In den Händen der Ärzte - Anna Durnová - E-Book

In den Händen der Ärzte E-Book

Anna Durnová

4,7

Beschreibung

Medizinische Innovation wird stets von Widerständen begleitet - kein Leben zeigt dies besser als jenes von Ignaz Semmelweis. Eine Reise durch das Leben des großen Kämpfers für die Gesundheit der Mütter und für den medizinischen Fortschritt. "Hände waschen!", diese Hygieneregel ist heute selbstverständlich. Dass das nicht immer so war, zeigt die Geschichte des 1818 geborenen Semmelweis, der als Gynäkologe in Wien wirkte. Für die Anerkennung der Wahrheit, dass die schmutzigen Hände der Ärzte gebärende Frauen infizierten, musste er hart kämpfen. Seine Lebensgeschichte, die bis heute immense Bedeutung hat, lässt tief in die faszinierende Welt der wissenschaftlichen Entdeckungen und Intrigen blicken.

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Anna Durnová

In den Händen der Ärzte

Ignaz Philipp Semmelweis

Pionier der Hygiene

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2015 Residenz Verlagim Niederösterreichischen PressehausDruck- und Verlagsgesellschaft mbHSt. Pölten – Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN eBook:978-3-7017-4504-3

ISBN Printausgabe:978-3-7017-3353-8

Inhalt

Vorwort

Die zerbrechliche Waschschüssel

Dieser Arzt muss gehen!

Die Jagd auf das Kindbettfieber beginnt

Dem Dämon auf der Ferse

Die Wahrheit findet ihre Maßnahme

Die Maßnahme findet eine Diskussionsbühne

Der Fall Semmelweis wird unerträglich

Der Kampf geht weiter

Im Namen der Rettung der Frauen

Die Geburt kommt in die Hände der Ärzte

Die Geburt der Klinik

Das Kindbettfieber auffangen

Gegen die Götter in Weiß

Der Streit um die Zunft

Die Leichen im Keller der Wiener Medizin

Es wird in die Hände gespuckt

Der fatale Unterschied

Semmelweis’ Kampf für die Wahrheit

Die perfekte Methode

Die gemeine Hand

Die zweischneidige Hand des Arztes

Semmelweis’ These als politische Stellungnahme

Die Waschschüssel wird instrumentalisiert

Die zweischneidige Macht des Alltags

Politik als Theater – Wissenschaft als Stückvorlage

Semmelweis als Urvater des Gesundheitsaktivismus

Und wie geht es weiter? Semmelweis als Scharlatan und Märtyrer

Die politische Lektion Semmelweis’

Dank

Ausgewählte Literatur und weiterführende Quellen

Semmelweis

Kindbettfieber

Handhygiene

Schriften zu Politik, Wissenschaft und Medizin

Archive, elektronische Quellen, Filme und Presseermittlungen

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Bildverzeichnis

Dieses Buch basiert auf Forschungsarbeiten, die im Rahmen des Projekts »Wahrheit verhandeln: Semmelweis, Diskurs über Handhygiene und Politik der Emotionen« durchgeführt und vom Austrian Science Fund (FWF) gefördert wurden.

Vorwort

Am Anfang dieses Buches stand ein Seminar für Ingenieurstudenten einer französischen Verwaltungsschule. Ich sollte den Schülern beibringen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht bloß passieren, sondern stets von Kontroversen begleitet werden. Die Wahl des Beispiels fiel auf meinen Kindheitshelden Ignaz Semmelweis. Seit Jahren hatte ich den Film von Michael Verhoeven »Ignaz Semmelweis – Arzt der Frauen« (1987) vor Augen. Semmelweis’ Geschichte zeigte bei den Studenten seine Wirkung. Aus den Notizen des Seminars und den darauffolgenden Vorträgen entwickelte sich ein politikwissenschaftliches Projekt über die wissenschaftlichen Kontroversen unter der besonderen Berücksichtigung der Rolle der Emotionen. Daraus entstand, anlässlich seines 150. Todestages, die Idee, den Fall Semmelweis einem breiteren Publikum anzubieten, die hiermit realisiert wurde.

Die zerbrechliche Waschschüssel

Wir begeben uns auf die Reise nach Wien zwischen 1846 und 1850, in die Geburtsklinik des Wiener Allgemeinen Krankenhauses, und beginnen bei einer Waschschüssel. Sie steht noch heute in der Sammlung des Josephinums, des Museums für Medizingeschichte in der Währinger Straße im 9. Bezirk von Wien. Sie wirkt bescheiden und alltäglich. Eine Waschschüssel eben. In jenen fünf Jahren, die Gegenstand dieses Buches sind, wurde diese Waschschüssel zu einem heftigen Streitobjekt. Sie bewirkte Hoffnungen, Ängste, Instrumentalisierungen von Personen, Entlassungen und politische Kämpfe. Sie diente Ignaz Semmelweis zur Verbreitung der Handdesinfektions-Methode für Ärzte.

Dieses Buch gibt einen Überblick, wofür diese Waschschüssel noch steht und was sie uns eigentlich verdeutlichen kann, außer dass Händewaschen ein wesentlicher Teil unseres, nicht nur medizinischen, Alltags geworden ist. Die Waschschüssel von Semmelweis verbirgt den »Fall Semmelweis«, eine gewachsene und verwachsene Kontroverse, dessen Geschichte wir erzählen wollen. Denn der Fall Semmelweis ist keinesfalls ein lediglich historischer Konflikt. Er steht für alles, womit sich jede neue Erkenntnis herumschlagen muss. Zunächst bringt der Fall die zweischneidige Waffe der Medizin zum Vorschein, welche immer wieder ans Tageslicht kommt, wenn neue Erkenntnisse kundgemacht und diskutiert werden. Der Blick in die Geschichte der Medizin zeigt, dass dies keinesfalls ein Zeichen der modernen hochtechnologischen Zeit ist, sondern dass die Medizin, praktisch seit jeher, nicht nur heilt, sondern auch fortschreiten will, und genau auf diesem Weg begeht sie folgenreiche Fehler. Sie ringt um die Wahrheit, und so sind Fehler oft ein fester und logischer Bestandteil dieses Kampfes.

Jahrhundertelang untersuchten Geburtshelfer die Mütter, ohne zu wissen, dass auf ihren Händen tödliche Keime ruhten und dass sie auf diese Weise das Kindbettfieber verursachten. Jede sechste Mutter starb bei der Geburt an Kindbettfieber, als Ignaz Philipp Semmelweis die Bühne betrat und die mangelnde Handhygiene als Ursache des Kindbettfiebers erklärte. Bis er die Ursache für die Krankheit gefunden hatte und bis seine Praxis der Händedesinfektion von den Fachkollegen akzeptiert wurde, starben noch weitere Zehntausende Mütter. Der Titel »In den Händen der Ärzte« steht somit für die Mehrdeutigkeit dieses Kampfes für die Wahrheit. In den Händen der Ärzte verbarg sich das Übel, das Semmelweis mit seiner Waschschüssel zu bekämpfen suchte. In den Händen der Ärzte lag das Schicksal der Mütter der Wiener Geburtsklinik. In den Händen der Ärzte befand sich auch die Macht, den furchtbaren Sterbestatistiken dieser Mütter ein Ende zu machen.

Das Buch hat demnach den Anspruch, das feine Gespür für gesundheitliche Kontroversen beim Leser zu erwecken. Es wird hier von der Suche nach dem entscheidenden Ereignis oder nach dem entscheidenden Fehler des Hauptdarstellers abgesehen. Gesundheitliche Kontroversen haben nämlich weder einen einzelnen Auslöser noch einen einheitlichen Austräger und sie können auch nicht mit bloßem Pro und Kontra erklärt werden. Vielmehr sind solche Kontroversen ein Bündel aus akzeptiertem und neuem Wissen, aus Hoffnungen und Ängsten, aus Ansprüchen an die beteiligten Personen, die das neue Wissen verbreiten oder ablehnen. Kurzum sind sie ein Konglomerat, das wir durch sogenannte Diskurse analysieren können. Diskurse als Bedeutungsgeflechte und so etwas wie komplexe Gedächtniskarten, die uns den Weg weisen, uns dem Fall Semmelweis anzunähern.

Wir leben in einer Zeit, in der Infektionen und ihre Verbreitung durch Kontaktinfektionen nicht mehr bestritten werden. Es wird zwar geforscht und diskutiert, welche Mittel die besten sind, wie schnell beziehungsweise kurz der Kontakt mit dem infizierten Stoff sein muss, bevor die Krankheit sich verbreitet, aber das Prinzip der Handhygiene gilt als bewiesen. Genau das war zu Semmelweis’ Lebzeiten noch nicht der Fall. Die Art und Weise, wie heute mit Händewaschen umgegangen wird, stellt daher eine treffende Analogie zur Geschichte des Kindbettfiebers dar, in der der Arzt und Geburtshelfer Ignaz Philipp Semmelweis die Hauptrolle spielt.

Als Assistenzarzt der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe war er seit seinem Antrittsjahr an der Wiener Geburtsklinik im Jahre 1846 über die mehrmaligen heftigen Ausbrüche des Kindbettfiebers bei gebärenden Müttern besorgt. Die Sterblichkeitsraten erreichten manchmal dreißig Prozent. Er stellte Beobachtungen an und forderte von seinen Kollegen, die Hände vor jeder Untersuchung ordentlich mit einer Chlorkalklösung zu desinfizieren, zusätzlich zum üblichen Waschen mit Seife. Dies löste eine Kontroverse aus, die Semmelweis zu seinen Lebenszeiten nicht beenden konnte. Die Gründe dafür werden von seinen Biografen unterschiedlich bewertet.

Seine leidenschaftliche Jagd auf die Ärzte, wie sie von manchen Historikern beschrieben wird, stellte für viele seiner Zeitgenossen eine unnötige Hysterie dar, denn offensichtliche Beweise fehlten Ignaz Semmelweis, um zu erklären, was genau an den Händen haftete und wie es in die Körper der Mütter gelangte. Für Semmelweis war dagegen die Gelassenheit, mit der manche Ärzte das Kindbettfieber den Luftbedingungen zuschrieben und sie als Epidemien klassifizierten, genau jene Verharmlosung des Problems, durch die der einfache Lösungsansatz der entsprechenden Händehygiene gehemmt wurde. Wir wollen hier hinter den Vorhang dieser Vermutungen und Erklärungen sehen und eine andere Perspektive auf die Geschichte anbieten. Warum war die Einführung des Händewaschens in einer Chlorkalklösung für manche seiner Kollegen so umstritten? Was brachte den talentierten und fröhlichen Arzt dazu, eine wilde emotionsgeladene Kampagne zu führen? Die bis heute erhaltenen Spuren helfen uns, die Bausteine dieses Konflikts zu rekonstruieren. Sie führen uns hinter die Kulissen des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Ignaz Philipp Semmelweis war von 1846 bis 1849 als Assistenzarzt an der Ersten Abteilung der Geburtshilfe im AKH beschäftigt und in diesen Jahren führte er den Hauptteil seiner Untersuchungen zum Kindbettfieber durch.

Während des Blicks hinter die Kulissen behalten wir die heutige Zeit im Auge, um deutlich zu machen, wie und warum sich im Zuge der Geschichte die Wahrnehmung von Handhygiene, Frauenkörpern und von der Medizin gewandelt hat. Gleichzeitig werden die kurzen Exkurse in die heutigen Gesundheitskampagnen und die aktuellen Diskussionen über Händehygiene zeigen, wie diese Wahrnehmungen sich stets in einem Bündel von Fakten und Emotionen bewegen und dass dieser Kampf bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist. Wie bei Semmelweis löst noch heute das Thema der Handhygiene der Ärzte Emotionen aus, deren Erklärung uns der historische Fall anbieten kann. Deshalb bieten wir hier ein Umfeld aus Bildern, der Korrespondenz von Semmelweis, Gegenständen, die sich bis heute in Museen erhalten haben, Protokollen der wissenschaftliche Debatten von Semmelweis’ Kollegen sowie Büchern, die Semmelweis entweder hochloben oder ihn zum irrenden Wissenschaftler erklären. Vor dieser Kulisse öffnet sich für uns eine neue Perspektive auf den Kampf Semmelweis’, einen Kampf, in dem nicht seine Person, sondern das Gesamtbild des von ihm vorgeschlagenen Wissens auf ein anderes, schon vorhandenes Wissen prallt. Diese Sicht ermöglicht uns nicht nur dem Pionier der Handhygiene auf die Hände zu sehen, sondern vor allem zu beobachten, was Wissenschaft braucht, um sich ihre Wahrheit zu erkämpfen; und ob sie diese Wahrheit überhaupt je erkämpfen kann.

Warum ein weiteres Buch über Semmelweis, könnte sich mancher Leser und manche Leserin fragen. Ein kurzes Nachschlagen in Bibliothekskatalogen ergibt über Dutzende Arbeiten über diesen Pionier der Handhygiene und Retter der Mütter, wie er meistens genannt wird. Auf den ersten Blick ist über Ignaz Philipp Semmelweis bereits alles erforscht worden: seine gescheiterte Karriere; sein kompliziertes Verhalten und die dadurch vermutete Geisteserkrankung; seine mögliche Involvierung in die politischen Kämpfe rund um das Revolutionsjahr 1848; sein Beitrag zu dem, was man heute Evidenzbasierte Medizin nennt. Der Fall Semmelweis scheint abgeschlossen zu sein. Dennoch greifen wir das Thema auf. Denn der Fall Semmelweis lebt weiter: im Licht der heutigen Diskussionen rund um den medizinischen Fortschritt, in unseren Vorstellungen über Wissenschaft samt ihren Erfolgen und Fehlschlägen.

Gleichzeitig bedeutet dies, dass es mehrere Geschichten über Semmelweis gibt und geben muss. Der Fall Semmelweis ist mit der Zeit zur Ikone, zum Symbol geworden, der, so wie damals seine Waschschüssel, Hoffnungen, Ängste, Werte, Stellungnahmen und Schlüsse nach sich gezogen hat und heute noch zieht. Er ist selbst zu einem Diskurs geworden und wir verschaffen uns hier einen Überblick über dieses symbolische Gebilde. Dem Leser werden die Bausteine des Falls Semmelweis an die Hand gegeben sowie eine weiterführende Literaturliste am Ende des Buches. Diese Darstellung der Geschichte versteht sich nicht als Schlichter, sondern als Wegweiser zu einer möglichen Lektion, die uns der Arzt heute für die Orientierung in der wissenschaftlichen Welt erteilt. Wir brauchen den Fall Semmelweis, um zu verstehen, dass es keine kontroverslose und emotionslose Wissenschaft geben kann.

Dieser Arzt muss gehen!

»Das Wohl der Anstalt macht es wünschenswert, dass Ignaz Philipp Semmelweis austritt.« Wir schreiben Februar 1849. Dem Assistenzarzt der Ersten Abteilung des Wiener Allgemeinen Krankenhauses Ignaz Philipp Semmelweis bleiben nur noch wenige Wochen. Ende März ist seine zweijährige Anstellung beendet. Er soll gehen. Dies ist die endgültige Entscheidung der Vorgesetzten. Das Wohl der Anstalt mache es wünschenswert, steht schwarz auf weiß in dem Brief an das Ministerium. Was hatte Semmelweis getan? Wem hatte er etwas angetan? Die Umstände scheinen nicht eindeutig zu sein.

Denn um die gleiche Zeit erhält in London der britische Geburtshelfer Charles Routh ein ganz anderes Schreiben aus Wien über Ignaz Semmelweis: »Doktor Semmelweis und alle übrigen Ärzte des Wiener Krankenhauses sind entzückt von dem bewundernswerten Erfolg seines Systems1«, schrieb an ihn ein Wiener Sekundararzt. Ein Paar Monate vorher berichtete Routh über diesen Wiener Erfolg vor der Britischen Ärztegesellschaft. Charles Routh kannte Semmelweis, er war nach Wien gereist, um ihn zu treffen. Er wollte sehen, wie er diese glückliche und fast nicht mehr erwartete Wende in der Sterbestatistik der Mütter vollbracht hatte. Ignaz Semmelweis wollte den steigenden Sterblichkeitsraten von Frauen bei der Entbindung ein Ende machen. Das war sein einziges Ziel. Und diesem Ziel stellte sich nun die Behörde in den Weg. Semmelweis musste gehen.

Das Kindbettfieber war ein Monster, das die Geburtshelfer verfolgte und in der Zeit des großzügigen Krankenhausausbaus noch heftiger zuschlug. Ignaz Semmelweis wusste es genauso wie andere Geburtshelfer seiner Zeit. Jedes Krankenhaus war mindestens einmal pro Jahr von einer Epidemie des Kindbettfiebers betroffen. Niemand wollte nur zusehen, viele Thesen kursierten. Charles Routh war einer von jenen Ärzten, die Semmelweis’ Forderung nach dem Händewaschen als Vorbeugungsmaßnahme gegen das Kindbettfieber unterstützten. Sie bewunderten Semmelweis’ Bestreben. Sie führten jene Hygienemaßnahmen ein, die Semmelweis für die Hände der Ärzte vorsah: Waschungen in einer Chlorkalklösung vor jeder Untersuchung und vor jeder Geburt.

Diese Ärzte waren jedoch in der Minderheit. Es gab reichlich Kollegen, die Semmelweis’ Schriften über die Maßnahme der Waschungen für Unsinn hielten, die ihm Mangel an Kenntnissen vorwarfen oder gar vermuteten, Semmelweis wäre besessen davon, die ärztliche Geburtshilfe anzuschwärzen. Im gleichen Moment, in dem Routh die Zeilen über den Erfolg von Semmelweis in Wien erhielt, war Ignaz Semmelweis bereits arbeitslos. Was für Routh und andere Befürworter von Semmelweis als eine endgültige und erfolgreiche Entschlüsselung des Kindbettfieberrätsels galt, war für die Wiener Vorgesetzten eine übertriebene Anmaßung des ehrgeizigen Arztes. Die Wiener Abteilung beschuldigte ihn sogar, er würde die Klinik durch seine Kindbettfieberberichte denunzieren wollen.

Die Wiener Karriere von Ignaz Semmelweis endete sehr abrupt im Vergleich dazu, wie ehrgeizig er sich seinen Aufgaben widmete. Jede Minute schenkte Semmelweis diesem Phänomen und er konnte eine erfolgreiche Bilanz ziehen. Es starben weniger Mütter, das bewiesen seine Kindbettfieberberichte. Die Umgebung reagierte jedoch nicht angemessen. Sein Kampf gegen die Krankheit mittels Händewaschens in einer Chlorkalklösung war umstritten. Man wollte nicht glauben, dass es wirken konnte. Man wollte es nicht einmal ausprobieren. Man wollte Semmelweis loswerden. Eine solche Verweigerung der Vertragsverlängerung war an den Kliniken relativ unüblich, hörte er nun oft. Das Ende seiner Anstellung wurde in besonders strikter Weise umgesetzt: Er musste sofort seine Sachen packen.

Kollegen und Feinde berichteten von dieser stürmischen Zeit Unterschiedliches. Und was dem für die Vertragsauflösung zuständigen Abteilungsleiter Professor Johann Klein damals genau durch den Kopf ging und ob die Konkurrenz, die Klein in Semmelweis’ Karriere sah, tatsächlich der Hauptgrund seiner Entscheidung gewesen war, werden wir nicht mehr genau feststellen können. Alles deutet darauf hin, dass dieses Ende noch länger einen bitteren Nachgeschmack bei Semmelweis hinterlassen hatte. Es lag nahe, dass sich Semmelweis nach diesen Ereignissen nach Budapest zurückbegeben würde. Noch war aber sein Kampf nicht zu Ende. Noch konnte er vielleicht auf eine positivere Reaktion seiner Fachkollegen hoffen.

Er bat schließlich um eine Dozentur, aber auch diese Eingabe wurde nur teilweise bewilligt. Wie einige seiner ehemaligen Kollegen in Zeitzeugenberichten meinten, musste sich Semmelweis gedemütigt fühlen, da ihm seine Lehrberechtigung nur erlaubte, seine Lehre an einem Modell zu demonstrieren und nicht an einem echten Körper. Was für die Universitätsadministration eine bloß technische Entscheidung war, die eigentlich mehrere Privatdozenten betraf, die keiner Klinik angehörten, mag für Semmelweis eine unbegründete Ablehnung seiner Forschung bedeutet haben. Vielleicht empört, vielleicht nur einfach erschöpft von dem ganzen Wiener Hin und Her beschloss Semmelweis, fünf Tage nach Erhalt der Dozentur nach Budapest zu ziehen, einfach weg von all den Gerüchten.

Aber zurück zum Februar 1849. Die Lage in Wien war zumindest verwirrend. Wie konnte es geschehen, dass der junge ehrgeizige Arzt plötzlich zur Persona non grata an der Ersten Abteilung der Wiener Geburtsklinik erklärt wurde? Was ist in diesem Frühling 1849 genau passiert? Die Ereignisse an der Wiener Abteilung rund um Semmelweis und die Reaktionen bilden die Schlüsselphase für das wissenschaftliche Schicksal des Arztes. Doch um sie besser verstehen zu können, müssen wir zurückgehen bis in den Sommer 1846, denn ab da lässt das Kindbettfieber dem jungen Arzt Ignaz Semmelweis keine Ruhe mehr. Und genau diese Unruhe ist der Auslöser für Semmelweis’ spätere Verbannung.

Das Kindbettfieber – oder Wochenbettfieber –, wie diese Krankheit schon über Jahrhunderte bezeichnet wurde2, wütete damals rund um den Globus. Egal ob britische, amerikanische oder österreichische Krankenhäuser: Die Ärzte waren immer wieder mit Epidemie-Ausbrüchen des nach der Geburt vorkommenden hohen Fiebers konfrontiert. Die ersten Epidemien sind bereits aus den Jahren zwischen 1662 und 1664 aus Frankreich überliefert, im 18. Jahrhundert finden wir dann Berichte aus London, in Dublin und auch in Wien verzeichnet man in den Jahren 1770 und 1771 eine Epidemie. Semmelweis war nicht der Erste, der seine Karriere und sein Leben diesem für die Mütter meist tödlichen Phänomen widmete. Die Krankheit war wie ein böser Dämon, der die moderne Geburtshilfe, so wie sie von der Ärztezunft durchgeführt wurde, bedrohte.

Ignaz Semmelweis’ Jagd auf dieses Gespenst begann im Grunde bereits während seiner Studienzeit, wo er im Rahmen seiner Anatomie- und Pathologie-Ausbildung mit den Leichen junger Mütter konfrontiert war. Wie konnte man nur zusehen, dass bei bester Gesundheit ins Krankenhaus aufgenommene Frauen nach der Geburt binnen weniger Stunden durch ein hohes Fieber dahingerafft wurden? Diese Frage beschäftigte damals viele Ärzte und Studenten. Am 1. Juli 1846, dem Tag, an dem Semmelweis seine Stelle als Assistenzarzt in der Ersten Abteilung der Geburtshilfe des Allgemeinen Krankenhauses in Wien antrat, begann sein Kampf gegen dieses unheimliche Phänomen. Genau an diesem Tag feierte Semmelweis auch seinen 28. Geburtstag.

Geboren wurde Semmelweis in Tabán, in einem Teil des heutigen Budapest, als Sohn einer zwölfköpfigen Kaufmannsfamilie. Wäre es nach dem Wunsch seines Vaters gegangen, wäre er Jurist geworden. Er hatte auch bereits den ersten Teil seines Studiums in Budapest erfolgreich absolviert und wollte in Wien weiter die Rechtslehre studieren.

Der junge Ignaz begann zwar 1837 das Jusstudium in Wien, im folgenden Jahr wechselte er aber bereits an die Medizinische Fakultät. Er war einer von vielen ungarischen Medizinstudenten, denn nur ein Abschluss an der Universität Wien sicherte die Ausübung des Ärzteberufs in der gesamten österreichischen Monarchie. Abschlüsse in Prag oder Budapest waren für die landesweite Berufsausübung nicht geeignet. Der Wiener Standort war daher der prominente Studienort für ausländische Studenten. Semmelweis dürfte hier auch seinen ungarischen Studienkollegen Lajos Markusovszky getroffen haben, der später ein wichtiger Zeit- und Gewissenszeuge von Semmelweis wurde. Er stand Semmelweis auch in seinen schwierigen Zeiten bei. Károly Kanka, ein anderer Kollege aus Ungarn, sollte für Semmelweis’ Kampf ebenfalls wichtig werden, denn dieser Studienkollege wurde Assistent bei Professor Anton von Rosas. Und das war einer der wichtigsten Gegner von Semmelweis in der Zeit, als die Verlängerung seiner Stelle abgelehnt wurde.

Die Regelungen der k.k. Gesundheitsadministration waren jedoch für Ignaz Semmelweis nicht der einzige Grund, die Wiener Medizinische Fakultät zu wählen. Obwohl er nach einem Jahr in Wien 1839 nach Budapest zurückkehrte, war er von den im Vergleich zu Wien etwas rückständigen Verhältnissen in Budapest enttäuscht und beschloss, 1841 wieder nach Wien zu übersiedeln, um hier sein Studium abzuschließen. In dieser Zeit gehörte Wien zu den wichtigsten kulturellen und politischen Zentren Europas. Darüber hinaus wurde die Hauptstadt der österreichischen Monarchie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schnell zu einem der weltweit führenden Zentren des medizinischen Fortschritts. Dies ahnte der Student Semmelweis aber noch nicht, als er ab 1841 die zweite Schule der Medizin besuchte, die dem Allgemeinen Krankenhaus – dem damals größten allgemeinen Krankenhaus Europas – zugeordnet war. Er war lediglich von den Professoren der Wiener Medizin begeistert.

Die gute Stellung der Wiener Medizin wurde bereits durch die Fortschritte von Gerard van Swieten während des 18. Jahrhunderts befördert, der ihr damit einen besonderen Ruf verlieh. Der Leibarzt von Maria Theresia legte der Herrscherin nahe, dass sie sich mit modernen Krankenhäusern einen Weltruf verschaffen könnte. Dies führte dann zum Ausbau des Wiener Allgemeinen Krankenhauses am Ende des 18. Jahrhunderts, den Maria Theresias Sohn Joseph II. weiterentwickelte. Wie in anderen Metropolen beschäftigte man sich im 18. Jahrhundert auch in Wien mit dem Problem der Gesundheitsversorgung der breiten Bevölkerung, insbesondere der armen Schichten. Für unsere Rekonstruktion des Schicksals von Semmelweis ist dabei die Situation armer und unverheirateter Frauen von besonderem Interesse, welche oft unter erbärmlichen Umständen, in der Angst, von der Gesellschaft verachtet zu werden, ihre Kinder auf die Welt brachten. Als die Neugeborenen das Licht der Welt erblickten, sahen sich Frauen neben der Armut auch mit sozialer Ächtung konfrontiert. Überhaupt erwies sich ihre Situation oft als sehr schwer.

Manche gemeinnützigen Einrichtungen boten diesen Frauen die notwendigste Geburtsversorgung, diese war aber nicht ausreichend, und viele mussten ihre Säuglinge in Findelhäusern zurücklassen. Manche Mütter haben ihre Neugeborenen in ihrer Verzweiflung auch getötet. Kaiser Joseph II. besuchte im Jahre 1783 einige gesundheitliche Einrichtungen von Wien und dürfte von der dortigen Situation der Gesundheitsversorgung schockiert gewesen sein. Er beschloss, gemeinsam mit seinem Leibarzt Joseph Quarin, den Wiener Krankenhausbestand umzustrukturieren und eine systematische allgemeine Gesundheitsversorgung einzuführen. »Zum Heil und zum Trost der Kranken«, heißt es noch heute an den Toren des Gebäudes.

Die Administration von Josef II. sah die ungenügende Gesundheitsversorgung der Armen als eine Bedrohung des Staates an. Ein gesunder Zustand der breiten Bevölkerung wurde unter der Herrschaft des Aufklärers als ein wichtiger Faktor der Produktivität angesehen. Im Laufe des 18. und 19. Jahrhundert, kam es zusätzlich zu einigen administrativen Maßnahmen, um die Bevölkerungsgruppen systematisch zu organisieren, diese zu fördern, da eine solche Förderung sich letztlich auch positiv auf die Staatskasse auswirkte. Diese Argumente der Administration sind wichtig, weil sie helfen, den medizinischen Alltag in Semmelweis’ Zeit besser zu verstehen.

Konkret haben diese Überlegungen zur Gesundheitsversorgung der Unterschicht zur Eröffnung des Allgemeinen Krankenhauses im Jahre 1784 geführt. Die Absicht von Kaiser Joseph II. war es, eine allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung sicherzustellen, und als Vorbild galt ihm dabei das berühmte Pariser Krankenhaus Hôtel-Dieu. Das europaweit angesehene Krankenhaus nahm auch in Semmelweis’ Kampf um das Händewaschen eine wichtige Rolle ein: Als dieser kurz vor dem Ende seiner Wiener Assistenzstelle eine internationale Kampagne startete, wollte er sich auch aus Paris Unterstützung holen.

Aufbauend auf der Tradition von Gerard van Swieten entwickelte sich das Wiener Allgemeine Krankenhaus im Zuge des 19. Jahrhunderts zum Zentrum der medizinischen Forschung, was später vor allem dem Pathologen Carl von Rokitansky zu verdanken war, einem Zeitgenossen und Lehrer von Semmelweis. Rokitansky ging davon aus, dass die Pathologie als wissenschaftliche Disziplin im Dienste der Klinik stehen sollte, und integrierte deshalb die pathologische Praxis noch mehr in die Ausbildung und Weiterbildung der Ärzte. Vor allem sollte sie dazu beitragen, die Krankheiten besser zu beschreiben und zu verstehen sowie ihre Entwicklung zu erklären. Das verlieh ihm unter den Medizinhistorikern den Ehrentitel »Linné der pathologischen Anatomie«, weil er so wie der schwedische Botaniker Carl von Linné ein System einführte – allerdings nicht zur Bezeichnung von Pflanzen und Tieren, sondern zur Bezeichnung der Krankheiten. Rokitansky suchte die Krankheit an konkreten Orten, in Organen oder in Geweben, nicht im Gesamtzustand des Körpers. Sein Bestreben war es, möglichst genau die Ursachen der Krankheiten zu identifizieren.

Ihm ging es um die möglichst präzise Erforschung. Seine Vorstellung von der Rolle der Pathologie war mit der Hoffnung verbunden, durch Obduktionen physiologische Prozesse im Körper systematisch und daher besser beschreiben zu können. Rokitanskys neues Konzept hatte dieser Hoffnung tatsächlich einen neuen Impuls gegeben, führte für die Wiener Ärzte zu einer grundlegenden Verbesserung ihrer Diagnostikmethoden und brachte der Wiener Medizin binnen kurzer Zeit Weltruhm ein. In der Medizingeschichte ist in diesem Zusammenhang von der Zweiten Wiener Medizinischen Schule die Rede, nach der Ersten Schule, die vor allem vom erwähnten Arzt Maria Theresias, Gerard van Swieten, verkörpert wurde. Dieser Ruhm des Krankenhauses war für die Semmelweis-Kontroverse ein wichtiger Aspekt, weil dadurch der Umgang mit seinen Resultaten mit beeinflusst wurde. Und Carl Rokitansky war es auch, der die Untersuchungen von Ignaz Philipp Semmelweis unterstützte und ihm erlaubte, die Leiber gestorbener Mütter zu sezieren, um nach den Ursachen des Kindbettfiebers zu forschen.

Die Jagd auf das Kindbettfieber beginnt

Der junge Mediziner Semmelweis wird von Zeitgenossen als fröhlich beschrieben, außerdem schien er sehr mit seinem Heimatland Ungarn verbunden gewesen zu sein. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Semmelweis anlässlich der Verleihung seines Doktortitels im Jahre 1844 im Fakultätsregister vermerkte, dass er nicht beabsichtige, in Wien zu bleiben. Doch Wien wurde ihm zwei Jahre später zum Schicksal. Zunächst versuchte Semmelweis zwar nach Ungarn zurückzukehren, was vermutlich mit dem Tode seiner sehr geliebten Mutter zusammenhing. Doch aufgrund der bereits um diese Zeit angespannten politischen Lage in Ungarn dürfte sich dieser Wunsch etwas abgeschwächt haben. Die Revolutionsstimmung, von der dann im Jahre 1848 nicht nur Österreich, sondern ganz Europa erfasst wurde, lag schon in der Luft.

Semmelweis sah sich also in Wien nach einer Stelle um, auch um eine entsprechende Facharztqualifikation zu erlangen. Aufgrund seines Interesses an pathologischer Anatomie bewarb er sich zunächst bei Jakob Kolletschka, einem Rokitansky-Schüler, den er ebenfalls sehr verehrte. Es gelang ihm jedoch nicht, diese Stelle zu bekommen. Er suchte weiter und bewarb sich bei seiner zweiten Inspirationsquelle aus dem Studium, Joseph Skoda. Als auch das nichts wurde, widmete Semmelweis seine Aufmerksamkeit der Geburtshilfe. Zusätzlich zu seiner Ausbildung als Gynäkologe absolvierte er auch eine Ausbildung in der Hebammenlehre, die er am 30. November 1845 mit einem Magister abschloss.

Die Geburtshilfe etablierte sich in der Zeit als eigenständiges Teilgebiet der Medizin und so war die Wahl sicher nicht nur eine letzte Option gewesen. Die zwei gescheiterten Bewerbungsversuche sind außerdem für das zukünftige Bestreben von Semmelweis zentral. Sie zeigen uns die Verbindung zu den Koryphäen der Wiener Medizin, auch wenn sich diese Verbindung aus vielerlei Hinsicht später als kompliziert und doppeldeutig erweisen wird. Am Anfang der Karriere des jungen Arztes Semmelweis ermöglichten Rokitansky und Kolletschka seine pathologischen Untersuchungen an Frauenkörpern. Kolletschka wurde zu einem wichtigen Dialogpartner. Rokitansky war dann jener Mediziner, der ihm, als der Konflikt um die Handhygiene der Ärzte ausgebrochen war, den Rücken stärkte. Auch Joseph Skodas diagnostische Methoden kamen Semmelweis in seiner Rekonstruierung der Ursachen des Kindbettfiebers zu Hilfe. Ohne statistische Daten hätte er keine Evidenz seiner Beobachtungen vorlegen können. Joseph Skoda wurde darüber hinaus einer der zentralen Akteure, als es um seine Entlassung ging.

All dies nahm am 1. Juli 1846 seinen Lauf, als der junge Arzt Ignaz Semmelweis sich mit den näheren Bedingungen seiner neuen Stelle auseinandersetzte. Die Erste Abteilung der Geburtshilfe des Wiener Krankenhauses, die seit 1823 von Johann Klein geleitet wurde, war immer häufiger damit konfrontiert, dass sich Frauen vor dem Aufenthalt in diesen Wänden fürchteten. Der Geburtshelfer Johann Klein hatte zwar eine Sterblichkeitsrate von 0,84 von seinem Vorgänger geerbt, in seinem ersten Dienstjahr als Leiter stieg diese jedoch rasch auf 7,45 Prozent. Klein teilte die Geburtshilfe im Jahre 1833 in zwei Abteilungen, um langfristig eine getrennte Ausbildung der Hebammen und der Gynäkologen gewährleisten zu können. Seit dem Jahre 1840 waren in der Ersten Abteilung ausschließlich Ärzte und Medizinstudenten beschäftigt, während die Hebammen ihre eigene Abteilung hatten: die Zweite Abteilung, an der zwar ein Chefarzt arbeitete, aber keine Medizinstudenten ausgebildet wurden – außer jene, die sich der Hebammenlehre widmeten. Der Unterschied in den Lehrgängen sollte sich für die folgenden Ereignisse als wichtig erweisen.

Im Antrittsjahr von Semmelweis arbeiteten die beiden Abteilungen problemlos miteinander, der Chefarzt war ein Schüler von Klein: Franz Xaver Bartsch. Nichts deutete auf einen Konflikt hin. Den jungen Assistenten Semmelweis nahm Klein sehr begeistert an, er hatte ihm sogar noch vor seinem Antritt der Stelle erlaubt, als externer Aspirant in der Klinik zu arbeiten, und stand ihm also gewiss nicht im Wege. In den geschichtlichen Quellen wird Klein hingegen oft als ein böswilliger Erzfeind von Semmelweis skizziert, der aus Furcht vor dem damaligen Kanzler Metternich den medizinischen Fortschritt blockierte. Diese Einschätzung können wir hier weder bestätigen noch widerlegen. Die Überlegungen für eine mögliche Abneigung zwischen Klein und Semmelweis kommen aber erst nach dem Konflikt um das Kindbettfieber zum Tragen. Daher wollen wir diese komplizierte Beziehung im Lichte des Konflikts um das Kindbettfieber und das darauffolgende Gebot des Händewaschens näher beleuchten.

Zunächst also zu Kleins alltäglicher Praxis der Ersten Abteilung, die gleichsam die Bühne für Semmelweis’ Beobachtungen wird. Um die Rolle der Pathologie im Dienste des Krankenhauses zu stärken, änderte Johann Klein die Praxis der Obduktionen. Kurz zuvor erst waren auch die Studenten der Geburtshilfe in diese Praxis eingegliedert worden und führten jeden Morgen Obduktionen durch. Und nicht nur das: Es war zur üblichen Praxis geworden, dass jede Klinik die Obduktion der in ihren Wänden gestorbenen Menschen selbst durchführte. Ganz im Sinne des damaligen medizinischen Wiener Zeitgeistes sollten auch Geburtshelfer durch die systematische Untersuchung der Leichen zu einer besseren Erkenntnis der Prozesse und Komplikationen bei der Geburt kommen. Somit wusste jeder in der Wiener Abteilung, was er zu sehen und zu riechen bekommen würde, wenn er die Leiche einer am Kindbettfieber gestorbenen Frau sezieren sollte: Einen üblen Geruch, der sich vor allem durch den von Eiter gefüllten Unterleib ausbreitete.

Semmelweis ging es bei dem Kindbettfieber nicht anders. Er hatte dieses Bild des mit Eiter gefüllten Körpers vor Augen. Er hatte bereits vor seiner Stelle als externer Aspirant in diesem Krankenhaus gearbeitet, da ihm Professor Klein sofort nach der Bewerbung erlaubte, die Klinik regelmäßig zu besuchen. Zusätzlich hatte er durch die Genehmigung von Professor Rokitansky das Institut für Pathologische Anatomie besucht. Rokitansky war insgesamt eine Inspirationsquelle für Semmelweis. Diese Erfahrungen waren seine erste Begegnung mit den pathologischen Befunden der Leichen aus der Gebärklinik und mit dem Schrecken des Kindbettfiebers. Sie dürften für die ersten Überlegungen auf der Suche nach den Ursachen dieser Krankheit nicht unwesentlich gewesen sein.3 Durch die reiche Praxis in der pathologischen Anatomie könnte man fast meinen, Semmelweis sei gleichzeitig ein ausgebildeter Pathologe gewesen. Ähnlich verhält sich das mit den bereits angesprochenen Methoden der Medizinstatistik von Joseph Skoda. Dieses unentbehrliche Instrument für seinen Kampf gegen das Kindbettfieber machte sich Semmelweis zwischen 1844 und 1846 zu eigen.

Dermaßen ausgerüstet, begann sich Semmelweis im Sommer 1846 seinen Aufgaben als Assistent sorgfältig zu widmen. Er nahm an der Ausbildung der Geburtshilfestudenten teil, untersuchte regelmäßig Frauen vor und nach der Entbindung, und führte jeden Morgen – wie alle anderen in der Abteilung – Obduktionen durch. Biografische Schriften beschreiben ihn als einen arbeitsamen und eifrigen Arzt, der seine Arbeit genau nahm. Wenn ihm nur dieses Kindbettfieber nicht in die Parade fahren würde. »Ein Kind zu gebären ist genauso gefährlich wie die Lungeninfektion des ersten Grades«4, schrieb der junge Assistenzarzt.

Die ersten Monate in seiner neuen Anstellung lagen hinter ihm und die Ausbrüche der Epidemien des Kindbettfiebers ließen nicht nach. Sie traten immer wieder auf. Junge, gesunde Frauen sahen sich plötzlich mit diesem Fieber geschlagen und fanden in den Händen der Ärzte anstatt Hilfe den Tod. Das Wiener Allgemeine Krankenhaus war mit seinen 6000 Geburten pro Jahr das größte Krankenhaus Europas. Während in der Abteilung von Johann Klein 600 bis 800 Frauen jährlich am Kindbettfieber starben, waren es in der Zweiten Abteilung bei Franz Xaver Bartsch bis zu 80 Frauen. Somit lag die Sterblichkeitsrate in seiner Abteilung bei 11,4 Prozent, in der Abteilung, die ausschließlich von Hebammen geführt wurde, bei 2,79 Prozent.

Alle Kollegen von Semmelweis waren über die Zahlen erschüttert. Unter ihnen kursierten unterschiedliche Theorien zur Erklärung des hohen Fiebers: schlechte Luft, das Ausbleiben der Menstruation oder eine Milchstauung. Die pathologischen Befunde der sezierten Unterleiber zeigten reichlich Eiter rund um die Gebärmutter der verstorbenen Mütter. So glaubte man, dass sich durch die während der Schwangerschaft ausbleibende Menstruation im Unterleib unreine Körpersäfte ansammeln würden, die dann normalerweise mit dem Wochenfluss den Körper verlassen sollten. Am Kindbettfieber erkrankte Frauen hatten aber keinen Wochenfluss. Das war eines der Merkmale dieser Krankheit, und so stellte sich dieser Zusammenhang als eine mögliche Erklärung dar.

Die auf dem europäischen Kontinent vorherrschende These war die der Milchstauung. Eine Laktationsstörung wurde auch tatsächlich bei Kindbettfieberpatientinnen festgestellt. Der französische Arzt Nicolas Puzos glaubte etwa an eine Art Milchübergang von den Brüsten in die Körperhöhlungen. Damit hingen die unterschiedlichen Erklärungen, die Kindbettfieber als das Irren der Organe, vor allem der Gebärmutter klassifizierten, zusammen. Der Körper funktionierte nicht mehr, wich von seinen üblichen physiologischen Prozessen ab. Grundsätzlich wurde lange eine Art Laktationsstörung als Ursache der Krankheit vermutet, denn wie wir heute rekonstruieren können, breitete sich die Entzündung auch in den Brüsten aus. Der bereits erwähnte Arzt von Maria Theresia, Gerard van Swieten, bekannte sich ebenfalls zu dieser Milchtheorie. Außerdem stimmte sie mit den Schlussfolgerungen überein, zu welchen das Pariser Ärztepersonal des prestigeträchtigen Krankenhauses Hôtel-Dieu im Jahre 1746 kam, wo das Kindbettfieber epidemisch mehrmals auftrat. Damit galt die Theorie mehr oder weniger als bewiesen.

Es ist somit nicht verwunderlich, dass Semmelweis’ Vorgesetzter Johann Klein auch einer jener Kollegen war, welcher die Milchtheorie unterstützte und diese auch lehrte. So erklärte Klein den Medizinstudenten, dass die Milch anstatt in die Brüste in den Kopf steige und das hohe Fieber auslöse. Sie staue sich im Körper der Frau, spanne ihn an und bringe der Frau das sterbliche Fieber. Der Arzt Karl Gustav Carus behauptete 1829, es handle sich um einen »verwirrten Zustand« im Körper der Frau, und unterstützte damit die Annahme einer Stauung und eine dadurch ausgelöste Spannung im ganzen Körper. Die Ursache dieser Spannungen, glaubte Carus, läge an dem Druck, den der wachsende Uterus während der Schwangerschaft auf die Organe ausübe. Der Druck würde durch körperliche Arbeit während der Schwangerschaft oder andere physische oder psychische Anstrengungen der Mütter hervorgerufen.

Alle diese Hypothesen hatten eine Gemeinsamkeit: Die Krankheit wurde ausschließlich mit Schwangerschaft und Geburt assoziiert. Das machte unter den damaligen Wissensumständen auch Sinn, und die Überlegungen der Ärzte, wie wir durch die Beispiele sehen können, schienen logisch. Praktisch jede erkrankte Frau konnte nicht stillen, fast alle hatten während der Schwangerschaft gearbeitet oder sie unterlagen dem Stress einer unehelichen Schwangerschaft. An der Klinik entbanden eigentlich fast nur Frauen aus der Unterschicht. Wer sich einen Hausarzt leisten konnte, ging grundsätzlich nicht in eine Klinik. Die sozialen Umstände in Wien spielten hingegen nur eine unterschwellige Rolle bei der Erklärung der Krankheit. Niemand kam auf die Idee, hier einen falschen Zusammenhang zu vermuten. Auch wenn alle diese Fälle auf den ersten Blick klar schienen, war dies für Semmelweis keine ausreichende Erklärung, und er begann zu polemisieren. Woher kam der Unterschied in den Sterberaten zwischen der Ersten und der Zweiten Abteilung? Dies galt es für Semmelweis zu klären, denn ein Arzt, der seinen Beruf ordentlich ausübte, konnte doch nicht erlauben, dass sich Frauen bereits wegen der steigenden Zahlen der toten Mütter davor fürchteten, überhaupt eine ärztliche Hilfe aufzusuchen. Wenn sie es dann doch taten, baten sie den Portier des Krankenhauses – Wehen hin oder her –, zu den Hebammen gelassen und nicht in die Erste Abteilung aufgenommen zu werden.

Eduard Lumpe, ein Vorgänger von Semmelweis in der Ersten Abteilung, habe die Krankheit bereits umfassend beschrieben, erwiderten die Kollegen auf seine ersten Polemiken. Die Abteilung sei auch mit seinen Erklärungen einverstanden gewesen. Dem damaligen Wissensstand über die Krankheit entsprechend, vermutete Lumpe, dass die emotionalen Ereignisse rund um die Geburt mitschuldig waren sowie die oft damit verbundenen Änderungen in der Ernährung der Frauen, ebenso wie die Kälteeinbrüche, die insbesondere die arme Bevölkerungsschicht traf. Was die Differenz in den Sterberaten zwischen den beiden Abteilungen anbelangte, war diese für Lumpe die Folge zweier unterschiedlicher, nebeneinander ruhender Miasmen. Das war nach den damaligen Lehren ein kosmisch-tellurischer Zustand in der Luft, der – vereinfacht gesagt – bestimmte Luftbedingungen umfasste und auch Krankheitserreger ansammeln konnte. Deshalb wurde generell in Krankenhäusern nicht nur gelüftet, sondern auch geräuchert. Dies war damals eine in allen europäischen Krankenhäusern gängige Praxis.

Obwohl Lumpe in seinen Notizen bereits annahm, dass durch Blutflecken sowie durch Plazentareste der erkrankten Frauen die Krankheit von einer Frau auf die andere übertragen werden konnte, blieb das Gesamtbild der Krankheit eindeutig: Kindbettfieber ist eine Krankheit der wehenden, angespannten Mütter, und die Epidemie-Ausbrüche waren auf die Einflüsse dieser miasmatischen Zustände zurückzuführen.

Im Zuge seiner Erfahrungen aus dem Sommer weigerte sich Semmelweis immer stärker, dieser Theorie Glauben zu schenken. Da er bereits während seines Studiums die medizinische Statistik bei Joseph Skoda gelernt hatte, nutzte er nun diese, um die jeweiligen Fälle zu dokumentieren. Er zögerte nicht, der Sache auf den Grund zu gehen. Im Archiv des Krankenhauses suchte er Unterlagen zusammen und analysierte die Daten der Todesfälle seit dem Jahre 1789, dem Gründungsjahr der Wiener Klinik. Dabei fiel ihm auf, dass bis 1822 die Sterblichkeitsrate durch Kindbettfieber eigentlich niedrig war – rund um 1,3 Prozent – und erst ab 1822 tendenziell stieg. Bis 1822 war Lukas Johann Boër der Leiter der Geburtsklinik in Wien, der Gründer der modernen Geburtshilfe in Österreich.

In der ersten Begegnung mit den historischen Daten war aber für Semmelweis auffällig, dass Boër einen besonderen Wert auf den natürlichen Verlauf der Geburt legte und somit jegliche medizinische Intervention sorgsam überlegte. Infolgedessen war die Anzahl der medizinischen Eingriffe sehr niedrig. Genau dies wurde aber unter seinem Nachfolger Johann Klein anders. Es wurde im Sinne des ärztlichen Erfolgs und Fortschritts interveniert, denn es galt, die Lebenserwartungen der Mütter und der Kinder zu verbessern. Wie Semmelweis den Krankenhausunterlagen entnahm, stieg ab Kleins Antrittsjahr nicht nur die Zahl der Eingriffe, sondern auch die Zahl der Opfer, die an Kindbettfieber starben. Gegen Ende 1822 erreichten sie fast acht Prozent, hatten sich also im Vergleich zu Boërs Zeiten mehr als vervierfacht. Medizinische Eingriffe gerieten vielleicht nach dieser Entdeckung des jungen Semmelweis’ zum ersten Mal unter Verdacht.

Dennoch waren seine Maßnahmen, das Kindbettfiebermonster aus dem Spital zu bannen, zunächst andere. Er nahm Kontakt mit der Zweiten Abteilung auf, um dort den Alltag möglichst genau kennenzulernen. Semmelweis wollte die feinsten Unterschiede in der Vorgangsweise der beiden Abteilungen ermitteln. Er dokumentierte die Krankheitsgeschichte jeder einzelnen aufgenommenen Patientin genau, um alle möglichen Details in Erwägung ziehen zu können. Zunächst schrieb er seinen Patientinnen eine bestimmte Diät vor, danach beobachtete er, dass bei Hebammen die Frauen in der Seitenlage niederkamen. Er fand diese Lage angeblich aus vielerlei Hinsicht unvorteilhaft, doch aus Sorgfalt und aus dem Wunsch heraus, den verborgenen Ursachen auf die Schliche zu kommen, probierte er einfach alles aus. Aber all das half nichts: Die Zahlen der Opfer stiegen und stiegen. Viele trauten sich nicht mehr in die Erste Abteilung, die Schwangeren unternahmen alles, um bei der Aufnahme die Regeln zu umgehen und doch noch zu den Hebammen zugelassen zu werden. Denn bei den Ärzten, da überlebe man sicher nicht, das passiere jeder, die dahin gehe, das hatte sich bereits in der Stadt herumgesprochen.

Diese allgemeine Furcht vor der Krankheit sahen manche Kollegen seiner Abteilung als einen Aspekt der Verbreitung an, für manche war es sogar ihr Auslöser. Der Schock löse Spannung aus und rufe das Fieber erst hervor, meinten sie. Eigentlich war es naheliegend, dass Semmelweis zu dieser Zeit bereits davon überzeugt war, dass jegliche psychosomatische Auslegung der Krankheit problematisch war: Denn jede Geburt kann derartige Schocks hervorrufen, dass daneben ein Priester mit seiner Totenglocke, der die Kindbettfieberopfer immer aufsuchte, gar nicht mithalten konnte. Außerdem blieben auch den Hebammen traumatische Verläufe der Geburten nicht erspart. Dennoch überredete Semmelweis tatsächlich den Priester, das nächste Mal eine Hintertür zu nehmen, sodass er nicht quer durch die ganze Abteilung gehen musste. Bei den Hebammen wären die Räumlichkeiten nämlich besser aufgeteilt, und da machte der Priester einen Rundgang an allen Betten und an allen werdenden Müttern vorbei. Aber alles blieb ohne Erfolg. Semmelweis fühlte sich in seiner intuitiven Annahme bestätigt. Zuerst musste das Kindbettfieber derart um sich greifen, bevor sich die Furcht davor etablieren konnte – und nicht umgekehrt.

Also beschloss Semmelweis in diesem Sommer 1846, sich die Unterschiede zwischen Ärzten und Hebammen ganz genau anzuschauen! Daraufhin setzte er die nächsten Schritte seiner Rekonstruierung fort. Als ersten Unterschied zwischen den Abteilungen merkten viele sofort an, in der Ersten Abteilung untersuchten doch Männer die Frauen, während in der anderen Abteilung dies nicht der Fall sei. Die Schamgefühle, die junge Mütter im Angesicht der untersuchenden Männer oft überkamen, hatte Semmelweis bemerkt. Vor allem fanden es die Frauen unpassend, gerade an den intimsten Stellen ihres Körpers von Männern untersucht zu werden – ja sogar von jungen Studenten, die eigentlich jenen Männern glichen, von denen sie ein Kind erwarteten. Das 19. Jahrhundert stellte diesbezüglich einen wesentlichen Bruch in der ärztlichen Praxis dar, denn während dieser Zeit wurde langsam das Untersuchen der Frauen von Männern als gängig akzeptiert, auch wenn es natürlich auch heute noch vorkommt, dass Frauen die Erfahrung mit einer Frauenärztin vorziehen. In der Ersten Abteilung vermutete man deshalb, dass dieses Schamgefühl der Frauen pathologisch werden und Verwirrungen im Körper auslösen könne und sich eigentlich hinter dem Kindbettfieber verberge. Bei den Hausentbindungen, die in der Oberschicht praktiziert wurden, waren aber fast ausschließlich Männer im Einsatz – und so konnte auch diese Hypothese leicht widerlegt werden. Die Abteilung musste weiter nach einer Erklärung suchen.