Luther. Vor allen Studenten, im Angesicht meiner Professoren, stößt er mich zu Boden! Die Erinnerung trieb Johann Scham und Wut ins Gesicht. Und trotzdem wagt er es, furchtlos durch die Straßen zu gehen, betritt hier ein Haus, drei Gassen weiter ein nächstes.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite blieb Johann im Schutz eines Mauerwinkels stehen und wartete. Er wollte warten, ihn weiterverfolgen.

Heute Morgen, als er den Diebstahl vor dem Scheiterhaufen bemerkt hatte, da wollte er Unrecht verhindern, sein Magister sollte sehen, dass er, Johann Klopreis, der einfache Sohn eines Handwerkers, mutig für das Gesetz der Kirche eintrat. Hätte er doch diesen Mann festhalten, dem Greven oder sogar dem Inquisitor ausliefern können, ein Lob wäre ihm sicher gewesen, vielleicht hätte sich diese große Tat günstig auf sein Examen im nächsten Jahr ausgewirkt. Es war misslungen. Er hat mich niedergestoßen wie einen kleinen Jungen. Sicher hatten einige Mitstudenten den Vorfall beobachtet, sicher würden sie ihn bei seiner Rückkehr belächeln, ihren Spott treiben. In der Burse, dem gemeinsamen Wohn- und Studienhaus, konnte er sich diesen aufgeblasenen Söhnen reicher Eltern nicht entziehen. Jetzt aufgeben, einfach sagen: Was kümmert mich der Kerl? Niemals, dafür war es zu spät.

Heftig zerrte Johann an den Falten seines Rockes, stockte entsetzt, bis zum Gürtel herauf war der Stoff besudelt mit Flecken und Spritzern! Nur zu besonderen Anlässen trug er diesen Talar, bei Festessen in der Burse, an Tagen wie heute und bei der wöchentlichen Disputation der Fakultät. Tage würde es dauern, bis der Rock getrocknet und wieder gesäubert war.

»Auch dafür werd ich den Kerl prügeln.« Johann starrte zu dem Haus hinüber. Nichts regte sich hinter den Fenstern, kein Lichtflackern, keine Schatten. Er blickte die Straße entlang. Still und menschenleer, vor den Eingängen der Häuser zerwühlten Hunde ungestört die Abfallhaufen. Kleine gezackte Rinnsale liefen bis zur Mitte der Straße, tröpfelten in die flache Abflussrinne.

Solch einen Dreck gibt es bei uns zu Hause nicht. Angeekelt besah Johann seine beschmierten Schuhe. Bottrop war ein kleiner Ort, da sorgten die Bürger dafür, dass Schmutz und Gestank nicht Überhand nahmen, die Abfallhaufen vor den Häusern nicht anwuchsen. Doch Köln, diese Hauptstadt, war in den Durchstiegen und Winkelgassen oft von einer Kloake nicht zu unterscheiden. In den Vierteln der Gerber und Tuchfärber verwesten Fett- und Fleischreste auf den Gassen, in diesen Gestank mischte sich noch der scharfe Geruch von Lauge und Alaunbeize.

Mit beiden Händen versuchte Johann seinen Rock abzuwischen, ließ es bekümmert. Zwei Talare hatte ihm der Vater geschneidert, einen aus grobem Stoff, um ihn täglich zu tragen, und diesen aus feinem Tuch. Seit seiner Ankunft in Köln vor zwei Jahren, seit dem Beginn seines Studiums war Johann sorgsam mit diesem Talar umgegangen, hatte ihn gepflegt. Auch im Äußeren wollte er sich nicht von den reichen Mitstudenten unterscheiden, wollte ihnen gleichen.

Hufschlag, ein Reiter trieb sein Pferd in die Herzogstraße, schon hallten die Schläge von Eisen auf Stein an den Hauswänden. Ein Stadtsoldat. Eng presste sich Johann in die Mauernische. Sein Herz schlug gegen den Takt des Pferdegangs, wurde schneller. Hier war kein sicheres Versteck.

Warum verberge ich mich? Nichts kann man mir vorwerfen. Im Gegenteil, ich helfe der Gerechtigkeit!

Von Haus zu Haus, langsam näherte sich der Gewaltdiener, er blickte in jedes Fenster, jeden Durchstieg.

Schutzlos fühlte sich Johann dem eigenen Atem, den wuchernden Gedanken ausgeliefert. Rannte er plötzlich davon, würde er gejagt und gestellt werden, gleichgültig welchen Befehl der Reiter gerade ausführte. Entdeckt er mich hier in der Mauernische, verhaftet er mich sofort. Kein Student verbirgt sich grundlos in einem Hauswinkel, und Johann wusste, mit welchem Argwohn die Bürgerschaft das Verhalten der Studenten beobachtete, nur zu gern waren die Büttel bereit, einen dieser jungen Männer aufzugreifen, ihn bei den Rektoren anzuprangern.

Noch drei Häuser. Johann hörte das Schnauben des Pferdes. Wenn er mich bemerkt, zeige ich nach drüben, dann werde ich den Fremden ausliefern.

Noch blickte der Reiter zur anderen Straßenseite, gleich musste er den Kopf wenden.

Die Eingangstür neben dem Haus, in dem der Fremde verschwunden war, öffnete sich. »Was ist los?« Eilfertig trat eine Frau auf die Straße, richtete ihre Kugelhaube, strich die Schürze. »Wen suchst du?« Gierige Fragen, voll Hoffnung auf eine Neuigkeit.

Mit einer müden Handbewegung tätschelte der Reiter den Hals des Gauls. »Zwei Männer. Der eine ist ein langer mit Barett, wohl ein Studierter, der andere ist kleiner, so ein verdammter Student, blondes Haar.«

Das bin ich, mich suchen sie, mich! Johann hielt den Atem an.

Näher trippelte die Frau an das Pferd heran, sah zu dem Diener des Gewaltrichters auf. »Und was haben die ausgefressen? Doch keinen Mord? Nein, davon hätte ich längst gehört, na ja, man weiß ja nie bei diesen Kerlen von der Universität. Oder vielleicht haben sie eine Frau …« Lüsternes Kichern. »Na, du weißt schon.«

»Ach, was! Ketzer sollen das sein.«

»Ketzer?«

»Ich weiß es auch nicht. Der Greve spielt verrückt. Die ganze Stadt sollen wir absuchen, Viertel für Viertel.«

»Schade.« Die Gier erlosch, zurück blieb das Gesicht einer guten Bürgerin. »Viel Glück, Soldat«, damit huschte die Frau ins Haus und schloss die Tür.

Kurzes Zungenschnalzen, das Pferd trabte an, sein Reiter blickte nach vorn, nicht zur Mauernische, auch nicht in die Fenster des Nachbarhauses, der Hufschlag entfernte sich gemächlich.

Johann stieß den Atem aus, spürte den Husten, keuchte in den Ärmel seiner Kutte. Als er wieder aufblickte, erstarrte er. Der Fremde stand vor dem Haus, prüfend sah er hinter dem Reiter her und ging rasch in die entgegengesetzte Richtung.

Einfach »Halt, stehen bleiben!« kann ich nicht rufen, die Büttel suchen ihn und mich!

Der hagere Mann verschwand gleich im nächsten Durchstieg. Johann huschte über die Straße. Ein enger Gang, dunkel, oben berührten sich fast die Dächer der Häuser, vom Nebelhimmel blieb nur ein schmaler Strich. Seine Augen tasteten noch, der Fuß blieb zwischen Balken stecken, und Johann fiel. Zum zweiten Mal liege ich im Dreck! Er schlug die Fäuste in den aufgeweichten Modder, immer wieder, alle Wut auf den Fremden, seine eigene Ratlosigkeit, bis er die Hände öffnete.

Genug. Johann wollte die Verfolgung abbrechen. Entschlossen zog er die Knie an und richtete sich auf. Seine Schultern wurden gepackt. Er riss den Kopf zurück, über ihm ein blasser Gesichtsfleck und Augen. Entsetzt versuchte Johann sich abzuwenden, stockte, der spitze Schmerz an seiner Kehle machte ihn starr. Mit dem Blick suchte er nach unten und sah das Messer.

»Was willst du von mir?« Die Stimme des Fremden klang rau, bedrohlich.

Johann schwieg.

»Antworte. Warum verfolgst du mich?«

»Du hast Bücher gestohlen. Ketzerische Schriften.« Mehr fiel Johann nicht ein.

»Was geht es dich an?«

»Ich bin Student.«

Leise lachte der Fremde und ließ die Klinge sinken. »Werdet ihr schon zu Handlangern dieses vollgefressenen Erzbischofs erzogen? Studiert man das jetzt an der Universität?«

»Nein! Dieser Luther will die Ordnung zerstören!«

»Ordnung? Mein blinder Freund, diese Ordnung ist nichts als eine stinkende Kruste.«

Ehe Johann begriff, hallte erneut Hufschlag draußen auf der Straße, begleitet von lauten Stimmen, Zurufen. Der Fremde presste sich an die Hauswand. Johann kauerte dicht über dem Boden. Groß erschien ein Reiter, verdunkelte den schmalen Eingang des Häuserspalts, legte die Hand über die Augen, ritt weiter. Drei Büttel folgten ihm. deutlich erkannte Johann ihre farbigen Zweispitze. Der Trupp hatte sie nicht entdeckt.

»Komm.« Damit huschte der Fremde dem anderen Ende des Durchstiegs zu, und Johann hatte Mühe, ihm zu folgen. Der Gang mündete in einer Gasse, die sich zwischen Hinterhöfen, Verschlägen und Gärten hindurchschlängelte. Nach wenigen Schritten blieb der hagere Mann stehen, wartete.

Alt ist er nicht, höchstens sechs Jahre älter, dachte Johann, vielleicht 25 Jahre.

Diese Augen!

»Was willst du von mir?«

Alle Gründe hatten ihren Sinn verloren. Die Jagd in der Stadt galt nicht nur diesem Mann, auch seinem Komplizen! Verzweifelt kämpfte Johann dagegen an. Noch heute Morgen war sein Leben sicher und ruhig, noch vor dem Aufstehen hatte er wie immer voll Dankbarkeit an seine Mutter, an die Eltern gedacht und gewusst, dass er mit Recht ihr Vertrauen verdiente, die großen Opfer nicht umsonst waren. Und jetzt? Schuldlos wurde er verdächtigt, sollte dem Inquisitionsgericht ausgeliefert werden!

»Sag schon. Bist du wirklich Student oder ein Spitzel des Erzbischofs?«

»Ich studiere Theologie.«

»Wie heißt du?«

»Johann Klopreis.«

»Wer ist dein Magister?«

»Arnoldus.«

Für einen Augenblick lächelte der Fremde, fuhr mit dem Finger den Kreis des Bartwirbels an seiner rechten Wange nach. »So. Arnoldus von Wesel. Dann wohnst du in der Burse der Montaner, an der Straße Unter Sechzehn Häusern, mitten im Studentenviertel.«

»Woher weißt du das? Ich habe dich noch nie vorher gesehen. Du kennst meinen Magister?«

Unvermittelt griff der Fremde nach Johanns Kapuze und zog ihn dicht an sich heran. »Du Student! Glaubst du wirklich, Bücher zu retten, Bücher zu lesen ist strafbarer, als Bücher zu verbrennen?« Seine Stimme erlaubte keinen Widerspruch.

Doch zwei Wahrheiten gab es nicht, das war Johanns Trost, diese feste Überzeugung verlieh im Kraft. »Wer sich gegen den Papst stellt, der versündigt sich gegen Gott und die Kirche.«

»Auswendig gelernte Sätze. Du weißt gar nichts. Nichts!«

Empört fuhr Johann auf. »In unsern Disputationen bin ich gefürchtet!«

»Aristoteles! Scharfsinniges Geplänkel um nichts.«

»Mein Latein. Mein Magister hält …«

Wieder stieß ihn der Fremde zurück, Johann fiel nicht.

»Schweig! Du bist wie die meisten Studenten. Ihr lernt, plappert euren Lehrern nach dem Mund und glaubt zu denken. Wer von euch will denn sehen, was wirklich geschieht? Heute habt ihr mit Begeisterung die Schriften ins Feuer geworfen, nur weil eure Kirchenherren es befohlen hatten. Hast du sie gelesen? Schweig! Ich weiß, dass du ebenso blind wie die anderen dich dem fügst, was von dir verlangt wird. Luther kämpft gegen das Unrecht, gegen die schamlose Ausbeutung der Gläubigen durch den Papst und seine Handlanger, er kämpft für uns. Wann endlich hat dein Magister den Mut, sich öffentlich zu bekennen, die neuen Gedanken an euch weiterzugeben? Neue Gedanken!« Der hagere Mann hielt plötzlich inne, fuhr mit einer Hand durch die Luft, als wollte er Johann wegwischen. »Starr mich nicht so an. Verschwinde!«

Benommen wandte Johann sich ab, ging gehorsam einige Schritte, bis ihn die Wirklichkeit überfiel. »Wohin soll ich denn gehen?«, rief er und fühlte, wie Tränen aufstiegen. Voller Verzweiflung kehrte er um, stürmte auf den Fremden zu, beide Fäuste hielt er ihm vor das Gesicht. »Sag es mir! Ich bin kein Halunke, kein Verbrecher. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll!«

Der Mann wich zurück, verstand nicht. »Geh in deine Burse, folge deinem Magister. Feier mit deinen Kollegen in den Weinlokalen des Studentenviertels, verschwinde!«

»Ich werde von den Bütteln und Gewaltdienern gesucht, genau wie du. Sie dürfen mich nicht verhaften.«

»Gerede! Warum sollten sie mich suchen? Weil ich Bücher gerettet habe?« Er lachte spöttisch. »Wer verfolgt schon einen Dummkopf wie dich?«

Johann schüttelte den Kopf, dass die Kapuze nach hinten rutschte und ihm die schweißnassen Haare ins Gesicht schlugen.

»Sie jagen zwei Ketzer! Dich und mich! Du hast gegen das Gesetz verstoßen, dir geschieht recht. Ich wollte dich nur aufhalten, und jetzt verfolgen sie auch mich. Du bist an allem schuld!« Er weinte.

Ruhig legte der Fremde den Arm um Johanns Schultern, zog ihn an sich. Aller Spott war verflogen. »Still, hab keine Angst. Ich vertraue Arnold von Wesel. Du bist kein Ketzer, ich auch nicht. Geh zurück, du wirst sehen, niemand wird dich verhaften. Das Geschrei von heute Morgen war nur für den Kaiser und sein Gefolge bestimmt, es war eine Demonstration der Kirche und der Universität, ein Streit um Gedanken. Mehr nicht. Ich bin fest überzeugt, dass niemand wirklich in Gefahr gerät und der Ketzerei angeklagt wird, selbst Martin Luther nicht. Was sollten sie mit dir anfangen, einem einfachen Studenten, der noch nicht mal weiß, worum es geht? Heute Abend ist das Strohfeuer verraucht, die Suche beendet. Morgen hat man uns schon vergessen.«

Johann glaubte ihm, ohne seine Worte wirklich zu verstehen, musste es, mit einem Mal hatte er Vertrauen zu dem Fremden, fühlte sich nicht mehr so ausgeliefert. »Wer bist du?«, fragte er leise.