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Täglich streift Hatice Koca ihren blauen Kittel über und rettet Menschen. Dabei erfährt sie die ganze Bandbreite des Lebens. Heilungen, die fast an Wunder grenzen, genauso wie tragische Schicksalsschläge. Sie erzählt von Humor in schweren Momenten und der tiefen Menschlichkeit, die sie in ihrem Beruf erlebt. Dabei führt sie hinter die Kulissen Gesundheitssystems und gibt Einblicke, was sich ändern muss.
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Hatice Koca:
In besten Händen
Alle Rechte vorbehalten
©2025 edition a, Wien
www.edition-a.at
Coverfoto: Valerie Voithofer
Satz: Anna-Mariya Rakhmankina
Gesetzt in der Premiera
Gedruckt in Deutschland
1 2 3 4 5 — 28 27 26 25
isbn: 978-3-99001-812-5
eisbn: 978-3-99001-813-2
Hatice Koca
Tagebuch einer Krankenschwester
edition a
Blau, blau, blau sind alle meine Sachen
Blau, blau, blau ist alles was ich hab´
Warum mag ich alles was so blau ist?
Weil meine Mama eine Intensivschwester ist!
Für meine Tochter – L
Es gibt Hoffnung für jeden von uns
Kapitel 1 Das Leben auf der Intensivstation
Kapitel 2 Ein Wunder, bitte
Kapitel 3 Ungefiltert und unbearbeitet
Kapitel 4 Wenn der Alltag für einen Moment still wird
Kapitel 5 Kleine Freuden im großen Chaos
Kapitel 6 Die Belastungsgrenze
Kapitel 7 Besuchszeit: 15 bis 16 Uhr
Kapitel 8 Die Avengers
Kapitel 9 Keine heile Welt
Kapitel 10 Das Wesen der Pflege ist der Mensch
Eine Liebeserklärung: Warum es dennoch der schönste Job der Welt ist
Mira war etwa siebzig Jahre alt. Sie lag schon einige Wochen auf unserer Station, ihr Zustand veränderte sich nicht. Wir hatten wenig Hoffnung, dass sich ihre Verfassung jemals wieder verbessern würde. Sie bekam alles, was auf einer Intensivstation möglich war, das All-Inclusive-Package quasi. Jedes zusätzliche Gerät, das am Bett stehen konnte, jede Ersatztherapie, jede Extramessung. Wir gaben alles, um eine positive Entwicklung von Miras Zustand zu erzielen. Doch erfolglos.
Mira war so instabil, dass selbst ein einfacher Wechsel ihrer Position, also ihres Bettes, zur Herausforderung wurde. Sie befand sich eine Zeit lang in einem Einzelzimmer, dieses muss jedoch für ansteckende oder immunologisch komprimierte Patienten frei sein, um sie und auch andere Patienten zu schützen. Wir mussten Mira auf eine andere Position, in ein Dreibettzimmer, verlegen. Eine im Grunde unkomplizierte Sache. Nicht so für Mira.
Mira war so schwach, dass selbst diese harmlose Verlegung ihrer Position zu einer Höllenqual wurde. Während wir das Bett in das andere Zimmer schoben, mussten wir per Hand beatmen. Das ist normal, da die Patientin für ein paar Sekunden nicht mit dem Beatmungsgerät verbunden ist. In diesen wenigen Sekunden musste Mira fast reanimiert werden, die Veränderung brachte ihren Körper an die Grenzen der Überforderung.
INFOBOX
Eine Position im Krankenhausjargon ist nicht etwa die Position, die eine Person gerade innehält, deren Schlaf- oder Liegeposition, sondern das gesamte Patientenbett inklusive aller Gerätschaften und Dazugehörigkeiten. Eine Position kann als vollausgestattetes Bett, als Teil eines Zimmers für einen Intensivpatienten in Kombination mit Infusionen, Beatmungsgeräten, Sauerstoff, oder Druckluft, Monitoren und Computern verstanden werden.
Die Ärzte sprachen folglich das »Minimal Handling« aus. Das bedeutet, wir nahmen nur absolut notwendige Handgriffe vor, wir drehten sie nicht, wir lagerten sie nicht um, wir unternahmen nur das absolute Minimum, um die Patientin nicht weiter zu gefährden. Miras Beatmungsdruck war jenseits von Gut und Böse, sie hatte eine Sedierung laufen und war auf blutdruckerhaltende Medikamente angewiesen, deren Wechselwirkung mit ihren anderen Medikamenten wiederum unangenehme Reaktionen hervorrief. Ich sah Mira besorgt an, nachdem sie nun wieder halbwegs stabil im neuen Zimmer lag. Ich dachte nur: »Sie wird das alles nicht mehr lange durchhalten.«
Was neben ihrem langanhaltenden und kritischen Zustand noch außergewöhnlich an Mira war, war ihr Support-System. Normalerweise haben wir als Pflegepersonal keine große Freude an Scharen von Besuchern. Oft benehmen sie sich nicht entsprechend, sie sind laut, stören andere Patienten oder verwüsten die Zimmer. Bei Mira war es anders. Dreißig ihrer Angehörigen standen brav und stumm vor der Tür und warteten, bis ich sie ins Zimmer ließ. Nacheinander, immerhin konnten wir nicht dreißig Leute auf einmal in das kleine Zimmer lassen. Jeden Tag von 15 bis 16 Uhr standen sie da. Sie redeten auf Mira ein, auch wenn diese im Tiefschlaf lag. Sie waren für Mira da.
Auch wenn ihr Zustand in eine klare Richtung deutete, waren sie entgegen aller ärztlichen und pflegerischen Einschätzungen überzeugt davon, Mira werde wieder gesund. Unglaublich, wie hoffnungsvoll ihre Familie schien. Mir kam es damals, muss ich zugeben, auch ein wenig naiv vor.
Wochen vergingen und die Ärzte berieten sich über einen möglichen Therapierückzug. Mira war bereits seit mehreren Monaten auf unserer Station, seit etwas mehr als zwei Wochen im künstlichen Tiefschlaf. Sie wurde künstlich beatmet. Ihr Zustand verbesserte sich nicht, daher war dies eine berechtigte Diskussion. Dennoch entschieden sie sich dagegen. Warum genau weiß ich nicht mehr. Es sollte jedoch die richtige Entscheidung sein.
Eines Tages ging ich an Miras Bett, um die Standardroutine durchzuführen, ihr die Medikamente zu verabreichen und ihren Zustand zu überprüfen. Die Messwerte waren Tag um Tag unverändert miserabel, nichts Aufregendes war zu verzeichnen gewesen.
An diesem besonderen Morgen traute ich jedoch meinen Augen nicht. Ihre Nierenparameter waren deutlich besser als noch am Tag zuvor. Kurz dachte ich, es sei ein Fehler unterlaufen, so überzeugt war ich davon, dass es dieser Frau doch nicht besser gehen konnte, aber die Zahlen stimmten.
Die nächsten Tage waren aufregend. Stetig verbesserte sich ihr Gesamtzustand. Wir waren völlig aus dem Häuschen und versuchten, langsam die Medikamente und Therapiemaßnahmen zu reduzieren. Mit Erfolg. Ich war bis dato noch nie so erstaunt über ein mögliches Aufwachen eines Patienten gewesen, aber wir standen nun vor der Entscheidung, ob wir versuchen sollten, Mira nach Monaten aus dem Tiefschlaf zu holen. Langsam reduzierten wir alle notwendigen Medikamente. Mira kämpfte gegen die Beatmungsmaschine, was sehr unangenehm für sie war. Wir versuchten ihr diesen Kampf so erträglich wie möglich zu gestalten und tricksten mit Medikamentengabe und Pflege so lange herum, bis sie tatsächlich, ruhig und friedlich, die Augen aufmachte.
Als ich ihre wunderschönen blauen Augen zum ersten Mal sah, mit Leben erfüllt, zwar müde, aber wach, konnte ich nicht aufhören zu lächeln. Auch heute noch verspüre ich Gänsehaut, wenn ich an diesen Moment zurückdenke. »Mira, hallo. Ich bin Hatice! Verstehen Sie mich?«, fragte ich sie behutsam. Und tatsächlich: Sie kommunizierte mit mir. Sie verstand mich. Das ist nach einer so langen Zeit im Koma nicht selbstverständlich. Es war umso unglaublicher, dass sie nicht nur körperlich, sondern auch geistig wieder bei uns war.
Meine Kollegen und ich waren fassungslos. Klar, wir freuten uns, dennoch waren wir verwirrt.
»Wie kann sie so klar sein?«
»Warum befindet sie sich nicht in einem akuten Delir?«
Von jetzt auf gleich reagierte sie plötzlich positiv auf alle Maßnahmen, die wir setzten. Wir gewöhnten ihr die Beatmungsmaschine ab, was lange und schwierig war. Wir konnten sie nicht einfach extubieren, sondern mussten sie über eine Tracheotomie vom Beatmungsgerät entwöhnen. Dabei bekommt die Patientin einen »Kragenschnitt«, durch den man durch den Hals beatmet werden kann. Aber auch diesen Eingriff steckte sie gut weg. Vor kurzem hätte sie jede kleine Bewegung oder Veränderung fast umgebracht und plötzlich saß die Frau vor uns, die wir vor wenigen Tagen noch so gut wie tot fürchteten, und lächelte uns an. Ich dachte nur: »Wie hast du das geschafft, Mira?«
Niemals hätte ich mir erträumt, dass wir Mira wieder nach Hause schicken würden, aber auch das schaffte sie. Wir durften sie entlassen und wir freuten uns für sie und ihre Familie. Heute lebt Mira nicht mehr, wie ich von einem ihrer Verwandten gehört habe, aber dass sie überhaupt noch Zeit mit ihrer Familie, in ihrem Zuhause, ohne Beatmungsgerät und im Wachzustand verbringen konnte, ist für mich eines dieser seltenen, aber tief berührenden Wunder. Ob es nun der unermüdliche Beistand ihrer Familie, der mit Sicherheit positive Auswirkungen auf Patienten hat, an einer höheren Macht oder Miras Lebenswille lag, wir wissen es nicht. Diese Entwicklungen sind weder medizinisch noch wissenschaftlich erklärbar. Was ich aber weiß, ist, dass Mira bis heute unser Wunder ist. Wir alle waren uns sicher, diese Frau würde bald aufgeben. Und plötzlich war sie wieder da.
Seit Mira sagen wir uns auf der Station immer gegenseitig, wie instabil und kritisch der Zustand eines Patienten auch sein mag: »Denk an Mira. Es gibt Hoffnung für jeden auf dieser Welt.«
ROUTINE OHNE ALLTAG
Als ich zum ersten Mal im Zuge eines Praktikums eine Intensivstation betrat, fühlte ich mich überfordert. Überall piepste es, ein Atemgeräusch wie von dem Filmbösewicht Darth Vader hallte durch die Gänge und die Patienten sahen so anders aus als jene auf den Normalstationen. Fast schon fremd. Überall Maschinen, Monitore und Elektronik. »Wow, da sind aber viele Kabel«, dachte ich mir, als ich das erste Patientenzimmer betrat. Eine Unsicherheit machte sich plötzlich breit, die ich noch nie zuvor verspürt hatte. Ich bekam Angst. Wie wasche ich einen Patienten, der völlig verkabelt ist? Was passiert, wenn ich ihn falsch angreife? Kann ich einen Patienten überhaupt waschen, während er beatmet wird? Wie drehe ich einen Menschen, der intubiert ist? Hunderte Fragen strömten durch meinen Kopf. Ich dachte, ich war vorbereitet und kannte mich bereits in der Pflege aus, doch ich merkte schnell, hier musste ich alles von vorne lernen.
Völlig alltägliche Handgriffe und Routinen, wie ich sie von Normalstationen gewohnt war, warfen plötzlich neue Fragen auf. Wie ist das denn mit dem Essen hier? Wie kommuniziere ich mit den Patienten, wenn sie nicht ansprechbar sind? Wie gehe ich mit ihnen um? Hinzu kam eine völlig neue Medikamenten-Dosierung. Ich stand plötzlich vor Mengenangaben, die ich für fehlerhaft hielt, weil sie so hochdosiert waren, aber das war eben »normal« auf der Intensiv.
Der erste Tag auf der Intensivstation war respekteinflößend für mich. Schläuche stecken, Flüssigkeiten fließen und Monitore leuchten. Außerdem hatte ich mich dem Tod noch nie so nahe gefühlt. Auf anderen Stationen sterben auch Menschen, aber auf der Intensivstation schien der Tod so greifbar. In jedem Zimmer, über jedem Patienten schwebte diese graue Wolke, immerhin waren oder sind viele von ihnen dem Tod schon sehr nahegekommen, gerade so entkommen oder sie kämpfen gegen ihn an. Von außen sah der Kampf unspektakulär aus. Der Patient lag nur da. Er sprach nicht, bewegte sich nicht. Das was der Körper eines Intensivpatienten leistete, stellte selbst den tapfersten Krieger in den Schatten.
Ich verstand erst nach einigen Tagen und Wochen, welches Kabel wofür verantwortlich war. Ich musste erst lernen, wie ich einen Patienten angreifen und pflegen konnte, ohne ihm die lebenserhaltenden Kabel unabsichtlich herauszureißen. Als ich zum ersten Mal mit einem Intensivpatienten in Kontakt kam, war ich extrem verunsichert. Er hatte eine Hämofiltration, also eine Nierenersatztherapie laufen, zudem zwei dicke Zugänge im Hals stecken und durch recht große Schläuche floss Blut in eine Maschine, wo es gefiltert und zurück in den Körper geschickt wurde. Da dachte ich als junge Studentin nur: »Wie soll ich diesem Menschen auch nur irgendwie helfen, ohne ihn zu töten?« Der Tod ist auf der Intensivstation eben omnipräsent. Ich dachte jedenfalls, die Patienten, die nun in meiner Obhut waren, hingen am seidenen Faden. Und ich könnte diesen Faden jederzeit mit einem falschen Handgriff zerschneiden. Doch auch hier musste ich noch viel lernen.
»Hatice, es ist sehr schwer, hier jemanden umzubringen«, wandte sich eine erfahrene Pflegerin an mich. Sie sah die Angst in meinen Augen, aber sie konnte mich beruhigen. Denn auf einer Intensivstation ist alles da, um einen Menschen am Leben zu halten, also ist es auch ziemlich schwer, ihn umzubringen. Die ständige Überwachung, die Monitore und die Technik machen es uns leicht, zu reagieren, sollte doch einmal ein Kabel verrutschen.
So nervös und unsicher ich auch war, so beeindruckt war ich gleichzeitig. Nicht nur von den technologischen Möglichkeiten, den körperlichen Meisterleistungen der Patienten, in erster Linie war ich begeistert von dem dort arbeitenden Pflegepersonal. »Bist du wahnsinnig«, dachte ich mir, während ich ihnen bei der Arbeit zusah. »So will ich auch sein.« Zum ersten Mal erlebte ich Pflege in Reinform.
INFOBOX
Eigentlich sollte auf einer Intensivstation eine 1:1–Pflege stattfinden. Das heißt, dass jede Pflegekraft sich lediglich einem einzigen Patienten am Tag zuwenden sollte, um den vollen Pflegeerfolg erzielen zu können. Laut Studien braucht ein Intensivpatient nämlich neun Stunden pure Pflege. In einer Zwölf-Stunden-Schicht ist das unmöglich. Eine von vielen Rechnungen, die im Krankenhausalltag leider nicht aufgehen.
Als ich meine Kolleginnen beobachtete, fiel mir auf, dass sie so eine unglaubliche Ruhe ausstrahlten. Sie packten jedes Problem unerschrocken an und lösten es mit ihrem Wissen. Meine Praxisanleiterinnen erklärten mir, dass es für die Pflege im Intensivbereich ein ganz besonderes Skillset bräuchte. »Du darfst keine Angst haben, Sachen anzupacken, du musst deine Denkfähigkeit ständig einsetzen und du brauchst Motivation.« Sie versicherten mir, dass ich nach einigen Wochen Arbeit diese Skills aufweisen würde. Zum damaligen Zeitpunkt zweifelte ich noch daran. Dennoch machte sich während der nächsten Wochen zum ersten Mal ein Gefühl der Zugehörigkeit in mir breit. Ich fühlte mich auf der Intensivstation wohl und spielte mit dem Gedanken, nach dem Studium auf eine solche Station zu gehen.
Gedacht getan. Nach Beendigung meines Praktikums fing ich tatsächlich als fertigstudierte Pflegerin auf einer Intensivstation an. Ich war überglücklich über diese Entscheidung und auch darüber, dass ich so herzlich von meinen Kollegen empfangen wurde. Doch an meinem ersten Tag zurück auf der Intensivstation, nun nicht mehr als Praktikantin und unter dem Schutz der Dienstälteren, kam die ernüchternde Erkenntnis: »Oh Shit, ich bin jetzt die Hauptverantwortliche für meine Patienten.« Und ich glaube, ich spreche für all meine Kollegen und Kolleginnen, egal auf welcher Station: So richtig bereit dafür fühlt sich niemand. Auch nach Monaten der Einschulung nicht.
Ein »ganz normaler« Tag auf der Intensivstation
Um fünf Uhr morgens klingelt der Wecker. Mein Dienstantritt ist 6.45 Uhr, gerne bin ich etwas früher da, auch um kollegial den Kollegen aus der Nachtschicht gegenüber zu sein. Mit etwa einer Stunde Arbeitsweg, ist fünf Uhr tatsächlich das Maximum, dass ich rausholen kann. Viel Zeit für Kaffee und Kultivierung im Bad bleibt nicht, aber das ist ohnehin nebensächlich. Nachdem das Nötigste vollbracht ist, eile ich zur Bahn Richtung Klinik.
Im Krankenhaus angekommen geht es noch schnell in die Garderobe. Wir Intensivpflegekräfte tragen die typisch blaue Dienstkleidung. Ich bereite mich vor und lege die Grundausstattung, vor allem den lebenswichtigen schwarzen Stift an. Der schwarze Marker ist wie der Revolver eines Sheriffs. Er ist tatsächlich lebensnotwendig. Der wasserfeste Marker ist unser täglicher Begleiter. Mit ihm beschriften wir alles, was es zu beschriften gibt. Von Medikamenten, die wir für Patienten vorbereiten, bis zu Karteien, Schläuchen und Behältern. Das gesamte Inventar der Station wird mit ihm markiert. Und diese Beschriftungen sind essenziell, denn sie entscheiden über die Behandlungen der Patienten. Sie helfen uns dabei, zu kommunizieren. Verlieren wir den Stift, sind wir aufgeschmissen.
Nachdem ich meine Uniform und meinen Stift angelegt habe, geht es auch schon auf die Station. Gibt es die Zeit her, trinke ich einen Kaffee, für viele Kollegen mindestens genauso wichtig wie der Stift. Um 6.45 Uhr geht es zur allgemeinen Dienstübergabe. Hier kommen alle Kollegen zusammen, die frischen, die gerade so wie ich ihren Dienst antreten, treffen auf die Kollegen aus dem Nachtdienst. Sie sollen uns die Hard-Facts über die Patienten und die vorhergehende Nacht erzählen, uns über besondere Vorkommnisse informieren und die Patienten besten Gewissens in unsere Hände übergeben. Gab es eine neue Aufnahme oder steht eine in der Nacht beschlossene Untersuchung an, so wird das Team für den Tagdienst nun darüber informiert.
Ist das getan, sucht sich jeder seine Patienten für den Tag aus. Tatsächlich teilen wir uns selbst ein, welcher Kollege sich um welche Patienten kümmert. Dabei gibt es ein paar ungeschriebene Gesetze. Eine Person, die bereits den zweiten Tag in Folge im Dienst ist, hat beispielsweise Vorrang bei der Entscheidung auf seine Patienten. Im Grunde gibt es dabei nie Streit. Danach folgt die individuelle, also die genaue und detaillierte Patientenübergabe, entweder vor dem Computer oder direkt am Bett.
Während manche Kolleginnen gerne an den Computer gehen, wo sie alle Details dokumentiert vor sich haben, mache ich die Übergabe gerne direkt am Patientenbett, sofern der Patient noch schläft und wir ihn nicht stören. Ich vergesse manchmal einige Details, doch vor dem Patienten erinnere ich mich wieder an die Vorkommnisse, die für meinen Kollegen relevant sind. Ich kann direkt auf die Geräte eingehen, die betroffen sind, kann der Kollegin zeigen, was ich am Beatmungsgerät verändert und welche Alarmreferenzen ich wie eingestellt habe.
INFOBOX
Übrigens, was die Übergabe betrifft, gibt es im Pflege-Jargon sogenannte Type-A-Nurses und Type-B-Nurses. Die Begriffe wurden durch TikTok geprägt und verbreitet und sie beschreiben die unterschiedlichen Vorgehensweisen von Pflegekräften. Während die Type-A-Nurse jedes Detail genauestens erklärt und auch erklärt haben möchte, so möchte die Type-B-Nurse lediglich wissen, ob der Patient noch lebt oder nicht. Die Kunst liegt wohl irgendwo dazwischen. Klar, die Übergabe ist sehr individuell. Ich persönlich finde es in Ordnung, wenn mir nicht jedes noch so kleine Detail über den Patienten erzählt wird, andererseits sind manche Dinge schlichtweg essenziell. Ich kenne jedenfalls die ein oder andere Typ-A- und Typ-B-Krankenschwester. Kompetent sind sie beide, sie arbeiten nur etwas anders, aber das kennen wir wohl aus jedem Berufsfeld.
Nach der Übergabe geht es mit der eigentlichen Arbeit erst so richtig los. Sobald die Kollegen aus dem Nachtdienst ihren Heimweg antreten, übernehmen wir den Patienten, mit allem, was dazugehört. Ich checke erstmal, ob alle Medikamente, die er braucht, im System vermerkt sind. Ich überprüfe, ob alle Monitore funktionieren, ob das Absauggerät korrekt arbeitet und dokumentiere den Stand der Dinge. Denn was im Krankenhaus nicht dokumentiert wird, ist nie geschehen. Die Dokumentation ist ein integraler Bestandteil unserer Arbeit.
Nun ist es etwa 7.15 Uhr. Ich bin gerade erst eine halbe Stunde auf der Station und dennoch ist schon viel passiert. Eine weitere dieser ungeschriebenen Intensivstation-Regeln lautet: »Du isst, wenn du essen kannst.« Damit ist gemeint, dass wir jedes stressfreie Fenster nutzen sollen, um zu essen, denn wir wissen nie, wann es eskalieren wird. So mache ich mich also, wenn es die Zeit erlaubt, auf den Weg in den Aufenthaltsraum, um schnell noch eine Kleinigkeit zu frühstücken. Gegen 7.45 Uhr, allerspätestens gegen acht Uhr fange ich an, die Medikamente für den Morgen vorzubereiten, ich analysiere meinen Patienten, schaue, ob er Stuhl hatte, ob ich mich mit einem Arzt besprechen muss oder ob für den Patienten eine CT-Fahrt geplant ist. Gehen wir davon aus, dass diese Fahrt für 14 Uhr angesetzt ist, so muss ich entsprechend an das Sedierungsmanagement denken und bereits im Voraus planen, wie ich über diesen Tag hinweg mit dem Patienten umgehe. So eine Fahrt ist für den Patienten ein stressiges Erlebnis, ich möchte ihn also nicht knapp davor aufwachen lassen.
INFOBOX
Eine CT-Fahrt bedeutet, dass ein Patient ins CT muss, im Zuge einer Computertomographie soll Unterstützung in der Diagnostik gegeben werden. Ein Arzt ordnet ein CT an, wenn er sich eine Körperregion des Patienten genauer ansehen möchte. Normalerweise ist bei so einer CT-Fahrt nichts dabei. Mit einem Intensivpatienten in einem Krankenhaus, das aus einzelnen Pavillons besteht, ist der Aufwand jedoch groß. Wir müssen den Patienten mit voller Intensiv-Ausstattung, mit den wichtigsten lebenserhaltenden Elementen, einem mobilen Beatmungs- und Überwachungsgerät aus einem Gebäude hinaus und in ein anderes Gebäude hinein verfrachten. Auch wenn so eine CTFahrt harmlos klingt, so bestimmt sie einige Stunden des Tages und erfordert höchste Konzentration.