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Carmen Korn

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Beschreibung

Vier Frauen. Vier Familien. Ein Jahrhundert. Henny Unger feiert einen runden Geburtstag, siebzig Jahre ist sie geworden. So alt wie das Jahrhundert. Beim Gartenfest an ihrer Seite: die Freundinnen Käthe, Lina und Ida – wie seit Jahrzehnten schon. Doch längst hat sich der Kreis der Gratulanten erweitert. Aus den vier Freundinnen sind Mütter und Großmütter geworden. Hennys Enkelin Katja träumt davon, als Fotoreporterin um die Welt zu reisen, Idas Tochter Florentine kehrt mit einer Überraschung nach Hamburg zurück. Und auch Ruth, die Adoptivtochter von Käthe, ist fester Teil des Freundschaftsbunds. Denn zu Hennys großer Freude führt die nächste Generation die Tradition fort: Sie teilen Glück und Leid miteinander, die kleinen und die großen Momente. Vom Deutschen Herbst über die Wiedervereinigung bis zur Jahrtausendwende – anhand der vier Familien aus Uhlenhorst erzählt Spiegel-Bestsellerautorin Carmen Korn ein Jahrhundert bewegter und bewegender deutscher Geschichte. Mit "Zeitenwende" findet die Jahrhundert-Trilogie ihren Abschluss.

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Carmen Korn

Zeitenwende

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Vier Frauen. Vier Familien. Ein Jahrhundert.

 

Henny Unger feiert einen runden Geburtstag, siebzig Jahre ist sie geworden. So alt wie das Jahrhundert. Beim Gartenfest an ihrer Seite: die Freundinnen Käthe, Lina und Ida – wie seit Jahrzehnten schon. Doch längst hat sich der Kreis der Gratulanten erweitert. Aus den vier Freundinnen sind Mütter und Großmütter geworden. Hennys Enkelin Katja träumt davon, als Fotoreporterin um die Welt zu reisen, Idas Tochter Florentine kehrt mit einer Überraschung nach Hamburg zurück. Und auch Ruth, die Adoptivtochter von Käthe, ist fester Teil des Freundschaftsbunds. Denn zu Hennys großer Freude führt die nächste Generation die Tradition fort: Sie teilen Glück und Leid miteinander, die kleinen und die großen Momente.

 

Vom Deutschen Herbst über die Wiedervereinigung bis zur Jahrtausendwende – anhand der vier Familien aus Uhlenhorst erzählt Carmen Korn ein Jahrhundert bewegter und bewegender deutscher Geschichte. Mit «Zeitenwende» findet die Jahrhundert-Trilogie ihren Abschluss.

 

Über Carmen Korn

Carmen Korn wurde 1952 in Düsseldorf als Tochter des Komponisten Heinz Korn geboren. Nach ihrer Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule arbeitete sie als Redakteurin u.a. für den «Stern». Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Maris, Paul, Michael, Hannah

und allen Kindern, die noch kommen werden

Personenverzeichnis

Henny und ihre Angehörigen

Henny Unger, geborene Godhusen

Jahrgang 1900. Vier Namen schon, die Henny in ihrem Leben trug. Doch nach der Ehe mit dem jung verstorbenen Lud Peters und der Scheidung von Ernst Lühr hat Henny nun ihr Glück gefunden mit dem Arzt Theo Unger. In der Finkenau arbeitet die Hebamme nicht mehr, aber sie hilft in der Frauenarztpraxis ihrer Tochter Marike aus.

Theo Unger

Jahrgang 1892. Einst verhinderte eine Flasche Helbing, dass der junge Arzt und die Hebamme zusammenkamen, und ein anderer wurde Hennys erste Liebe. Nun ist Theo Unger glücklich, in Henny nicht nur die Frau an seiner Seite gefunden, sondern auch noch eine ganze Familie geschenkt bekommen zu haben.

Marike Utesch, geborene Peters

Jahrgang 1922. Hennys Tochter aus der Ehe mit Lud. Nach Theos Rückzug führt sie die gemeinsame Praxis am Neuen Wall allein. Seit Dezember 1945 ist sie mit Jugendliebe Thies Utesch verheiratet, mit dem sie die gemeinsamen Kinder Katja und Konstantin hat.

Katja Utesch

Jahrgang 1950. Katja Kratzbürste nennt sie ihr Freund Karsten Jentzsch. Doch das stimmt nur zum Teil. Ja, Katja weiß, was sie will. Einzig in Bezug auf Karsten ist Katja merkwürdig unentschlossen. Verknallt ist sie in ihn, aber seine zur Schau getragene Verwegenheit und Männlichkeit gehen ihr zunehmend auf den Keks.

Konstantin Utesch

Jahrgang 1962. Der jüngere Bruder von Katja wird zu einem zielstrebigen jungen Mann werden.

Klaus Lühr

Jahrgang 1931. Hennys Sohn aus zweiter Ehe. Seine Sendung Nach der Dämmerung im NDR ist mittlerweile eine Institution. Seit er neunzehn Jahre alt war, liebt er den Jazzpianisten Alex Kortenbach. Alex, der seine ganze Familie im Hamburger Feuersturm verlor, während er selbst in Argentinien lebte, trägt noch immer schwer an dieser Last. Auch wenn ihm Klaus’ Familie längst zur eigenen geworden ist.

Lina und ihre Angehörigen

Lina Peters

Jahrgang 1899. Die ehemalige Lehrerin ist eine der Inhaberinnen der Buchhandlung Landmann. Dass ihr kleiner Bruder Lud ihr in seinem kurzen Leben nicht nur eine Schwägerin, sondern auch Nichte und Neffe beschert hat, dafür ist Lina unendlich dankbar.

Louise Stein

Jahrgang 1901. Linas langjährige Lebensgefährtin. Einst waren die gemeinsamen Cocktailstunden vor dem geöffneten Mansardenfenster eine launige Tradition. Doch mittlerweile trinkt Louise nicht nur in heiteren Stunden.

Momme Siemsen

Jahrgang 1912. Der Partner von Lina und Louise in der Buchhandlung. Zusammen mit Frau Anni und den drei gemeinsamen Töchtern lebt Momme noch immer zufrieden in der ehemaligen Pension von Guste, in die er einst aus Dagebüll im Holsteinischen gekommen war, um in Hamburg eine Buchhändlerlehre zu beginnen.

Ida und ihre Angehörigen

Ida Yan, geborene Bunge

Jahrgang 1901. Das verwöhnte Fräulein Bunge hätte wohl nicht gedacht, was für Wendungen ihr Leben einmal nehmen würde. In dem Kaufmann Tian Yan, Sohn chinesischer Eltern, hat Ida ihre Liebe gefunden, in Henny, Käthe und Lina lebenslange Freundinnen. Zusammen mit der Familie Siemsen leben die Yans seit Jahren bei Guste.

Guste Kimrath

Jahrgang 1887. Das ererbte Haus in der Johnsallee öffnete Guste jahrzehntelang denjenigen, die einen Zufluchtsort suchten, ihnen allen bot sie viel mehr als eine Pension. Die Frau mit dem großen Herzen und dem weiten Geist ist nicht nur für die beiden Familien, die bei ihr wohnen, ein wichtiger Mensch.

Florentine Yan

Jahrgang 1941. Die Tochter von Ida und Tian ist längst ein international gebuchtes Fotomodell geworden. Lange Zeit liebte Florentine zwei Männer, Alex Kortenbach und den Tontechniker Robert Langeloh. Doch mittlerweile hat sie erkannt, dass Alex nicht zu haben ist. Und trotz aller Tändelei sind ihre Gefühle für Robert aufrichtig. Sie nennt ihn liebevoll ihren Husky, seines blauen Glasauges wegen, das er seit einer Kriegsverwundung zum heilen grünen Auge trägt.

Käthe und ihre Angehörigen

Käthe Odefey, geborene Laboe

Jahrgang 1900. Einst Nachbarskinder, sind Käthe und Henny zu lebenslangen Freundinnen geworden. Während des Krieges saß Käthe aufgrund ihrer kommunistischen Gesinnung im KZ, erst auf Umwegen fand sie ihren Weg zurück zu den Uhlenhorster Freunden.

Rudi Odefey

Jahrgang 1900. Käthes Ehemann. Dass er seit 1919 eine Frau liebt, die keine Gedichte mag, kann der feinsinnige Rudi manchmal kaum glauben. Dennoch ist seine Käthe für ihn immer noch das sinnliche junge Mädchen, in das er sich damals bis über beide Ohren verliebt hat.

Ruth Odefey

Jahrgang 1944. Mit sechs Jahren ist die Waise Ruth in Käthes und Rudis Leben gekommen. Ruth ist eine ernsthafte junge Frau geworden. Doch selbst für ihre Adoptiveltern und ihre engen Freundinnen Katja und Florentine bleibt Ruth oft ein Rätsel, genau wie ihre unheilvolle Liebe zu András Bing.

März 1970

Käthe nahm einen kleinen Anlauf und sprang. Stand auf der anderen Straßenseite, schien einen Augenblick lang atemlos, doch dann winkte sie zu Henny hinüber und sprang noch einmal. Fiel der Freundin in die Arme, die Käthe erleichtert auffing. Acht Sprünge. Vom Haus der einen zum Haus der anderen. Ein Spiel aus Kindertagen, damals hatten sie einander in die Küche blicken können.

«Ich kann’s noch.» Ein Jubilieren in Käthes Stimme.

Autos verlangsamten das Tempo. Vielleicht hörte die Verrückte nicht auf, das Känguru zu geben. Fußgänger drehten sich um nach den beiden Frauen. Lachten. Staunten. Je oller, je doller.

Der erste Sonnentag in einem März, dessen Himmel bisher voller Wolken gehangen hatte. Waren Henny und Käthe darum so ausgelassen auf ihrem Weg in die Eilenau?

«Spring du mal», sagte Käthe.

Henny schüttelte den Kopf. Weiche blonde Wellen, die ihr dabei ins Gesicht fielen, Käthe hatte kräftige dunkle. Da halfen sie beide nach, vertrauten sich Wellas Haarfarben an. Die weißen Haare überließen sie ihren Männern.

«Ich bin lieber diejenige, die auffängt», sagte Henny.

«Dein Rock ist ja auch eng wie eine Knackwurstpelle.» Käthe griff in ihr Strickkleid, das unter der halblangen Jacke hervorkam. «Das hier dehnt sich. Ich lass mich doch nicht von einer Klamotte behindern.»

Dass sie noch Leichtigkeit im Körper hatten, sie wussten das zu schätzen. Siebzig würde Henny am Ende des Monats werden, so alt wie das Jahrhundert, Käthe war es seit Januar. In ihrer Wahrnehmung fühlte sich alles jünger an. Wo war die Zeit geblieben?

«Wollen wir über die Finkenau gehen?», fragte Käthe. «Unserer alten Wirkungsstätte die Ehre geben?»

«Das ist mir zu viel Erinnerung, unsere Elternhäuser genügen mir für heute», sagte Henny. «Lass uns nun mal schnurstracks zu Lina.»

Lina, die Schwester von Hennys erstem Mann. Ihre Schwägerin war nach Luds frühem Tod ihre lebenslange Freundin geblieben.

«Und Ida wird auch da sein? Ich dachte, die wollte in Paris nach ihrer verlorenen Tochter gucken?»

«Florentine kommt nächste Woche nach Hamburg zurück.» Henny drehte sich um und blickte noch einmal auf das Haus, in dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht und auch wieder gelebt hatte, nachdem die eigene Wohnung von den Bomben des Juli 1943 zerstört worden war. Eine Gardine wurde bewegt am Fenster im zweiten Stock, als stünde ihre Mutter dort, die nun schon bald vier Jahre tot war.

«Im Mai wird Karstadt eröffnet», sagte Käthe, als sie in die Hamburger Straße einbogen. Sie blickte zu dem großen Einkaufszentrum, das dort entstand. «Ein Betonklotz. Schön ist anders.»

«Fang nicht damit an, dass früher alles besser war.»

«Da wäre ich die Letzte. Doch das alte Karstadt ist ein Gedenken wert. Weißt du noch? Die Tanzkapelle auf der Dachterrasse?»

Wie wohltuend, das zweistöckige Haus am Kanal zu sehen, das seit sieben Jahrzehnten unbeschadet in der Eilenau stand und in dessen Mansarde Lina und Louise lebten. Rote Backsteine. Weißer Stuck. Das dreiflügelige Fenster war weit geöffnet an diesem weichen Tag. Konnten sie da oben Käthe hören, die einen kleinen Gesang angestimmt hatte?

Frühling kommt, der Sperling piept,

Duft aus Blütenkelchen.

Bin in einen Mann verliebt

und weiß nicht in welchen.

Henny sah ihre Freundin amüsiert an. Die Brüchigkeit, die Käthes Stimme nach den Kriegsjahren behalten hatte, ließ sie lasziv klingen.

«Hast du deinen Mann je betrogen?»

«Nicht mal ein Zwinkern im Auge gehabt. Einen Hinreißenderen als Rudi kann ich kaum kriegen.»

Sie kicherten noch, als sie vor Lina standen, die ihnen die Tür öffnete, um sie einzulassen in diesen Nachmittag.

 

«Eclairs.» Käthe schluckte schon vor lauter Lust auf die schokoladigen Kuchenstückchen. Sie betrachtete die Kaffeetafel, die für fünf gedeckt war. Die Tischdecke mit Hohlsaum, das gute alte Porzellan von Louises Eltern, Kännchen aus Kristall, in denen blaue Perlhyazinthen standen und rosa Bellis. Eine Etagere voller Eclairs und anderer Süßigkeiten.

Käthe schätzte die französische Konditorkunst. Zu ihren ersten Verabredungen hatte Rudi sie in das Hotel Reichshof ausgeführt, ihr Gedichte vorgelesen, Petits fours spendiert, und das kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Hennys Mutter hatte das Verzehren der Küchlein da noch für Verrat am Vaterland gehalten.

«Lina und ich haben für die Eclairs eben den guten alten Namen Liebesknochen wiederentdeckt», sagte Louise.

«Das versteht kein Mensch mehr», sagte Ida.

«Und außerdem ist der Begriff bar jeder Erotik», fügte Käthe hinzu.

«Der Frühling geht Käthe ganz schön ins Blut. Eben auf der Straße hat sie ein Lied aus dem Blauen Engel gesungen. Habt ihr’s nicht gehört?»

Ida setzte sich neben Käthe. «Steck mich bitte an mit deiner frivolen Stimmung.»

«Hast du das nötig?»

«Ich lechze nach Veränderung. Innerlich und äußerlich. Tian ist stur, nicht mal neue Tapeten oder Sesselbezüge. In der Wohnung unserer Tochter ist alles hypermodern und irgendwie sexy. Wie geht denn das Lied aus dem Blauen Engel?»

Käthe grinste. «Ich hab schon von Henny gehört, dass Florentine kommt.»

«Höchste Zeit. Wir haben sie seit Neujahr nicht gesehen», sagte Ida.

«Hat sie ihren Freund noch?», fragte Lina.

«Ja. Robert ist sehr geduldig.»

«Er liebt sie», sagte Lina.

Das ließ sich von Robert sagen, beides.

«Florentine wird dreißig im nächsten Jahr.» Ida nahm ein Obsttörtchen von der Etagere. Das hatte doch wohl kaum Kalorien.

«Sie ist gerade erst neunundzwanzig geworden», sagte Henny. «Willst du sie unter der Haube haben? Die Zeiten sind vorbei.»

«Sie denkt nicht im Traum an Heirat. Kinder will sie auch keine. Tian und ich hätten so gern Enkel.»

Ein glücklicher Seufzer, der von Henny kam. Sie hatte eine Enkelin und einen Enkel, die einzige Großmutter im Kreis der Freundinnen.

Ida sah zu ihr hinüber. «Du hast es gut», sagte sie.

Henny hob die Schultern. Beinah schuldbewusst.

 

Ein frühlingswarmer Tag, auch in Paris. Florentine hatte den langen weiten Wintermantel ausgezogen und über einen der Korbstühle des Deux Magots geworfen. Der Blick von Jean lag auf ihr, ein langer Blick, der ihrem kleinen Bauch galt. «Ich habe den Gerüchten keinen Glauben schenken wollen. Wer ist denn der glückliche Vater?»

«Ein Mann aus Hamburg. Mit Mode hat er nichts zu tun.»

«Geheimnis?»

«Ja.» Florentine lächelte.

Mit Jean, dem Fotografen aus Luxemburg, hatte sie vor zehn Jahren zum ersten Mal gearbeitet, da hatte ihr Leben als Modell in den Anfängen gesteckt. Empfand sie darum hier auf der Terrasse eine Vertrautheit, dass sie seinen Vorschlag nicht gleich vom Tisch wischte, auf den der Kellner im nächsten Moment zwei Tassen Milchkaffee stellte?

«Lass mich Fotos machen, die ich Paris Match anbiete. Du in einem supersexy engen Teil. Der Art-Director wird begeistert sein, Florentine Yan mit Babybauch. Ich hätte für die nächsten Tage ein Studio an der Hand. Hier im Quartier.»

Florentine nahm sich Zeit, um den Zuckerwürfel aus dem Papier zu wickeln. «Willst du das wirklich?»

«Wichtig ist, dass du es willst. Oder denkst du, deinem Mann aus Hamburg würde das nicht gefallen? Wollt ihr heiraten?»

«Ich denke nicht im Traum an Heirat», sagte Florentine und wiederholte in Paris, was ihre Mutter gerade in Hamburg gesagt hatte. «Egal, was er darüber denkt.»

«Ihr Emanzen.» Jean stand auf. «Ich ruf mal in der Redaktion an», sagte er. Die Idee, Florentine als werdende Mutter zu fotografieren, elektrisierte ihn. Er kramte in seiner Hosentasche nach Francstücken und verschwand ins Innere des Cafés, um eine der drei Telefonkabinen im Souterrain aufzusuchen.

Florentine blickte über den Boulevard Saint Germain, und einen Augenblick lang war ihr bange vor der eigenen Courage. Ihre Eltern durften nicht erst aus einer Illustrierten von ihrem Enkelkind erfahren, auch den beiden geliebten Männern gegenüber wäre es kaum fair.

Sie zerkrümelte den Keks, der auf ihrer Untertasse lag, und streute die Krümel den Spatzen hin, die um den Tisch hüpften. Würde Paris Match die Fotos denn eilig ins Blatt heben? Nein. Bis die das druckten, war sie in Hamburg und hatte ihre Schwangerschaft kundgetan. Wenn sie auch beabsichtigte, ihrer Familie und Robert zu verschweigen, dass nicht nur er als Vater des Kindes in Frage kam.

Jean kehrte an den Tisch zurück und sah aus, als habe er in der Lotterie gewonnen. «Sie wollen es für die nächste Ausgabe haben. Ihnen sind zwei Doppelseiten über diesen Film mit Ali McGraw geplatzt, Love Story.»

Die Dinge nahmen ihren Lauf.

 

Ida kehrte kurz vor elf in die Johnsallee zurück. Stille im Haus, dessen Bewohner wohl schon ins Bett gegangen waren, nur bei ihnen brannte Licht. Tian setzte sich auf, als sie ins Schlafzimmer kam, und legte das Buch auf den Nachttisch. «War es schön bei Lina?», fragte er.

Ida sah ihren Mann an. «Der Nachmittag hat mir gutgetan», sagte sie.

«Ich freue mich, dass er in einen angenehmen Abend übergegangen ist.» Wäre er so lange weggeblieben, Ida hätte ihm eine Szene gemacht, er war da immer großzügiger gewesen. «Florentine hat angerufen. Sie freut sich auf uns. Und auf Robert.»

«Na, Gott sei Dank. Was machen deine Kopfschmerzen?»

«Sind weg. Ich habe noch mal eine Temagin genommen. Ich dachte, dass ich mich ein wenig meiner Frau widmen könnte.»

«Ich bin zu müde, Tian.»

«Dann komm an meine Schulter.»

Tian sah ihr nach, als sie in das Badezimmer ging. Ida und er waren beide achtundsechzig und noch immer ein gutaussehendes Paar. Warum fühlte er sich gerade steinalt?

Ida kam in einem ihrer vernünftigen Nachthemden ins Schlafzimmer zurück, sie besaß auch andere. «Lösch bitte das Licht.»

Nur noch die Lampe auf Tians Nachttisch war an, ein sandfarbener Seidenschirm, der sanft leuchtete. Tian schaltete die Lampe aus. Ein Fitzelchen Mond schien ihnen zum Fenster hinein, er konnte erkennen, dass Ida das Nachthemd über den Kopf zog und nackt in der Mitte des Zimmers stand.

«Komm», sagte sie. «Zieh deinen Pyjama aus.»

Träumte er schon? Tian stand auf. Tat wie geheißen. Traute sich kaum zu atmen, als könne die nackte Ida wie eine Fata Morgana vergehen.

«Ich habe mich tatsächlich bei Käthe angesteckt.»

Tian fragte nicht nach, was das bedeutete. Er küsste seine Frau. Ihm kam ein Sommerhüttchen in den Sinn. Liebe an einem kalten Tag im Dezember, ihnen war auch ohne Ofen wunderbar warm geworden. Eine Erinnerung, die ihm half, sich auf einmal jung und stark zu fühlen hier oben in ihrem Schlafzimmer. Jung und stark, wie er damals gewesen war.

 

«Nein. Keinen Alkohol mehr, Louise.»

«Nur noch einen nightcap. Zum guten Einschlafen.»

«Ich bin todmüde», sagte Lina.

«Komm zu mir aufs Sofa, statt im Zimmer herumzukramen. Ist doch schon alles aufgeräumt.»

Lina bedachte ihre Gefährtin mit einem strengen Blick, als Louise sich einen weiteren Whisky einschenkte. Früher hatten die Drinks wenigstens noch einen Fruchtanteil gehabt. «Mach einen zweiten Versuch mit dem Therapeuten, ich bitte dich», sagte sie.

«Ich denke eher an kosmetische Chirurgie.»

«Das glaube ich jetzt nicht.»

Louise setzte ihre Zeigefinger an die Schläfen und zog die Haut zum Haaransatz hin.

«Gibt dir was von Suzie Wong», sagte Lina.

«Schlupflider ade», sagte Louise und zerrte auch an Kinn und Hals. «Bobo sagt, er habe Kundinnen, die sähen nach vier bis sechs Schnitten aus wie frisch aus dem Ei.»

«Wer ist Bobo?»

«Mein Coiffeur. Er ist neu im Salon.»

Lina setzte sich neben die Frau, die sie liebte und mit der sie seit Jahrzehnten lebte. «Deine Seele braucht Hilfe, nicht dein Gesicht», sagte sie. «Tu mir den Gefallen und versuch es erst mal mit der Therapie.»

«Um meine Seele sorg dich mal nicht länger, die Depressionen sind vorbei, sobald ich keine alte Trutsche mehr im Spiegel sehe. Lina, wir waren so jung, als wir uns trafen.»

Lina seufzte. Der Mensch war viel zu früh jung. Zu dem Zeitpunkt wusste er das noch nicht wirklich zu schätzen.

«Ich habe mit Ida darüber gesprochen, sie würde auch was an ihrem Gesicht machen lassen.»

«Ihr seid beide verrückt geworden.»

«Sei nicht so altmodisch, in Amerika macht das jede.»

Lina stand vom Sofa auf. «Das glaube ich kaum», sagte sie. «Versuch es einfach mal mit Schönheitsschlaf.»

«Da müsste ich schon hundert Jahre schlafen.»

«Hat Bobo bereits einen Chirurgen an der Hand?»

«Er hat mir dessen Visitenkarte gegeben.»

«Sprich mit Marike drüber. Oder mit Theo.»

«Die beiden sind Gynäkologen. Ich will mir ja nicht meine Schamlippen straffen lassen. Obwohl das gar keine schlechte Idee wäre.»

«Du bist betrunken», sagte Lina. Sie schloss auch den letzten der Fensterflügel und fing an die Lampen auszuschalten. «Ab ins Bett.»

«Du hast noch immer was von einer Lehrerin an dir», sagte Louise. Doch sie stand auf und ging ins Badezimmer.

 

Henny hatte den kleinen Bogen gemacht und Käthe nach Hause begleitet. Von da war es nur noch ein kurzer Weg zur Körnerstraße, in der sie seit vielen Jahren mit Theo lebte.

Rudis dunkle Silhouette hinter dem einen Fenster im Erdgeschoss, in dem noch Licht war. Vielleicht sah er sie vor dem Haus stehen, vielleicht auch nicht, er zog sich ins Innere der Wohnung zurück. Vielleicht war er einfach nur diskret.

«Denkst du manchmal daran, dass dir Theo sterben könnte?»

«Er hat mir versprochen, neunzig zu werden.»

«Möge ihm das gelingen.» Käthe seufzte. «Ich weiß nicht, ob ich ohne Rudi leben will. Als er so lange nicht aus dem Krieg zurückkam, glaubte ich, mich mit seinem Tod abgefunden zu haben.»

«Gibt es einen Grund, darüber nachzudenken?»

«Nein», sagte Käthe. «Keine Krankheit. Keine, von der wir wüssten. Doch die Zeit vergeht auf einmal zu schnell.»

«Du warst so übermütig heute Nachmittag.»

Käthe blickte sie an. «Ich habe die Nacht nicht mehr gern, Henny. Im Dunkeln greifen die Dämonen nach mir oder vielmehr die Erinnerungen. Die Erinnerung kann ein schrecklicher Ort sein. Den Tod meiner Mutter in Neuengamme habe ich dann vor Augen. Und Kurt kommt mir in den Sinn, vielleicht hätte er die Nazis überlebt.»

«Er wäre nicht emigriert.»

«Rudi und ich haben die KZs ja auch überlebt.»

«Ihr wart viel jünger als Kurt.»

«Er war noch keine sechsundfünfzig, als er sich das Leben nahm.»

«Sein Freitod hat ihm die Würde bewahrt. Ihm war wichtig, sich nicht von den Nazis umbringen zu lassen.» Henny fing an zu frieren, weil die alte Trauer in ihr hochkam um den Arzt und Freund Kurt Landmann.

«Dir ist kalt», sagte Käthe.

«Dir nicht?»

«Doch. Danke, dass du mich bis vor die Tür gebracht hast.» Käthe beugte sich vor und gab Henny einen kleinen Kuss auf die Wange. «Früher war ich die Unerschrockene», sagte sie.

«Du bist es noch immer, wenn du den Autos vor die Kühler springst.»

«Ich bin keinem vor den Kühler gesprungen.»

«Acht Sprünge. Ich bin stolz auf dich.»

«Lass uns noch lange am Leben bleiben», sagte Käthe.

«Unbedingt. Um mit Kurt zu sprechen.»

Käthe sah ihrer Freundin nach, die nun eiligen Schrittes davonging. Trotz des engen Rocks, den Henny trug.

 

Gar nicht leicht, supersexy enge Teile in den Ateliers aufzutreiben. Die Pariser Szene fing an, den Folklorelook der Hippies nachzuahmen, lauter Volantkleider, vieles schlabberte, und auch die Bauernblusen, die gerade en vogue waren, wirkten wie voluminöse, bestickte Sofakissen.

In der Werkstatt eines Modeschöpfers in der Rue Tiquetonne wurde Jean schließlich fündig, der junge Mann experimentierte mit einem Kunstmaterial, das aussah wie Schlangenhaut, und nähte schmale Kleider daraus.

Florentine fand, sie sähe in dem knöchellangen Kleid in Kittweiß mit schwarzem Muster aus wie eine Python, die gerade ein Kaninchen verschluckt hatte und sich besser zum Verdauen hinlegen sollte.

«Du bist eine prächtige Schwarzkopfpython», sagte Jean. «Die Leute in der Redaktion werden hingerissen sein.»

Florentine balancierte auf den hohen dünnen Absätzen der Stiefel, das Körpergefühl fing an, ein anderes zu werden.

«Vous êtes un rêve», sagte die alte Audrey, die sie schminkte. Sähen Robert oder Alex diese Bilder, würden sie ohne Zweifel annehmen zu träumen. Oder eher zu halluzinieren. Doch warum sollten sie die Paris Match lesen? Alex sprach zwar ein ganz passables Französisch, die Illustrierte gehörte aber kaum zu seiner Lektüre. Er las neben den Tageszeitungen nur den Spiegel und das Jazz Podium.

«Genau so», sagte Jean. «Lass die Hände mal auf dem Bauch liegen. Florentine Yan im Mutterglück. Perfekt.» Er zog ein weiteres Bild aus der Polaroidkassette, die der Hasselblad anhing. «Audrey hat recht, du bist ein Traum», sagte er und zeigte ihr die Polaroids.

«Ich gucke drein wie ein schläfriges Schaf.»

«Unsinn. Du guckst seelenvoll. In welchem Monat bist du eigentlich?»

«Anfang des siebten.»

«Dann ist der Geburtstermin wann?»

«Im Juni.»

«Warum bist du nervös? Dauernd leckst du an deinen Lippen rum. Rouge à lèvre, Audrey.»

Florentine ließ sich das Rot auf die Lippen legen und stieß einen Seufzer aus. «Ich zweifle, ob die Fotos eine gute Idee sind.»

Jean grinste. «Zu spät», sagte er.

«Würde ich dein verwaschenes Deutsch nicht so gerne hören, wäre ich gar nicht darauf eingegangen», sagte Florentine.

«Deine Tochter wird mir einmal danken. Diese tollen Aufnahmen von eurer Schwangerschaft.»

«Tochter?»

«Schön wie ihre Mutter», sagte Jean. «Ich vermute, du hast ihr einen gutaussehenden Vater ausgesucht.»

 

Robert sah auf die Uhr, als er aus dem Funkhaus kam. Noch war es zu früh, in die Johnsallee zu gehen, um Gustes Essenseinladung zu folgen und dort Ida und Tian zu treffen, die ihn gern als Schwiegersohn sähen. Doch er hatte die Hoffnung aufgegeben, Florentine zu heiraten.

Dabei zweifelte er nicht länger, dass sie ihn liebte. Ihn und Alex. Der war vergeben, das sah auch Florentine ein. Er schob den Gedanken, der da in seinen Kopf geriet, zur Seite und entschied, ins Funk-Eck hinüberzugehen auf einen Kaffee und eine Zigarettenlänge.

Eine zweite Zigarette, die er gerade anzündete, als Klaus in das Café kam. Robert brauchte einen Augenblick, bis er die junge Frau an der Seite des Freundes und langjährigen NDR-Kollegen als dessen Nichte erkannte. Erwachsen war sie geworden, die kleine Katja. Er stand auf, als sie an seinen Tisch kamen. «Setzt euch. Oder habt ihr was zu bereden und wollt lieber allein sein?»

«Geht lediglich um eine Beziehungskrise», sagte Katja. Sie sah, dass Robert ihrem Onkel einen fragenden Blick zuwarf. «Meine. Klaus ist nur die Klagemauer.»

«Bin auch gleich weg», sagte Robert. «Essen in der Johnsallee.»

«Ich habe gehört, Florentine kommt nächste Woche zurück», sagte Klaus.

«Ein Glück. Die Telefonrechnungen ruinieren mich.»

«Das wird wohl nicht das einzige Glück eures Wiedersehens sein.»

«Du weißt doch, wie sehr ich an Sweet Florraine hänge.»

«Ja», sagte Klaus. Das wusste er.

«Und Alex ist ab Sonntag mit dem Quintett in Montreux?», fragte Robert, um von der eigenen Liebe abzulenken.

Klaus nickte. «Ich vermisse ihn jetzt schon.»

Robert hob die Hand und fing den Blick des Kellners ein. Er zahlte und verabschiedete sich von den beiden. «Ich hasse Karsten», hörte er Katja noch sagen, als er ging. Klang nach Liebe.

Er kam an seinem Auto vorbei, das in der Rothenbaumchaussee stand, und nahm die Tüte mit den Weinflaschen vom Rücksitz. Ein Gastgeschenk für Guste. Gut gekühlt, der Riesling. Der Tag war nicht sonnenwarm gewesen wie der gestrige.

«Ich hoffe, du hast dein blaues Auge noch, lieber Husky», hatte Florentine am Telefon gesagt. «Du weißt, wie sehr du mir damit gefällst. Tausch es nicht aus.»

Als habe sie geahnt, dass er sich mit der Absicht trug, genau das zu tun, sein blaues Glasauge endlich durch ein grünes zu ersetzen. Einäugig war er 1945 aus dem Krieg zurückgekehrt, fünfundzwanzig Jahre später hätte er nichts dagegen, noch einmal zwei grüne Augen zu haben.

Vor dem Haus in der Johnsallee fuhr sich Robert mit der Hand durch das noch immer dichte schwarze Haar. Ob blau. Ob grün. Er hielt sich gut. Wenn Florentine ihn nur nicht eines Tages zu alt fände.

 

Hatte Karsten jemals gesagt, er sähe Katja als kongeniale Partnerin? Die Idee von Ebenbürtigkeit schien verlorengegangen, er gab längst den großen Zampano.

Ihr Studium an der Werkkunstschule in der Armgartstraße war für Karsten nur Spanschachtelmalerei, während er das Weltgeschehen vor der Kamera hatte. Er liebäugelte damit, nach Vietnam zu gehen. Als Kriegsreporter. Ließ sich damit liebäugeln?

«Lieg nur oben», sagte Karsten. «Ich habe nichts dagegen.»

Katja sprang von der Matratze und zog Jeans und Pullover an, ohne lange nach Höschen und BH zu suchen. «Hast du eine Ahnung, wie gönnerhaft du klingst?», fragte sie.

«Kleines, komm wieder unters Laken und reib dich an mir. Ist kalt in der Bude.»

«Ich habe gestern mit Klaus über dich und mich gesprochen.»

«Deinem schwulen Onkel Klaus.»

«Was hat das damit zu tun?»

«Nichts. Nur dass er und sein Lebensgefährte kaum Ahnung von echten Kerlen haben.»

«Einem, wie du es bist?» Katja zog die Augenbrauen hoch und blickte den Kerl an, in den sie noch immer verknallt war.

«Hat er dir einen Rat gegeben?»

«Schluss zu machen mit dir.»

Karsten stieß einen kleinen Pfiff aus. «Und? Wirst du es tun?»

«Lass unser Leben wieder so sein wie im November, als wir in der Schanze fotografiert haben.» Sie blickte auf das plakatgroße Foto in Schwarzweiß, das über dem Bett hing, Reißzwecken hielten es an der Raufasertapete fest. Katja, die an einem Torbogen lehnte, auf dessen Mauern in Ölfarbe Verbote ausgesprochen wurden.

Karsten nickte. «Ich liebe dich, Katja Kratzbürste. Komm her.»

«Ich will zu Hause noch was für den Kurs vorbereiten.»

Er zog ihren Slip unter seinem Kopfkissen hervor. Warf ihn Katja zu. «Du brauchst nicht länger in deinem Kinderzimmer zu wohnen. Ich kann dir hier das erwachsene Leben bieten.»

«Sogar mein kleiner Bruder stört mich beim Arbeiten weniger, als du es tust. Hast du auch noch den BH unterm Kissen?»

«Der liegt in der Küche. Ich habe ihn dir dort ausgezogen.»

Katja sah noch einmal ins Zimmer, als sie aus der Küche kam.

«Komm», sagte Karsten, «morgen fliege ich nach Belfast. Vielleicht erschießt mich die IRA, dann wirst du bereuen, nicht noch mal mit mir geschlafen zu haben.»

«Gib auf dich acht, Karsten», sagte sie.

«Ich liebe dich», sagte er. Seine Stimme kratzte.

Katja hatte da schon die Tür laut ins Schloss fallen lassen und stieg die sechs Treppen des Hauses hinunter.

 

«Wo hast du denn den gefunden?» Ida nahm Tian den Teddy aus der Hand und streichelte die Schnauze mit der kunstledernen Nase.

«Er saß im Dielenschrank hinter den alten Kleidern. Ich hatte gedacht, Florentine hätte ihn längst an sich genommen.»

«Unsere Tochter ist nicht sentimental.»

Tian nickte. «Ihr Vater ist es», sagte er.

«Und was tust du hinter den alten Kleidern?»

«Aussortieren. Das ist doch in deinem Sinne.»

Ida seufzte. «In meinem Sinne ist, sich neu einzurichten.» Sie setzte den Teddy auf die Armlehne des Sessels. «Da passt er gut hin», sagte sie. «Genauso verschlissen.»

«Eines nach dem anderen», sagte Tian. «Die Heizung geht vor. Und nun freuen wir uns erst einmal auf Florentine.»

«Du warst immer ein guter Vater.»

Tian sah Ida an und lächelte. Nahm ihre Hand und küsste sie. Viele Momente ihrer Ehe, die ihnen missglückten, doch sie liebten Florentine, darin waren sie sich einig. «Vorgestern Nacht», sagte Tian. «Das war wunderbar.»

«Ja», sagte Ida und klang schon wieder spröde, als ob sie diese Liebesnacht eines alten Ehepaares aus dem Gedächtnis drängen wollte.

«Du hast gehört, dass Robert sich nicht nehmen lässt, Florentine vom Flughafen abzuholen?», fragte Tian. Lieber das Thema wechseln.

«Ich habe mit am Tisch gesessen, Tian. Wie kam Robert dir vor?»

«Liebenswert. Wie immer. Warum fragst du?»

«Ich fand ihn ernster als sonst.»

«Er hat Florentine seit dem Jahreswechsel nicht gesehen, ich fürchte, das verunsichert ihn. Dass sie einen Pariser Liebhaber aus dem Hut zaubert. Sie soll ihm endlich sagen, was sie will. In ihrem Alter warst du schon neun Jahre verheiratet, wenn auch leider nicht mit mir.»

«Heute ist das alles anders», sagte Ida. «Übrigens will Florentine den Frühling und den Sommer in Hamburg verbringen.»

Tian ließ den Mund leicht offen stehen vor lauter Staunen. «Das hat sie dir gesagt? Will sie eine Auszeit nehmen?»

Ida hob die Schultern.

«Und warum höre ich jetzt erst davon?»

«Vielleicht habe ich es nicht ernst genommen. Robert scheint nichts davon zu wissen, sonst hätte er es gestern erwähnt.»

«Irgendein lockendes Angebot aus New York oder Paris, und sie fliegt uns davon. Bleibt es bei ihrer Ankunft am Freitag?»

«Soweit ich weiß», sagte Ida. «Ich geh jetzt mal zu Guste hinunter. Anni, Momme und die Kinder sind gerade mal einen Tag weg, und sie leidet schon an der Stille im Haus. In Florentines Kindheit waren wir nie in den Skiferien, nicht mal im Harz.»

«Als die Skiferien in Hamburg eingeführt wurden, war Florentine schon dreiundzwanzig.»

«Wir haben viel versäumt, Tian.»

Er sagte nicht, dass Ida zu lange gezögert hatte, sich von Campmann zu trennen, weil sie nicht auf das luxuriöse Leben verzichten wollte, das der Bankier ihr bot.

Doch Idas Ehemann war fair gewesen, als Ida von Tian schwanger wurde; er hatte die Vaterschaft bis zum Ende der Nazis nicht bestritten und damit verhindert, dass Tian, der Sohn chinesischer Eltern, aus Gründen der Rassenschande von der Gestapo abgeholt wurde.

«Ich würde dich und Guste gern zum Essen einladen. Vielleicht ins Ehmke. Am Sonntag?»

«Ehmke soll inzwischen eine ziemliche Bruchbude sein», sagte Ida.

«Dann gehen wir ins Gustav Adolph und essen Königinpasteten.»

«Ach was. Lass uns zu Ehmke gehen, wer weiß, wie lange es die noch gibt, Guste liebt deren Roastbeef. Können wir uns das denn leisten?»

«Viel eher als Skiferien auf der Bettmeralp», sagte Tian.

 

«Ich habe mich von András getrennt.» Ruth blickte in das Gesicht ihres Vaters, Ungläubigkeit las sie darin und Hoffnung.

Rudi ließ die Gabel sinken und legte sie auf den Teller neben den Auberginenauflauf. Griff die Hand der jungen Frau, die als sechsjähriges Kind in sein Leben gekommen war, die Käthe und er adoptiert hatten, als sie allein dastand nach dem Tod ihres Großvaters.

«Ich ertrag es nicht länger, ihn mit anderen Frauen zu teilen.» Ruth entzog Rudi die Hand und stocherte in ihrem Auflauf.

«Das hast du dir lange gefallen lassen.»

«Da war ich seine Hauptfrau.»

«Ruth. Um Himmels willen. Ist er ein afrikanischer Häuptling?» Steif saß Rudi auf dem schlichten Holzstuhl des griechischen Restaurants. Sein ganzer Körper spannte sich an, wenn er nur an den aufgeblasenen András Bing dachte, der sich für einen Linken hielt, einen Revolutionär.

«Ich weiß», sagte Ruth. «Das widerspricht allem, was ich denke und verwirklichen und wahrhaben will.»

«Ich flehe dich an, nicht zu wanken in deinem Entschluss.»

«Entspann dich, Papa. Das mit András und mir ist vorbei.»

Lass es wahr sein, dachte Rudi. Gott, lass es wahr sein. Er blickte aus dem Fenster auf die Straße, von der Legenden erzählten, warum sie den Namen Schulterblatt trug. Er war als junger Mann in den Kommunismus hineingeraten, den Nazis zum Trotz Kommunist geblieben, als er längst nicht mehr daran geglaubt hatte. Unerträglich, wenn Ruth in einen anderen Wahn geriete, der sich mit Idealen tarnte und doch nur Brand stiftete.

«Geht es dir gut in der Redaktion?»

Ruth schob ihren Teller zur Seite. «Vielleicht höre ich da auf», sagte sie. «In Berlin entsteht eine Zeitung, an der ich mitarbeiten könnte. Bei der konkret ist alles festgefahren.»

«Berlin», sagte Rudi. Die Sorge war zurück in seinem Gesicht.

«András ist nicht mehr in Berlin, Papa.»

Ein Versuch, ihn zu beschwichtigen mit dem nun schon zweifachen Einsatz des Wortes Papa, das er als Kosename empfand, weil Ruth es so zögerlich verwendete.

«Was ist das für eine Zeitung?»

«Noch nicht spruchreif.»

«Aber reif genug, um deine Redakteursstelle aufzugeben, die du gerade erst ein Jahr hast?»

«Du bist 1933 auch deinen Weg gegangen, um für das einzustehen, was du für wichtig hieltest.»

«Da stand im Vordergrund, die Nazis zu bekämpfen. Gegen wen kämpfst du, Ruth?» Gleich würde sie sagen, gegen den amerikanischen Imperialismus, den Vietnamkrieg, doch es war nur ein kühler Blick, der Rudi traf. Nun schob auch er den Teller beiseite.

«Die Moussaka hat Ihnen nicht geschmeckt?», fragte der Wirt des Olympischen Feuer, als er die Teller vom Tisch nahm.

«Wir haben uns um den Appetit gebracht», sagte Rudi. «Leider.»

«Vielleicht hilft ein Ouzo?»

Rudi nickte lächelnd. Er wollte keinen Anisschnaps trinken, doch er fühlte sich schuldig des kaum angerührten Essens wegen.

«Für mich nicht», sagte Ruth. Auf ihrer hohen Stirn zogen sich strenge Linien. Sie schüttelte die kurzen Locken, die ihr nun fast in die grauen Augen fielen und die Strenge verdeckten.

«Bitte vertrau dich mir an», sagte Rudi.

«Du wirst der Erste sein, der etwas erfährt.»

«Wo hält sich András auf?»

«Es ist vorbei. Glaub mir das einfach. Er ist mit Janne nach Jordanien abgedampft.»

Rudi neigte nicht dazu, Ängste zu schüren. Nicht in sich und nicht in anderen. Der Name András jedoch war für ihn seit Jahren mit einem drohenden Unheil verbunden.

«Jordanien?» War dieser Unruheherd ein Urlaubsziel?

«Lass uns zahlen», sagte Ruth.

Rudi gab dem Wirt ein Zeichen. «Wer ist Janne?», fragte er.

«So nennt sie sich.»

«Und wer ist sie? Außer Bings neuer Hauptfrau?»

«Ich bin nicht hergekommen, um Quiz zu spielen.»

Rudi trank den Ouzo und zückte sein Portemonnaie.

 

Guste hätte glatt einen Ochsen geschlachtet, um die Heimkehr der verlorenen Tochter zu feiern, doch sie begnügte sich damit, einen Sauerbraten in Essig einzulegen, zusammen mit der Zwiebel, den Pfefferkörnern, Wacholderbeeren, den Kemm’schen Kuchen. Gustes Sauerbraten aß Florentine gern, auch die Klöße, die es dazu gab. Höchste Zeit, dass sie mal tüchtig zulangte, hatte verhungert ausgesehen auf den jüngsten Fotos.

Nun die schwere Steingutterrine mit dem Fleisch in den Kühlschrank, dort konnte das dann sechs Tage lang ziehen. Guste setzte sich an den Küchentisch und sah in ihren Garten. Ganz einsam, die Schaukel, auf der schon Florentine gesessen hatte. Nein. Brett und Seile waren ja erneuert worden, nur das Eisengestell war noch das alte, von Momme im letzten Jahr entrostet und neu lackiert. Schaukelten ja jetzt auch seine drei Töchter drauf.

Hoffentlich brach sich keiner was bei dieser Skilauferei. Die Kleinste würden Momme und Anni ja wohl auf einen Schlitten setzen und nicht auf diese tückischen Bretter stellen. Das Kind war noch keine fünf. Guste schüttelte den Kopf. Schnee schätzte sie nur zur Weihnachtszeit, dann taugte er als Stimmungsmacher.

Robert war ihr ziemlich still erschienen beim Essen am Donnerstag, Florentinchen machte es ihm auch nicht leicht. Im Dezember war der Junge siebenundvierzig geworden, ihm lief die Zeit davon. Alex ließ sich seine Jahre noch immer nicht ansehen, das hatte sie gestern wieder gedacht, da war er vom Funkhaus auf einen Sprung zu ihr gekommen. Doch die Angst vorm Fliegen wurde Alex nicht los, morgen musste er mit seinen Musikern nach Montreux. Er hatte gelächelt, als sie ihm das Fläschchen mit den Baldriantropfen gab, und gesagt, er brauche eher eine Vollnarkose.

Guste stand auf, um Kaffee zu mahlen und einen Kessel Wasser aufzusetzen, vielleicht lockte der Duft Ida herbei, ein kleiner Tratsch täte gut. Tian war ein Teetrinker geblieben trotz des Kaffeekontors, dem er noch immer vorstand. Eine feine Idee von ihm, sie und Ida morgen ins Ehmke einzuladen.

Die alte Kaffeemühle mit der Kurbel, an der hing sie, Momme hatte schon längst eine elektrische anschaffen wollen. Da fielen einem doch die Ohren ab, so einen Krach machten die. Guste stellte die Mühle auf den Tisch und wandte sich gleich wieder dem Herd zu. Wer heißes Wasser wollte, sollte den Herd anschalten. Irgendwie war sie fahrig heute. Kriegte seit Tagen den Gedanken nicht aus dem Kopf, dass was im Busche sei.

 

Klaus legte den Hörer auf. Alex war gut gelandet in Genf und schien nun in der Lage, sich auf die Konzerte in Montreux zu konzentrieren. Sein lieber Gefährte sollte den Gesprächstherapeuten im Neuen Wall noch einmal aufsuchen, es wurde schlimmer mit Alex’ Flugangst.

Er kehrte zum Schreibtisch zurück, las die Liste der Musiker, die zum Workshop des Norddeutschen Rundfunks eingeladen waren, Chet Baker unter ihnen, zum ersten Mal seit Bakers großem Karriereeinbruch. Bei einer Schlägerei in Kalifornien hatte er einige Zähne verloren und musste sich schließlich alle ziehen lassen. Eine Zahnprothese war der Albtraum eines Trompeters.

Die Vorbereitung der Workshops gehörte nicht zu Klaus’ Aufgaben, doch er hatte vor, Titel der Teilnehmer in seiner Sendung zu spielen.

Nach der Dämmerung hielt seit siebzehn Jahren den festen Sendeplatz am Freitag ab zweiundzwanzig Uhr, Klaus als Macher war inzwischen eine Institution und über den Sendebereich des NDR hinaus bekannt.

Im Sommer war er zum Newport Jazz Festival eingeladen, er hatte noch nicht zugesagt, sie hatten in der Zeit Urlaub machen wollen, und Alex würde ihn kaum an die amerikanische Ostküste begleiten, es sei denn, er könnte auf einem Frachter reisen. Undenkbar, dass er sich auf einen Langstreckenflug einließ.

In welch ein Sensibelchen hatte er sich da im Januar 1951 so lebenslang verliebt.

Er stand auf, als das Telefon erneut klingelte. Sie hatten einen zweiten Apparat im Schlafzimmer, doch den hier nicht am Schreibtisch greifbar zu haben, war ärgerlich. Vielleicht sollten sie ohnehin noch einmal über eine andere geräumigere Wohnung nachdenken, leisten könnten sie sich das, doch sie hatten den Gedanken immer wieder fallen lassen. Alex und er betrachteten diese beiden großen Zimmer mit der Dachterrasse und dem Blick auf die Alster beinah als Talisman.

«Hallo, kleiner Bruder», sagte Marike. «Ich will mit dir über Mamas Geburtstag sprechen.»

«Essen im Mühlenkamper Fährhaus am 26. März, die Freundinnen kommen mit Anhang drei Tage später zum Osterfrühstück und im Juni ein großes Sommerfest für Henny und Käthe in der Körnerstraße», sagte Klaus.

«Brav», sagte Marike. «Ich dachte aber an familiäre Darbietungen.»

Klaus stöhnte. «Bitte kein Kasperletheater.»

«Kasperletheater?»

«Szenen aus Mamas Leben, von uns aufgeführt.»

«Vielleicht die in Elses Küche, als du die Erklärung zu deiner sexuellen Orientierung gegeben hast.»

«Oder wie Ernst dauernd bei Mama meckerte, weil du auf dem Balkon mit Thies geknutscht hast.»

«Wir geraten gerade aneinander», sagte Marike. «Lass uns das Gespräch noch mal von vorne beginnen.»

«Theo wird beim Frühstück sicher eine kleine Rede halten.»

«Etwas, das von uns Kindern kommt. Du und ich. Katja. Konstantin hat schon ein Familienporträt gemalt. Wir haben alle Hundenasen.»

«Fein», sagte Klaus. «Ich habe meine immer als zu lang empfunden.»

«Denk mal drüber nach. Du schüttelst in deinen Sendungen doch alles aus dem Ärmel.»

«Da steckt auch Arbeit drin, Schwesterlein.»

Klaus seufzte, als das Gespräch beendet war. Hatte seine Großmutter als junge Frau nicht gern Lieder auf Familienfeiern gesungen? Das hatte Else mal erzählt. Mariechen saß weinend im Garten, im Grase lag schlummernd ihr Kind. Küchenlieder. Er und Marike könnten das Mariechen auf Hennys Leben umdichten, und Alex begleitete sie auf dem Klavier. Eine herzige Vorstellung.

Er ging in die Küche und schenkte sich ein Glas von dem Weißwein ein, der schon geöffnet im Kühlschrank stand. Wanderte durch das große lichte Zimmer, in dem sie arbeiteten, wohnten, aßen, nahm die Fotografie im Silberrahmen in die Hand, die Alex’ Familie zeigte. Eltern, Schwester, Schwager und zwei Nichten in einem Fotoatelier am Grindel aufgenommen. Für den fernen Sohn in Argentinien.

Klaus bewahrte die Familienfotos in einem Karton auf, zelebrierte keines im Silberrahmen, seine Familie lebte und umgab ihn, die von Alex war in einer Bombennacht des Juli 1943 im Keller ihres Hauses verbrannt.

Henny hatte auch kein leichtes Leben gehabt in den ersten fünfzig Jahren des Jahrhunderts, ihr Vater im Herbst 1914 gefallen, dann der allzu frühe Tod von Lud, Marikes Vater. Die schwierige Ehe mit Ernst, seinem Vater. Angst um Käthe und Rudi, die den Nazis widerstanden und beide in Konzentrationslagern gequält wurden. Krieg. Der Verlust der Wohnung. Seine Mutter kannte Abschiede in allen Variationen.

Die zwanzig Jahre an Theos Seite hatten ihr Glück gebracht. Wenn es doch noch lange so bliebe, Klaus hoffte darauf.

Er öffnete die Terrassentür und trat hinaus. Ein vorsichtiges Grün an den Bäumen. Die Alster lag schon in der Dämmerung an diesem frühen Abend. Lass uns alle ein langes Leben haben. Klaus sagte es laut. Bat Gott darum. An den er doch gar nicht glaubte.

 

Florentine hatte die aktuelle Paris Match schon am Kiosk gesehen, Salvador Dalí auf dem Titel. Eine unsinnige Hoffnung, dass ihre Fotos vielleicht gar nicht im Heft waren, denn sonst hätte ihr Telefon in der Wohnung an der Place des Vosges geklingelt.

Am Montagabend klingelte es dafür lang und anhaltend an ihrer Tür und hörte nicht auf, sie stieg aus der Badewanne und warf sich den Frotteemantel über. Die Concierge vielleicht, die ein erneutes Abdrehen des Wassers ankündigen wollte.

«Qui est là?», fragte Florentine.

«Der Bote mit den Belegexemplaren», sagte Jean.

Florentine öffnete. «Du hast mich aus der Badewanne geholt.»

«Die Bilder entschädigen dich dafür», sagte der stolze Fotograf. Er ging zu dem alten Bauerntisch, der in der Küche stand, und schlug die Illustrierte auf. Maman Florentine stand in großen Lettern auf der Doppelseite.

«Ach du liebe Güte.» Florentine blätterte um. Kein Lauftext, doch eine Bildlegende auf der zweiten Doppelseite. Dass sie im siebten Monat sei und ein Geheimnis um den Vater ihres Kindes mache, man aber wisse, dass er aus Hamburg komme. Ein nervöses Kichern von ihr.

«Die Fotos sind phantastisch», sagte Jean. «Von dir ganz abgesehen. Der Stern will sie nachdrucken.»

Florentine zog einen der beiden Stühle heran und setzte sich. Ein kleiner Anfall von Schwäche. «Wann?»

«Noch nicht in der nächsten Ausgabe. Stört dich die Verzögerung?»

«Ganz im Gegenteil. Ich will nicht, dass meine Familie aus einer Illustrierten erfährt, dass ich ein Kind kriege.»

«Oh», sagte Jean. «Weiß der werdende Vater schon davon?»

Florentine schüttelte den Kopf.

«Ich nehme an, das ist der Zug der neuen Zeit», sagte Jean. «Vielleicht sind wir in unserem kleinen Luxemburg doch noch ziemlich altmodisch. Ist es in Ordnung, wenn ich dir zwei Exemplare dalasse?»

«Ich will nur eines», sagte Florentine.

«Gut. Gleich treffe ich mich mit meiner Freundin, dann kann ich ihr eine Paris Match geben. Wir werden uns übrigens verloben», sagte Jean.

Florentine lachte. «Ihr Luxemburger», sagte sie.

Das Telefon klingelte, kaum dass Jean sie verlassen hatte. Madame Auber, ihre Agenturchefin. Doch die war als Einzige eingeweiht gewesen, wusste seit Januar von Florentines Schwangerschaft und der Auszeit, die sie sich nehmen wollte.

Noch zwei Anrufe an diesem Abend. Aus Paris. Der dritte kam vom Husky. Zur guten Nacht. Wie an jedem Tag. Der Husky freute sich auf ihr Kommen und war ganz offensichtlich ahnungslos, Florentine atmete auf. Die Nachricht hatte nicht nach Hamburg gefunden. Vielleicht gelang es ihr, die Überbringerin zu sein.

 

An den Dienstagen half Henny noch in der Praxis aus, die ganz in die Hände ihrer Tochter übergegangen war, Theo stand seit Anfang des Jahres nur für den Notfall bereit, der kaum eintrat. Der siebenjährige Konstantin kam nach der Schule zu ihnen in die Körnerstraße, lud die Freunde zum Spielen dorthin ein, zur Freude des Großvaters, den Stille störte, kein Kinderlärm. Marike konnte sich auf die Praxis konzentrieren.

Gelegentlich assistierte auch Käthe noch, der die gynäkologische Praxis im Neuen Wall seit vielen Jahren vertraut war. Doch hauptsächlich lag die Assistenz seit November in den Händen einer kompetenten, aber schweigsamen jungen Frau.

Vor allem schwieg sie darüber, was es mit den Dienstagen auf sich hatte, an denen sie nicht arbeitete. Irgendwann würde das ein Problem sein, sollte sich Henny zurückziehen, obwohl das noch in weiter Ferne schien.

«Ich komme gut aus mit ihr», sagte Marike an diesem Dienstag. «Ich wünschte nur, sie wäre gesprächiger.»

Henny stellte das Tablett mit den Kaffeetassen auf den Schreibtisch ihrer Tochter. «Gesche hat ein Geheimnis. Kaum anzunehmen, dass es anders als dunkel ist.»

Marike seufzte. Eine gute Assistentin zu finden, war nicht einfach gewesen. Viele Bewerberinnen verstanden sich im alten Sinne als Sprechstundenhilfen, die das souveräne und moderne Arbeiten in Marikes Praxis verunsicherte.

Henny und Käthe waren von Kurt Landmann ausgebildet worden, er hatte bei seinen Hebammen ein selbständiges Handeln gefördert. Der langjährige Arzt der Finkenau war schon in den zwanziger Jahren seiner Zeit voraus gewesen, ein glänzender und geliebter Chef, bis er 1933 die Klinik verlassen musste, seiner jüdischen Herkunft wegen.

«Florentine kommt am Freitag. Ida ist glücklich, dass sie diesmal anscheinend länger in Hamburg bleiben will.»

«Am nächsten Montag hat sie einen Termin bei mir. Nicht, dass sie noch dünner geworden ist, ihr Zyklus ist ohnehin schon unzuverlässig. Gibt es Neues von ihr und Robert?»

«Ida und Tian hoffen, dass sie ihn endlich erhört.» Henny teilte diese Hoffnung, nur sie und Theo waren eingeweiht in das, was im September zwischen Florentine und Alex geschehen war.

«Florentine hetzt seit zehn Jahren um die Welt», sagte Marike. «Ich fürchte, sie findet aus dem Tempo nicht mehr heraus.» Sie trank den Kaffee aus und stellte die Tasse auf das Tablett. «Was könnte Gesches Geheimnis sein? Hast du eine Vermutung?»

«Ein Doppelleben, das an Dienstagen stattfindet», sagte Henny.

 

Zwei Konzerte in Montreux lagen hinter den Musikern, das Quintett traf zeitig am Genfer Flughafen ein, gab das Gepäck mit den Instrumenten auf. Alex wäre entspannt gewesen, stünde ihm der Flug nicht bevor.

Er blieb am Zeitungskiosk stehen, sich mit Lektüre eindecken, alles, was ihn ablenken konnte, wenn das Flugzeug auf die Startbahn rollte. Hätte der Mensch fliegen sollen, wären ihm Flügel gegeben worden.

Alex kaufte die Herald Tribune und den Spiegel, er wollte sich wieder Hans zuwenden, dem Saxophonisten, der neben ihm stand, als sein Blick auf das Titelbild der Paris Match fiel. Dalí im Samtjackett. Der Maler schien in einem Pariser Café zu sitzen, den dünnen Schnurrbart hatte er wie stets abstrus hoch gezwirbelt. Doch Alex’ Blick blieb am Namen Chet Baker hängen, ein Interview mit dem Trompeter war auf dem Titel angekündigt.

«Kauf die mal», sagte Hans Dörner. «Baker scheint tatsächlich ein Comeback zu schaffen. Gut, dass er beim Workshop dabei ist.»

Alex hatte die alte Aktentasche mit den Klavierstimmen in der einen Hand, als sie den Warteraum hinter dem Gate verließen, in der anderen die Tüte mit den Zeitschriften. Eine Werbung der Peter Stuyvesant auf der Tüte: Der Duft der großen weiten Welt.

«Vielleicht würden Zigaretten dich entspannen», sagte Hans. «Du solltest anfangen zu rauchen. Eine Stuyvesant steht dir sicher gut.»

Alex schüttelte den Kopf. «Du rauchst doch auch nicht.»

«Ich brauche meine Luft fürs Saxophon», sagte Hans.

Sie stiegen in den Bus, der sie zum Flugzeug bringen sollte.

Alex nahm die Paris Match aus der Tüte, nachdem er den Gangplatz eingenommen hatte, sich angeschnallt, der Stewardess zugesehen, die auf Notausgänge und Spucktüten hinwies. Chet Baker gelänge es am ehesten, ihn auf andere Gedanken zu bringen.

Er schloss die Augen, als die Caravelle der Swissair zur Startbahn fuhr, die Maschine Vollgas aufnahm. Als sie die Reisehöhe erreicht hatten, schlug er die Seiten des Interviews mit Chet Baker auf. Las es. Übersetzte für Hans. Blätterte die nächsten Seiten um. Maman Florentine.

«Du bist kreidebleich», sagte sein Saxophonist. «Das nimmt schon hysterische Züge an mit dir und der Fliegerei. So fertig, wie du aussiehst, kann ich dich in Hamburg zum Taxi tragen. Ich habe dir gesagt, dass es ein Fehler ist, deinen Stock in den Basskoffer zu tun.»

Hans’ Blick fiel auf die Illustrierte, die aufgeschlagen vor Alex auf dem kleinen Klapptisch lag. Der schien inzwischen in ein Wachkoma gefallen zu sein. «Hey, das ist doch Roberts Freundin», sagte Hans und stieß ihm den Ellbogen in die Seite. «Ob er der Vater des Kindes ist?»

Alex atmete tief ein und drehte sich Hans zu. «Davon gehe ich aus. Er hofft schon lange darauf, eine Familie mit Florentine zu gründen.»

«Dass diese fulminante Frau sich auf unseren Tontechniker eingelassen hat. Du denkst, an ihrer Seite sei Gunter Sachs oder der Aga Khan. Robert sieht ja gut aus, aber eine großartige Partie ist er nun nicht.»

«Sie verdient genügend, um die Kasse zu füllen.»

«Du bist auch mit ihr ausgegangen», sagte Hans. Die Spekulationen der Bild-Zeitung, dass der Jazzmusiker und das Fotomodell ein Paar seien, erwähnte er nicht. Hans wusste, mit wem Alex zusammenlebte. «Soll ich dich nachher nach Hause bringen?»

«Lieb von dir. Doch das ist nicht nötig. Vielleicht hilfst du mir bei der Gepäckausgabe.»

«Klar. Ich nehme auch den Basskoffer vom Band und öffne ihn dir, falls Bert das nicht tut.»

Der neue Bassist konnte stoffelig sein.

«Hans, ich danke dir für unsere Zusammenarbeit. Für deine Geduld mit mir und meinen Macken. Im nächsten Jahr sind es zwei Jahrzehnte.»

«Und noch immer sind wir so herrlich jung», sagte Hans. Er grinste.

 

Am Spiegel in der Garderobe steckte ein Zettel. Schön, dass du da bist. Ich habe dich vermisst. Wie gut tat es, geliebt zu werden. Alex seufzte bei dem Gedanken, die kaum verheilte Wunde von Klaus aufzureißen. Er hatte es ihm letzten September gleich gestanden. Keine Affäre. Ein einziger Abend. Noch folgenreicher als gedacht.

Florentine sei im siebten Monat, stand im Text. Das ließe sich leicht nachrechnen. Ob Robert ahnte, dass sie ihn betrogen hatten? In dem halben Jahr, das seither vergangen war, hatte es Augenblicke gegeben, in denen er das befürchtete. Doch nun ging es nicht um Kränkungen und Eifersucht. Es ging um ein Kind, Roberts oder seines.

Alex holte die Reisetasche, die noch vor dem Aufzug im vierten Stock stand, trug sie die Treppe zu ihrer Wohnung im fünften hoch. Packte aus. Klaus würde sicher früh kommen heute Abend. Am Mittwoch hatte er keine Sendung.

Er öffnete den Kühlschrank, griff nach der Flasche Apollinaris, sah einen Karton von Michelsen, Leckereien zu seiner Ankunft vermutlich. Hoffentlich hatten sie noch Lust, die zu essen, wenn Klaus die Fotos gesehen hatte.

Alex nahm die Zeitschriften aus der Aktentasche, die Noten. Er schlug die Paris Match auf und platzierte die Illustrierte auf dem Schreibtisch. War es feige, Klaus nicht vorzuwarnen, ihn mit eigenen Augen schauen und begreifen zu lassen? O ja. Er war sich seiner Feigheit bewusst.

Ein Gedanke, der ihm da in den Kopf kam. Wenn es sein Kind wäre, das auf dem Weg war, dann bliebe noch etwas von den Menschen, die im Keller des Hauses der Gärtnerstraße ihr Leben verloren hatten. Auch wenn es ihn schon nicht mehr gab.

 

Eine Umarmung, als hätten sie einander lange nicht gesehen statt zuletzt vor drei Tagen. Sie setzten sich auf das Sofa, das safrangelb gewesen war und seit wenigen Wochen einen neuen Bezug in sattem Orange hatte, kleine Kissen in leuchtenden Rottönen darauf.

«Ich habe dir die Paris Match auf den Schreibtisch gelegt», sagte Alex, nachdem sie ein Glas Wein getrunken hatten, von den vergangenen Tagen gesprochen.

«Eine Geschichte über das Quintett?»

«Fotos von Florentine», sagte Alex. Klaus stand schon auf, ging zum Schreibtisch. Schweigen, ein anhaltendes. Alex kam vom Sofa hoch.

«Ich nehme an, du hast das Heft nicht wegen Florentine gekauft?»

«Ich hatte keine Ahnung, dass sie da drin ist.»

«Siebter Monat, muss ich da meine Mutter konsultieren, oder ist das sicher, dass es im September gewesen ist?»

«Konsultiere Henny. Doch ich denke, das kommt genau hin.»

«Zwei Tage nach eurem Rendezvous ist Florentine nach New York geflogen. Könnte noch ein anderer Mann im Spiel sein?»

«Ich halte sie für keine Herumschläferin.»

Klaus sah Alex an. Eine Ahnung von Altern in dessen Göttergesicht, vielleicht war er auch nur überfordert. «Du solltest mit Robert reden.»

«Ist es nicht besser, ihn in dem Glauben zu lassen, dass nur er der Vater sein kann? Oder denkst du, Florentine beichtet ihm alles?»

Klaus setzte sich an den alten Esstisch aus Eiche und schwieg. Zupfte an den kurzen Fransen eines der beiden Leinensets, die dort lagen.

«Hast du meine bangen Fragen gehört?»

«Ich denke darüber nach», sagte Klaus.

«Er ahnt, dass da was war mit ihr und mir.»

Klaus nickte. «Vielleicht weiß er schon von ihrer Schwangerschaft.»

«Und hat es niemandem erzählt?»

«Ich fasse das alles nicht», sagte Klaus.

«Es ist Roberts Kind.»

«Was lässt dich das glauben?»

«Intuition?»

«Oder Wunschdenken.»

«Werden wir je Klarheit haben?»

«Wahrscheinlich nicht», sagte Klaus. «Außer das Kind hat grüne Augen, zwei davon.» Ihm misslang das Grinsen. «Vielleicht willst du um ihre Hand anhalten, als Mann, der weiß, was sich gehört.»

«Ich habe vor Jahren um deine Hand angehalten, und du hast mir das Jawort gegeben. Für mich gilt das auf Lebenszeit.»

«Du bist ein sentimentaler Hund», sagte Klaus. Er stand auf. «Ich glaube nicht, dass sie beichtet. Hoffen wir darauf, dass die beiden ihre Elternrolle annehmen und Robert keine Fragen stellt. Heiratsanträge macht er ihr ja, seit er Florentine kennt.»

«Es tut mir endlos leid.»

«Vergiss es», sagte Klaus. «Das haben wir im Herbst zur Genüge durchgekaut.» Wie war ihm zumute? Er wusste es nicht.

 

Robert hielt einen Strauß rosa Tulpen in der Hand, keine Rosen. Auf rote Rosen reagierte Florentine, als wären die ein Klappaltar. Er sah auf seine Uhr, der Flug von Paris Orly war auf der großen Tafel seit einer Weile als gelandet angezeigt. Wurde sie an der Passkontrolle aufgehalten, war ein Koffer verlorengegangen? Die anderen Passagiere des Fluges waren bereits in der Ankunftshalle angekommen.

Da kam sie. Trug ihren weiten Wintermantel, dem Wetter entsprechend, noch immer keine Spur von Frühling, nur dieser eine Tag in der vorigen Woche, an dem es warm gewesen war. Er breitete seine Arme aus, die Tulpen wippten mit den Köpfen.

Florentine küsste ihn. Lang und anhaltend, wie er es kannte. In Robert stieg eine Freude auf. Seine Frau. War ihm erlaubt, das zu denken?

Sie verschwieg ihm, dass sie nach der Passkontrolle eine Weile auf einer Sitzbank gesessen hatte, keine Kreislaufschwäche, obwohl die ihr in der Schwangerschaft ab und zu geschah. Nein, Bammel.

Wie anders hatte sie sich ihre Ankunft vorgestellt, den weiten Mantel öffnend, als wäre sie eine Exhibitionistin, den noch kleinen Bauch zeigend.

Wir werden Eltern, Husky. War er es, der Vater wurde?

Jung schien er ihr. Obwohl er achtzehn Jahre und sechs Tage älter war als sie. Jung, weil so ahnungslos?

«Ist das alles, was du an Gepäck hast?» Er hob die beiden Taschen auf, die Florentine auf den Boden hatte fallen lassen.

«Ich habe wenig mitgenommen.»

«Bleibst du nicht lange?»

«Doch», sagte Florentine.

Sie gingen zum Deux Chevaux, den Robert vorschriftswidrig geparkt hatte. Eines der Wunder dieses Tages, dass er keinen Strafzettel bekommen hatte.

«Wir brauchen wohl bald ein geeigneteres Auto.»

Robert sah sie fragend an. «Wofür geeignet?»

«Wir werden Eltern, Husky», sagte Florentine. Endlich war es heraus. Sie öffnete doch noch den auberginefarbenen Mantel aus weicher Wolle.

Ein großes Staunen in Roberts Gesicht. Dann nur noch Glück. Er nahm sie in die Arme. Wiegte Florentine wie im Tanz. Streichelte ihren Bauch. Hörte nicht auf zu lächeln, als er ihr die Tulpen abnahm, auf die Rückbank legte, die Taschen verstaute, das Auto anließ.

«Warum wusste ich nichts davon?»

«Ich musste mich erst einmal an den Gedanken gewöhnen.»

«Wann wird unser Kind geboren werden?»

«Anfang Juni.»

«Dann warst du Weihnachten schon schwanger und an meinem Geburtstag und am Silvestertag.»

«Ich weiß es seit November», sagte Florentine.

«Und hast die ganze Zeit geschwiegen.» Er schüttelte den Kopf. «Darum waren deine Brüste viel voller.»

Das perfekte Glück hielt an, bis er den Gang einlegte. «Dann haben wir unser Kind im September gezeugt?»

Florentine wandte sich ihm zu. «Ja», sagte sie.

Nein. Er fragte nicht, ob sein Verdacht stimme, dass sie in den Tagen auch mit Alex geschlafen hatte. Vielleicht war das ein Hirngespinst. Er hatte nicht die Absicht, das Glück zu verjagen.

«Werden wir ihm ein Zuhause schaffen?»

Florentine nickte. «In getrennten Wohnungen, Husky.»

Er zögerte, bevor er fragte, wohin er sie fahren sollte.

«Erst einmal zu mir. Hast du noch Zeit?»

«Ich habe mir einen freien Tag genommen.»

«Dann begleite mich nachher in die Johnsallee. Zur Verkündigung. Das können wir Hand in Hand tun.» Sie stellte sich dieses traute Bild vor und lächelte. Ida und Tian würde es gefallen.

«Deine Eltern wissen es noch nicht?»

«Du bist der Erste», sagte Florentine.

 

Die Zimmer waren warm, die Lampe neben dem Egg Chair leuchtete, Florentines Lieblingssessel. Apfelsinen in der Schale. Primeln auf der Kommode. Der Kühlschrank gefüllt. Die Fürsorge ihrer Eltern, Robert hatte keinen Schlüssel zu Florentines Wohnung.

«Lass das Gepäck mal in der Diele stehen, Husky.» Florentine nahm eine Glasvase aus der Vitrine, füllte Wasser ein, stellte die Tulpen hinein.

«Darf ich dir erst mal aus dem Mantel helfen?»

«Du kannst mir auch alles andere ausziehen. Ich hätte große Lust auf einen kleinen Beischlaf. Komm her.»

«Schadet es dem Baby nicht?»

«Das ist gut geschützt. Wenn der Bauch größer wird, nehmen wir andere Stellungen ein.»

«Heute mal auf dem Berberteppich? Oder ist dir das zu hart?»

«Lass uns lieber ins Bett steigen, Husky. Jetzt. In anderthalb Stunden bin ich in der Johnsallee angesagt.»

Als sie danach nebeneinander im Bett lagen, Florentine an ihm lehnte, er in den Himmel vor dem Fenster blickte, dessen milchige Helligkeit den Eindruck gab, es habe geschneit und nicht nur geregnet, dachte Robert, dass er das Gespräch mit Alex suchen sollte. In der Hoffnung zu hören, er habe nur Gespenster gesehen.

 

Ein Lauffeuer, das sich da verbreitete. Am Abend von Florentines Ankunft wussten fast alle Freunde, dass sie ein Kind erwartete.

«Ida ist aus dem Häuschen», sagte Henny, als sie vom Telefon kam, sie hatte ihrer Freundin verschwiegen, dass sie schon am Vortag von Klaus eingeweiht worden war. Sie setzte sich zu Theo, der im Ledersessel saß, die Zeitung vor sich ausgebreitet. «Vielleicht beschert uns Alex ein drittes Enkelkind», sagte sie.

«Das Enkelkind, das du gern von Klaus gehabt hättest?»

Henny schwieg eine Weile, bevor sie eine Gegenfrage stellte. «Hast du nicht immer gesagt, dass auch Alex wie ein Sohn für dich ist?»

Theo nickte. «War Robert dabei, als die Schwangerschaft in der Johnsallee verkündet wurde?»

«Ja. Sie haben auf die jungen Eltern mit Sekt angestoßen.»

«Wir sollten keinen Zweifel an Roberts Vaterschaft aufkommen lassen. Ich denke auch, dass er der Vater ist, Alex hat nur ein einziges Mal mit ihr geschlafen.»

«Eine interessante Theorie für einen Gynäkologen», sagte Henny.

«Nur ein Versuch.» Theo grinste.

«Um zur Entspannung beizutragen?»

«Ich denke nicht, dass es die Beziehung unserer beiden Söhne auf Dauer ernsthaft belasten wird.»

«Du bist ein großer Optimist.»

«Meine Antwort auf Alterspessimismus. Steht so was Altmodisches wie eine Heirat an bei Florentine und Robert?»

«Ida wird es mich wissen lassen.» Henny stand auf und bückte sich, um das Feuer im Kamin neu zu schüren. Theos Frage klang in ihr nach. Das Enkelkind, das du gern von Klaus gehabt hättest? Hatte sie je gehadert mit der Homosexualität ihres Sohnes?

Es war ein Schreck gewesen in der Küche ihrer Mutter, damals im November 1947, als sich Klaus an seinem sechzehnten Geburtstag offenbarte. Die ganze Zeit hatte sie Ernst im Auge behalten, als könne der auf den gemeinsamen Sohn losgehen, ihn schlagen, nicht nur mit seiner schmerzlichen Verachtung. Am Anfang war auch die Angst in ihr gewesen, Klaus könne unter die Räder kommen, ihr gänzlich unbekannte Räder, von denen sie nur das Raunen darüber kannte.

Erst als Alex in das Leben ihres Sohnes kam, die beiden einander liebten und begannen eine feste Beziehung zu führen, hatte sich alles im Guten aufgelöst. Am Anfang war da eine Ambivalenz bei Alex, er hatte vorher noch keinen Mann geliebt, dennoch wusste Henny ihn treu an Klaus’ Seite.

Daran hatte sich nichts geändert. Dieser Abend mit Florentine im September war unter besonderen Umständen geschehen. Doch dass er nun der Vater des Kindes sein könnte, diese Möglichkeit machte ihr zu schaffen, wenn sie auch einen anderen Eindruck geben wollte. Vor allem gegenüber Klaus. Das hörte nie auf, das Bangen um die Kinder, egal, wie alt sie waren. Ein Leben lang warb man um Glück für sie.