In den Spiegeln - Teil 5 - Ales Pickar - E-Book

In den Spiegeln - Teil 5 E-Book

Aleš Pickar

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Beschreibung

Im fünften Teil der psychotischen Kult-Saga führt die Spur nach Rom. Zusammen mit Erzengel Gabriel begibt sich Jan-Marek auf die Jagd nach dem letzten Biofakt. Doch wie zuvor laufen die Dinge nur wenig nach Plan und Jan-Marek wird mit einem mächtigen Dämon konfrontiert.

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Inhaltsverzeichnis
5.1 Der 9. August 1969
5.2 Im Garten Arepos
5.3 Umbilicus urbis
5.4 Artemis Pergano
5.5 Der Gefangene
Intermezzo (Brief von Locartes an den Herausgeber)
5.6 Andrew
5.7 Die letzte Therapiesitzung
5.8 Der Schattenlauf
5.10 Exorzismus

Aleš Pickar

In den Spiegeln

Teil 5

Imaginäre Freunde

Aleš Pickar

In den Spiegeln 

Teil 5Imaginäre Freunde

Eintrittspforte in das Spiegeluniversum:

http://angelodaemonia.net

© Ales Pickar 2012Lektorat: Andrea Huber© Titelillustration: "beautiful sexy girl holding gun" von T. Tulic @ fotoliaLayout & Umschlaggestaltung: Anna macht Urlaub (www.annamachturlaub.de)ISBN: 9783981515480 (epub) / 9783981515497 (PDF)

„Die ganze Welt ist mir ein Königreich; all ist mein, vom Sternbild der Fische hinab zum Kopf des Stiers.“

5.1 Der 9. August 1969

»Setz dich, Locartes«, sagte Gabriel sanft. Seine Augen folgten neugierig jeder meiner Bewegungen.

»Ich denke nicht«, erwiderte ich. »Nicht bevor du mich überzeugt hast, dass es sich lohnt, sich hinzusetzen. Sonst bin ich hier genauso schnell wieder raus, wie ich gekommen bin.«

Ich sah mich um. Es war dunkel und still, geradezu besinnlich und schummerig. Eine zentrale Beleuchtung gab es nicht, sodass ein Großteil des Saals in der Dämmerung verborgen war. Nur kleine Tischlampen strahlten ihre unmittelbare Umgebung an. Ich sah geöffnete Notebooks, Bilder von Überwachungskameras, Frequenzscanner und allerlei Programme, die ich nicht kannte. Die Festplatten surrten sachte vor sich hin, begleitet von vereinzelten leisen Signalgeräuschen.

»Verständlich«, stimmte mir Gabriel zu und nickte nachdenklich. »Stell mir eine Frage.«

»Bin ich Locartes?«

»Du weißt, dass du Locartes bist. Stell mir eine bessere Frage.«

»Warum ist jeder an mir so interessiert?«

»9. August 1969.«

Da die Antwort für mich keinen Sinn ergab, schwieg ich trotzig, so als wollte ich das Ausgesprochene nicht als eine gültige Äußerung anerkennen.

»Wir waren eigentlich gute Freunde, du und ich...«

»Ich bezweifle, dass es möglich ist, mit einem Engel befreundet zu sein.«

Er nickte kurz.

»Du hast recht. Aber du warst das Interessanteste, das die Menschheit anzubieten hatte, und ich galt als der Exzentrischste meiner Art. Wir haben beide das Beste daraus gemacht.«

»Was hat es mit dem Datum auf sich?«

»Setz dich«, drängte Gabriel und deutete auf einen der Stühle.

Es fiel mir leicht, seinem Vorschlag zu folgen. Ich steckte in Klaus Grünwalds geplagtem Körper und die Erschöpfung dieses Tages war mir längst in die Beine gefahren. Ich ließ mich mit unwürdigem Ächzen auf den Stuhl fallen und blickte Gabriel wortlos an.

Der Erzengel nahm mir gegenüber Platz, öffnete die Knöpfe seines Anzugjacketts und schlug die Beine übereinander.

»Aus deinen Fragen entnehme ich, dass all deine Erinnerung verloren ist und dass das wenige, das du über deine Situation weißt, Ergebnis eigener Recherchen ist.«

Ich nickte leicht.

»Erlaube mir doch zuerst eine Frage. Eine Frage, deren Antwort hilfreich bei meinen anschließenden Ausführungen ist. Wenn du keine Erinnerung an deine wahre Identität hast, woher weißt du dann, dass du Locartes bist?«

Ich runzelte kurz die Stirn.

»Ich hatte fast mein ganzes Leben lang lebendige, plastische Albträume. Eine Freundin...« Ich erinnerte mich plötzlich an Evelyn. Es war wie ein schmerzlicher Stich, der aus dem Nichts kam. Ich dachte daran, dass sie tot war, während unweit von hier jemand ihren Körper benutzte. Alle um mich waren ständig in Lebensgefahr. »Meine Freundin riet mir, diese Träume aufzuschreiben. Je mehr mir klar wurde, was ich da eigentlich aufschrieb, desto offensichtlicher schien es, dass diese Bilder kein Produkt meiner Fantasie waren. Sie waren dafür zu dokumentarisch. Zu wirklich. Zu...« Ich schwieg einen Moment, auf der Suche nach dem passenden Wort. »... Zu informativ. Ab einem gewissen Punkt wusste ich einfach, dass die Erinnerung eines Mannes namens Locartes in mir weiterlebt.«

»Ich habe 1999 versucht, diese Traumtagebücher in die Hände zu kriegen«, erklärte mir Gabriel, »aber das Oktagon war schneller.«

»Weshalb?«

»Dazu kommen wir später... Jetzt sollten wir einfach ganz von vorne beginnen.«

»Ich bitte darum«, erwiderte ich mit gespielter Kühle. In Wirklichkeit begann ich längst aufzutauen und konnte mich eines Gefühls von Sympathie gegenüber diesem jungen, lässigen Mann nicht erwehren. Doch das hier war ein Erzengel. Es bedeutete, dass er kein Mensch war. Dass er Jahrtausende an Erfahrung und Wissen besaß. Es mochte bedeuten, dass seine Auseinandersetzung mit mir mehr einem Jungen gleichkam, der einen Waldkäfer in eine leere Streichholzschachtel gesperrt hat und diese ab und zu öffnet, um mit dem Insekt zu spielen.

Doch ich hatte nicht vor, ein Käfer zu bleiben. Ich war nicht mehr blind. Ich wusste, dass der Engel nur deshalb vor mir saß, weil ich an seine Existenz glaubte. Ich wusste, er war über alle Maßen verletzlich in diesem zerbrechlichen menschlichen Körper, und dass das Besetzen neuer Avatare ihm in dieser unserer Zeit schwerer fiel, als es in der Antike oder im Mittelalter der Fall gewesen war. Ich war erwacht.

Außerdem nahm ich mich nicht als Locartes wahr. Ich war noch immer Jan-Marek. Die fehlenden Informationen fühlten sich für mich nicht wie Gedächtnislücken an.

Es war ein fremder Mantel, den ich mir da plötzlich umhängen sollte. Doch ich erkannte, dass mir der Name Locartes mehr Respekt in der angelodämonischen Welt verschaffen würde. Also war ich bereit, mitzumachen.

»Was ist das hier?«, fragte ich und streifte mit meinem Blick den dunklen Raum um uns.

»Ein Horchposten des Kerygma«, antwortete Gabriel. »Die Schatten kontrollieren Frankfurt, doch das bedeutet nicht, dass wir ihnen nicht auf die Finger schauen.«

»Was ist also der Anfang?«

»Der Anfang ist stets nur eine ungefähre Angabe. Ähnlich wie das Ende«, sagte Gabriel leise, als würde er gar nicht wirklich zu mir sprechen, sondern sich lediglich an etwas erinnern. »Einen eindeutigen Anfangspunkt gibt es nie. Der Anfang oder das Ende sind extrem ungenaue und eigentlich nutzlose Begriffe.«

Ich wusste nicht, wovon er redete. Ich schwieg und hoffte, dass er langsam eine verständlichere Sprache einschlagen würde.

»Du hast das alles bereits gehört und in Erfahrung gebracht, als die Ambrosia zu dir gesprochen hat. Alles hier dreht sich nur um zwei Fragen: Was ist die Welt und wie soll man mit ihr umgehen?«

Er beugte sich vor und seine Worte wurden intensiver und verbissener.

»Du stehst, wie so viele andere Vertreter deiner Gattung, an einem evolutionären Scheideweg: eine Mutation entfernt vom nächsten Etappenziel. Doch der planmäßige Evolutionssprung ist in Gefahr.«

Er lehnte sich zurück.

»Dieses Universum ist erfüllt mit Kälte, Hitze, intensiver Strahlung und unzähligen chemischen Reaktionen. Bei einem bestimmten Grad an Entropie, kombiniert mit einem bestimmten Grad an Komplexität, entsteht Leben. Manchmal. Es sind so viele Parameter, dass das Weltall das Entstehungsexperiment milliardenfach wiederholen muss, bis es nur einen Keimling dabei hervorbringt.«

Am anderen Ende des Raums erhob sich langsam ein unangenehmes Pfeifen. Ich blickte hin. Auf einem Tisch an der Wand befand sich eine kleine Herdplatte, auf der ein Teekessel stand.

Gabriel ging ohne besondere Eile hinüber und schaltete den Herd ab. Der Dampfstrahl kreischte noch einige Sekunden gleichbleibend weiter, bis er dann mit einem müden Seufzen erstarb.

»Earl Grey?«, fragte der Erzengel über die Schulter.

»Warum nicht«, sagte ich und versuchte mich entspannt zu geben.

»Man muss natürlich diesen Blickwinkel nicht einnehmen«, fuhr er von der Kochecke aus fort. »Für das Resultat ist es ohne Belang, ob man stattdessen von Zufall, Wahrscheinlichkeit und Bifurkation spricht. Dann werfe man eben eine Milliarde Münzen in die Luft. Eine oder zwei davon werden schon auf der Kante landen. Kandis? Zitrone? Milch?«

»Nichts«, antwortete ich und beobachtete seine Silhouette vor dem grünlichen Schein einer alten Leuchtstoffröhre. »Wenn ich meinen Ambrosia-Trip richtig verstehe, sind die Engel die Wächter dieses Prozesses.«

»An dieser Stelle würde ein Dämon oder einer deiner Lux-Aeterna-Freunde argumentieren, dass wir selbsternannte, fehlgeleitete Wächter sind. Aber es ist wahr. Wir, die sich von euch ›Engel‹ nennen lassen, haben früh erkannt, dass die Schöpfung und das Biotop der Schöpfung untrennbar miteinander verbunden sind. Will man das eine schützen, muss man das andere bewahren.«

»Die himmlischen Ökologen«, murmelte ich vor mich, während er herüberkam und eine zierliche Tasse aus chinesischem Porzellanvor mich stellte.

»Ein sehr guter Tee, Locartes«, sagte er leise. »Ich bekomme ihn von einem britischen Botschafter.«

Ich inhalierte den Duft von Bergamotte.

»Himmlische Ökologen?«, fuhr Gabriel humorlos fort. Sein Gehör war offensichtlich exzellent. »Vielleicht. Unser Mandat beinhaltet auch den Schutz des Menschen, doch diesen können wir nicht über den Schutz des Biotops stellen. Hier gibt es ohnehin keinen Widerspruch. Das Heil der Menschheit ist ohne ein intaktes Biotop nicht denkbar. Und ihr seid nicht die einzigen Mandanten in diesem Universum.«

Ich sah ihn zweifelnd an.

»Was heißt eigentlich ›unser Mandat‹?«

»Es gibt unterschiedliche Hierarchien und interstellare Gremien...«

»Du bist ein Außerirdischer?«

Er machte kurz ein Gesicht, als hätte er eine bittere Mandel erwischt, und lachte dann auf.

»Nein, Locartes, ich bin kein Außerirdischer. Ich bin genau das, was du denkst, dass ich bin: ein angelus. Aber das Universum ist so beschaffen, wie es beschaffen ist. Daran kann auch ich nichts ändern. Ich habe weder die Gestirne noch den Mond erschaffen, noch bin ich auf einem Planeten geboren. Die Engel sind eine Manifestation des Glaubens...«

»...oder eben ein sicheres Symptom für Holophrenie.«

Er erstarrte und blickte mich streng an.

»Ich bin kein Symptom, Locartes.«

»Was ihr also hier tut, findet woanders auch noch statt?«

»Ja. Und woanders geschieht es meistens mit mehr Erfolg.«

»So schlimm, hm?«

Er hatte sich inzwischen wieder hingesetzt und löffelte nun einige Kandiszuckerkristalle in seine Tasse.

»Ihr Menschen«, sagte er langsam, »tut euch etwas schwer, die Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen. Euer Wertesystem ist gänzlich verzerrt. Ihr stellt Dinge in den Mittelpunkt eurer Zivilisation, die dort nicht hingehören. Aber es ist nicht eure Schuld. Die Inferni waren auf Terra erfolgreicher als woanders.«

»Interessante Unterhaltung«, äußerte ich mich und schlürfte von dem Tee. »Aber mir ist noch immer unklar, was all das mit mir zu tun hat.«

»Adam Kadmon hatte einen Sohn«, sagte Gabriel. Es klang beinahe etwas hastig. »Sein Name war Claudio Lichtmann. Nur wenige erinnern sich noch an diesen Namen. Aber einige kennen ihn unter dem Pseudonym ›Damian Stagnatti‹.«

Ich spürte Gänsehaut auf meinen Unterarmen, und ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinab.

»Stagnatti ist der Grund für die ›Große Bereinigung‹. So nennt man es zumindest in Kerygma-Kreisen. Sie machten sich in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs auf, Archive zu durchforsten und Hinweise zu vernichten, sodass Damian Stagnatti aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgt wurde.«

»Was hat er getan?«

»Es ist befremdlich, das ausgerechnet dir zu erzählen«, bemerkte Gabriel. »Dir, von allen Menschen. Schließlich hast du dieses Programm geleitet. Uns hat Stagnatti anfangs nicht interessiert. Die vielfältigen Freizeitaktivitäten der Menschen, inklusive jener, die mit Mord und Totschlag zu tun haben, stellten für uns Erzengel stets bloß eine Randerscheinung dar. Wir befassten uns zumeist nur mit dem Geschehen auf der großen Leinwand. Ein einzelner Serienmörder erweckte nicht unsere Aufmerksamkeit. Doch wir wussten zunächst auch nicht, dass Stagnatti Lichtmanns Sohn ist.«

Der Erzengel trank etwas Tee und ließ genussvoll dessen Aroma über seine Zunge rollen.

»Das Problem mit Adam Kadmon ist, dass er nur Kinder zeugen kann, die ebenso wie er Selbstversorger sind, wenn es um Thanatol geht.«

Ich hob überrascht die Augenbrauen.

»Also war Stagnatti ein Soziopath mit der Fähigkeit zur Aschewerdung?«

Statt zu antworten, musterte mich Gabriel ausdruckslos. Ich hätte gerne gewusst, was hinter seiner Stirn vorging.

»Wenn du nicht einmal das weißt, frage ich mich, was in dieser Hülle noch von Locartes übrig ist.«

»Habe ich ihn jemals erwischt?«

Gabriel nahm einen kleinen Schluck und stellte den Tee langsam zurück auf die Untertasse.

»Nein. Wobei du es sicherlich irgendwann geschafft hättest. Alle Mörder machen früher oder später einen Fehler. Aber Stagnatti tat etwas anderes. Er hörte auf zu morden.«

»Es ist sicher ungewöhnlich, dass jemand von einem Tag auf den anderen seinen tiefsten Trieben widerstehen kann...«

»Er hatte eine Epiphanie. Du hattest mir einmal erzählt – es muss in den Vierzigern gewesen sein – er hätte in einem seiner zahlreichen Briefe an dich gestanden, seine Laufbahn als Massenmörder für eine verfehlte, ziellose Eitelkeit zu halten. Nun galt seine Aufmerksamkeit etwas ganz anderem.«

Schweigend erwartete ich die Pointe.

»Du hast eins davon in München gesehen, in Mahrs Hauptquartier.«

»Die Biofakte«, flüsterte ich. »Was sind sie?«

»Sie heißen Biofakte, weil sie Artefakte darstellen, die nur eine Funktion haben: mit den neuronalen Netzwerken von Lebewesen zu interagieren. Ein Biofakt kann konfiguriert werden, um nur mit Nachtfaltern oder Hamstern in Wechselwirkung zu treten.«

»Ich nehme an, das Biofakt in München war nicht auf Hamster geeicht.«

»Das ist richtig. Es gibt sechs Stück, und sie sind für einen etwas höheren Zweck geschaffen worden. Sie sind die Reißleine eines Prozesses, der im Begriff ist, komplett aus dem Ruder zu laufen.«

»Welcher Prozess?«

»Der Reifungsprozess der Menschheit, Locartes.«

»Ach, der Prozess«, erwiderte ichgespielt nonchalant.»Und die Dinger sind so eine Art Schleudersitz, falls die Rakete Menschheit nicht mehr richtig zündet...«

»Sie sind sozusagen der Resetknopf.«

»Und was bewirken sie?«

»Die vollständige Transformation des Menschen in ein Wesen, das im Einklang mit der angelischen Doktrin ist.«

Ich hatte plötzlich Dutzende Fragen.

»Und ihr habt alle sechs?«

»Bedauerlicherweise nein... Der Kampf um die Engelssphären läuft seit vielen Jahren auf Hochtouren. Kerygma gegen Lux Aeterna. Lux Aeterna gegen das Oktagon. Oktagon gegen alle. Wir hoffen nun, dass du imstande bist, den Lauf der Geschichte zu unseren Gunsten zu verändern.«

»Und die Biofakte wurden von Engeln geschaffen und konfiguriert?«

»Vor über 30.000 Jahren.«

»Und warum könnt ihr euch nicht neue Biofakte bauen?«

Er sah mich ernst an, als hätte er diese Frage nicht erwartet.

»Wir können eine leuchtende Kugel erschaffen. Mit etwas Glück könnte ich bewirken, dass sie mit Amöben interagiert. Aber eine derart komplexe Konfiguration kann nur von einem Engel durchgeführt werden. Gemessen daran, welch mächtige Waffe ein Biofakt sein kann, wurde nach dem Luzifer-Fiasko beschlossen, dass nur ein einziger Engel das Wissen um die Biofakte besitzen sollte.«

Ich runzelte die Stirn und beugte mich leicht nach vorne, in der Annahme, dass ich die nächste Frage nicht wirklich auszusprechen brauche. Doch Gabriel ging darauf nicht ein, sondern blickte mich stoisch an.

»Und? Wo ist dieser Engel?«, hakte ich schließlich nach.

»Im Jenseits. Wo sich heute die meisten Engel befinden. Aber in seinem Fall wissen wir nicht, wo genau. Ein Freund von Paul Lichtmann hält ihn dort irgendwo gefangen und lässt den beschleunigten Zeitfaktor des Diesseits wie einen Orkan an ihm vorbeistreifen.«

»Arthur Machen«, schoss es mir durch den Kopf. Im Jenseits hatte mir Manakel von Pahaliah erzählt, einem besonderen Engel, der dort von einem gewissen Arthur Machen in Geiselhaft gehalten wurde. Das Ganze war wie ein riesiges Schachspiel, dessen Figuren sich gegenseitig in den Schwitzkasten nahmen.

»Die sechs Biofakte müssen zur gleichen Zeit an sechs exakt vorgegebenen Orten in Stellung gebracht werden. Das Kerygma nennt diese Standorte rechttreffend die ›Tempel‹. Sie sind über die ganze Erde verteilt, in einer Art und Weise, bei der alle Biofakte gleich weit voneinander entfernt sind. So entstehen acht gleichwinklige, nichteuklidische Dreiecke, welche den gesamten Planeten bedecken.«

»Und was passiert, wenn sie in Stellung gebracht wurden?«

»Die Frage ist eher: Was passiert nicht? Eine Kaskade an Ereignissen findet statt. Angefangen mit einem globalen elektromagnetischen Puls in der ersten Sekunde, gefolgt von einer ebenfalls globalen Stimulierung des Lobus parientalis superior in den nächsten Stunden. Die Menschheit in einem Zustand religiöser Ergriffenheit. Und eine Rückkehr der Stimmen in den darauffolgenden Tagen und Wochen...«

»Stimmen?«

»Unsere Stimmen.«

»Es klingt wie globale Lobotomie.«

»Es ist die letzte Ausfahrt, bevor das Vehikel Erde in den Abgrund stürzt. Es ist die einzige Möglichkeit für die Erde und die Menschen. Die Alternative hierzu wäre die Rettung des Biotops unter Inkaufnahme einer verlorenen Menschheit.«

Ich schwieg. Meine Augenbrauen waren in einer hochgezogenen Stellung erstarrt und ich ordnete Gabriels Worte in meinem Kopf.

»Die Erde wird immer überleben, Locartes. Sogar die größten Abscheulichkeiten sind nur kleine Nadelstiche an der Oberfläche und nichts, was nicht bereits nach dreihundert Jahren fast vollständig ausgeheilt wäre. Doch der Mensch besitzt keine so große Flexibilität. Sein Korridor in Bezug auf ein Biotop, in dem er überleben kann, ist viel enger.«

Ich erinnerte mich an etwas, das er eingangserwähnt hatte.

»Was ist im August 1969 geschehen?«

»Ja, welch ein Sommer...«, antwortete er mit einem Anflug von Nostalgie. »Wir standen so kurz davor, die Biofakte zu aktivieren. Das kulturelle und politische Klima damals schien dafür perfekt. Es war bereits der zweite Anlauf...«

Für einen Augenblick versank er in seinen Erinnerungen.

»Ich hatte dir erzählt, dass die sechs Biofakte an sechs speziellen Orten platziert werden müssen...«, fuhr er schließlich fort.

»Die Tempel.«

»Die Tempel sind besondere Orte. Sie ermöglichen Sprünge durch den Raum, wenn auch in begrenzter Reichweite. Sie sind nicht miteinander verbunden, und dafür gibt es einen Grund. Sie haben den Zweck, den ausführenden Engel oder menschlichen Priester in kürzester Zeit von dort fortzubringen. Jeder Tempel ermöglicht eine unverzügliche Reise an fünf verschiedene Orte.«

»Was heißt ›unverzügliche Reise‹?«

»In der Nähe der Aufbewahrungsorte für die Biofakte gibt es jeweils eine Schleuse, auch ›die Kammer‹ genannt. Ist das System aktiviert, kann über die Kammer ein weit entfernter Ort blitzschnell erreicht werden. Während die Biofakte aktiviert werden, gibt es eine elektromagnetische Aufladephase von fast genau elf Minuten. So können jene, die für die Aktivierung der Biofakte zuständig sind, rechtzeitig die Tempel verlassen. Niemand kann im Tempel sein und überleben, wenn das Biofakt aktiviert wurde. Alles im Umkreis von mehreren Kilometern ist dann gänzlich vernichtet. Deshalb wurden die Orte für die Tempel bereits vor Jahrtausenden sorgfältig ausgewählt, die demografische Entwicklung dieser Zivilisation vorwegnehmend. Es sind allesamt sehr abgelegene Orte. Und daran hat sich bis heute nicht viel geändert.«

Ich begann mir eine Vorstellung davon zu machen, weshalb die Jagd nach den Biofakten mit solcher Vehemenz betrieben wurde. In einem einzigen Augenblick konnte der Äonen dauernde Krieg zwischen Engeln und Dämonen entschieden werden. Der manipulierte menschliche Geist würde die Dämonen einfach ausblenden und damit vernichten.

»Es ist schwer, an Paradiese zu glauben.«

»Das wäre illusorisch. Beim Säen wird nicht jedes Korn zu einer Ähre. Aber schau dir die letzten hundert Jahre an. Welch ein Desaster. Achtzehn Millionen Tote im Ersten Weltkrieg. Sechzig Millionen Tote im Zweiten Weltkrieg. Weißt du, wie viele Kinder unter sechs Jahren an jedem einzelnen Tag sterben?«

Er blickte mich schweigend an und wartete, bis ich betretenden Kopf schüttelte.

»Fünfundzwanzigtausend.« Er war aufgestanden und ging unruhig hin und her. Ich hatte schon mit Michael die Erfahrung gemacht, dass Erzengel auch impulsiv und geradezu emotional sein konnten. Zumindest erschien es mir so.

»Weißt du, dass ich Nebukadnezar persönlich gekannt habe? Damals war es nicht unüblich, einem Dieb, der eine Handvoll Datteln gestohlen hatte, einen ganzen Arm abzuschlagen. Aber all das war nichts verglichen mit der Welt, in der du lebst. Niemals zuvor habe ich auf der Erde größere Grausamkeiten erlebt und erfahren als in den letzten hundert Jahren, unter der Herrschaft der Dämonen. Sogar Nebukadnezar hätte Boten durch sein Land geschickt, damit sie Korn unter der hungernden Bevölkerung verteilen. Ihr dagegen braucht tausend Hungernde, damit einer von euch in einer gemütlichen Welt aus Versicherungen und Leuchtreklamen leben kann. Und Bananen zu jeder Jahreszeit. Wir werden die Reißleine ziehen, Locartes. Wir können nicht mehr länger warten.«

Eine Weile stand er da, mit mir in einen tiefen Augenkontakt verschränkt. Dann wandte er sich zu einem der Bildschirme, während ich auf seinen Hinterkopf starrte. Um Fassung bemüht, steckte er eine Hand in die Hosentasche und schwieg.

»Du musst eins verstehen«, fuhr er schließlich fort, ohne mich dabei anzusehen. »Die Aktivierung war bereits für Ende des 19. oder spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts vorgesehen. Noch bevor das Erdöl in der Geschichte der Menschheit mit all seiner Wucht eintraf. Doch daraus wurde nichts.«

»Was ist passiert?«

»Damian Stagnatti ist passiert. Von da an ging alles schief. Wie immer, wenn man sich nicht an unseren Plan hält. Das 20. Jahrhundert wurde zu einer dämonischen Orgie der Veränderung, Abwechslung, Gier und Bereicherung. In einem solchen Ausmaß, dass ich bezweifle, dass die Dämonen selbst mit einem derart erdrutschartigen Erfolg gerechnet hatten. Doch der Verlierer war Luzifer, denn dies war nicht die Zukunft, die er entworfen hatte. Es war Anromainyus´ obszöner Plan, mit dem Ziel, sämtliche Werte und sämtliche Moral dieser Welt zu zerschlagen...«

»Ich weiß nicht, wer dieser Anromainyus ist. Aber das ist etwas, das ich schon immer jemanden fragen wollte... Die Lux Aeterna... Adam Kadmon, Korvinian und Sargon... sie alle sind nur Menschen, die den Schatten dienen. Und somit Luzifer. Gut. Sie haben eine ganze Etage in einem elitären Hochhaus in Frankfurt. Aber gemessen daran, dass die Dämonen angeblich das Diesseits kontrollieren, wirken sie doch sehr wie eine Großstadt-Guerillatruppe, die stets darauf achten muss, morgens beim Kaufen von Milch und Semmeln nicht von der Polizei verhaftet zu werden. Was soll also dieses ständige Gerede davon, sie würden die Welt beherrschen?«

»Es gibt eine erhellende Antwort darauf«, erwiderte Gabriel.

Meine Augenbrauen zeichneten auf meiner Stirn erneut einen großen Bogen, dessen Bedeutung ungefähr einem »Ach ja?« entsprach.

»Es sind andere Dämonen.«

»Es gibt zwei Arten von Dämonen?!«

»Es gibt nur eine Art von Dämonen«, erklärte Gabriel geduldig. »Doch die Spaltung innerhalb der dämonischen Ränge fand bereits in den Zeiten der Perser und Meder statt.«

Der Erzengel tippte etwas in die Tastatur vor ihm ein. Nach einer Weile zeigte der größte Monitor das Bild eines mir unbekannten Mannes.

»Du denkst, Luzifers Schatten bereiten uns Kopfzerbrechen? Dann präge dir besser dieses Gesicht ein.«