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Dieses Buch basiert auf echten Gegebenheiten. Alltagsnahe Geschichten, beobachtet und analysiert. Die Umsetzung von Thesen der Validationstechniken für ein würdevolles Leben mit einer demenziellen Erkrankung. Wenn die Worte des Gegenübers ihre Bedeutung verlieren, die Kommunikation zur Bedrängnis wird, verstummt der an Demenz erkrankte Mensch oder er scheint für die Mitmenschen aggressiv, beziehungsweise es wird von einem ablehnenden Verhalten gesprochen. Es gibt jedoch die Möglichkeit, Menschen mit Demenz würdevoll zu begleiten, damit das Leben noch lebenswert bleibt. DEMENZ GEHT UNS ALLE AN.
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Seitenzahl: 115
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Vorwort
Start in die Welt der Demenz
Helga und Heinz, 40 + 5 Jahre
Unser Otto…ne…nee…nee…
In der Medizin spricht man von den sogenannten 6 A…
Limbisches System - Prozesse unseres Gehirns
Frau Schulz
Handelsvertreter Ludger Dornseifer
Was ist gesetzliche Betreuung?
Frau Feierabend und die alte Küche
W-FRAGEN….. erklärt
Frau Marita Dohmann und ich
Der Maurer und sein Leibgedächtnis
Klara
Demenz und Gottesdienst
Besonderheiten aus der Pflege
Rudi
Festgehalten in der Charta der Rechte für Hilfe- und pflegebedürftige Menschen BMFSFBMG 2006.
Rosa aus Berlin und ihre Handtasche
Das ferne Ufer scheint manchmal so nahe und dann kommt es doch noch ganz anders; wie bei Paula Trippe
Die sogenannten „5 großen i“ in der Geriatrie heute
Luise Hoppe, wanne wanne wanne
Fine Schauerte und das weiße Badezimmer
Agnes Busch, die Frau mit den schnellen Schuhen
Das Wartezimmer…
Nachsatz
Ich hätte fast ein Buch geschrieben: „Ich habe mein Herz im Wäschekorb verloren“. Warum? fragen sie sich jetzt. Nach der Kindererziehung, besser gesagt während der Erziehung und Begleitung unserer Kinder zu starken selbstbewussten Menschen, hätte bei mir vorm Kopf stehen können: Keiner zu Hause!!! Unsere Tochter, die jüngste von drei Kindern, sagte dann Gott sei Dank irgendwann einmal zu mir: „Mama, das ist so peinlich, überall bist du dabei. Suche dir doch was Eigenes“. Erst war ich natürlich völlig baff und gekränkt, heute bin ich meiner Familie sehr dankbar. Am 01.02.2004 begann ich endlich wieder mich aktiv am Gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Ich machte etwas für mich und doch nicht für mich, denn die Kinder und mein Mann konnten davon profitieren, dass ich wieder neuen Gesprächsstoff hatte und nicht in Tränen ausbrach, wenn mal jemand mit schmutzigen Schuhen in den Keller geflitzt war. Ich hatte eine andere Sichtweise und eine andere Lebenseinstellung bekommen. Verfolgte Ziele und ging zur Abendschule. Meiner Familie hierfür an dieser Stelle ganz herzlichen DANK. Im Oktober 2016 absolvierte ich stolz den Demenz Coach in Gütersloh. Auch da bin ich besonders zwei Menschen überaus dankbar, Frau Angela Prattke und Herrn Dirk Eickmeyer, die mir die Chance gaben, meine Erfahrungen zu vertiefen und der Gesellschaft zu Gute kommen zu lassen in dem ich den Kurs: Weiterbildung zum Demenz Coach besuchen durfte und nunmehr als Dozentin unterwegs bin.
Eigentlich war alles ganz normal, wir wurden alt und etwas vergesslich. Doch plötzlich stellte ich hin und wieder eine unzählige Leere in meinem Kopf fest, oder was ich noch als viel schlimmer empfand, ein großes Durcheinander an zu vielen Informationen. Und ich konnte damit plötzlich nichts mehr anfangen...! So ergeht es vielen Menschen die an Demenz erkranken. Demenz ist eine Krankheit, wurde von Alois Alzheimer als solche 1906 beschrieben. Alois Alzheimer entdeckte die Hirnablagerungen als Erster. Heute ist Demenz zur Volkskrankheit geworden. Trotzdem kennt keiner ihren genauen Ursprung oder weiß sie zu heilen. Rund 1,4 Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an Demenz, bis 2050 rechnet die Deutsche Alzheimer Gesellschaft wegen der steigenden Lebenserwartung mit drei Millionen. Als der Psychiater Alois Alzheimer vor gut 100 Jahren an seiner dementen Patientin, Auguste Deter (51 Jahre), erstmals Hirnveränderungen entdeckte, dachte er noch er habe es mit einer ganz seltenen Krankheit zu tun.
Heute unterscheiden wir in der Demenz Demographie in 60 % Alzheimer Demenz (AD)
15 % Vaskuläre Demenz (VD), 5% nur VD und 10% Mischformen mit AD
15 % Lewy-body Demenz (LBD), 3% nur LBD und 12 % Mischformen mit AD
5 % Frontotemporale Demenz (FTD)
5 % andere Demenzen
Man unterscheidet hirnorganische (primäre) und nichthirnorganische (sekundäre) Demenzformen.
Primäre Demenzformen
Die primären Formen treten am häufigsten auf und machen 90 Prozent aller Demenzfälle bei über 65-Jährigen aus. Es liegen neurogenerative oder vaskuläre Veränderungen vor. Spezialisten unterscheiden, ob die Nervenzellen des Gehirns „degenerieren“, also ohne äußerlich erkennbare Ursache untergehen – wie bei der Alzheimer-Krankheit –, oder ob sie z.B. wegen Durchblutungsstörungen schwere Schäden erlitten haben (eine solche Form wird als vaskulärer Demenztyp bezeichnet). Mit zunehmendem Alter treten häufig Mischformen der vaskulären und neurodegenerativen Demenzen auf.
Sekundäre Demenzen
Der geistige Verfall ist Folge einer anderen organischen Erkrankung wie einer Hirnverletzung, einer Hirngeschwulst oder einer Herz-Kreislauf-Krankheit; auch Arzneistoffe und Gifte wie Alkohol oder andere Drogen können dazu führen. Wenn die Grunderkrankung wirksam behandelt wird, Giftstoffe das Gehirn nicht mehr belasten oder Verletzungen geheilt sind, normalisiert sich meist die geistige Leistungsfähigkeit.
Durch das in Kraft treten des Pflegestärkungsgesetzes haben betroffene Angehörige immer mehr Möglichkeiten, ihre an Demenz erkrankten Angehörigen in häuslicher Gemeinschaft betreuen und zugleich auch wohnen zu lassen. Erst, wenn die Krankheit so fortgeschritten ist, dass eine menschliche Überforderung der pflegenden Angehörigen besteht, erfolgt meistens ein Umzug des erkrankten Menschen in ein Seniorenwohnheim. Das Krankheitsbild eines an Demenz erkrankten Menschen verursacht nicht nur Defizite in dem sogenannten „nicht verstehen“ des Gegenübers, sondern er ist auch auf menschliche und geschulte Begleitung angewiesen. Jeder Tag ist voll von neuen Erfahrungen, denn jeder Tag ist die bittere Erkenntnis von Verlust. „Ich beginne die Reise, die zum Sonnenuntergang des Lebens führt“ Zitat von Ronald Reagan. „Du bist verloren, wenn der Kopf nicht mehr mitmacht. Kaputt“ Zitat von Harald Juhnke.
Der an Demenz erkrankte Mensch erleidet Beeinträchtigungen im Umgang mit Aufforderungen, seiner Umgebung, seinen Mitmenschen, seiner Gemütsverfassung, seinen Entscheidungsfähigkeiten, dem Ablauf eines Alltags, Erledigungen von Einkäufen, erkennen des Wohnfeldes und seiner Umgebung, die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, Interesse am Tagesgeschehen, verliert das Zeitgefühl, Soziale Kontakte brechen ab, Gesprächen kann man oft nicht richtig folgen. Diese Liste kann man beliebig erweitern, bis hin zum Verlust eines funktionierenden Bewegungsapparats des Körpers und der Wahrnehmung durch die Sinne. Durch diese Veränderungen entwickeln sich besondere Verhaltensauffälligkeiten bei Demenzerkrankten Menschen. Ein Weg- /Hinlaufen, Impulskontrollstörungen (körperliche Aggressionen), Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung, gestörter Tag-Nachtrhythmus, Schreien / Stöhnen / Weinen etc., Antriebsarm, Desorientiert und das „Vorbeireden“ sind einige von den häufigsten Problematiken. Ergebnisse zeigen, dass bei Betroffenen die Sorge vor einer Stigmatisierung groß ist. Fast jeder vierte demenzkranke versucht seine Erkrankung vor seinem Umfeld zu verbergen. 40 Prozent der Befragten gaben an, dass sie anders behandelt werden und sich ausgeschlossen fühlen, seit ihre Erkrankung dem sozialen Umfeld bekannt ist. Drei von vier Menschen mit Demenz glaubten, dass es in ihrem Heimatland an Verständnis für Demenz mangelt. Nicht selten hat dies zur Folge, dass Betroffene sich zurückziehen und zu verunsichert sind, um neue soziale Kontakte aufzubauen.
Vor ca. zehn Jahren bekam ich von einer Altenpflegerin aus der Ambulanten Pflege den Hilferuf einer Familie übermittelt. Es handelte sich um eine Frau die bereits auf 38 Kilo herunter gehungert war. Die Frau war gerade 70 Jahre alt und von der Alzheimer Erkrankung betroffen. Helga saß zuweilen in ihrem Sessel im Wintergarten oder in der Küche an einem Tisch, gedeckt mit reichlich leckeren, wohlschmeckenden Gerichten. Ihr Ehemann tat alles für diese Frau. Morgens kam eine Dame vom Pflegedienst und führte die Grundpflege durch. Dann übernahm Heinz die volle Betreuung seiner Frau. Da sie immer mehr abnahm und sich immer apathischer verhielt gab er seine Sorgen an den Pflegedienst weiter. Ihr Blick war abweisend und leer. Am ersten Tag unserer Zusammenkunft unterhielt ich mich über zwei Stunden mit Heinz. Seine Frau Helga beobachtete ich aus den Augenwinkeln. Sie nahm uns gar nicht wahr. Lebte in ihrer Welt. Große Traurigkeit stand in den Augen des stattlichen Mannes. Er war an der Grenze seiner Möglichkeiten angelangt. Ich glaube das war auch der Grund, warum er sich so schnell einer so fremden Person wie mir öffnete. Sein Herz war ausgebrannt und er bekam keine Liebe mehr zurück, trotz all seiner Bemühungen und seiner Liebe zu Helga. Große Trauer und auch innere Wut quälten diesen Mann. Sie hatten sich so auf das Rentnerleben gefreut und nun war sie vor 5 Jahren an Alzheimer erkrankt.
Eine unaufhaltbare Krankheit?!?
Wir vereinbarten das ich zweimal in der Woche von 10 Uhr bis 12.30 Uhr zu Helga komme und sie begleite.
Am ersten Vormittag setzte ich mich zu ihr, hielt ihre Hand und nahm ganz sanft Kontakt auf. Ich sprach zu ihr mit weichen und liebevollen Worten, ohne eine Reaktion zu erwarten. Ihr Blick schweifte immer nur auf eine Papierserviette und sie knüllte diese irgendwann zusammen und sagte nur: “So“. Das war das einzige Wort was sie an diesem Morgen sagte. Dieses eine Wort erhellte die Augen von Heinz. Er liebte diese Frau einfach über alles. In den Gesprächen der nächsten Wochen erfuhr ich von Heinz, dass Helga einmal einen Schreibwarenladen besessen hatte. Sie hatte von morgens bis abends hinter der Ladentheke gestanden, Schreib- und Tabakwaren verkauft und unendliche Gespräche geführt. Im Mittag hatte sie sich eine Kleinigkeit zu essen gemacht und zum Abend hin gekocht, wenn ihre zwei Burschen aus der Schule und vom Sport kamen. Diese waren mittlerweile erwachsen. Ein Sohn lebte weiter weg, über den anderen kam keine Äußerung. Ich hatte nun die Auskunft, das Helga immer zielstrebig und emsig gearbeitet hatte. Daher auch ihr bestimmtes „So“ wie sie die Serviette zerknüllt hatte. Ich nahm zu den nächsten Besuchen alte Zeitschriften mit und legte sie auf einen Stapel, in der Küche, vor ihr auf den Tisch.
Sie schaute mich an, die Zeitschriften und der Blick ging häufig hin und her. Plötzlich kam: „na dann soll ich wohl mal anfangen“. Ich war ihr behilflich aufzustehen, denn der Versuch scheiterte wegen ihrer Schwäche. Das wenige Gewicht machte dem Körper und dem Befinden erhebliche Schwierigkeiten. Voller Zufriedenheit legte sie die Zeitschriften fein säuberlich nebeneinander, so dass man sehen konnte welche Ausgabe es war. Wie sie fertig war mit Ihrer Arbeit, zog sie die Hose an den Knien etwas hoch, setzte sich sachte auf den Stuhl und da kam wieder ihr „So“. Ich nahm diesen Moment wahr und holte rasch von der Küchenanrichte das vorbereitete Rosinenbrot, welches Heinz liebevoll zubereitet hatte. Sie schaute sich den Teller mit Brot an, dann mich und meinte: „Das haben wir uns jetzt auch verdient!“. Herzhaft biss sie in das Brot und kaute mit Genuss. Danach stellte ich ihr ein Glas mit Kakao auf den Tisch. Da der Kakao im Glas war, sah sie sofort, dass es etwas zu trinken war. Sie führte das Glas mit beiden Händen zum Mund und lachte mich auf einmal laut an. Innerlich hatte ich mich richtig erschrocken. Eine Frau die sonst apathisch und appetitlos am Tisch saß, nahm solch eine andere Haltung ein.
In den darauffolgenden Wochen fing ich an mit ihr Kuchen zu backen, Gemüse zu putzen und kleine Spaziergänge zu machen. Wenn sie völlig erschöpft war reichte ich ihr etwas zu essen. Sie nahm jede Woche ca. 500 Gramm zu. Die Trinkmenge erhöhte sich auch. Wenn wir im Garten waren und Laub gefegt haben, kam Heinz und sagte zu mir: “Das brauchen Sie nicht zu machen, Sie sollen sich nur um Helga kümmern“. Ihm war es eine Freude zu sehen, wie sich seine Frau entwickelte, aber auch beschämte es ihn, wenn er uns, sprich mich, mit ihr arbeiten sah. Ich war für Helga der Anker im untergehenden Schiff geworden. Mittlerweile kam ich jeden Vormittag. Heinz fuhr sogar jetzt einmal in der Woche zu seinen alten Freunden und sie unternahmen etwas. Das steigerte auch seine Lebensqualität. An einigen Tagen hatte ich das Gefühl, jetzt werde ich kognitiv beeinträchtig. Es standen manchmal Herrensportschuhe vor dem Badezimmer und wenn wir wieder kamen von unseren Runden standen sie vor der Haustür. Es vergingen drei Monate bis ich herausfand, dass der andere Sohn noch mit in häuslicher Gemeinschaft lebte. Er kam genau an dem Tag aus der Küche, wie Helga und ich einmal wegen einem heftigen Regenschauer eher nach Hause kamen. David hatte sich wegen dem Zustand seiner Mutter so geschämt gehabt, fühlte sich an der Abmagerung mit Schuld und hatte somit den Kontakt zu mir vermieden. Wir führten in der Küche ein nettes Pläuschchen. Er schaute nur auf seine Mutter, der ich einen Besen zum Kehren in die Hand gegeben hatte. Seine Stirn war glatt und weich. Ich glaube er hatte in dem Moment gesehen was ihr gefehlt hat. Das einfach TUN, soweit es ihre Kräfte noch zulassen. Irgendwann ergab es sich dann sogar, dass David mit uns spazieren ging, wenn seine Zeit es zuließ. Er erzählte, wie die Nachbarn immer die Gardinen bewegt hatten, wenn er und sein Vater mit Helga ihre Runden durch die Nachbarschaft ging. Da sie diese Situation nicht ertragen konnten liefen sie nur noch abends im Dunkeln.
Dann stellten sie auch diese Märsche bald ein, da Helga die Abstände zwischen Bordstein und Gehwegen nicht mehr einschätzen konnte. Zunehmend wurde ihr Gang auch schwerer, was nicht verwunderlich ist, da bei einem gesunden Menschen die Kräfte zum Abend hin schon nachlassen.