In den Spiegeln - Teil 3 - Ales Pickar - E-Book

In den Spiegeln - Teil 3 E-Book

Aleš Pickar

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Beschreibung

Die Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn verschwimmen. Gibt es eine Wirklichkeit hinter der Realität, die für die Menschen unerkannt bleibt? Jan-Marek wird du einem Grenzgänger zwischen den Welten. Inmitten des Konflikts zwischen den Anhängern der Engel und der Gefolgsleuten der Dämonen gelang es Jan-Marek endlich Paul Lichtmann alias Adam Kadmon zu begegnen. Das Treffen endet auf die schlimmste nur erdenkliche Weise: mit dem Tod von Jan-Marek. Doch in Paul Lichtmanns Welt ist sogar der Tod nicht das, wofür man ihn hält. Die beiden finden sich im Jenseits wieder. Jan-Marek begibt sich dort auf den Weg nach Thanatopolis, die Dunkle Stadt. Denn nur dort gibt es die Möglichkeit, durch eine besondere Pforte wieder das Diesseits zu erreichen. Aber die Stadt ist in der Hand von Engeln, die Jan-Marek für einen Günstling der dämonischen Lux Aeterna halten.

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Aleš Pickar

In den Spiegeln

Teil 3

Aion

Aleš Pickar

In den Spiegeln

Teil 3 Aion

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www.creativecommons.org

© Ales Pickar 2006

Lektorat: Annika Ernst

Titelillustration: Frank Rohde @ fotolia

Layout & Umschlaggestaltung: Anna macht Urlaub (www.annamachturlaub.de)

Hauptquartier: angelodaemonia.net

ISBN 978-3-9815154-4-2

»RESSEVERAESTVERUMGAUDIUM«

(»DIEERNSTESACHEISTDIEWAHREFREUDE«)

—Seneka

(»ESGIBTZWEIARTENVONGUTENMENSCHEN:

DIETOTENUNDDIENOCHNICHTGEBORENEN.«)

—Julius Zeyer

»...WENNDIESESUNBEKANNTELAND,AUSDEMNOCHKEINREISENDERZURÜCKGEKOMMENIST,UNSERNWILLENNICHTBETÄUBTE,UNDUNSRIETE,LIEBERDIEÜBELZULEIDEN,DIEWIRKENNEN,ALSUNSFREIWILLIGINANDREZUSTÜRZEN,DIEUNSDESTOFURCHTBARERSCHEINEN,WEILSIEUNSUNBEKANNTSIND. UNDSOMACHTDASGEWISSENUNSALLEZUMEMMEN;SOENTNERVETEINBLOSSERGEDANKEDIESTÄRKEDESNATÜRLICHENABSCHEUESVORSCHMERZUNDELEND,UNDDIEGRÖSSTENTATEN,DIEWICHTIGSTENENTWÜRFEWERDENDURCHDIESEEINZIGEBETRACHTUNGINIHREMLAUFGEHEMMT,UNDVONDERAUSFÜHRUNGZURÜCKGESCHRECKT.«

—William Shakespeare, »Hamlet«

3.01 Auf der anderen Seite

Nachdem alles vorüber ist, finde ich mich stehend wieder. Es ist noch immer Nacht. Ein Sturm tobt und wirbelt Sand und kleine Steine auf, die er dann in Kreisen und Spiralen tanzen lässt.

Ich sehe mich orientierungslos um und taumele in einer Windböe. Der Ort ist eine Ruine. Die rauen Säulen sehen aus, als hätte der Wind sie seit Jahrtausenden mit Staub gepeitscht. Sie säumen eine gewaltige Steinterrasse, die sich offensichtlich auf einer Art Hügel oder Erhöhung befindet.

Für einen kurzen Augenblick klärt sich der Sandsturm vor mir und lässt mich weiter in die Ferne sehen. Es ist eine karge Landschaft. Eine Wüste ohne Erhebungen und Terrainwellen. Doch meinen Blick fesselt etwas anderes.

Eine Stadt, die inmitten dieser Öde wie eine lumineszierende Qualle im nächtlichen Ozean anmutet. Sie scheint riesig zu sein und aus sanftem Licht zu bestehen. Ich sehe sie nur für einige Momente, dann umringt mich bereits der dunkle Sturm und nimmt mir die Sicht.

Heftiger Wind presst abwechselnd gegen meine Brust und meinen Rücken, als stritten sich einzelne Böen um mich. Ich sehe den ersten Schatten sofort. Eine schnelle, unangenehme Bewegung, dicht über dem Boden. In der matten, staubigen Dunkelheit ist sie nicht genau zu erkennen. Doch die Ahnung der schnellen Bewegungen lässt mich erstarren. Das Hinterteil der Kreatur hat die Größe einer Pauke. Sie ist nur wenige Schritte entfernt. Und ich bin nur ein starrer Klumpen Furcht, der recht unmissverständlichen Absicht dieses Wesens ausgeliefert.

Etwas zischt an meinem Kopf vorbei, und dann sehe ich einen Speer, der sich in das kleine Rückenstück, das den Kopf der Kreatur mit ihrem dominanten Leib verbindet, bohrt. Das Tier zuckt noch einige Male mit den langen, dürren Beinen, während mich plötzlich maßloser Ekel durchströmt. Jemand kommt die breite Steintreppe hinter mir herab und legt die Hand auf meine Schulter.

»Schnell«, sagt die Gestalt. Ich sehe mich um und werde sogleich von der Frau am Ellbogen gepackt und zu den Säulen gezerrt. Ich blicke noch mal zu der Quelle meiner Angst zurück und erkenne, dass die Geschwister des Monsters dabei sind, ebenfalls unserem kleinen Jour fixe beizuwohnen. Es mögen zwanzig sein, vielleicht fünfzig.

Ich stolpere meiner Retterin durch die Säulenreihe hinterher und bemerke, dass wir eine Art Atrium betreten, das oben zwar kein Dach hat, aber erstaunlicherweise von dem Sturm verschont wurde. Doch ich vermute, dass ich mich hier an derartige kleine Wunder gewöhnen muss.

Auf dem Boden entdecke ich etwas Vertrautes. In die Steinplatten ist ein Kreis eingraviert, der von fünf gleichmäßig verteilten Kugeln oder Ringen durchbrochen wird. Das Symbol der Lux Aeterna. Der Durchmesser des Emblems ist nicht größer als zwei Meter.

Die mysteriöse Frau tritt in den Kreis und geht in die Hocke. Sie drückt ihr rechtes Knie gegen den Boden und setzt sich auf den Unterschenkel. Ich imitiere sie wortlos. Sie presst ihre Handflächen auf den Boden. Im selben Augenblick beginnt der Kreis zu leuchten. Die Strahlkraft steigert sich zuerst nur zaghaft, wie eine alte Leuchtstoffröhre, die eingeschaltet wird. Doch dann schießt aus der Rinne des Kreisrandes senkrecht ein bläuliches Licht empor und erschafft um uns eine endlos hohe, strahlende Säule, in deren Mitte wir sitzen.

Ich sehe durch das Licht und stelle mit Unbehagen fest, dass die Horde der behaarten Albträume in das Atrium eingedrungen ist und nun von allen Seiten auf uns zuströmt. Ich höre einen gedehnten, kehligen Schrei und bemerke, dass ich es bin, der schreit. Nur wenige Sekunden später stoßen die ersten Kreaturen aggressiv gegen die Lichtwand. Ich zucke zusammen, doch keinem der Viecher gelingt es durchzudringen. Jedes Biest, das gegen das Licht prallt, wird von einem blitzschnellen Impuls durchströmt und zurückgestoßen. Dann verschwindet es einfach. Die anderen scheinen nicht bereit zu sein, von der Erfahrung der Vorangegangenen zu lernen, und so pressen und stürmen sie unaufhaltsam gegen unseren seltsamen Schutzwall. Ich beiße die Zähne zusammen und schließe die Augen, denn ich kann das Getümmel aus Beinen und Unterleiben, von dem mich nur eine dünne, gewölbte Mauer aus Licht trennt, nicht ansehen.

Als ich wieder hochsah, war es vorbei. Um uns herrschte Stille, nur das blaue Licht schien einen seltsamen Singsang von sich zu geben. Die Frau richtete sich auf. Erst jetzt sah ich, dass sie ihre Hände in vorgesehene Abdrücke im Stein gedrückt hatte. Der Strahl erlosch sofort.

Ich atmete schwer aus und ließ mich aus der Hocke auf den Hintern fallen.

Um uns herum tänzelten leicht schwebend kleine graue Partikel zu Boden, ähnlich wie Flaum oder Asche. Das war alles, was von den haarigen, achtbeinigen Monstern übriggeblieben war.

Mit gerunzelter Stirn und halboffenem Mund suchte ich nach der richtigen Frage, doch es war schwieriger, als ich dachte.

Erst jetzt hatte ich Gelegenheit, die Frau in Augenschein zu nehmen. Und das ist der Punkt, an dem die Sache begann, perfide zu werden.

»Ich heiße Akhanta«, nahm sie den Anfang vorweg. Ihre Stimme war trocken und gleichgültig, als wollte sie mir zu verstehen geben, dass meine Rettung kein Akt der Sympathie war. Ich starrte wortlos dieses anmutige und doch zugleich so spröde Wesen an und versuchte ihr Vorhandensein irgendwie in die riesige Gleichung voller Unbekannten einzubauen. Sie trug weniger am Leib, als ich sonst jemals eine Frau außerhalb einer Wohnung tragen sah, abgesehen vom Danglars natürlich, wohin sie perfekt hineingepasst hätte. Als ich es über mich gebracht hatte, nicht mehr auf diese vollen, nackten Brüste zu starren, wurde es mir möglich, auf ihrer rechten Schulter die vertraute Tätowierung der Lux Aeterna zu entdecken. Doch im Gegensatz zu der gefangenen Talitha Kumi in München, befand sich bei dieser Kriegerin inmitten des Kreises keine römische Zahl, sondern die vereinfachte Zeichnung einer Hand, ähnlich einer ägyptischen Hieroglyphe.

Sie schien meine Verwunderung nicht zu beachten und verschwand stattdessen zwischen den Säulen. Als ich mich fragte, ob sie vielleicht wieder gegangen war, erschien sie erneut und trug ihren Speer, wie auch einen Bogen und warf sich einen mit Pfeilen gefüllten Köcher über die Schulter.

»Wer bist du?« fragte ich sie, noch immer auf den kalten Steinplatten sitzend. Zumindest hätten sie kalt sein sollen. Doch sie waren es nicht. Ich hatte den Eindruck, dass sie entweder perfekt auf die Körpertemperatur abgestimmt waren, oder gar keine Temperatur besaßen.

»Sagte ich doch, ich bin Akhanta«, erwiderte sie geduldig.

»Wohin gehen wir?«

»Zu einer Sacraporta, dem geheimen Tor in die Stadt.«

Erst jetzt stellte ich fest, dass der Sturm aufgehört hatte. Nicht einmal ein leiser Windhauch durchdrang die Nacht. Es fühlte sich an, als besäße dieser Ort gar keine Atmosphäre, gar keine Luft. Ich hätte auf dem Mond stehen können. Ich sah mich um und taumelte kurz, diesmal im Erstaunen darüber, was ich zwischen den Säulen sah. Da war es wieder — schimmernd in die Dunkelheit.

»Was ist das?« hauchte ich.

Akhanta blieb stehen und sah zu mir zurück.

»Thanatopolis, die Dunkle Stadt. Dort wollen wir hin.«

»Warum...« Ich blickte sie verwirrt an. »Warum gehen wir dann in die andere Richtung?«

»Weil wir nicht gesehen werden wollen«, antwortete sie rätselhaft. Ich beließ es dabei und beobachtete weiter die geheimnisvolle Lichtfestung auf der anderen Seite der Ebene.

Die Stadt war rund, und aus ihrer Mitte ragte ein hoher Turm. Beinahe wie ein Schornstein, der keinen Rauch abgibt, sondern ihn einatmet. Die Architektur war nicht genau erkennbar, da sich die Bauwerke in ein erstarrtes Ballet aus Schatten hüllten. Doch zugleich haftete das Licht an ihnen, wie schimmernder Staub. Der Turm und die Stadt wirkten komplex, als wäre ihre Architektur fraktal und würde bei näherem Hinsehen ständig weitere Details in Form von Türmchen, Brücken und Terrassen preisgeben.

»Sie zieht das Licht an«, sagte ich nachdenklich.

Ich sah zum Himmel, der diese seltsame tiefblaue Färbung hatte. Er war übersät von unzähligen Lichtern, die alle wie Sternschnuppen aussahen. Oder wie gefilmte Sterne im Zeitraffer. Als wäre das Himmelsgewölbe in einem anderen Zeit-Raum-Gefüge. Von allen Seiten drifteten diese Lichter zielstrebig über das dunkelblaue Firmament, um durch den Turm die Stadt zu betreten.

Um Thanatopolis herum schwebten andere Lichter. Sie waren größer und geringer an der Zahl. Sie befanden sich deutlich unterhalb des Sternschnuppenschauer und schwebten langsam, fast unbeweglich nur einige Dutzend Meter über den Straßen und Mauern des Stadt. Lichtbojen, dachte ich.

»Was sind das für Lichter?« erkundigte ich mich leise, ohne den Blick abzuwenden.

»Engel«, antwortete Akhanta gleichgültig, als wäre es die belangloseste Information der Welt. »Wir müssen nun gehen. Es ist Eile geboten.«

Ich konnte meine Augen kaum von diesem Spektakel lösen. Und plötzlich begann ich zu ahnen was passiert war. Doch was ist ahnen, an diesem Ort? Was ist verstehen an diesem Ort? Was ist Ort an diesem Ort? Was ist dieser Ort?

»Engel...«, flüsterte ich bestürzt.

Wie leise Echos fühlte ich noch den Schmerz, verursacht durch Lärm und Widerstand. Doch es waren nur Erinnerungen. Ich hatte die unendliche Finsternis gesehen, aus der die kahle Landschaft hervorgetreten war. Und nun stand ich hier.

Ich sah an meinem Körper hinunter, bis zu den nackten Füßen, und stellte fest, dass ich noch immer in einem unförmigen Krankenhaushemd steckte. Etwas betreten blickte ich zurück zu Akhanta.

»Ich sehe total uncool aus«, beklagte ich mich.

»Uncool?« erwiderte die barbusige Männerphantasie mit gerunzelter Stirn. »Was bedeutet dieses Wort?«

»Es heißt so was wie beschissen und langweilig zu gleichen Teilen«, brummte ich, während wir weitergingen.

»Sehe ich uncool aus?« fragte sie mich ohne einen Hauch von Arglist in ihren Augen.

Ich räusperte mich betreten.

»Äh, du bist nicht uncool. Ganz eindeutig nicht uncool.«

Und das war auch das Problem bei diesem Ausflug. Sie sah aus, wie eine kitschige Masturbationsvorlage, gemalt als Paintbrush, gedruckt auf Poster und aufgehängt in einer Autowerkstatt. Es fiel mir schwer zu glauben, dass alle Philosophen und Theologen vollkommen falsch lagen, da sie dies hier nicht deduziert hatten. Außerdem wurde es bedeuten, dass die Moslems recht hatten, da sie doch einen Himmel mit holden Jungfrauen erwarteten. Ich nehme allerdings an, dass die Moslems sich ihre Paradiesjungfrauen deutlich unterwürfiger vorstellen.

Natürlich hatte ich nicht vor, Akhanta zu fragen, ob sie eine Jungfrau war. Sie sah aus, als würde sie problemlos mein Schlüsselbein brechen können und zeitgleich noch eines dieser Spinnenbiester abstechen.

»Was waren das für Tiere?«

»Die Arachniden? Seltsame Kreaturen. Angorbestien. Nicht gerade selten.«

»Ich verstehe nicht... Was ist eine Angorbestie?«

Sie sah mich an.

»Es heißt, dass die Angorbestien zwar alle unterschiedlich aussehen, doch eines gemeinsam haben. Sie spiegeln die Angst der Besucher. Es heißt auch, dass jeder, der hier mit der Angorbestie kämpft, es lernen kann, sie weniger zu fürchten, was dazu führt, dass sie ihn immer seltener angreift.«

Nachdenklich beobachtete ich die stolze Kriegerin, während sie mit dem Speer in der Hand neben mir ging. Wie immer etwas

langsam, doch dafür unaufhaltsam ging mir ein Licht auf.

»Es sind Spiegelbilder.«

»Davon weiß ich nichts«, meinte sie. »Mich hat noch nie eine Angorbestie angegriffen, außer bei der Verteidigung eines Besuchers.«

»Das ist es«, rief ich aus. »Das ist deine Aufgabe, nicht wahr? Die Besucher zu beschützen.«

Sie nickte wortlos.

»Spiegelst du auch etwas? So wie die Angorbestien es tun?«

Sie sah mich schweigend an und schien keine Antwort zu kennen.

»Sie spiegelt die Sehnsucht«, erklang unweit von uns. Ich fuhr herum und entdeckte einen jungen Mann, dessen Gesichtszüge mir ebenso fremd waren wie seine ungewöhnliche, altmodische Kleidung, denn er sah aus, als wäre er Jules Vernes Zeit entlaufen. Mit einem bestimmten, aber nicht überstürzten Tempo, kam er den Hügel herauf. Er erreichte uns bald.

»Willkommen im Aion«, begrüßte er mich.

»Du bist Adam Kadmon«, sagte ich leise. »Paul Lichtmann...«

Er blieb vor mir stehen und musterte mich mit einem Blick der mit einigen Tropfen Neugier und Verachtung gewürzt war. Er besaß ein glattes Gesicht, das in keiner Weise dem Mann ähnelte, der mich aus meinem Krankenzimmer entführt hatte. Doch ich nahm an, dass Paul Lichtmann durch unzählige Reinkarnationen gegangen war, und dieser Anblick entsprach offensichtlich seinem ursprünglichen Gesicht. Unter der altmodischen Jacke hatte er eine dunkelgrüne Weste, die mit goldenen Stickereien verziert war. An seinen Füßen trug er Stiefel. Sein Erscheinungsbild ließ ein wenig an Forschungsreisende der Kolonialzeit denken. Es fehlte nur ein Gewehr oder ein Tropenhelm.

»Die Stadt verdunkelt sich, während das Diesseits immer heller wird«, sagte er, als er auf dem Hügelrücken stand und in die Ferne blickte.

Ich suchte nach den richtigen Worten, darüber grübelnd, was er mir eigentlich sagen wollte. »Weil es in unserer Welt immer greller und ausgeflippter zugeht, wird das Jenseits immer düsterer?«

Ich glaubte zu sehen, wie er stumm nickte.

»Aber für die meisten Menschen ist die Welt im Diesseits nicht grell und glücklich. Nicht wenn man in Somalia lebt.«

»Du kannst sicher sein, dass diese Menschen die Dunkle Stadt anders sehen«, erklärte er. »Es zählt nur, was du siehst und wer du bist. Woher du kommst und wohin du gehst.«

»Ich habe es mir anders vorgestellt«, flüsterte ich.

»Der Mensch kennt nur ein Ziel.« Seine Stimme berührte mich wie ein Windhauch, der aus der Stille der Nacht entsprang. »Wir wollen frei sein.«

Wir setzten unseren Weg fort. Akhanta ging schweigend voran. Mein Blick folgte nachdenklich der rhythmischen Bewegung ihrer nackten Fersen.

»Doch Freiheit ist ein grausames Schlachtfeld, denn der Feind ist für alle derselbe: die Angst«, fuhr Lichtmann fort.

»Ich habe mich selbst gesehen... Kurz... Es standen Menschen um uns...«

Er schwieg und ließ mich sprechen. Geduldig und leise nickend wartete er, bis ich meine gebrochenen Sätze hervorbrachte.

»Da... Da war Licht. Doch ich habe es beinahe vergessen. Und Lärm... Ich habe nie zuvor einen solchen Lärm gehört...«

»Und jetzt bist du hier«, sagte Paul Lichtmann alias Adam Kadmon. »Technisch gesehen habe ich dich getötet. So wird es zumindest in irgendeinem Polizeibericht stehen. Der unbekannte, psychisch gestörte Soziopath. Das ist vergleichsweise eine milde Beschreibung. Man nannte mich auch schon mal einen geisteskranken Sektenführer und verglich mich mit Radovan Karadžic.«

»Meine Klamotten sind die Pest«, wandte ich ein.

Der junge Mann grinste nur kalt.

»Durch Erfahrung und Willen sind sie veränderbar.«

»Veränderbar?«

»Wenn du es möchtest, kannst du hier alles verändern. Aber es gilt auch für die Folgen einzustehen, die daraus erwachsen.«

Plötzlich versank er in den eigenen Gedanken und sah mich dann etwas lebhafter an. »Seltsam, nicht wahr, dass ausgerechnet das Todesreich den Möglichkeiten des Nimmernimmerlands und des Wunderlands von Alice am nächsten kommt. Und dabei fürchten es die Menschen so. Ich war damals viel jünger als du. Praktisch noch ein Kind. Und als ich wieder ging, war ich erwachsen. Ich bin der einzige Mensch, der jemals im Jenseits erwachsen wurde.«

»Was ist sie eigentlich?« flüsterte ich und deutete auf unsere Kriegerin. »Sie ist nicht eine von euch, das habe ich verstanden.«

»Sie ist im Grunde aus demselben Holz geschnitzt wie die Monster, die dich hier angreifen können. Eine Reflexion deiner selbst. Wir nennen es eine Imago, eine jenseitige Illusion. Die Angorbestien sind Imagos deiner Angst. In deinem Fall offensichtlich eine akute Arachnophobie.«

»Was hat es mit diesen Sternschnuppen auf sich?« Ich deutete zum Himmel.

Er blieb stehen. Als Akhanta es bemerkte, hielt auch sie an und lehnte sich schweigend gegen ihren Speer.

»Menschen«, sagte Adam Kadmon. »Hier am Ende der Zeit durchwandern die Seelen von allen Seiten das Jenseits, um Thanatopolis zu erreichen. Dort erfahren sie Dinge, die mit ihren Erfahrungen im Diesseits korrespondieren, nur um ins nächste Leben weiterzuziehen. Zeit spielt dabei keine Rolle. Doch der Grund, warum du nun Zeit empfindest und die Seelen wie kleine Sternschnuppen wandern siehst, hat nichts mit dem Jenseits zu tun, sondern mit dem Bewusstsein des Menschen. Wir sind nun Anomalien. Wir schmuggeln etwas ins Jenseits, das dorthin nicht gehört: den menschlichen Geist. Darum sei achtsam mit allem, das du hier siehst, denn dadurch, dass es hier für den Geist nichts zu sehen gibt, besteht das meiste, das hier von dir gesehen wird, nur aus Bildern, die du selbst mitgebracht hast. Das macht diesen Ort nicht weniger real, doch man sollte sich dabei nicht wie eine Katze verhalten, die stundenlang mit ihrer Pfote gegen das eigene Spiegelbild stößt, da sie den Zusammenhang zwischen sich und der Reflexion nicht versteht.«

»Es ist nicht sicher hier«, sagte Akhanta, die sexy Imago. »Die Engel durchstreifen die Megalopedia.«

Adam Kadmon nickte und wir setzten unseren Weg fort.

»Das ist also der Grund, warum man dich und deine Leute töten will? Warum dieses Oktagon hinter dir her ist und dieses Kerygma?«

»Für die Kerygma-Gruppe bin ich der Antichrist und für die Oktagon Stiftung bin ich eine abnormale Anomalie der Natur, die erforscht und beseitigt werden muss. Die Liste der Leute, die mir an den Kragen wollen, ist noch länger. Der Vatikan, der CIA, der Mossad. Sie alle sind an der Aschewerdung interessiert.«

»Aschewerdung?« Ich blickte auf. »Ich habe Rufus Mahr das Wort sagen hören. Und im Internet fand ich einen Text, in dem es hieß, es sei ein Ritus...«

»Es ist kein Ritus, sondern eine Methode. So wie die Handlungen eines Schamanen mehr Methoden als Riten sind. Aschewerdung ist das bewusste begehen des Todes, ohne die eigene Gedanklichkeit aufzugeben. Du erfährst sie gerade am eigenen Leibe, wenn auch ohne Leib. Hast du jemals das Tibetische Totenbuch gelesen?«

Ich schüttelte den Kopf und ahnte, dass ich das in der Gegenwart dieses Mannes noch oft tun würde.

»Körper — Geist — Seele. Das kennst du sicher«, fuhr er fort. »Der menschliche Geist ist wie ein Anteil am Gesamten. Er ist wie ein Lesezeichen in einem Buch. Wann immer du das Buch aufschlägst, liest du diese eine Seite und sagst: ja, das bin ich. Die restlichen Seiten empfindest du aber als unzugänglich. Nicht nur, dass wir uns schwertun, die anderen Seiten des Buchs zu lesen, wir ignorieren obendrein, dass die restlichen Seiten genauso viel mit unserer eigenen Geschichte zu tun haben, wie unsere eigene Seite. Verstehst du was ich meine?«

»Wir sind geistig alle verbunden und haben Anteil an derselben Sache, merken es aber nicht«, sagte ich brav, um ihm zu zeigen, dass ich nicht vollkommen schwer von Begriff war.

»Ja. Mit der Seele ist das aber ein wenig anders. Die Seele ist wie ein Partikel im Schweif eines Kometen. Einsam und doch in einer riesigen Gruppe. Die Seele existiert und doch existiert sie nicht. Sie ist wie das Elektron in der Naturwissenschaft. Ganze Industriezweige basieren auf der Nutzung des Elektrons, aber es hat noch nie jemand eins wirklich gesehen. Die Seele wurde vor langer Zeit abgesondert von etwas Größerem und streift seitdem zyklisch zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Auch die kleinste Seele im Universum ist ein Teil der Frage nach dem Warum.«

Ich sah mich um. Der Hügel, auf dessen Gipfel das von Säulen gesäumte Atrium stand, war schon recht weit entfernt. Thanatopolis, die Dunkle Stadt, befand sich dahinter und wurde von der einsamen Anhöhe verdeckt. Die Seelen drifteten weiterhin entschieden über dieses seltsame Himmelsgewölbe auf ein nun unsichtbares Ziel zu.

Vor uns war nur Einöde. Gerade noch erkennbar zeichneten sich am Horizont wilde Bergrücken ab.

»Im Tod verhält es sich so, dass diese virtuelle Verbindung aus Körper, Geist und Seele, die wir Kombinat nennen, aufgelöst wird. Zuerst löst sich der Körper, indem seine Organfunktionen versagen und das Gehirn die elektrische Aktivität einstellt. Die Seele beginnt sofort mit dem Drift ins Jenseits, ist aber noch immer mit dem Geist verbunden, den man sich nicht als eine Entität vorstellen darf, sondern eher als einen Zustand, als eine Verbindung zu einem kollektiven Bewusstsein. Deshalb können sich einige Menschen an Nahtoderfahrungen erinnern. Was sie jedoch ›sehen‹, ist noch immer das Diesseits. Häufig beginnt sich spätestens hier der Geist von der Seele zu lösen. Bei einigen Seelen ist die Bindung an den Geist jedoch stärker. Du weißt aber nun aus eigener Erfahrung, dass all diese Verben und Substantive vollkommen unzureichend sind, um es zu beschreiben. Dein Geist hat es gefühlt.«

»Und dann kommt der Lärm...«, wandte ich leise ein.

»Klänge, Lichter und Strahlen«, rezitierte Adam Kadmon. »Sie jagen einem Schauer ein, ängstigen und erschrecken und verursachen große Müdigkeit. Die Worte des Bardo Thödol, des Tibetischen Totenbuchs. Die Seele passiert auf ihrem Weg einen Zustand, einen Vortex, der sich dem Geist als ein entsetzliches Getöse offenbart. Das Gefühl von Zermalmtwerden, die Wahrnehmung von Lärm, Blitzen und Erschütterung. Spätestens an dieser Stelle befreit sich die Seele von dem seltsamen Konstrukt, genannt Geist, den wir aber lieber Gedanklichkeit nennen. Diese Verdichtung an Informationen, die so intensiv ist, dass sie ein Ego besitzt und ein Gefühl von Zeit. Das Ironische ist natürlich, dass alles um den Geist von ihm selbst produziert und wiederum zensiert ist. Auch der Vortex ist in seiner empfundenen Ausprägung nur das, was der Geist sehen und wahrnehmen will.«

»Und der Geist kommt am Vortex niemals vorbei?«

»Wenn es nur so wäre. Diese Sachen passieren doch ständig«, erklärte er und wirkte nun wie ein U-Bahn-Kontrolleur, der über Schwarzfahrer spricht.

»Das verstehe ich nicht«, gab ich zu.

»Schon mal von Leuten gehört, die mit irgendwelchen Wellenempfängern verzerrte Stimmen aus dem Jenseits fischen? Oder von all diesen Spiritisten, die mit Hilfe von ominösen Ouija-Brettern oder Weingläsern Botschaften von Verstorbenen empfangen können?«

Ich nickte.

»Sie haben alle recht. Nur leider ändert das wenig daran, dass sie Narren sind, die nichts verstanden haben. Ein vorhandenes Seele-Geist-Kombinat im Jenseits ist ein Unglück und keine Quelle spiritueller Ratschläge. Bei Menschen, deren Todesart schnell und ungewöhnlich war, kann es vorkommen, dass der Geist die Möglichkeit des Todes gar nicht akzeptiert. Jene Menschen streifen in dieser trostlosen Landschaft umher, ahnungslos darüber, was mit ihnen geschah. Unfreiwillig und verwirrt haben sie das erreicht, was wir mit Hilfe von Thanatol herbeiführen — ein gewisser Anteil ihres Geistes haftet noch an ihrer Seele. Die Verbindung zum Bewusstsein ist bei ihnen noch nicht durchtrennt. Diese Wesen sind in keiner Weise geeignet, jemandem im Diesseits Ratschläge zu erteilen oder die Zukunft vorauszusagen. Sie sind die Hilfsbedürftigen und können wenig tun für die absurden Spiritisten im Diesseits, die versuchen, aus ihnen das eigene Todesdatum raus zu quetschen.«

»Es gibt noch so viel, das ich fragen möchte«, stöhnte ich und runzelte nachdenklich meine eigentlich nicht mehr vorhandene Stirn.