In den Scherben das Licht - Carmen Korn - E-Book

In den Scherben das Licht E-Book

Carmen Korn

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Beschreibung

Lässt sich aus den Trümmern eine Zukunft bauen? Der berührende neue Roman der Bestsellerautorin über die Suche nach Liebe und Zusammenhalt in einer Welt, die sich neu erfinden muss. Hamburg, 1946: In den Trümmern der zerbombten Stadt treffen Gert und Gisela aufeinander. Zwei junge Menschen, die ihre Familien im Krieg verloren haben und die nun in diesem harten Nachkriegswinter nach Hoffnung suchen. Sie finden sie im Keller eines Hauses, das der einstigen Schauspielerin Friede Wahrlich gehört. Eine ungewöhnliche Frau, die in ihrer eigenen Vergangenheit gefangen ist und doch fest daran glaubt, dass sich aus dem Chaos eine hellere Zukunft formen lässt. In ihrer Küche wächst eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig Halt gibt. Aber die Schatten der Vergangenheit sind lang: Was geschah mit Giselas Familie? Lebt Gerts kleine Schwester noch? Und was wurde aus den beiden Männern, die Friede einst liebte? Drei wunderbare Figuren finden im Hamburg der Nachkriegszeit zusammen. Ein Roman, der Hoffnung spendet und einen eintauchen lässt in eine Zeit der Scherben. Und des Lichts. 

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carmen Korn

In den Scherben das Licht

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Lässt sich aus den Trümmern eine Zukunft bauen?

 

Hamburg, 1946: In den Trümmern der zerbombten Stadt treffen Gert und Gisela aufeinander. Zwei junge Menschen, die ihre Familien im Krieg verloren haben und die nun in diesem harten Nachkriegswinter nach Hoffnung suchen. Sie finden sie im Keller eines Hauses, das der einstigen Schauspielerin Friede Wahrlich gehört. Eine ungewöhnliche Frau, die in ihrer eigenen Vergangenheit gefangen ist und doch fest daran glaubt, dass sich aus dem Chaos eine hellere Zukunft formen lässt. In ihrer Küche wächst eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig Halt gibt. Aber die Schatten der Vergangenheit sind lang: Was geschah mit Giselas Familie? Lebt Gerts kleine Schwester noch? Und was wurde aus den beiden Männern, die Friede einst liebte?

Der berührende neue Roman der Bestsellerautorin über die Suche nach Liebe und Zusammenhalt in einer Welt, die sich neu erfinden muss.

Vita

CARMEN KORN wurde 1952 in Düsseldorf als Tochter des Komponisten Heinz Korn geboren. Nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule arbeitete sie als Redakteurin u.a. für den Stern. Mit Töchter einer neuen Zeit eroberte sie die Bestsellerlisten und die Herzen von Millionen Leser:innen. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2025

Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Karte © Peter Palm, Berlin

Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung Natasza Fiedotjew/Trevillion Images

ISBN 978-3-644-02312-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Oktober 1946

Ganze Tage streifte sie durch die Straßen, die längst noch nicht frei von Trümmern und Schutt waren. Den steinernen Koloss, ihre Schlafstelle seit der Heimkehr nach Hamburg, verließ sie frühmorgens, dann war das Atmen im Bunker schwer geworden, die Luft in dicke Scheiben zu schneiden. Wer liegen blieb auf dem Feldbett, zu erschöpft für einen neuen Tag, der stand vielleicht nicht wieder auf.

«Verseuk to slapen», hatte die Alte auf dem Feldbett neben ihr gestern Morgen gesagt, als Gisela gegen fünf Uhr unruhig wurde und Anstalten machte aufzustehen. Den Kopf hatte die alte Frau geschüttelt ob dieser kindlichen Eile. Am Abend lag sie noch immer da. Nicht länger Schlaf, schon der Tod.

Ein ewiges Gedränge im Bunker, obwohl niemand mehr in die Stadt durfte, der keine feste Bleibe nachweisen konnte. Doch die Unwillkommenen ließen sich nicht abhalten, sie fanden hinein: die Butenhamborger, die nach den Bomben des Juli 1943 evakuiert worden waren. Die Flüchtlinge aus dem Osten.

Das Haus in der Tornquiststraße hatte Gisela seit Tagen im Blick, ihre ersten Schritte am Morgen führten dorthin und ihre letzten am Abend. Heimelig schien ihr das Haus, wenn auch die Fenster im oberen Stock leere Höhlen waren, doch aus denen im Erdgeschoss fiel Licht. Die Kellerfenster waren mit Karton verklebt, einen trockenen Keller vermutete sie dahinter, Einweckgläser darin, das eine und andere noch gefüllt mit Stachelbeeren, Mirabellen, den kleinen Schmorgurken, die hatte ihre Mutter gern eingeweckt. Am Tag des ersten großen Angriffs war es Pflaumenkompott gewesen. Zwölf Gläser hatten auf dem Küchentisch gestanden.

An diesem Dienstag hatte Gisela keine Kraft mehr für die langen Gänge durch die zerstörte Stadt. Das Aufflackern von Erinnerungen, die doch im nächsten Augenblick wieder erloschen. Das stundenlange Anstehen vor dem Suppenkessel der Heilsarmee. Immer in der Angst, aufgegriffen und in ein Waisenhaus gesteckt zu werden. Zu viele Kinder und Halbwüchsige waren allein unterwegs, wurden zwangseingewiesen.

Sie wollte ihr Schicksal in den eigenen Händen halten.

Gisela war vierzehn Jahre alt, ein Alter, in dem der Mensch vieles aushielt. Doch als es anfing, dunkel zu werden, wusste sie, dass sie nicht wieder zurück in den Bunker gehen würde. Da wartete ein anderer Ort auf sie.

 

Aus dem Erdgeschoss des Hauses fiel heute ein helleres Licht als sonst in den kleinen Vorgarten, dessen Rhododendren die Helligkeit auffingen, um frostig zu glitzern. Vielleicht war das ein schlechter Zeitpunkt, in das Gärtchen zu schleichen, eines der Kellerfenster aufzudrücken, ihren dünnen Körper hineinzuzwängen. Gisela stellte sich vor, auf einen Kohlehaufen zu fallen. Damals in ihrem alten Zuhause hatte es einen Kohlehaufen gegeben, der zu glühen anfing, als das ganze Haus über ihnen brannte. Irgendwer hatte das zehnjährige Kind aus dem Keller gezogen.

Wollte sie da wirklich in einen Keller einsteigen?

Der Vorgarten lag jäh im Dunkeln, sie sah zu den Fenstern im Erdgeschoss, kein Licht mehr. Gisela schob den Riemen des Rucksacks über die rechte Schulter und schlich nicht, sie rannte und hoffte, leise genug zu sein, auch noch, als sie mit beiden Händen gegen den Karton drückte.

Das Erste, was sie wahrnahm, war ein Rascheln. Ratten? Die hatte sie hier nicht erwartet. Dann ein Licht, das zu tanzen schien. Doch als die Kartonpappe in den Keller fiel, lag der schwarz vor ihr. Sie tastete nach der Taschenlampe im Anorak, eine angerostete Pertrix, ein Trümmerfund, der ihr in diesem wichtigen Augenblick den Dienst versagte. Der Keller blieb dunkel.

«Bleib, wo du bist.» Eine Stimme, die tiefer klingen wollte, als sie tat.

Gisela ließ sich dennoch ein Stück hinuntergleiten, bis sie Boden unter den Füßen hatte. Das Licht fing erneut an zu tanzen, noch ehe ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Doch dann kam es näher und wurde größer. Eine Sturmlaterne.

«Du bist ja ein Kind», sagte der Junge, der einen Kopf größer war als sie.

«Gibt es hier Ratten?»

«Hast du Angst vor Ratten?»

Gisela schüttelte den Kopf. «Ich bin im September vierzehn geworden.»

«Ich werde sechzehn.»

«Dann sind hier ja keine Kinder», sagte Gisela.

«Ratten mag ich trotzdem nicht», sagte der Junge.

Das Licht der Laterne leuchtete ihr ins Gesicht, streifte die kurzen blonden Haare, glitt dann über den Anorak, dessen Reißverschluss nur noch ein Stück weit schloss, ließ den alten Wollpullover erkennen, dann die Skihose, längst zu kurz geworden, die Stege hingen locker um ihre Knöchel. Nur die Schuhe waren noch nicht verschlissen, Bühnenschuhe aus dem Fundus des Schauspielers, der sie in seinem Buckeltaunus bis nach Kassel mitgenommen hatte auf ihrem Weg aus dem Frankenwald.

«Leuchte dich mal an», sagte Gisela.

«Dubist der Eindringling.»

«Wohnen hier noch andere?»

«Und du? Wo kommst du auf einmal her?»

So ging das nicht voran. Keiner von ihnen gab eine Antwort, die zu etwas führte. «Ich heiße Gisela», sagte sie. «Hab hier in Eimsbüttel gewohnt. Bis zu den großen Bombenangriffen. Danach wurde ich aufs Land verschickt.»

«Wo sind deine Leute?»

Gisela schwieg.

«Sag schon.» Er hielt die Laterne höher. Weg von Giselas Schuhen mit den breiten Gummibändern über dem Rist. Hin zu seinem Gesicht. Als wollte er Vertrauen schaffen. Ein schmales Gesicht. Dunkle glatte Haare, die ihm in die Stirn fielen.

«Hat sonst wohl keiner überlebt.»

«Genauer weißt du das nicht?»

«Nein.»

«Erinnerst du dich nicht an die Nacht?»

Gisela schwieg weiterhin, den Blick nun fest auf ihre Schuhe gerichtet.

Der Junge schüttelte den Kopf. «Komm erst mal mit in die gute Stube», sagte er. Gisela folgte ihm in den hinteren Teil des Kellers. Von der Decke hing eine Lampe, wie Gisela sie aus dem Bunker kannte. Auch das Feldbett sah so aus. Ansonsten wohl Fundstücke aus den Ruinen. Bank und Tisch. Eine kleine angekokelte Kommode mit vier Schubladen. Ein schmaler Schrank.

«Ich heiße Gert», sagte der Junge «Mit t hinten. Setz dich.»

Gisela rückte auf die Bank und stellte den Rucksack neben sich. «Kann ich bleiben?», fragte sie und suchte Gerts Blick.

«Sachte, sachte. Wo warst du denn bis jetzt?»

«Im Bunker in der Sillemstraße.»

Der Blick des Jungen ging zur Lampe an der Decke. Hatte er die im Bunker geklaut? Dass dort dauernd Glühbirnen wegkamen, wusste Gisela. Oft genug hatte sie sich im Dunkeln die Treppen entlanggetastet.

«Ich hab nur die eine Pritsche», sagte er.

«Kann mich auf die Bank legen. Im Rucksack sind noch zwei Pullover.» Sie betrachtete den Jungen. Versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, ob er sie bleiben ließ. Dann wanderte auch ihr Blick. «Ist das Blut auf deiner Jacke?»

«Schlechter Versuch, sie zu färben. Ich hatte an ein vornehmes Purpur gedacht.»

«Wie kommst du an eine Wehrmachtsjacke? Du bist nicht alt genug, um Soldat gewesen zu sein.»

«Das denkst du. Ich war Hitlers letzte Blutreserve. Kannst bleiben. Ist bald zu spät, um noch auf den Straßen herumzulaufen. Das haben die Engländer nicht gern.»

 

Bis zur Vermisstensuchmeldung im NWDR war noch viel Zeit, die kam erst kurz vor Mitternacht zum Sendeschluss. Friede hatte Gert gesagt, dass sie heute nicht im Äther lauschen wolle, lieber früh ins Bett gehen, sich unter die zwei Schurwolldecken legen, eine Erkältung zog heran und kein Schluck Rum im Haus. Nun lag sie hier und konnte nicht einschlafen.

Unten im Keller würde es noch kälter sein. Sie sollte den Jungen öfter hochholen, trotz der Enge, seit ihr die obere Etage abgebrannt war. Gert verpasste die Sendung sicher ungern. Er glaubte doch noch immer, jemand suche nach ihm.

Enge. Marta sagte, sie sei undankbar, so komfortabel wie Friede lebe in all dem Elend um sie herum. Die ewige Marta. Nicht wegzudenken aus Friedes Leben, wenn auch oft weggewünscht, seit sie sich im Altonaer Stadttheater kennengelernt hatten. Friede auf der Bühne, Marta hinter der Garderobe.

Palutke in der Klopstockstraße wohnte vermutlich viel feudaler, was wohl aus ihm geworden war? Ein Schieber? Er hatte schon immer eine gute Nase für Geschäfte gehabt. Die Kleine mit dem Pagenkopf nannte er sie, und Friede war auch auf seinem Mist gewachsen. Vorher hatte sie immer nur Elfriede geheißen. Auf der Bühne und im Leben. Palutke fand Friede feiner. Erst hatte er Friedchen vorgeschlagen. Ging ihm wohl darum, sie zu verniedlichen.

Viel stand sie Palutkes Geschäftsgeist nicht nach. War ihr doch gelungen, einem Verehrer so viel Liebe und Treue vorzugaukeln, dass er ihr das Haus hier vermachte. Und glücklich in ihren Armen starb. 1926 war das gewesen und sie vierundvierzig Jahre alt. Aber bella figura. Wer hatte das gesagt? Der kleine Mailänder? Zwanzig Jahre war das nun her und sie vierundsechzig. Fühlte sich fast älter an, kein Wunder nach sechs Jahren Krieg. Wo waren sie alle hin, die Männer?

Schade, dass sie längst schon die Röhrchen mit dem Rum-Aroma geleert hatte, statt damit Kuchen zu backen. Tropfen auf den heißen Stein, die zu trinken. Wären im Kuchen nützlicher. Aber egal. Ohnehin waren keine Eier zu bekommen. Geschweige denn Butter. Was waren das für Torten gewesen früher. Und Feste. Allen voran die Künstlerfeste im Curiohaus in Rotherbaum. Palutke immer dabei. Der wohnte da ja um die Ecke.

Friede Wahrlich lauschte. War das ein Lachen aus dem Keller? Lachte der Junge? Allein vor sich hin? Das war bedenklich.

Morgen würde sie Gert fragen, was es denn zu lachen gab. In ihrem Haus. Einfach so. Da wollte sie doch mitlachen.

 

Gert war überrascht vom eigenen Lachen. Er verstand sich eigentlich mehr aufs Grinsen, das im linken Mundwinkel stattfand und ihm eine sarkastische Note verlieh. Jedenfalls hoffte er das. Lieber nicht bei Gefühlen erwischt werden in diesen verlustreichen Zeiten.

Den frühen Abend hatte er in trübsinniger Laune verbracht, nachdem Friede das spätabendliche Treffen abgesagt hatte. Ihn quälte der Gedanke, die Suchmeldung seiner Mutter könnte justament heute gesendet werden. Endes, Gert, geboren am 11.12.30 in Falkenstein, Vogtland. Letzte Heimatadresse: Plauen. Wir bitten die Hörer, die Auskunft über den Verbleib des Genannten geben können, sich an die Suchdienststelle zu wenden. Nun würde sich die Suche nach ihm versenden.

Dann war ihm diese Gisela in den Keller gefallen.

Sie hatte ihn abgelenkt. Mit ihrer Schilderung, wie sie aus Franken nach Hamburg zurückgekehrt war. Im Kübelwagen. Dem Buckeltaunus. Den Jeeps. Und zu Fuß.

Ihre Schuhe mit den breiten Gummibändern sahen nicht nach langen Wanderungen aus, eher nach rhythmischer Gymnastik.

«Das sind die Schuhe vom kleinen Muck», hatte Gisela gesagt. «Aus dem Fundus vom Schauspieler, in dessen Taunus ich mitgefahren bin.»

«Der kleine Muck? Der hatte doch Pantoffeln, in denen er so schnell lief, dass er der Oberleibläufer des Sultans wurde.»

«Du kennst dich aus», sagte Gisela. «Aber beim Schauspieler hatte Muck diese Schuhe an. Bis sie das Stück abgesetzt haben, weil der Muck davongelaufen war.»

Sie hatten gelacht. Ein bisschen übertrieben, ihr Gelächter. Doch es tat gut nach all dem Nichtlachen. Gert zeigte zur Kellerdecke. «Da oben wohnt Friede, die war mal Schauspielerin», sagte er. «Den Muck wird sie aber kaum gespielt haben. Ihr gehört der Keller und was sonst vom Haus noch übrig ist.»

Das Licht im Erdgeschoss, das Gisela so lockend erschienen war.

Gert zog an einer der Schubladen der angekokelten Kommode und holte einen Kanten Brot und ein Fahrtenmesser hervor. «Da lässt sich noch was schnitzen. Was ist mit deiner Hungerkarte?»

Gisela hob die Schultern.

«Sag bloß, du hast keine. Da brauchst du doch nur aufs Ernährungsamt zu gehen.»

«Um dann in ein Heim gesteckt zu werden?»

«Haben die mich auch nicht. Ich hab noch einen Rest Margarine.»

«Lass mal. Ich hatte heute schon Suppe bei der Heilsarmee. War sogar Wurst drin.»

«Du siehst auch kolossal überernährt aus.» Gert fand in der unteren Schublade, was er suchte. Einen Tiegel aus Steingut. Holzbrettchen. Ein Hindenburglicht. «Gleich kommt die Kartonpappe wieder vors Fenster. Die strömen ja sonst in Scharen herein bei all der Gemütlichkeit, die wir verbreiten.»

«Gibt es hier eine Treppe?»

«Klar gibt es die. Denkst du, ich klettere tagtäglich durchs Kellerfenster? Wärest du hinters Haus, hättest du sie gesehen. Direkter Zugang vom Garten.»

«Und du hast den gleich gefunden, weil du noch ein paar Blumen für die Hausherrin pflücken wolltest, bevor du ihren Keller besetzt?»

Gert seufzte. «Fing alles mit Friedes Freundin Marta an, die hat mich an den Landungsbrücken aufgegabelt und wollte mir irgendein Fundstück andrehen, das sie gerade aus den Trümmern gezogen hatte. Sonst gehe sie damit zu Friede, hat sie gesagt. Die sammle alles, was der Wind vor sich hertreibe. Ich könnte auch mitkommen. Friede sei nicht mehr die Jüngste und hätte sicher nichts dagegen, einen Jungen im Keller wohnen zu lassen, der ihr zur Hand ginge.»

«Und Friede hat dich mit offenen Armen empfangen?»

«Sie hat mir den Keller gezeigt und war wohl ganz dankbar, nicht länger allein im Haus zu sein bei all dem Gelumpe, das sich herumtreibt auf den Straßen.»

«Gelumpe», sagte Gisela.

«Nimm es nicht persönlich.»

«Bist du an den Landungsbrücken von einem Schiff gegangen?»

«Ich wollte auf eines drauf. Als Tonne Eisenschrott wäre mir das auch gelungen. Aber Passagierdampfer gab es keine. Die gibt es gerade nur in Bremerhaven. Nimm mal den Rucksack runter.» Gert rückte zu ihr auf die Bank. Schob eines der beiden Brettchen hinüber. «Messer hab ich nur das eine. Ist ein Einpersonenhaushalt hier.»

«Wo wolltest du mit dem Schiff hin?»

«Amerika.»

«Und wo kommst du her?»

«Aus Plauen. Da sind jetzt die Russen.»

«Wen hast du in Plauen zurückgelassen?»

«Da war keiner mehr. Alle weg. Wie das Haus meiner Oma, in dem sie drin waren, als eine Bombe drauffiel kurz vor Schluss.»

«Dann sind wir zwei Waisenkinder.»

Gert schüttelte den Kopf und strich ein wenig von der Margarine auf den Brotkanten.

«Ich hab den KleinenMuck 1941 im Theater gesehen», sagte er dann. «Mit meiner Schwester Barbara. Aber die hat sich gefürchtet. Sie war da erst drei.»

 

Als Gisela aufwachte, war sie allein. Die Knochen taten ihr weh, die Bank eignete sich kaum zum Schlafen. Sie setzte sich auf und blickte zum leeren Feldbett.

Ein fahles Licht im Keller, vielleicht gab es ein Fenster zum Garten.

Gestern hatte sie im Dunkeln nur in den Nachttopf gepinkelt, der neben dem Handstein stand. Der Wasserkran über dem Handstein war hoch genug, um eine große Gießkanne darunterzustellen. Dann war sie nach vorne getapert. Gert schlief schon. Das Ticken des Weckers neben dem Feldbett schien ihn nicht zu stören.

Sie hatte eine Weile wach gelegen. Gegrübelt, ob sie bleiben wollte. Bleiben durfte.

Der Keller war ein guter Ort im Vergleich zu den Notquartieren, die sie in den letzten Wochen gesehen hatte bei ihren Gängen durch die Stadt.

Waisenkinder hatte sie sich und Gert genannt. Stimmte das? Am dritten Tag ihrer Rückkehr nach Hamburg war sie zum Eimsbütteler Markt gegangen. Die Trümmer des vierstöckigen Hauses waren weggeräumt, davor ein Bretterzaun. Die Wäscherei an der Ecke gab es nicht mehr, auch nicht den Friseur, bei dem sich ihre Mutter Wasserwellen hatte legen lassen. Ihren alten Schulweg durch die Lappenbergsallee war sie gegangen, doch auch die Volksschule in der Methfesselstraße existierte nicht länger. Dann hatte sie ihrer alten Gegend den Rücken gekehrt. Diese Erinnerungen taten ihr nicht gut im Kampf ums Überleben.

Tatsächlich ein Fenster zum Garten hin, durch das Licht fiel. Kahle Sträucher. Keine Rhododendren. Gisela drückte auf die Klinke der Tür, die nachgab. Ihr Blick fiel auf den Nachttopf, wurde der im Garten geleert? Sie entschied, sich erst einmal am Handstein zu waschen, holte dann den Kamm aus dem Rucksack. Den Pullover mit den grob aufgestickten Edelweiß. Schließlich öffnete sie die Tür, stieg Stufen hinauf und leerte den Topf aus angeschlagenem Emaille unter einem Strauch. Aus einem Fensterspalt kamen Stimmen. Wurde über ihr Bleiben verhandelt? Sie verbot sich zu lauschen. Das Urteil über ihre nächste Zukunft hörte sie früh genug. Gisela ging die Stufen hinunter, um den Nachttopf gründlich auszuspülen.

 

«Und nun stellst du dir vor, dass sie mit dir im Keller wohnen kann. Dann werde ich wohl wegen Kuppelei angeklagt.» In Friedes Ohr war wieder Martas Stimme, die zur Barmherzigkeit riet, mit denen, die es schlechter getroffen hatten als sie. Warum eigentlich? Weil ihr das Erdgeschoss geblieben war? Der Keller? Das Gestrüpp hinterm Haus? Aber die guten Möbel oben verbrannt. Wenn sie nur an die Frisiertoilette dachte. Drei fein geschliffene Spiegel. Wobei sie zugeben musste, dass es guttat, den Jungen im Haus zu haben. Auch wenn sie nicht länger den Gedanken hegte, Gert könne ihr die ausgebrannte obere Etage aufbauen. Ein Handwerker war er nicht. Aber ein feinsinniger Junge. Ein Wunder, dass ihm die Feinsinnigkeit nicht abhandengekommen war, bei allem, was er erlebt hatte.

«Führ mir die Kleine mal vor», sagte Friede. «Wenn du vom Schwarzmarkt kommst, ich habe eine Einkaufsliste für dich.»

«Und was habe ich anzubieten?», fragte Gert.

Friede legte dreißig Reichsmark aufs Radio. Die Scheine hatte sie im Schrank gefunden, als sie am Abend nach den Röhrchen mit dem Rum-Aroma gesucht hatte.

«Dafür bekomme ich höchstens eine Schachtel Süßstofftabletten.»

«Guck, ob du Lutschpastillen kriegst. Am besten Silargetten. Die Erkältung sitzt mir nun im Hals. Und nimm die Kuckucksuhr mit, die Marta angeschleppt hat. Gisela soll dich begleiten. Was weißt du eigentlich von ihr?»

Was wusste er von ihr? Wie glaubhaft schien ihm, dass sie nicht sicher war, ob ihre Familie bei den Bombenangriffen ums Leben gekommen war? Da mussten doch noch frühere Nachbarn zu finden sein und Schulfreundinnen, die was wissen konnten. Das hier war Giselas Heimatstadt, die sie erst vor drei Jahren verlassen hatte.

Er hatte sofort nach seiner Entlassung aus dem Lager in den Scherben gesucht. Die Russen hatten ihn nach Hause geschickt, nachdem der Lagerärztin zu Ohren gekommen war, der Kriegsgefangene Gert Endes sei noch keine fünfzehn Jahre alt.

Der erste Weg hatte ihn nach Plauen geführt. Von den Nachbarn hatte er vom Tod seiner Oma gehört und deren Grab auf dem Friedhof gefunden. Von ihnen auch erfahren, dass Mutter und Schwester verschüttet worden waren beim letzten und schwersten Angriff auf Plauen in der Nacht vom 11. April 1945.

Lebend waren sie aus den Trümmern gezogen worden und dann ins Lazarett gekommen. Noch bei den Deutschen? Den Amerikanern? Hatten Barbara und seine Mutter ihre Verletzungen überlebt? Waren sie aus dem Lazarett entlassen worden?

Im Februar 1946, als er in Plauen ankam, war das alles lange her, die Leute hatten andere Sorgen. Die amerikanischen Truppen waren von den Russen abgelöst worden. Viele Plauener hatten schon ihre Rucksäcke gepackt, um über die grüne Grenze nach Bayern zu gehen.

Friede lenkte Gerts fernen Blick auf sich. «Worüber habt ihr gelacht gestern?»

«Gelacht?» Gert kam nur langsam aus seinen Gedanken. «Ach, das war nur wegen des kleinen Muck», sagte er. «Darf Gisela nun bleiben? Sie kennt sicher noch andere Märchen von Hauff. Das könnte doch gemütlich werden.»

«Ich sehe sie mir an», sagte Friede. Der Junge klang hoffnungsvoll. Vielleicht war es ja gut, sich mit jungen Menschen zu umgeben, wenn man nun anfing, alt zu werden.

 

«Friede will, dass wir zum Schwarzmarkt hinterm Schauspielhaus gehen», sagte Gert, während sie Richtung Neuer Pferdemarkt liefen. «Doch das ist viel zu weit. Wir versuchen es in der Susannenstraße.» Die Kuckucksuhr trug er in dem alten Tornister, den er dabeigehabt hatte, als er im April 1945 mit einer Gruppe von Schulkameraden nach Pommern abkommandiert worden war, die Stadt Pyritz zu verteidigen. Die Geschosse der Stalinorgeln zischten ihnen um die Köpfe, kaum dass sie Stellungslöcher gegraben hatten. Nicht viele überlebten diesen ersten Kriegseinsatz. Die es taten, wurden Gefangene der Russen.

Eines der wenigen Wunder im Leben des Gert Endes, den alten Tornister durch Krieg und Gefangenschaft bis nach Hamburg zu tragen und ihn noch immer in seinem Besitz zu wissen.

«Glaubst du, irgendwer will eine Kuckucksuhr?», fragte Gisela.

«Warum nicht. Hoffnung auf Heimeligkeit.»

«Den Leuten fehlen doch die Wände für eine Kuckucksuhr», sagte sie.

«Hm», sagte Gert. «Versuchen wir es mal. Bücklinge stehen auf der Liste. Butter und Speck hat sie sich wohl aus dem Kopf geschlagen. Die Butter kriegst du nicht unter zweihundert Reichsmark das Pfund. Und eine Glühbirne will sie. Eine starke.»

«Seit wann bist du eigentlich bei ihr?»

«Im April bin ich gekommen. Kennst du dich in der Schanze aus?»

Gisela schüttelte den Kopf.

«Zeig mir demnächst mal, wo du gewohnt hast in Eimsbüttel.»

«Da ist ähnlich viel zu sehen wie dort.» Sie wies auf Bretterzäune, die vor den Trümmergrundstücken des Neuen Pferdemarktes standen. «Misstraust du mir?»

«Warum sollte ich? Dachte nur, dass du es bist, die aus Hamburg kommt. Würde gerne mit dir auf Spurensuche gehen und noch was lernen dabei.»

«Was ist mit deiner eigenen Spurensuche?»

«Nichts gefunden. Und danach wollte ich nur noch weg von den Russen.»

«Gestern hatte Friede wohl eine starke Glühbirne in ihrer Lampe. Es war auf einmal viel heller in eurem Vorgarten.»

«Eine Vorkriegsbirne, die sie hervorgekramt hat. Ist aber gleich durchgebrannt, das Ding. Jetzt soll ich ihr eine neue besorgen. Als wäre der Schwarzmarkt Julius Tietz.»

«Julius Tietz?»

«Der hatte ein Kaufhaus bei uns in Plauen. Später hieß es Haus Vogtland. Kann mich kaum erinnern, aber meine Mutter hat oft davon gesprochen. Da konntest du alles kaufen.»

Sie bogen von der Schanzenstraße in die Susannen ein, in der zu Giselas Erstaunen noch bewohnte Häuser standen, nicht nur leere Fassaden. In den Eingängen drückten sich Männer und Frauen herum, guckten zu Fenstern hoch, als hätten sie geklingelt und keiner mache auf. Links und rechts der Straße Passanten, die ab und zu stehen blieben und ins Gespräch kamen.

Das war der Schwarzmarkt? Hatte Gisela ihn sich vorgestellt wie den Fischmarkt am Hafen, auf dem sie als kleines Mädchen einen Wellensittich hatte aussuchen dürfen, der sein seliges Ende vor jener Bombennacht gefunden hatte?

Erinnerungen, die als Schatten vorbeihuschten.

«Der Schwarzmarkt hinterm Schauspielhaus ist munterer», sagte Gert. «Halt mal an. Da drüben steht der Drogist.» Er näherte sich einem Mann im langen Mantel. Gisela hielt sich abseits und hörte nichts von der Flüsterei. Scheine wurden gegen ein flaches rot-gelbes Blechdöschen getauscht: die von Friede erhofften Halstabletten zur Desinfektion von Mund- und Rachenhöhle.

«Kuckucksuhr», sagte Gert leise zu dem einen und anderen in den Haustüren. Von allen nur ein Kopfschütteln. Auch als Gisela es auf der anderen Straßenseite flüsterte.

Mit den Silargetten und vier Bücklingen, die das dünne Papier der Hamburger Volkszeitung vollfetteten, in das sie gewickelt waren, traten sie den Weg zurück in die Tornquiststraße an. Glühbirnen waren keine zu bekommen gewesen. Nicht mal welche mit 15 Watt.

 

«Die Zeitung der Kommunisten», sagte Friede, als sie die eingewickelten Bücklinge an sich nahm. «Die hat Franke immer gelesen, bis sie 1933 verboten wurde. Nun gibt es die Volkszeitung ja wohl wieder. Dass es den Viktor Franke noch gibt, nehme ich mal nicht an.»

«Ich höre zum ersten Mal von Franke», sagte Gert. «Wer ist das?» Er blickte dem Päckchen mit den Bücklingen nach, das Friede auf das kalte Sims des Küchenfensters legte. Wollte sie die Fische denn nicht mit ihnen teilen?

«Von Palutke hast du aber schon gehört? Franke war sein Gegenspieler.»

Gert zog die Augenbrauen hoch.

«Um meine Gunst», sagte Friede. «Aber dann kam er ins KZ.» Sie drehte sich zu Gisela um. «Setz dich, Kind. Aufs Kanapee. Wie heißt du mit ganzem Namen?»

«Gisela Ladelund.» Gisela nahm auf dem mit Chintz bezogenen Kanapee Platz, dessen Rosen rissig geworden waren, sie blickte sich in der großen Küche um.

«Ins KZ?», fragte Gert. «Weil er Kommunist war?»

«Schlimmer. Er war Jude.» Sie sah Gisela an. «Ladelund sagst du?»

«Sagt dir der Name was?», fragte Gert.

«Ich denke drüber nach», sagte Friede. «Du hast einen guten Kopf, Kind.»

Um Hüte zu tragen? Ihn in Ton zu modellieren? Gegen die Wand zu laufen?

«Könntest die Jungfrau von Orléans spielen.»

Gerts Gesichtsausdruck zeigte ernste Zweifel an Friedes Verstand.

«Einen Heldinnen-Kopf. Ich war immer nur die Salondame. In jungen Jahren schon. Das hatte mir schon der alte Dimdat gesagt, mein Schauspiellehrer, dass es nichts werden wird mit den Heldinnen. Hab eben nicht den richtigen Kopf dafür.»

«Kann Gisela bleiben?» Der Augenblick schien Gert günstig.

Friede nickte. «Vorerst.» Sie wies auf das Zeitungspapierpäckchen auf dem Küchensims. «Leg mir zwei Bücklinge auf einen Teller. Die beiden übrigen nehmt mit in euren Keller. Und guck mal im Schuppen nach, ob da nicht noch einer von den alten Liegestühlen steht. Lässt sich doch drauf schlafen.»

Gert wusste nichts von einem Schuppen. Wenn es ihn gegeben hatte, dann war er längst zu Kleinholz geworden und in den Öfen der Nachbarschaft verbrannt.

Sie schien seinen fragenden Blick zu bemerken. «Am Ende des Grundstücks. Dachte, du streifst da herum.»

So groß war der Garten nicht, um herumzustreifen. Er würde vermutlich nur noch die Umrisse vom Schuppen finden. Jedenfalls keine Liegestühle.

«Ich guck mir den Garten mal genauer an», sagte Gert, als sie auf dem Weg zur Kellertreppe waren. Er gab das Päckchen mit den Bücklingen an Gisela weiter. «Vielleicht finde ich einen Schatz.»

 

Die Rolle der guten Seele gefiel ihr. Hoffentlich kam sie zu Glanz damit. Sie hatte verdient, mal wieder Applaus zu hören und nicht nur die strengen Stimmen des griechischen Chors, den Marta anführte.

Was sollte sie nun von dieser Gisela halten?

Ladelund. Woher kannte sie den Namen? Ein Redakteur beim Hamburger Anzeiger? Einmal hatte sie Franke in die Redaktionsräume am Gänsemarkt begleitet, ein kleiner Umtrunk im Feuilleton. Nicht lange danach war die Zeitung gleichgeschaltet worden, ihr wäre das kaum aufgefallen, Franke schon, der hatte Theaterkritiken geschrieben.

Oder war Ladelund einer der Goldfasane in Eimsbüttel gewesen? So hatte man hinter vorgehaltener Hand die Wichtigtuer der NSDAP in ihren hellbraunen Uniformen mit den blinkenden goldenen Abzeichen genannt.

Da hatte das rote Eimsbüttel gestaunt, wie schnell die Nazis ihr Fangnetz über das Viertel geworfen hatten. Statt der Fahnen mit Hammer und Sichel hingen bald die Fahnen mit den Hakenkreuzen in den Fenstern. Ihre war nur ein Fähnchen gewesen, oben im ersten Stock am Balkon hatte es gehangen, und auch nur, weil Palutke so drängelte, sie müsse sich mal bekennen.

Friede nahm den Teller mit den Bücklingen vom kalten Herd. Gekocht hatte sie nie auf dem gusseisernen Ungetüm, auch nicht, als es Briketts satt gab. Da hatte sie sich lieber vom Fischhändler Schlüter in der Schwenckestraße eine Platte mit feinen Räucherfischen bringen lassen oder auch mal was vom Schlachter, wenn sie Besuch bekam. «Die Königin der kalten Platte», hatte Palutke gesagt.

Sie betrachtete die Bücklinge. Die würden ihr schwer im Magen liegen ganz ohne Brot. «Der praktische Arzt», sagte sie laut, als sie einen Zwieback fand. «Der war’s. In der Emilienstraße.» Sie setzte sich mit ihrem Teller an den Küchentisch. Dann fiel ihr ein, dass der Arzt Landauer geheißen hatte und schon in den frühen Dreißigerjahren nach England gegangen war.

 

Gert hockte im Gestrüpp und griff in die Schottersteine, die wohl einmal das Fundament des Schuppens gewesen waren. Schwarze große Käfer liefen darin herum, die Temperaturen würden ihnen wohl bald den Garaus machen. Und ihm und Gisela auch, wenn ihnen nicht gelang, den Keller vor der Kälte zu schützen.

Er stand auf und blickte zum hinteren Küchenfenster. Glaubte Friede denn noch immer, den Schuppen in dem Gestrüpp zu erkennen?

Die obere Etage des Hauses ließ sich kaum mehr wunschdenken. Da gab es nur verrußte Mauern mit leeren Fensterhöhlen. Der Boden war noch vorhanden, wenn auch mit deutlichen Brandspuren. Das Feuer war in der Bombennacht gelöscht worden mit dem Wasser aus Eimern und dem Gartenschlauch. So hatte es Friede erzählt. Aber nicht, wer in jenem Juli das Erdgeschoss und den Keller davor bewahrt hatte, ebenfalls in Flammen aufzugehen. Friede sagte, sie habe in der ersten Nacht der großen Angriffe aushäusig geschlafen.

Ihre Geschichten waren immer nur halbe Geschichten. Wie die Geschichte von Palutke und Franke. Ausflüge in eine Vergangenheit, auf die sie nicht festgelegt werden, aber über die sie gern reden wollte.

Gisela erzählte weder Wahrheiten noch Geschichten. Sie schwieg einfach. Weil sie sich nicht erinnern konnte? Oder weil sie es nicht wollte? Zehn Jahre alt war sie gewesen, als sie aus dem Keller gezogen wurde. Längst kein Kleinkind mehr.

Gert bückte sich noch einmal in Gedanken an den dahingegangenen Schuppen, vielleicht konnte er im Frühjahr an der Stelle ein Plumpsklo bauen. Sein Vater hatte mal eines in ihrem Schrebergarten gebaut, bevor der Krieg anfing. Wenn Gisela blieb, dann ging das nicht länger mit dem Nachttopf. Oder es musste ein zweiter her. Wollte er, dass sie blieb?

Etwas lag da in den dunklen Schottersteinen. Was er herauspflückte, war dreckig und grau. Er rieb das Ding am rauen Stoff seiner Wehrmachtsjacke, bis es sauberer wurde und glänzte. WHW 1940/41. Eine Anstecknadel der Winterhilfe. Aus Zink. Die sollte wohl das Hamburger Rathaus darstellen.

 

«Hast du den Schatz gefunden?», fragte Gisela.

«Ich hab was zum Tauschen gefunden. Könnte einem Tommy gefallen, besser noch wäre ein Ami. Die lassen sich den Krimskrams der Nazis was kosten.»

«Zeig her.» Gisela trat heran. Ihre Hände rochen nach Bückling.

Jetzt erst sah er, dass sie einen der Bücklinge gehäutet und auf die beiden Holzbrettchen verteilt hatte. Daneben lag das letzte Stück vom Kanten Brot und sein Fahrtenmesser. Sie musste es aus der Schublade geholt haben. Störte ihn das? Oder gefiel es ihm sogar, dass sie sich so selbstverständlich bewegte in seinem Keller, in dem er bislang allein gewesen war?

«Was hast du mit dem Kopf und der Haut gemacht?»

«Zum zweiten Bückling in die Zeitung getan. Da kochen wir eine Suppe draus.»

Gert nickte. «Gut», sagte er. «Wir sollten eine Brennhexe auftreiben.»

«Besser noch einen Kanonenofen. Ich finde, es wird stündlich kälter.»

«Und das Rohr führen wir zum Fenster raus?»

«Das machen viele Leute. Nun zeig schon den Schatz.»

Gisela nahm die Anstecknadel aus Gerts hohler Hand. Sie schwieg zu dem Bild in ihrem Kopf. Ein roter Kindermantel. Der Kragen mit schwarzem Samt abgesetzt. Keine Erinnerung zu haben, fiel ihr leichter.

«Winterhilfe», sagte Gert. «1940/41.» Er wurde ungeduldig. Warum hielt ihr Schweigen an? Das waren nun nicht die Orden von Hermann Göring.

«Ich hatte so eine Anstecknadel am Kragen meines Mantels. Da war ich acht Jahre alt. Mein Vater hatte sie einem Hitlerjungen abgekauft, der auf dem Jungfernstieg für die Winterhilfe sammelte.»

«Du erinnerst dich also doch.»

«Da blitzt mal was auf.»

«Dein Vater war damals auch in eurem Keller?»

Gisela schüttelte den Kopf.

«Nur deine Mutter und die Nachbarn?»

«Ich glaube, ja. Doch ich weiß es nicht mehr.»

Da gab es doch ein Wort für diesen Gedächtnisverlust. Amnesie. Ein Wort, das Gert sich eingeprägt hatte, als der Mann auf der Suchdienststelle in Plauen davon sprach, seine Mutter und seine Schwester könnten nach dem Verschüttetsein unter einer Amnesie leiden und gar nichts mehr von ihm wissen.

«Darf ich sie behalten, die Anstecknadel?»

«Wir könnten dafür genug kriegen, um in ein zweites Feldbett zu investieren.»

«Gut. Das ist wichtiger.»

Gert zögerte. «Behalt sie», sagte er dann. «Wir finden schon noch einen Diwan für dich. Der Anstecker kann deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Kennst du den Suchdienst vom Roten Kreuz im Altonaer Amtsgericht? Die haben Hunderte Kästen voller Karteikarten. Vielleicht sucht ja schon einer nach dir.»

«Du hast da eine Karteikarte?»

«Meine Mutter und meine Schwester haben eine. Ihre Namen beim Roten Kreuz zu hinterlassen, war ziemlich das Erste, was ich getan habe, als ich hier ankam.»

«Sehe ich keinen Sinn drin. Ich weiß, dass sie tot sind.»

«Woher denn? Du erinnerst dich doch an kaum was.»

«Lass uns den Bückling essen», sagte Gisela.

«Von mir aus kannst du mit vollem Mund sprechen. Hauptsache, du sprichst.»

Gert nahm den Kanten Brot, der steinhart geworden war, und versuchte, ihn mithilfe des Fahrtenmessers zu teilen.

«Leg das Messer lieber weg. Du verletzt dich bloß.» Gisela rückte auf die Bank.

Gert schob ihr den Kanten Brot hin. «Du hast die jüngeren Zähne», sagte er. Ihm kam der Gedanke, dass Gisela ihre Leute gar nicht finden wollte. Doch er schwieg, viel zu abwegig schien ihm das.

«Ich habe Pflaumen entsteint. Das ist das Einzige, was ich noch weiß von dem Sonnabend, an dem dann nachts die Bomben fielen. Und dass am Abend Gläser mit Kompott in der Küche standen.»

Sie fingen an zu essen. Ohne viel Aufmerksamkeit für die gute Mahlzeit. Erst nach der dritten Gabel gelang ihnen, den Bückling zu würdigen. Da war er fast schon aufgegessen.

«Hat deine Mutter dich aus dem Bett geholt, als die Sirenen heulten? Seid ihr dann zu zweit in den Keller? Ihr habt da doch sicher nebeneinandergesessen.»

«Hör auf mit deinen Fragen. Du quälst mich.»

«Ich will verstehen, warum du sie für tot erklärst, ohne das zu wissen.»

«Weißt du denn, ob deine Mutter und deine Schwester leben? Du willst nur nicht wahrhaben, dass sie wahrscheinlich tot sind.»

Gert ließ die leere Gabel in der Luft hängen. «Halte du für tot, wen du willst», sagte er. «Doch dir steht nicht zu, das von meinen Leuten anzunehmen.»

«Dann bohre du nicht dauernd nach meinen Erinnerungen.»

Was riskierte sie da? Dass sie die Tage wieder auf der Straße verbrachte und die Nächte im Bunker? Das hatte hier doch gut begonnen mit ihnen.

Gert stand auf. «Ich bringe mal in Erfahrung, ob ich heute die Suchmeldungen hören kann», sagte er. «Bin da leider kolossal abhängig von Friede. Kurz vor Mitternacht ist ja auch eine Unzeit für eine ältere Dame, und wenn sie hundert Mal behauptet, sie sei in ihrem Leben selten vor zwei Uhr früh ins Bett gekommen.»

«Willst du, dass ich gehe, Gert? Du hast hier gut allein gelebt. Und nun teilst du alles mit mir. Den letzten Kanten Brot. Deinen ganzen Besitz samt Nachttopf.»

«So viele Herbergen stehen dir nicht zur Verfügung.»

«Ich bin bisher durchgekommen.»

«Draußen ist Winter.»

«Drinnen auch.»

«Deine Idee mit dem Kanonenofen ist gut. Jenseits der Grindelallee stehen noch ein paar stattliche Trümmer. Vielleicht findet sich dort einer.»

«Du schlägst vor, dass wir es uns hier gemütlicher machen?»

«Ich bitte dich zu bleiben», sagte Gert.

November 1946

Die verdammte Kälte. Wer hätte gedacht, dass sie schon in den ersten Tagen des Novembers einsetzte, noch hatte Gert keinen Kanonenofen entdecken können, der nicht nur aus rostigen Einzelteilen bestand.

Der ächzende Handwagen, den er hinter sich herzog, gehörte Marta. Morgen wollte sie mit dem Wagen zum Bauern in die Vierlande, um Kohlköpfe gegen eine Schachtel voller Knöpfe zu tauschen, ein paar aus Perlmutt dabei, einer ihrer Trümmerfunde.

Er war da weniger talentiert. Gestern hatte er in der Nähe eines Trampelpfades eine Wehrmachtsdecke gefunden, die er über Handwagen und Ofen hatte werfen wollen, um ihn vor gierigen Blicken zu schützen, sie stank erbärmlich.

Die graue Decke lag nun steifgefroren im Wagen, er hatte sie in der Nacht in den Garten geworfen, Gisela war übel geworden von dem Gestank. Wieso gelang es ihm, den Ekel auszuhalten? Weil er in Russland durch Dreck und Blut gewatet war? Während Gisela es reinlich gehabt hatte im Frankenland?

Er hatte Gisela schlafen lassen, als er am Morgen das Haus verließ. Sollte sie erst einmal zu Kräften kommen nach der Kotzerei. Wenigstens war genügend Wasser in der Leitung gewesen, um alles wegzuwischen. Demnächst würde die wohl einfrieren.

Die Keller der Häuser in Harvestehude waren längst nicht so ergiebig, wie er es gehofft hatte. Andere waren vor ihm auf die Idee gekommen, dort zu plündern. Die Ausbeute des gestrigen Tages war der Holzdeckel einer Weinkiste gewesen, in dem der Name des Rheingauer Winzers eingebrannt war. Friede hatte den Deckel noch am Abend verheizt.

Gert stand vor dem Haus in der Parkallee und hielt den Griff des Handwagens umklammert, kurz davor, den Plan aufzugeben. Er blickte hoch, um den Zustand der Trümmer einzuschätzen, den einstigen Grundriss des Hauses zu erkennen.

Gab es noch eine Treppe, auf der er sich durch die Etagen des rechten Flügels hangeln konnte? Gelang ihm von dort, das Obergeschoss in der Mitte des Hauses zu erreichen, dessen Dach zur Hälfte eingestürzt war?

Vielleicht nur eine Sinnestäuschung, aber er glaubte, an einem der leeren Fenster unter dem halben Dach ein Ofenrohr zu sehen.

Er hatte den Krieg überstanden. Verspielte er sein Leben jetzt für einen Ofen?

Den Handwagen stellte er da ab, wo wohl der Windfang gewesen war. Ein Aufstieg über kaum vorhandene Stufen. Lose Steine, von denen er kleine Lawinen lostrat. Kalk, der ihm ins Gesicht fiel. Abgerissene Kabel, die ihn stolpern ließen.

Der starke Drang, umzukehren, der Tollkühnheit ein Ende zu setzen. Eine letzte Treppe zum Obergeschoss. Eine Tür, die in den Raum hineinfiel, als er gegen sie stieß. Hohe Fenster ohne Glas und Rahmen. Zerbrochene Dielen. Dachziegel und Brocken vom Mauerwerk lagen darauf. Am vorderen der Fenster stand das Rohr.

Ein Rohr ohne Ofen.

Beim Abstieg hielt er das Eisenrohr in den Armen, als habe er ein Kind geborgen. Beim Handwagen angekommen, zitterten ihm die Knie so sehr, dass er sich für eine Weile an eine heile Wand lehnte, bevor er den nächsten Schritt wagte. Vor dem Haus schlug er das Kreuzzeichen wie damals, als er ein Kommunionkind gewesen war in der Herz Jesu Kirche in Plauen.

Ein weiteres Mal dankbar, überlebt zu haben. Sieger und Verlierer.

 

Welch ein grauer Tag, die Wolken hingen schwer. Wollte es denn schon an Allerseelen schneien? Friede sah zum vorderen Fenster hinaus, ihre Laune wurde kaum besser, als sie Marta erkannte, die zur Haustür abbog. Da war doch wieder ein schweres Teil in ihrer Basttasche. Diesmal ließ sie sich nichts andrehen von Marta. Ein ganzes Glas Kunsthonig hatte sie ihr für die Kuckucksuhr gegeben, die hier wie Blei lag. Dabei hatte Marta die Uhr angepriesen, als ließe sich damit der halbe Schwarzmarkt kaufen.

«Hattest du nicht vor, Kohlköpfe bei deinem Bauern zu tauschen?», fragte Friede, kaum dass Marta im Flur stand. «Wie ein Wirsing sieht das nun nicht aus in deiner Tasche.»

«Dahin gehe ich morgen. Der Junge hat den Handwagen. Ist er schon zurück?»

«Weiß ich nicht. Da musst du im Keller nachgucken.»

«Da sind wir ja gut drauf heute. Dabei bringe ich dir was Schönes mit.»

«So wie die Kuckucksuhr? Die kannst du gleich wieder mitnehmen. Die will keiner.»

Marta ging an Friede vorbei in die Küche. «Hänge sie doch zwischen die zwei vorderen Fenster. Das ist gemütlich und macht was her.»

«Das fehlt mir noch, dass ein Kuckuck Tag und Nacht ruft.»

«Kriege ich eine Tasse Kaffee?»

«Du könntest mal echte Bohnen bringen.»

«Die findet man nicht in Ruinen.»

«Kannst einen Muckefuck haben. Beste Gerste. Zieh mal deinen räudigen Fuchs aus und setz dich aufs Kanapee.»

«Überheizt ist es nicht bei dir», sagte Marta, nachdem sie ihren Mantel an den Haken im Flur gehängt hatte. «Klaut der Junge keine Kohlen?»

«Gestern hat er mir einen soliden Holzdeckel von einer Weinkiste gebracht.»

«Wenn er einen Ofen gefunden hat, habt ihr viel Brennstoff nötig. Wie geht es denn mit dem jungen Volk? Ich hab diese Gisela noch immer nicht zu Gesicht bekommen. Ist da Frühlingserwachen im Keller?»

«Das sind doch noch Kinder.»

Marta krauste die Stirn. Seit wann war Friede naiv?

«Fürs Frühlingserwachen ist es auch viel zu kalt.» Friede griff nach der Kanne, die auf dem Herd stand, und schenkte den Gerstenkaffee in zwei Tassen mit Goldrand. Glanz von gestern.

«Ansatzweise ist es doch noch immer fein bei dir», sagte Marta. «Warum springst du nicht über deinen Schatten und gehst auf Palutke zu? Ich habe gehört, er macht viel Geld mit Insulin und Penicillin.»

«Woher weißt du das?»

«Ich höre mich um und sitze nicht nur gemütlich in meiner Küche. Mach ihm mal wieder schöne Augen. Dann hast du echten Bohnenkaffee und reichlich Kohlen in deinem Ofen.»

«Du weißt ja nicht, was zwischen Palutke und mir vorgefallen ist.»

«Ich bin eine gute Beichtmutter», sagte Marta. «Du kannst mir vertrauen. Nun guck mal.» Sie hob einen Gegenstand aus der Basttasche. Ein kleiner viereckiger Klotz aus dunklem Eichenholz. Gedrechselte Säulen an der Vorderseite.

«Was ist das denn für ein komisches Tempelchen?», fragte Friede.

Marta zog an einem Riegel. «Hör mal, ob du das Lied kennst.»

Friede hörte und schüttelte den Kopf.

«Hast du denn nie ein evangelisches Gesangbuch aufgeschlagen?»

«Ich kenne nur Lobe den Herren.»

«Wer nur den lieben Gott lässt walten»,sagte Marta.

«Bloß nicht», sagte Friede. «Den lieben Gott walten lassen.»

«Du versündigst dich, Elfriede Wahrlich.»

Das Lied der Spieluhr endete mit einem lauten Klick.

«Und was soll ich nun damit?»

«Gert kann es für dich auf dem Hansaplatz tauschen.»

«Warum tauschst du die Spieluhr nicht selber?»

«Hast du noch deinen Muff aus Seehundfell?»

«Den soll ich dir dafür geben? Willst du den Seehund zum Fuchs tragen?»

«Das wird ein kalter Winter, und du gehst doch kaum vor die Tür.»

Friede stand auf und trat ans Fenster. Ob der Junge schon da war? Dann könnte Marta mit ihrem Handwagen abziehen, ehe sie der alten Freundin an die Gurgel ging.

«Ich könnte zwischen dir und Palutke vermitteln.»

«Hüte dich. Wenn du das tust, sind wir getrennte Leute.»

«Du machst mich wirklich neugierig, was euch entzweit hat», sagte Marta. Sie nahm ihre Basttasche und ging in den Flur. Zog den alten Fuchsmantel an.

«Der Junge kommt», rief Friede. «Beeil dich. Dann kannst du deinen Handwagen gleich auf der Straße übernehmen. Hat wohl keinen Ofen drin, nur ein Rohr.»

«Ich betrachte das als Rauswurf», sagte Marta.

Das Tempelchen blieb auf dem Küchentisch stehen.

 

«Ein gutes Rohr», sagte Gisela. «Den Ofen dazu finden du und ich auch noch.»

«Ja», sagte Gert. Er schwankte. Noch immer erschöpft von Angst und Anspannung.

«Leg dich hin. Du bist leichenblass.»

«Nur der Kalk», sagte Gert. Doch er legte sich auf das Feldbett.

«Da ist noch Brot.»

«Später.»

«Wo hast du die Wehrmachtsdecke?»

«Neben einen Trampelpfad gelegt wie wahrscheinlich schon der Vorbesitzer.»

Gisela deckte ihn mit einem alten Mantel zu, den Friede ihr überlassen hatte als Unterlage für die Nächte auf der harten Bank. Der Tweed war verschlissen, doch er roch nach einem herben Parfum, das sie sich teuer vorstellte.

Gert schlief schon, als Gisela den Keller verließ. Den Zettel hatte sie an das Kopfende des Feldbetts gelegt.

 

Sie stieg an der Station Stephansplatz aus der U-Bahn. Ging die Wallanlagen entlang zur Musikhalle, die nun den Engländern als Sitz ihres Radiosenders diente.

Sie hatte die Musikhalle zweimal umkreist, auch den hohen Backsteinbau der Hamburger Polizei im Auge behalten, der genau gegenüber lag, als sie den Blick eines jungen Mannes in khakibrauner Uniform auffing, der vor dem Eingang der Musikhalle stand und rauchte. Die Brocken Englisch, die sie auf ihrer Heimreise in den Autos der Amerikaner und Briten gelernt hatte, schienen in ein dunkles Loch ihres Gedächtnisses zu fallen, als er sie ansprach. Sie griff in die Tasche ihres Anoraks und holte den Anstecker hervor. Vielleicht gelang das hier ohne Worte.

«You want to swap this for cigarettes?» Er lächelte.

Gisela nickte.

«How old are you?»

Diese Frage hatte sie oft gehört auf ihrer Fahrt nach Hamburg. «Sixteen», sagte sie.

«And how many cigarettes?»

Gisela schwieg.

«Two packs or better four?»

Da kamen sie wieder, die englischen Worte. «As many as possible», sagte sie.

«Come to my car.»

War das wirklich eine gute Idee? Doch Gisela ging mit dem lächelnden Engländer zu dem Land Rover, der um die Ecke geparkt stand. Nahm die vier Päckchen Chesterfield entgegen.

«You need something else?» Er betrachtete das Mädchen, das sicher keine sechzehn Jahre alt war. Sah den dünnen Anorak, in dem sie fror. Die Armeedecke, die er ihr gab, fühlte sich für Gisela an, als sei sie aus reiner Wolle.

«My name is Colin», sagte er. «Come again.»

 

Friede war nicht glücklich mit Martas Abgang. Durch dick und dünn waren sie gegangen. Sich jetzt in diesen Zeiten entzweien? Wenn Marta nur nicht immer von Palutke anfinge. Als ob sich da was kitten ließe.

Von den Kindern im Keller hörte sie nichts, hatte nur vom Fenster aus gesehen, wie Gert den Handwagen an Marta übergab. Wollte der Junge denn gar nicht mehr den Nordwestdeutschen Rundfunk hören? War ihm nur die späte Suchsendung wichtig? Wo es doch nun seit dem ersten Oktober das Echo des Tages gab. Den Peter von Zahn. Den Eggebrecht. Vieles, das sie nun erst verstand. Ob Palutke entnazifiziert war?

Im Durcheinander ihrer Schubladen hatte sie eine Erbswurst von Knorr gefunden. Vielleicht konnte Gisela auf dem Herd bei ihr hier oben eine Suppe daraus kochen. Eine Erbswurstsuppe schien ihr auf einmal geradezu seelentröstend. Da musste sie wohl mal ums Haus und in den Garten gehen. An der Kellertür klopfen.

Im Ballhaus Resi in Berlin hatte es Tischtelefone und eine Rohrpost gegeben. Das wäre nun hilfreich, und sie müsste nicht mehr hinaus in die Kälte. Königin der Nacht war sie gewesen. Damals in den Zwanzigerjahren. Eine Rohrpost nach der anderen, dauernd klingelte ihr Tischtelefon. Palutke war verärgert ob ihrer Beliebtheit.

Friede zog die Pelzjacke an. Von einem unbekannten Tier. Eimsbütteler Hund hatte Palutke gesagt. Marta wusste wohl nicht mehr, dass es die Jacke gab, sonst hätte sie die gewollt statt des Muffs.

Dass ihr so vieles von Palutke einfiel und so wenig von Franke. Verdrängte ihr Gewissen da was, weil sie Viktor Franke nicht genügend geholfen hatte, als die Zeiten so schlecht wurden für die Juden? Aber gegrüßt hatte sie ihn herzlich, als sie ihm zuletzt auf der Straße begegnet war. Da hatte er schon den Stern am Mantel getragen. Dann verlor sie ihn aus den Augen. Dass er nach Litzmannstadt deportiert worden war, hatte sie erst später erfahren. Wer konnte wissen, wie es dann mit ihm weiterging. Nach dem Krieg schwirrten auf einmal Namen und Orte von Konzentrationslagern herum, von denen man ja nichts hatte ahnen können.

 

Mit Friede hatten sie nicht gerechnet, als es an der Kellertür klopfte. Doch Gert und Gisela folgten ihr ins Erdgeschoss. Eine heiße Suppe von der Erbswurst. Viel besser als gar nichts.

«Wir haben es gut hier», sagte Gisela. Dankbar, durch das Kellerfenster geklettert zu sein und nun in dieser Küche zu stehen, zeigen zu können, was sie in Naila im Frankenwald gelernt hatte. Schäufele mit Klößen. Nürnberger Bratwürste mit Kraut oder als Blaue Zipfel im Essigsud. All das konnte sie kochen. Gegessen wurde in der ersten Zeit noch gut bei der Lehrerin.

Ein Rezept für eine Erbsensuppe ohne frisch geschälte Erbsen, ohne Speck und Zwiebeln anzuschwitzen und ohne die Zugabe von Porree, Möhren und Kartoffeln war im fränkischen Rezeptbuch nicht vorgesehen gewesen.

Eine Zwiebel. Zwei Lorbeerblätter. Wasser. Die Erbswurst. Ein Pipettenfläschchen Leinöl, das nicht länger hell und klar war, eher dunkel und leicht bitter schmeckend, von Friede einst angeschafft, um das Öl auf die Haut unter den Augen zu klopfen.

«Ich wusste, dass du kochen kannst», sagte Friede, als die Suppe gelöffelt war und der Duft der einen kleinen angeschwitzten Zwiebel sich in der Küche hielt.

«Warum kochst du eigentlich nicht?», fragte Gert.

«Das ist nie nötig gewesen», sagte Friede und klang wie die Königin von Saba, hätte man der eine solch alberne Frage gestellt. «Aber ich bin gern bereit, die Gastgeberin in meiner Küche zu sein.»

«Vielleicht bringt uns Marta morgen einen großen Kohlkopf mit», sagte Gert.

Das bezweifelte Friede.

Kurz vor Mitternacht schaltete sie den alten Volksempfänger ein. Vorher war ihnen gar nicht aufgefallen, dass der Kasten still war. Nur das Tempelchen spielte ab und zu Wer nur den lieben Gott lässt walten.

Kein Gert Endes wurde gesucht. Der Name Ladelund kam auch nicht vor. Doch eine der Namensnennungen ließ Gisela leicht zusammenzucken. Vielleicht geschah das auch nur in Gerts Einbildung.

 

«Wenigstens hast du nun eine warme Decke», sagte Gert, als sie zurück waren im Keller.

«Eine große warme Decke», sagte Gisela.

«Willst du sie teilen wie der heilige Martin seinen Mantel?»

«Wir können uns beide unter die Decke legen.»

Gert sah konsterniert aus. Hätte er den Vorschlag gemacht, er wäre rot geworden.

«Auf deinem Feldbett. Dick sind wir nun nicht.»

«Ja», sagte Gert. «Das ginge. Einen Versuch ist es wert.»

Tief und lang schliefen sie in dieser Nacht. Die sämige Suppe, die für eine Weile sättigte, die warme Decke. Der Trost, den sie darin fanden, nebeneinanderzuliegen.

 

Gert wurde von einem kalten Luftzug geweckt, milchiges Licht, das durch eines der beiden Fenster fiel, die er mit festem Karton abgedichtet hatte. Er lauschte und hörte Giselas Atemzüge und das Ticken des Weckers, dessen Zeiger auf halb acht standen. War eine Ratte eingedrungen? Konnte die so lautlos sein?

Er stand leise auf, sah zu Gisela, deren geschlossene Lider zuckten, sie träumte. Vielleicht von jemandem, dessen Namen sie gestern gehört hatte? Er griff nach der Sturmlaterne, vergaß ganz, dass sie seit Tagen kein Petroleum mehr hatten. Eines von den vier Päckchen Zigaretten sollten sie opfern, um das Notwendigste zu beschaffen.

Keine Ratte, die den Karton eingedrückt hatte. Schnee hatte ihn durchnässt und in den Keller fallen lassen. Inzwischen war das Fenster zugeschneit. Bot der Drogist auf dem Schwarzmarkt in der Susannenstraße nicht auch alte Röntgenbilder an? Vielleicht ließen sich die Fenster damit winterdicht machen und ein wenig transparenter.

Gisela hatte sich aufgesetzt. Ihre Augen waren weit. Doch ein schlechter Traum?

«Was ist los?», fragte sie. «Das Licht ist anders.»

«Liegt ziemlich viel Schnee. Er hat einen der Kartons vorne völlig aufgeweicht, die Reißzwecken haben keinen Widerstand geleistet. Wir sollten Zigaretten für dringende Einkäufe abzweigen. Mit den Schuhen vom kleinen Muck kommst du bei dem Wetter nicht weit. Petroleum ist auch alle. Und ich will sehen, ob ich Röntgenbilder kriege. Ganz zu schweigen von der Ernährungslage.»

«Röntgenbilder?»

«Um sie vor die Fenster zu nageln. Der Drogist hatte welche. Ist es dir schwergefallen, dich von der Anstecknadel zu trennen?»

«Nein. Ich werde andere Erinnerungen finden.»

«Gut», sagte Gert. Er schluckte die Frage nach dem Namen im Radio herunter. «Ich habe tief geschlafen. Das geht fein mit uns unter der warmen Decke. Wenn es sich mit dem Winter weiter so anlässt, könnten wir ein paar Lagen mehr davon brauchen.»

«Willst du, dass ich noch mal zur Musikhalle gehe?»

«Möchtest du Colin denn wiedersehen?» Ein eigentümliches Gefühl in ihm. Als sei er eifersüchtig. Bisher hatte er sich als ihr Wohltäter betrachtet. Doch das ging nicht so weiter mit Hunger und Kälte. Dieser Tommy namens Colin würde nicht nur über Zigaretten und eine Wolldecke verfügen, er kam sicher auch an Büchsen mit Corned Beef und Cadbury Schokolade. Noch nie waren sie einer satt machenden Quelle so nah gewesen.

«Wir haben nichts zum Tauschen. Seine eigenen Chesterfields können wir ihm kaum anbieten.»

«Die Kuckucksuhr», sagte Gert. «Die Engländer lieben den Schwarzwald.»

 

Gisela zog grob gestrickte Socken über die Schuhe mit den breiten Gummibändern. Die Socken hatte Gert im Februar 1946 in Plauen vom Kaplan der Herz Jesu Kirche geschenkt bekommen als Trost, weil er sonst nichts für den Jungen tun konnte. Sie waren Gert zu klein. Seine Schuhe hatten Löcher in den Sohlen, doch wenn er sie eng schnürte, saßen sie ihm noch fest an den Füßen.

Der Schnee war nass und klebrig, nur an den Trampelpfaden gab es glatte Stellen. Ein Junge mit einem Schlitten, auf dem ein kleines Mädchen saß. Zwei Männer, die drei Teile einer Matratze trugen. Dennoch wirkte die Stadt zwischen Tornquiststraße und der Schanze leer. Erst als sie ferne Glocken hörten, fiel ihnen ein, dass dieser dritte Tag des Novembers ein Sonntag war. Kaum anzunehmen, dass alle Hamburger vor einem Braten saßen. In Vorfreude auf Sahnetorte und echten Bohnenkaffee am Nachmittag.

Wo waren sie dann? In der Kirche beten?

Ein paar Leute standen vor den Häusern der Susannenstraße. Händler? Den Drogisten sah Gert nirgends. Sollten sie umkehren?

Sie gingen zum Schulterblatt und gerieten in einen Strom von Spaziergängern, die alle das gleiche Ziel zu haben schienen: auf schmalen Pfaden durch eine Schuttlandschaft Richtung Reeperbahn.

«In die Talstraße», sagte Gert. «Da gehen die hin. Am Sonntag haben sie Zeit.»

«Was ist da?»

«Ein großer Schwarzmarkt. Wie der hinterm Schauspielhaus. Da kriegen wir was für unsere Chesterfields.»

Auf der Talstraße herrschte rege Tätigkeit. Gisela wich zurück, als sie am Anorak gezogen wurde von einer Frau vor einer leeren Fassade. Zur Neuen Welt stand über den Resten der Tür, links und rechts davon noch die Reklameschilder für das Bier von Bavaria St. Pauli. «Hab Schuhe», sagte die Frau. Zeigte auf Giselas nasse Socken, in denen Eisklumpen und Dreck hingen.

«Die gucken wir uns an», sagte Gert leise.