In der Feuerkette der Epoche - Friederike Heimann - E-Book

In der Feuerkette der Epoche E-Book

Friederike Heimann

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Beschreibung

Gertrud Kolmar (1894-1943) gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts, dennoch sind viele ihre Arbeiten bis heute weitgehend unbekannt. Zu ihren Lebzeiten erschienen aus ihrem umfangreichen dichterischen Werk nur drei Gedichtbände: »Gedichte«, »Preußische Wappen« und »Die Frau und die Tiere«. Gertrud Kolmar selbst entschied sich gegen eine Flucht und blieb bei ihrem Vater in Berlin. Sie musste Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie leisten und schrieb nachts an ihren Gedichten. 1943 wurde sie im Verlauf der sogenannten Fabrikaktion deportiert und in Auschwitz ermordet.

Friederike Heimann zeichnet in ihrer Biografie ein sehr persönliches und berührendes Porträt einer Frau, die ihr Leben als jüdische Dichterin in Deutschland schmerzlich erfahren und immer wieder zum Thema ihres lyrischen und erzählerischen Werks gemacht hat.

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Seitenzahl: 540

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Cover

Titel

Friederike Heimann

In der Feuerkette der Epoche

Über Gertrud Kolmar

Impressum

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eBook Jüdischer Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe im Jüdischen Verlag 2023.

© Jüdischer Verlag GmbH, Berlin 2023

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Gertrud Kolmar, 1920, © akg-images

eISBN 978-3-633-77628-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Yardena und Rachel

Motto

Und wie Feuer umzingeln mich: Zeiten. Ossip Mandelstam

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Inhalt

1

Lindenbaum und Lorelei

2

Von Berlin

Westend

zu einem Städtchen im Osten

3

Zerstörte Welt

4

Ein Kinderbild um 1900

5

Der wandernde Name

6

Seltsam und fremd:

Die Aztekin

7

Und in der Mitte

der winzige zerbrechliche Menschenkörper.

Jahre des Verstummens

8

Finkenkrug: »Die Frau mit den Tieren«

9

»Den Kopf einer Teufelin aufgesetzt«:

Die Irre

10

Nah und doch fern. »Weibliches Bildnis« aus versunkener Zeit

11

»In diese Unwelt verstoßen«:

Die jüdische Mutter

12

»Nur Nacht hört zu«: Vom

Wort der Stummen

zur

German Sea

13

»Aus dem Dunkel komme ich, eine Frau«. Zwischen-»Welten«

14

Leiser Klang »verschollener Harfe«: Das »Gegenwort« des Hebräischen

15

Eine »bittersüße Liebesgeschichte« in finsterer Zeit

Epilog

Inmitten von Berlin

Dank

Anmerkungen

Kapitel 1: Lindenbaum und Lorelei

Kapitel 2: Von Berlin

Westend

zu einem Städtchen im Osten

Kapitel 3: Zerstörte Welt

Kapitel 4: Ein Kinderbild um 1900

Kapitel 5: Der wandernde Name

Kapitel 6: Seltsam und fremd:

Die Aztekin

Kapitel 7: Und in der Mitte

der winzige zerbrechliche Menschenkörper.

Jahre des Verstummens

Kapitel 8: Finkenkrug: »Die Frau mit den Tieren«

Kapitel 9: »Den Kopf einer Teufelin aufgesetzt«:

Die Irre

Kapitel 10: Nah und doch fern. »Weibliches Bildnis« aus versunkener Zeit

Kapitel 11: »In diese Unwelt verstoßen«:

Die jüdische Mutter

Kapitel 12: »Nur Nacht hört zu«: Vom

Wort der Stummen

zur

German Sea

Kapitel 13: »Aus dem Dunkel komme ich, eine Frau«. Zwischen-»Welten«

Kapitel 14: Leiser Klang »verschollener Harfe«: Das »Gegenwort« des Hebräischen

Kapitel 15: Eine »bittersüße Liebesgeschichte« in finsterer Zeit

Epilog: Inmitten von Berlin

Literatur

Literatur von Gertrud Kolmar

Weitere Literatur in alphabetischer Reihenfolge

Bildnachweis

Informationen zum Buch

1Lindenbaum und Lorelei

Ein Tag im Mai 2014 in Berlin. Wir sind eine Gruppe von vier Personen, die sich in einem Straßencafé auf dem Viktoria-Luise-Platz in Schöneberg für eine kurze Rast niedergelassen hatte. So unterschiedlich die Wege waren, die uns hierhergeführt hatten, in diesem Moment und an diesem Ort hatte uns der gemeinsame Wunsch zusammengebracht, miteinander den Spuren der deutsch-jüdischen Dichterin Gertrud Kolmar zu folgen. Das Wetter war warm, fast schon sommerlich. An den Bäumen und Sträuchern wuchs helles, frisches Grün. Ein Lufthauch fuhr durch die Blätter und brachte sie zum Rauschen. »Man hörte die stille Friedensmusik« – wie Primo Levi dies einmal so treffend nannte –, »als wäre kein Krieg, als wäre der Krieg nie gewesen«.1

Menschen strömten aus den Straßen, über den Platz, drängten sich auf den Bürgersteigen. Im unablässigen Kommen und Gehen bewegte und drehte sich die große Stadt. Ein »Geruch von Staub und Benzin« hing in der lauen Luft, schrieb die jüdische Dichterin Lea Goldberg einmal über einen solchen Berliner Frühlingstag im Jahr 1932. Viele Menschen gingen wie wir ins Café. Die Tische draußen standen ganz dicht an den Vorübergehenden, und doch verlief hier für uns heute noch genauso wie damals für Lea Goldberg »eine klare, scharfe Grenze«.2 Jeder ging für sich allein in seine Einsamkeit. »Diese massive Stadt, über dem Nichts hängend, Stadt des Friedens und der Freiheit über einem klaffenden Abgrund aus Blut –«.3 Ein Satz ebenfalls aus Goldbergs Berlin-Roman aus den Dreißigerjahren. Geschrieben angesichts der von ihr damals erlebten Judenverfolgung, besaß er für unsere kleine Gruppe heute in gewisser Weise noch immer Gültigkeit. Berlin im Jahr 2014, Hauptstadt von Deutschland mit fast vier Millionen Einwohnern, im Zentrum Europas, auf der nördlichen Hälfte der Erdkugel. Von der südlichen Hälfte aus Melbourne/Australien waren Ben und Christine hierhergekommen. Mit ihnen saßen mein Mann und ich nun an jenem Tisch im Straßencafé am Viktoria-Luise-Platz.

Die Namensgebung des mit Blumenrabatten und Lindenbäumen bepflanzten Platzes, auf den die umliegenden Straßen sternförmig zulaufen, erinnert nicht nur an die letzte preußische Prinzessin Viktoria Luise, die 1892 als einzige Tochter Wilhelms des Zweiten in Berlin geboren wurde. Sondern zugleich wird mit dieser Reminiszenz an die Kaiserzeit auch der Gedanke an eine historische Konstellation geweckt, die für die Kindheit und Jugend der 1894 geborenen Gertrud Kolmar auf vielerlei Weise prägend war. Das kaiserliche Preußen der deutschen Hauptstadt auf der einen Seite, der jüdisch-polnische Osten ländlicher Kleinstädte auf der anderen Seite, von diesen zwei Polen war das Dasein der Dichterin von Anfang an bestimmt. Ein Spannungsbogen, der sich durch ihr Leben hindurchziehen sollte und der sich auf spezifische Weise gerade auch in der Wahl ihres Dichternamens Kolmar ausdrückt, geht dieser doch auf die deutsche Benennung des polnischen Städtchens Chodzież zurück, aus dessen Umgebung die Chodziesners – wie der Name noch zeigt – ursprünglich stammten. Vor allem drückt sich in dieser Verdeutschung des Namens aber auch ein Versuch des Ankommens und der Integration aus. Etwas, das für die jüdische Dichterin keineswegs eine Selbstverständlichkeit war und schließlich auf schreckliche Weise scheitern sollte. Die letzten Lebensjahre bis zu ihrer Deportation im März 1943 war sie gezwungen, in einem sogenannten »Judenhaus« ganz in der Nähe dieses Platzes, in der Speyerer Straße 10, zu verbringen. Eine Adresse, die heute nicht mehr existiert. Die Straßenführung ist in der Nachkriegszeit verändert und verlegt worden, und wenn man heute den Ort dieser letzten Bleibe der Dichterin aufsuchen will, muss man sich in die Münchner Str. 18a begeben. Dort hatten wir uns auch mit Ben und seiner Lebensgefährtin Christine getroffen. Denn Gertrud Kolmar war die Schwester von Bens Vater Georg Chodziesner und damit seine Tante.

Auch das Haus selbst, das ein altes Foto noch als einen typischen Berliner Gründerzeitbau zeigt, ist nicht mehr vorhanden. Eine jener überall im Bayerischen Viertel als »Denkmale des Erinnerns« aufgestellten Tafeln weist heute dort, wo es einst stand, darauf hin, dass am 10.7.1935 »Wanderungen jüdischer Jugendlicher von mehr als zwanzig Personen« verboten worden waren. An der Stelle des alten Hauses steht jetzt – etwas versteckt hinter einem mit Büschen und Bänken umstandenen Halbrondell – ein grauer Neubau aus den Sechzigerjahren. Das Einzige, was noch an die ehemaligen Bewohner erinnert, sind zwei Stolpersteine aus Messing auf dem Gehweg vor diesem Haus, die diesmal wie frisch geputzt blinkten. Als habe jemand gewusst, dass Ben heute hierherkommen würde. Auf dem einem steht der Name Gertrud Kolmar, geb. Chodziesner, auf dem anderen der ihres Vaters, Ludwig Chodziesner. Ebenfalls angegeben sind das jeweilige Geburtsjahr, der Deportationsort, das Deportationsdatum und das Todesdatum. Bens Großvater Ludwig Chodziesner starb am 13.2.1943 in Theresienstadt. Seine Tante Gertrud wurde im März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Vier Jahre hatte Gertrud Kolmar noch in dem Haus in der Speyerer Straße gelebt. Nach der Reichspogromnacht 1938 war das damalige Familiengrundstück in Berlin-Finkenkrug mit Haus und Garten zwangsversteigert worden. Daraufhin hatte Kolmar zusammen mit ihrem inzwischen siebenundsiebzig Jahre alten Vater im Januar 1939 in die Speyerer Straße umziehen müssen. Alle anderen Familienmitglieder hatten Berlin zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen oder bereiteten ihre Flucht vor, so auch Bens Eltern Georg und Thea Chodziesner.

Georg war es jedoch nicht mehr möglich, die Ankunft des Visums für die geplante Emigration nach Chile abzuwarten. Um einer drohenden Verhaftung durch die Gestapo zu entgehen, hatte er im August 1939 überstürzt nach England fliehen müssen. Zwar hatte man gehofft, ihm die Einreisebewilligung für Chile noch nachschicken zu können, doch da sie erst nach Kriegsausbruch in Berlin eintraf, war auch dies unmöglich geworden. Nur wenige Monate nach seiner Ankunft in London, wurden mit der Eröffnung der deutschen Westfront im Frühjahr 1940 alle deutschen Flüchtlinge in Großbritannien zu alien enemies deklariert. Auch Georg wurde in das zentrale Internierungslager auf der Isle of Man eingewiesen, wo er abgeschnitten von der Außenwelt unter mehr als entbehrungsreichen Bedingungen mehrere Monate festsaß, bis er schließlich mit einer großen Anzahl weiterer Internierter – darunter jüdische Flüchtlinge, aber auch einige Hundert italienische und deutsche Kriegsgefangene, von denen nicht wenige überzeugte Nazis waren – in die britischen Kolonien nach Übersee verschifft wurde. Ohne die geringste Ahnung, wohin es überhaupt gehen sollte, wurde Georg am 10. Juli 1940 zusammen mit über 2500 weiteren Männern auf dem britischen Truppentransporter Dunera nach Australien gebracht, wo er erst nach vielen Wochen unter katastrophalen Reisebedingungen Ende August 1940 ankam, nur um erneut für zwei weitere Jahre in ein Internierungscamp eingewiesen zu werden. Um sich endlich wieder als ein freier Mann bewegen zu können, trat er im September 1942 schließlich freiwillig der australischen Armee bei und erwarb sich so das endgültige Bleiberecht. Allmählich konnte er nun auf dem neuen Kontinent Fuß fassen, sich dort wieder eine Existenz aufbauen. Bis zu seinem Tod im Jahre 1981 lebte er in Australien.

Bens Mutter Thea gelang die Flucht aus Berlin mit ihrem damals vierjährigen Sohn, der da noch Wolfgang oder Wölfchen genannt wurde, erst nach Kriegsausbruch im Dezember 1939. Nach unablässigen Bemühungen, endlosen Wegen und quälenden Wartereien hatte sie endlich die sogenannte Llamada, jene für Chile notwendige Einreisegenehmigung, erhalten. Ihren Mann hat sie nicht wiedergesehen. Nur wenige Jahre nach ihrer Ankunft in Concepción in Chile, auf die eine Zeit nicht abreißender Geldsorgen, permanenter Arbeitssuche und wiederholter Umzüge unter ständiger Anspannung und Sorge um ihre zurückgebliebenen Familienangehörigen folgte, starb sie im Sommer 1943 an den Folgen einer Meningitis. Der erst achtjährige Wolfgang war nun ganz auf sich allein gestellt. Einige Monate verbrachte er im Waisenhaus von Concepción. Als er dort schwer an Diphterie erkrankte, nahm sich schließlich ein mit seiner Mutter befreundetes Paar seiner an und holte ihn zu sich nach Santiago de Chile. Kurz vor Kriegsende, im Alter von nur neuneinhalb Jahren, wurde er dann ganz allein auf die sechswöchige Schiffsreise nach Australien geschickt, wo er von seinem Vater schon sehnsüchtig erwartet wurde, als er Anfang Mai 1945 dort nach der langen Überfahrt ankam. Nach fast sechs Jahren der Trennung konnte Georg seinen Sohn endlich wieder in die Arme schließen.

Gertrud Kolmar blieb in Berlin. Sie hatte ihren alten, gebrechlichen Vater nicht allein zurücklassen wollen und gemeinsam gelang es ihnen nicht mehr, noch rechtzeitig aus Deutschland herauszukommen. An das Leben im Bayerischen Viertel jedoch hat sie sich nicht mehr gewöhnen können. Man muss nur die heute überall aufgestellten weißen Gedenktafeln in diesen Straßen zur Kenntnis nehmen, auf denen in schwarzer Schrift die fortgesetzten diskriminierenden Maßnahmen gegen Juden in jenen Jahren dokumentiert werden, um sichtbar vor Augen zu haben, warum dies unmöglich sein musste: Juden durften kein öffentliches Amt mehr übernehmen oder öffentlich künstlerisch tätig sein, Jüdinnen wurde die Anerkennung als Hebamme versagt, jüdische Kinder durften keine öffentlichen Schulen mehr besuchen und ab 1942 dann überhaupt keine Schulen mehr, Juden durften nur noch in Ausnahmefällen öffentliche Verkehrsmittel benutzen, Juden durften nur noch gelb markierte Bänke benutzen, Juden mussten ihre Wohnungen mit einem »Judenstern« kennzeichnen, Juden durften keine Zeitungen mehr kaufen, Juden wurde der Erwerb von Zigaretten versagt, und so weiter und so fort. Nicht mehr dürfen, ist versagt, ist untersagt, ist verboten, müssen, zwangsweise … Die Straßen, und nicht nur sie, wurden fremd. Und das buchstäblich. Nach einer Verordnung vom 25.7.1938 waren alle Straßen im Bayerischen Viertel, die Namen von Juden trugen, umbenannt worden. Auch die nach dem Gründer des Viertels und Architekten des Viktoria-Luise-Platz benannte Haberlandstraße wurde umgeändert in Treuchtlinger und Nördlinger Straße.

Wenige Monate nach ihrem erzwungenen Umzug schreibt Gertrud Kolmar in einem Brief vom 13./14. Mai 1939 an ihre jüngste Schwester Hilde Wenzel, die bereits im Frühjahr 1938 Deutschland verlassen hatte und in die Schweiz emigriert war, dass sie sich ja durchaus bemühe ihrer »hiesigen ›landschaftlichen‹ oder vielmehr ›unlandschaftlichen‹ Umgebung Teilnahme zu erweisen«, ihr dies jedoch nicht gelingen wolle:

Nun werden wir bald ein halbes Jahr hier sein, und ich bringe es einfach nicht fertig, zu dieser Gegend in ein Verhältnis – ein erträgliches oder unerträgliches – zu kommen; ich bin hier so fremd wie am ersten Tag.4

Fremd fühlt sie sich in dieser Situation der Enteignung, Entrechtung und schließlich endgültiger Ausgrenzung, wie nicht wirklich innerlich anwesend, unfähig einer Teilnahme an einer Welt, die ihr jegliches Recht auf Teilhabe entzogen hat. Der eigenen Familie gegenüber jedoch blieb Gertrud voller Anteilnahme und Fürsorglichkeit bis zuletzt. So schreibt sie am 28. Januar 1940, ungefähr sechs Wochen nach Theas und Wölfchens Abreise, an ihren in England gestrandeten Bruder Georg, dass sie gerade sehr viel an »Thea und den Kleinen« denken müsse: »Ja, fast noch mehr an den Kleinen als an Thea, da er ja in letzter Zeit, während Thea meist unterwegs war, besonders oft in meine Obhut kam.«

Und vielleicht auch um den abwesenden Vater ein wenig zu trösten, erzählt sie ihm von einem gemeinsamen Spiel:

Ich besitze so eine bewegliche, japanische Papierfigur, die Hilde vor Jahren auf dem Weihnachtsmarkt kaufte; sie kann und man kann mit ihr allerlei Kunststücke machen, weshalb Wolfgang sie den ›Grundstücksmann‹ nannte – ›Grundstück‹ war ihm bekannter als ›Kunststück‹. Dieser ›Grundstücksmann‹ ersetzte uns einen ganzen Sackvoll Spielsachen, wir konnten uns mit ihm ›stundenlang amüsieren‹, und Vati behauptet, daß er noch niemals Wolfgang so lachen gehört hätte wie bei diesem Spiel. Wer mag jetzt mit ihm spielen? Und nun gehe ich jeden Morgen, wenn ich höre, daß es am Briefschlitz klappt, erwartungsvoll zur Tür, in der Hoffnung Nachricht zu finden, bis jetzt umsonst …5

Immer wieder banges Warten auf Post. Oft waren die Briefe wochenlang unterwegs, und man konnte nie sicher sein, ob sie auch wirklich ankamen und welche bedrohlichen Botschaften sie dann enthielten.

An seine Tante und an die Begegnungen mit ihr habe er eigentlich keine wirkliche Erinnerung mehr, behauptete wiederum Ben. Er habe seine Tante Trude vor allem durch die Augen seines Vaters kennengelernt, der manchmal von seiner Schwester gesprochen habe und der nicht nur mit Respekt ihre Dichtungen erwähnte, sondern auch ihre anderen Fähigkeiten hervorhob, die mit ihrer besonderen Sprachbegabung zusammenhingen, wie ihre Tätigkeit als Dolmetscherin im Kriegsgefangenenlager Döberitz während des Ersten Weltkrieges oder später dann als Sprachlehrerin und Übersetzerin. Und wenn überhaupt einmal Erinnerungen an seine ersten Lebensjahre in Berlin erwachten, dann würde er ihnen eher mit Misstrauen begegnen. Er habe inzwischen so viel über all dies gelesen und gehört, dass er nicht mehr genau wisse, was wirkliche Erinnerung sei oder vielleicht nur etwas, das er irgendwo aufgeschnappt habe.

Damit spricht er eine Schwierigkeit des Gedächtnisses an, von der schon sein berühmter Verwandter Walter Benjamin, der ein Cousin Gertrud Kolmars und somit auch von Bens Vater Georg war, in seiner Berliner Chronik berichtete: Überall dort, wo er »den frühesten Erinnerungen« nachgegangen war, sei er auf Ungewissheit getroffen und am Ende habe er »selbst Traum und Wirklichkeit« nicht mehr unterscheiden können.6 In der Rückschau auf lange Vergangenes können sich Wahrheit und Dichtung mitunter bis zur Unkenntlichkeit vermischen. Schon bald nach ihrer Flucht aus Berlin aber wird Bens Mutter Thea am 21. Dezember 1939 noch vom Schiff nach Chile aus erleichtert an ihre Angehörigen schreiben: »Das Kind ist uneingeschränkt glücklich. Er hat sich in diesen Wochen recht verändert. Diese furchtbare Menschenscheu und Schüchternheit ist verschwunden.«7

In der nun fernen deutschen Hauptstadt hatte seine Tante Gertrud an einem Tag im Mai 1939, als »das Wetter nach einer kühlen und regnerischen Zeit einmal ganz schön« war, in ebenjener Speyerer Str. 10, nicht sehr weit entfernt von dem Platz, wo wir jetzt im Freien saßen, den vergeblichen Versuch unternommen, die angenehm milden Temperaturen zu genießen und auf dem Balkon der Wohnung nach langer Zeit endlich einmal wieder ein Buch zur Hand zu nehmen.8 Hilde hatte ihr schon vor Wochen den Roman Der Träumer von Jean Giono geschickt und Kolmar hatte gehofft, ihrem bedrückenden Alltag für einen Moment frühlingshafter Muße entkommen und jetzt mit dem Lesen dieses Buches beginnen zu können. Doch das war zum Scheitern verurteilt, wie sie ihrer Schwester brieflich mitteilt:

Der Straßenlärm gab mir das Gefühl, trotz der Zwei-Treppen-Höhe mittendrin zu sein, und an die verschiedenen Arten von Autodünsten statt der Frühlingsluft habe ich mich anscheinend noch immer nicht gewöhnt. So entschloß ich mich, statt dessen mich in meine ›stille Klause‹ zurückzuziehn […]9

Vom schönen Maientag und einer erholsamen Stunde des Lesens im Freien blieb nichts mehr übrig. Vor dem lauten Treiben und den Abgasen der Stadt, denen sie sich aufgrund ihrer ohnmächtigen Zwangslage ungewollt ausgeliefert sah, konnte sie sich nur erneut ins Innere der ihnen zugewiesenen Wohnung flüchten, die für sie in diesem Moment noch als »stille Klause« einen Rückzugsort bietet. Doch war auch dies bereits ein Ort, der gefährdet war und der ihr stets mehr abhandenzukommen drohte. Ihre Dünnhäutigkeit nahm zu. »Aber mag sein«, schrieb sie am 13.12.1939, kurz nachdem Thea und Wolfgang Anfang Dezember endlich nach Chile hatten ausreisen können, an ihre Schwester Hilde in der Schweiz, »daß ich in dem einen Berliner Jahr eine empfindlichere Haut bekommen habe, die immer gleich da einen Druck fühlt, wo sie früher ein bloßes flüchtiges Anstreifen verspürt hätte. Das ist auch schon länger so …«10

Je mehr Familienmitglieder und Freunde sich auf den Weg in die Emigration begaben, desto einsamer blieb Gertrud zurück. Jetzt, nachdem sich auch ihre Schwägerin mit dem kleinen Wolfgang auf die Reise gemacht hatte, spitzte sich die Unerträglichkeit ihrer Situation noch zu, erfuhr sie umso schärfer ihr eigenes Ausgeliefertsein. Und nicht immer gelang der Dichterin der »Weg nach Innen«, um dem etwas entgegensetzen zu können. Stattdessen verspürt sie besonders nach diesem Abschied den heftigen Wunsch, selbst ebenfalls fortzugehen. Sie würde am liebsten ihren Mantel anziehen und ihren Hut aufsetzen, erklärt sie Hilde noch in demselben Brief, »und fortwandern, weit, weit fort«.11 In solchen Momenten steht ihr innerlich das verlassene Finkenkrug als Ort des Verlorenen und zugleich Wiederersehnten vor Augen:

Und ich denke jetzt öfters daran, daß ich, wenn erst einmal Schnee fällt, nach Finkenkrug fahren und dort bei Mondschein, wie ich es früher tat, im Walde herumstapfen könnte; zugleich aber weiß ich schon, daß ich diesen Plan nicht ausführen werde – –12

Mehr als die Beschreibung dieses Wunsches gegenüber der Schwester war ihr inzwischen nicht mehr möglich.

Ben hatte seit einigen Jahren damit begonnen, ab und zu wieder nach Deutschland, besonders nach Berlin zu reisen. Er war nicht zum ersten Mal wieder in seiner Geburtsstadt und auch die Stelle dieser letzten Behausung seiner im nationalsozialistischen Berlin gebliebenen Angehörigen hatte er schon mehrfach aufgesucht. Unser jetziger Besuch galt vor allem seinem Wunsch, auch Christine all dies zu zeigen, denn sie war zum ersten Mal mit ihm hier.

Am Viktoria-Luise-Platz stieg eine hohe Wasserfontäne rauschend auf und nieder, Sonnenlicht spielte in den Blättern der am Straßenrand wachsenden Linden. Und mit leiser Stimme begann Ben die ersten zwei Zeilen aus Schuberts »Lindenbaum« zu singen, mit sicherer Intonation in vollkommenem Deutsch. Woraufhin Christine, sozusagen als Replik auf diesen Einfall urdeutscher Romantik, mit englischem Akzent die ersten Verse aus Heinrich Heines Lied von der Lorelei rezitierte: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin …« Überrascht und erstaunt vernahmen wir diese hier ganz unerwarteten, bekannten Verse aus dem Fundus deutscher Liedkunst.

Lindenbaum und Lorelei. Wenn etwas zu Gertrud Kolmar zu passen scheint, dann dies, obwohl es letzten Endes auch wieder gar nicht passt. Zum einen ist da natürlich die mittlerweile geradezu abgegriffene Klischeehaftigkeit dieser Lieder, die hier in diesem Augenblick so unvermutet erklangen. Aber es ist noch weitaus mehr, was hier eine Nähe zur Dichterin und zugleich eine unüberbrückbare Distanz schafft. Es geht um eine Brüchigkeit, um eine hoch angespannte Form der Ambivalenz zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit, um ein nicht auflösbares Spannungsverhältnis zwischen dem Deutschen und dem Jüdischen, worüber im Weiteren zu reden sein wird und wovon auch bereits bei Heine selbst schon manches zu erspüren ist.

Das so eingängige Lied von der »Lorelei« hatte in Friedrich Silchers 1837 erfolgter Vertonung schnell volksliedhaften Charakter angenommen und war weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt geworden, sodass selbst die Nazis es nicht zu verbieten wagten und nur den Namen des jüdischen Dichters durch die Bezeichnung »Dichter unbekannt« ersetzten. Als eine Figur rein romantischer Prägung scheint die Gestalt der Lorelei in ihrer erotischen Zauberkraft nicht zuletzt bestimmten Männerphantasien entsprungen zu sein. Auch Heines Gedicht ist davon nicht ganz frei, doch wird diese Betörung in seinem Gedicht bei allem romantischen Märchenzauber zugleich von einer gewissen Ironie begleitet. Und trotzdem wird ein verborgenes Hingerissensein spürbar, wird untergründig jene »gewaltige, wundersame Melodei« vernehmbar, die die Jungfrau mit dem goldenen Haar dann sirenengleich singt, sodass der »Schiffer im kleinen Schiffe« bei ihrem Anblick von solch »wildem Weh« ergriffen wird, dass er die tödliche Gefahr der Felsenriffe nicht mehr wahrnimmt und daran zu zerschellen droht:

Ich glaube, die Wellen verschlingen

Am Ende Schiffer und Kahn;

Und das hat mit ihrem Singen

Die Lorelei getan.13

Es ist dieses Singen, es ist dieses urromantische deutsche Lied, das hier so verlockend und vernichtend zugleich in den Bann zieht. Schließlich könnte die Gestalt des Schiffers im Lied auch für den Dichter selbst stehen. Am Ende vermag er sich nicht zu retten vor der Verzauberung durch diese »Germania« mit ihrem verführerisch rufenden Gesang im Abendsonnenschein, die auf einem Felsen im deutschesten aller Flüsse, dem Rhein, thront und ihr so golden schimmerndes Haar kämmt. An dieser »Ikone des Deutschtums« droht der jüdische Dichter, dem Schiffer in seinem Kahne gleich, zu zerschellen.14

Kein anderer deutscher Dichter steht wie Heinrich Heine für den Beginn der deutsch-jüdischen Literatur wie deren unauflösliche Widersprüchlichkeiten. Und es ließe sich berechtigterweise sagen, dass keine andere deutsche Dichterin in vergleichbarer Weise für deren gewaltsamen Untergang steht wie Gertrud Kolmar. Zeit seines Lebens hatte Heine sich vergeblich nach Aufnahme und Zugehörigkeit gesehnt. Noch 1844 wird er von seinem Pariser Exil aus im satirischen Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen einen spöttisch ironischen Blick, hinter dem sich viel von seiner Verletztheit verbirgt, auf dieses deutsche Vaterland werfen, in dem er selbst keinen Ort zum Leben hatte finden können.15 Sein Gedicht von der Lorelei aber, »diese ins Bild gefasste Exilsituation« wie der israelische Germanist Jakob Hessing es einmal bezeichnete, ist schließlich auch zu einer prophetischen Vorausschau auf das geworden, was dann etwa hundert Jahre später, als Gertrud Kolmar ihre deutschen Gedichte schrieb, zur tragischen Gewissheit für das deutsche Judentum werden sollte.16 Als eine »aufgeborstene Barke«, zerschellt im »Klippenstrudel«, um hier ein Wort der Dichterin aus dem Gedicht »Der Seegeist« anzuwenden, trieb dieses unterdessen dem eigenen Tod entgegen.17

Was mit Heine noch voller Hoffnung auf eine aufgeklärte Moderne und die damit verbundene Möglichkeit das Deutsche und das Jüdische trotz aller Zweifel zusammenzudenken, begonnen hatte, findet in Kolmar sein traumatisches, unwiderrufliches Ende. Beide, der frühe Dichter wie die spätere Dichterin, schrieben ihr Werk unter dem »Neigungswinkel« ihres deutsch-jüdischen Daseins, um hier ein bekanntes, so treffendes Wort von Paul Celan aufzugreifen.18 Eine existenzielle Spannung ist damit angesprochen, die in der Rezeption gerade von Gertrud Kolmars Werk bislang viel zu wenig berücksichtigt worden ist. Dies mag nicht nur ein Grund für so manche Verkennung der Dichterin sein, sondern vor allem auch dafür, warum ihr Werk bislang kaum in seiner epochalen Aussagekraft für die deutsch-jüdische Geschichte angemessen gewürdigt wurde. Etwas, das zu begreifen heutzutage wieder notwendiger denn je zu sein scheint und dem meine Überlegungen und Ausführungen in diesem Buch besonders gewidmet sein sollen.

Doch auch meine Studien wären ohne die entscheidenden Vorarbeiten anderer so nicht durchführbar gewesen. Besonders in den letzten dreißig Jahren, in etwa seit dem 100. Geburtstag der Dichterin im Jahr 1994, wurde sich auf vielfache Weise darum bemüht, ihr Werk weiter publik und einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. So widmete das Deutsche Literaturarchiv in Marbach der Dichterin im Jahr 1993 eine ganze Ausstellung. Vor allem die von Regina Nörtemann herausgegebene, umfassende Gesamtausgabe von Gertrud Kolmars Werk im Wallstein Verlag ermöglichte es, einen genaueren Überblick über das dichterische Werk zu gewinnen. Desgleichen seien hier die gerade vor einigen Jahren erst wieder neu aufgelegten Briefe Gertrud Kolmars erwähnt, um die sich Johanna Woltmann unter Mitarbeit von Regina Nörtemann in einer so gründlich recherchierten wie sorgfältig gestalteten Ausgabe verdient gemacht hat. Und auch Johanna Woltmanns 1995 veröffentlichte erste Biographie Kolmars war mir wiederholt eine unverzichtbare Informationsquelle. Ohne diese Bemühungen um Werk und Wirken der Dichterin – um hier nur einige der wichtigsten zu nennen – hätten mir entscheidende Voraussetzungen und Impulse für mein Schreiben gefehlt.

»Und wie ihre Biographie ging. Das geht wie Radknirschen über mich weg«, äußerte Sarah Kirsch einmal über die von ihr hochgeschätzte Dichterin, die auf vielfache Weise im Exil war und deren Leben so tragisch endete.19 Die Brüche und auch Brüchigkeiten, die Gertrud Kolmars Werk eingeschrieben sind, entsprangen jedoch nicht allein den historischen Umbrüchen, die sie durchlebte, sondern sie markieren darüber hinaus einen Zwischenraum oder auch ein »Dazwischen«, das für ein jüdisches und zugleich weibliches Schreiben bezeichnend war und bis zum heutigen Tag ist. Ihre Poetik ist auch deshalb so spannend, weil sie bereits damals etwas hervortreten ließ, was gerade im gegenwärtigen antikolonialen und feministischen Diskurs von hoher aktueller Bedeutung ist. Insofern kann Kolmar, trotz aller Konventionalität ihrer Dichtungen, in einigen, entscheidenden Aspekten bereits als eine hellsichtige Vorläuferin eines modernen, postmigrantischen Denkens angesehen werden.

Altvertraut und wie selbstverständlich schienen Ben noch immer Melodie und Verse aus »Der Lindenbaum« von den Lippen zu kommen. Und für einen flüchtigen Augenblick schien sich durch sein leises Singen ein winziger Spalt in eine Vergangenheit zu öffnen, die vielleicht auch ganz anders hätte sein können und angesichts derer wir nicht alle in »Wesen und Sprache« hätten beschädigt sein müssen, wie Adorno dies einmal behauptet hat.20 Ein Lied schien anzuklingen, das für diesen sommerlichen Maientag inmitten Berlins wie geschaffen war. Und das uns doch zugleich mitnahm auf eine Winterreise, die nicht nur jenen von Franz Schubert 1827 vertonten Verszyklus des romantischen Dichters Wilhelm Müller betraf, sondern weit darüber hinaus in eine erstarrte Landschaft verlorener Träume und unnennbarer Verluste führen sollte. So eingängig, wie es zunächst auch erschien, so war es doch alles andere als nur ein einfaches Volkslied, was da in diesem Moment mit diesem Singen zu uns herüberdrang.

Denn im Grunde lässt sich das Lied vom Lindenbaum als ein Lied des »einsamen Abschieds« auffassen, worin Liebe und Tod gleichermaßen vorhanden sind. Gerade durch Schuberts Musik werde diese tiefe Sehnsucht nach etwas Verlorenem besonders deutlich, betont der Sänger Ian Bostridge, vereine das Lied doch »Erinnerung und Verlangen« bereits »in den allerersten Takten«.21 Inmitten des Winters, der den Wanderer auf seiner Reise umgibt, vergegenwärtigt es ein Erinnerungsbild an einen grünen Baum im Sommer, zu dem in Gedanken »immerfort« zurückgekehrt wird, der ein Zeichen des Vergangenen darstellt, das gleichwohl vielleicht nie wirklich je besessen worden war. Ein grundsätzlich gegebenes, unaufhebbares Gefühl des Fremdseins und des Exils wird so vermittelt, welches bis zum Schluss die Reise des einsamen Wanderers durchzieht und sich auf seinem Weg noch dramatisch steigern wird.

Damals, im Mai 2014, habe ich nicht weiter nachgefragt, doch einige Wochen später schrieb ich Ben, um ihn nach der Bedeutung des Liedes in seinem Leben zu fragen. Es war eine lange Antwort auf Englisch, die er mir bald darauf zukommen ließ, worin sich eine tiefe Kenntnis nicht nur von Franz Schuberts Winterreise – von der Ben im Laufe seines Lebens wohl neun unterschiedliche Versionen angesammelt hatte –, sondern von Schuberts Liedkunst überhaupt offenbarte. Was den »Lindenbaum« betrifft, so sei dies eben einfach eines der populäreren Lieder, doch müsse er zugeben, dass er es vermutlich schon längst irgendwo gehört hatte, bevor er es dann im Zusammenhang mit der Winterreise bewusster zur Kenntnis nahm. Ja, es müsse wohl eine verborgene Verbindung zwischen diesem Wissen um das Lied und seinem Verhältnis zur deutschen Sprache vorhanden gewesen sein. Denn eigentlich wollte Ben von der deutschen Sprache nichts mehr wissen, wie er ebenfalls schrieb. Es sei schließlich sein Vater gewesen, der ihn dazu überredet habe, Deutsch und eben nicht Französisch, was Ben bevorzugt hätte, als zweite Sprache in der Schule zu wählen. Deutsch sei im Laufe der Zeit letztlich nichts weiter als ein Schulfach für ihn gewesen.

Doch schien sich parallel dazu mit Schuberts deutschen Liedern insgeheim noch etwas anderes zu vollziehen. Hier schien sich ein Raum für etwas zu öffnen, das sonst tief hinab ins Versteckte und Verdrängte verstoßen worden war. Als würde der Klang der Muttersprache in Verbindung mit Schuberts Liedkunst letztlich doch vertraute Stimmen und Erinnerungen wachrufen, die dort zugleich einen geheimen Ort der Aufbewahrung und des Andenkens finden konnten. Bilder eines anderen Lebens, eingeschrieben in sein Inneres, die ihn unauslöschlich geprägt hatten. Darunter und oft wohl vergessen die Klänge vom »Lindenbaum«, dieses so deutschen Lieds, leise und mit großer Vertrautheit gesungen in einer längst aufgegebenen Muttersprache, die wir nun an diesem Tisch in einem Straßencafé am Viktoria-Luise-Platz in Berlin so überraschend und unerwartet vernahmen.

»Die kalten Winde bliesen mir grad ins Angesicht …« Was das bedeuten könnte, darüber sprach Ben nicht. Doch würden wir uns an diesem Tag auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin noch vielen Orten der Vergangenheit zuwenden, darunter auch die Gedenkstätte von Gleis 17 am Bahnhof Grunewald. Jener Ort, von dem ein Großteil der Deportationen der Berliner Juden in die Vernichtungslager des Ostens abging. Ein Ort, den Ben bei seinen Berlinbesuchen wieder und wieder aufgesucht hat. Es war vor allem auch ein Totengedenken, das uns vier an diesem Tag zusammengeführt hatte. Aber es war zugleich ebenfalls der Beginn einer Erzählung über die Kraft des Wortes einer außergewöhnlichen Dichterin. Worte, in denen das Verlorene wohnt, in denen es weiterlebt und aus denen es noch immer spricht.

So hatte die Dichterin Gertrud Kolmar auch für Ben selbst unsichtbare Brücken gebaut, die ihm eine Rückkehr an die Orte der Vergangenheit ermöglichen halfen. Seine Tante Trude, die er als Vierjähriger das letzte Mal gesehen hatte und an die er keine Erinnerung mehr besaß, habe lange Zeit in seinem Leben eigentlich keine Rolle gespielt, hatte Ben in seinem Brief erklärt. Das allerdings habe sich in den letzten Jahren geändert. Durch ihr Interesse an der Dichterin Gertrud Kolmar seien viele neue Freunde in sein Leben gekommen und damit habe ihm seine Tante einen Schlüssel zu einer ganz anderen Welt gegeben.

Ein kurzer Moment fällt mir ein, der sich unmittelbar nach unserer Begegnung vor dem nicht mehr existierenden Haus in der Speyerer Str. 10 ereignet hatte. Wir gingen nebeneinander her und wie von unsichtbarer Hand geleitet fiel mir überraschend ein Kastanienblatt auf die Schulter, streifte leicht meinen Arm und glitt langsam zur Erde. Ein flüchtiger Zufall nur, doch kamen mir in diesem Moment wie von selbst jene Zeilen aus Gertrud Kolmars Gedicht »Garten im Sommer« aus dem Jahr 1937 in den Sinn, die mich immer fasziniert hatten und die für mich eines ihrer schönsten Gedichte überhaupt einleiten:

Gar nichts anderes war’s; kein Vogel, kein Falter flog.

Nur ein gilbendes Blatt zitterte in den umsponnenen Weiher, ich

sah es.

Eine unvermutete Berührung schien sich in diesem Augenblick zu ereignen und trotz der Traurigkeit des Ortes fühlte ich plötzlich eine seltene Verbundenheit. Weitere Erinnerungen an das Gedicht wurden wach.

Auch am Tor die mächtige Linde und ihre Ringeltaube, die wieder

mit dunkelndem Rucksen ruft.22

Verse, die abermals den Lindenbaum am Tor zur Sprache bringen. Eine romantische Spur, wie sie sich in Kolmars Gedichten immer wieder auffinden lässt und die sich darin doch zugleich auf eine sehr eigene Weise verliert und durchkreuzt wird.

Etwa zwei Jahre nach der Entstehungszeit dieser Gedichtzeilen aus »Garten im Sommer«, als Gertrud Kolmar bereits seit einigen Monaten im »Judenhaus« in der Speyerer Str. 10 in Berlin Schöneberg zu leben gezwungen war, schreibt sie am 1. März 1939 dem mit ihr befreundeten Dichter Jacob Picard vermutlich als Antwort auf ein von ihm zugeschicktes Gedicht, worin ebenfalls von Linden die Rede war:

Sie mögen mich lächerlich finden – und doch muß ich es sagen, weil es so war: als ich Ihre Linden ansah, kamen mir Tränen. (Und die fließen bei mir nicht so leicht …) Von den Bäumen wehte mich’s an, wie ein Duft, wie der Hauch einer Wesenheit, die freundlich und sanft war und lieblich und die nicht mehr ist … Für mich nicht mehr ist.23

Für unsere kleine Gruppe am Viktoria-Luise-Platz wurde es allmählich Zeit, aufzubrechen und weiterzugehen. Wir verließen den Ort unserer Rast und machten uns auf den Weg zur Ahornallee 37. Dorthin, wo Gertrud Kolmar den größten Teil ihrer Kindheit und Jugend verbracht und bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren gelebt hatte.

2Von Berlin Westend zu einem Städtchen im Osten

Die Ahornallee liegt im Berliner Stadtteil Westend. Ein Name, der auf den berühmten Londoner Bezirk zurückgeht. Mit dem Bau des Nobelviertels im Westen Berlins zwischen Spandauer Damm und Reichsstraße war im Jahr 1866 begonnen worden. Stattliche Villen, umgeben von großzügigen Gärten, sollten schon bald das neue Quartier prägen, dessen Bebauung bis 1900 weitgehend abgeschlossen war. Eingebettet ins Grüne und doch relativ stadtnah, wurde die Kolonie Westend, mit ihren weitläufigen Alleen, die jeweils nach den am Straßenrand angepflanzten Baumsorten benannt waren, schnell zu einer bevorzugten Wohngegend, die nicht nur gutsituierte Bürger, sondern auch Künstler und Wissenschaftler anzog. Hier lebten der Literaturkritiker Julius Bab, der Philosoph Georg Simmel, der Bakteriologe und Nobelpreisträger Robert Koch, der Astronom Wilhelm Foerster, aber auch die Schauspielerin Marlene Dietrich, der Komponist Arnold Schönberg, die Dichterin Gertrud Kantorowicz wie auch das Malerehepaar Sabine und Reinhold Lepsius, die hin und wieder den Dichter Stefan George bei sich beherbergten.

Noch immer ist die Ahornallee eine rechts und links mit Ahornbäumen bewachsene Straße, an deren Ecke zur Platanenallee sich die Nummer 37 befindet. Doch auch das Haus der Kindheit Gertrud Kolmars steht nicht mehr. Es ist einem drei Stockwerk hohen, hellblau und weiß getünchten, eleganten Neubau im postmodernen Stil gewichen, vor dem außerdem kein Ahornbaum, sondern wie der Zufall es will, ein noch recht junges Lindenbäumchen wächst. Das himmelblaue, helle Gebäude mit dem dahinter sich erstreckenden, mit Büschen und Bäumen bewachsenen Garten wirkt heiter und freundlich an diesem sonnigen Tag. Ein hellgrau gestrichener, brusthoher Metallzaun schirmt die Vorderfront zum Bürgersteig hin ab. Über den Zaun fällt der Blick auf eine an der Hauswand angebrachte Berliner Gedenktafel, die in dezent dunkelblauer Schrift darauf hinweist, dass im Vorgängerbau dieses Hauses die Lyrikerin Gertrud Kolmar, geb. am 10.12.1894, ihre Kindheit und Jugend verbrachte, bevor sie nach 1933 als Jüdin zur Zwangsarbeit verpflichtet und 1943 in Auschwitz ermordet wurde.

»Sie hat da gewohnt, bevor«, schreibt Esther Dischereit über diesen Ort. Alles an der Dichtung der Kolmar sei »bevor«. »Bevor sie nach Auschwitz deportiert wurde am 27. Februar 1943 bei der letzten sogenannten ›Fabrikaktion‹ der Nationalsozialisten.«1 Niemals würde sie selbst in dieses zweifellos attraktive neue Haus einziehen können, fährt Dischereit fort, auch wenn sie auf Wohnungssuche wäre und ihr hier eine Wohnung angeboten werden würde. Sie könnte niemals an dieser Stelle wohnen, wo Gertrud Kolmar einst gewohnt hatte: »Es ist eben so, dass ihr Geist diesen Platz nicht verlassen will.«2 Die Dichterin sei für sie wie eine jener ihr vertrauten, von der Shoa schwer gezeichneten jüdischen Mütter, die einen niemals verlassen und niemals loslassen. Eine Anwesenheit, der nicht zu entkommen ist, ein Erbe, so traumatisch und schwer, dass sie sich als jüdische Schriftstellerin der nachfolgenden Generation dem am liebsten nur entziehen würde: »Es ist besser, in Häuser einzuziehen, von denen ich nichts weiß.«3

Für mich ergibt sich hingegen noch ein anderer Blickwinkel. Wenn ich daran denke, wie wir vier etwas verloren vor diesem Haus standen, immer wieder die Schrift an der Wand ins Auge fassten, sie fotografierten, kaum dabei sprachen, uns wegdrehten, wieder hingingen, dann frage ich mich eher, wie ich mit diesem beklemmenden Gefühl einer umfassenden Abwesenheit umgehen kann, welches ich an allen ehemaligen Lebensorten der Dichterin immer wieder erfahren habe. Für einen Augenblick versuchte ich, mir Gertrud Kolmar als junge Frau vorzustellen. Wie sie im langen Rock und eher dunkler Jacke das baumbestandene Trottoir eilig und ein wenig scheu entlanggeht, das schwarze Haar lose im Nacken zusammengefasst, eine Tasche in den Händen oder Bücher unter dem Arm. Vielleicht auf dem Weg ins Fremdsprachenseminar oder in die Bibliothek, zu Verwandten oder zu einer Freundin in der Nähe. Den Blick der großen dunklen Augen, den eines der wenigen Fotos, die es von ihr gibt, so eindrucksvoll zeigt, zurückgenommen und aufmerksam zugleich auf die Umgebung gerichtet. Doch schon entgleitet sie mir wieder und ich sehe nur noch einen flüchtigen Schatten, der sich in der Ferne unter den Ahornbäumen verliert.

Hier hat sie gewohnt. Mehr als zwanzig Jahre lang. Von dem Haus, das damals hier stand, gibt es nur noch ein einziges, etwas verschwommenes Schwarz-Weiß-Foto. Demnach war es eine geräumige Villa, ein – wie das Foto vermuten lässt – für die Gegend typisches, wahrscheinlich rötlich-gelbes Backsteingebäude, das viel Platz für die Familie bot und dessen großer Garten vor allem für die Kinder ein willkommener Spielplatz war. Die Familie hatte das Haus 1899 erworben, denn die beiden Kinder, Gertrud und ihre um zwei Jahre jüngere Schwester Margot, sollten »nicht zwischen Steinhäusern und Asphalt aufwachsen«, sondern ein Heim haben, das gleichzeitig auch eine Heimat sein konnte, erinnert sich später die jüngste Tochter Hilde Wenzel in ihren Memoiren. Und so habe der Vater »eine Villa mit einem verwilderten Garten im damals noch entlegenen Villenvorort Westend in Charlottenburg« gesucht und gefunden.4 Zudem gab es eine gute Verkehrsanbindung zur Stadt, so dass Ludwig Chodziesner unter der Woche einigermaßen bequem seine Anwaltskanzlei im Zentrum Berlins erreichen konnte, wo er sich als Sozius des renommierten Justizrats Wronker gerade in diesen Jahren durch einige aufsehenerregende Prozesse als erfolgreicher Strafverteidiger einen Namen zu machen begann. In dieser großzügigen Wohnsituation prosperierte die Familie weiterhin und vergrößerte sich schon bald. Kaum ein Jahr nach dem Einzug wurde im März 1900 der einzige Sohn Georg geboren und im Dezember 1905 folgte dann die Tochter Hilde, von Eltern und Geschwistern oft liebevoll das Meisterchen genannt.

Auch Gertrud hatte sich dieser kleinen Schwester immer besonders verbunden gefühlt. Was anfangs aus einem gewissen mütterlichen Instinkt gegenüber der elf Jahre Jüngeren entsprungen sein mag, entwickelte sich später durch gemeinsame Interessen weiter, denn auch Hilde empfand wie ihre große Schwester eine ausgesprochene Leidenschaft für Bücher und damit verbunden für das Lesen und Schreiben. Doch anders als Gertrud setzte sie diese Neigungen nicht in eine eigene kreative Tätigkeit um, sondern sie erlernte den Beruf der Buchhändlerin und eröffnete als junge Frau mit ihrem Mann Peter Wenzel zu Beginn der Dreißigerjahre eine Buchhandlung in der Grolmanstraße in Berlin Charlottenburg. Erst viel später im Exil, nachdem sie ihren Buchladen durch ihre Flucht in die Schweiz hatte aufgeben müssen, begann Hilde ebenfalls mit eigenen Schreibversuchen. Zeitlebens werden sich die Schwestern immer wieder über Bücher, über ihre Leseeindrücke und über das Schreiben austauschen, wovon der zwischen ihnen anfangs nur sporadisch, seit Hildes Emigration im März 1938 dann in durchgehender Regelmäßigkeit geführte Briefwechsel ein beredtes Zeugnis ablegt. So ist es auch Hilde, die im Rückblick über Kolmars Verhältnis zu diesem Lebensabschnitt in der Ahornallee schreibt, zwar sei ihre Schwester Gertrud immer stolz darauf gewesen, im Herzen Berlins geboren zu sein, aufgewachsen aber sei sie in dem Haus in der Ahornallee 37 in Berlin Westend:

Das Backsteinhaus, ein Gebäude im wilhelminischen Stil, war eher repräsentativ als praktisch oder gar gemütlich eingerichtet. Doch erstreckte sich in jener Zeit der Grunewald noch bis vor die Haustür, und dann war da der Garten und hinter dem Hause das unbebaute Feld, das als Exerzierplatz der Soldaten der nahegelegenen Elisabethkaserne noch eine besondere Bedeutung hatte.5

In dieser noch naturnahen, doch wohlsituierten Umgebung verbrachte Gertrud Kolmar ihre Kindheit und Jugend. Sie erfuhr eine bildungsbürgerliche Erziehung, die mit einer für ein Mädchen in der damaligen Zeit nicht unbedingt selbstverständlichen, soliden Schulbildung einherging. Sowohl Gertrud wie auch die zweitälteste Schwester Margot besuchten eine private höhere Töchterschule in Charlottenburg, die einen ausgezeichneten Ruf genoss. Der Schulweg aber war weit und konnte bei schlechtem Wetter ungemütlich werden. In einem Brief an ihre Nichte Sabine erinnert sie sich noch daran:

Unsere Schule war ziemlich weit weg, wir fuhren immer mit der Straßenbahn. Und wenn es nachts stark geschneit hatte, waren morgens noch keine Schneefeger da, die Bahnen fuhren nicht und wir mußten laufen. Dann kamen wir natürlich viel zu spät und meist mit durchnäßten Stiefeln in der Schule an; […].6

Nach dem Ende der Schulzeit absolvierte die damals Siebzehnjährige ein hauswirtschaftliches Lehrjahr in der haus- und landwirtschaftlichen Frauenschule Arvedshof, einer 1906 für »Töchter gebildeten Standes« gegründeten Institution in der Nähe von Leipzig.7 Damit schien sie zunächst den klassischen Weg einer jungen Frau aus gutbürgerlichem Haus einzuschlagen. Doch könnte dieses »Auswärtsjahr« von ihr zugleich als ein erster Schritt in die Unabhängigkeit empfunden worden sein, denn zum ersten Mal lebte sie nun für einen längeren Zeitraum nicht im Elternhaus. Wieder zurück in Berlin strebte sie dann vor allem nach weiterer Ausbildung ihrer außergewöhnlichen Sprachbegabung und besuchte ein Lehrerinnenseminar für Fremdsprachen. Im Laufe des Jahres 1916 legte sie das Sprachendiplom sowohl für Französisch als auch für Englisch jeweils mit Bestnote ab. Damit war es ihr offiziell gestattet, in beiden Sprachen Unterricht an Gymnasien zu erteilen, doch machte die mittlerweile 22-jährige Gertrud Chodziesner offenbar nie wirklich Gebrauch von dieser Möglichkeit.

Als Grund dafür ist häufig vermutet worden, dass ein solcher Weg in ein unabhängiges, jedoch auch forderndes Arbeitsleben die scheue junge Frau eher abgeschreckt haben könnte.8 Doch mag letztendlich eine weitaus profanere Ursache für diese Entwicklung ausschlaggebend gewesen sein. So hat Stefanie Schüler-Springorum in ihrer vor wenigen Jahren erschienenen Studie über die Situation der jüdischen Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts festgestellt, dass im Gegensatz zu den jungen christlichen Frauen, die um 1910 den Lehrerinnenberuf anstrebten, »dieser Weg jungen Jüdinnen aufgrund des Antisemitismus im staatlichen Schulwesen weitgehend verschlossen« war. An den jüdischen Schulen wiederum wurden vor allem männliche Lehrer bevorzugt. In dieser Situation zwischen antisemitischer und patriarchaler Ausgrenzung sei den jüdischen Absolventinnen fast nur noch der »Ausweg in eine Privatschule oder eine Anstellung als Gouvernante« geblieben.9 Eine ziemlich nüchterne, doch ausgesprochen nachvollziehbare Erklärung, weshalb sich auch die berufliche Tätigkeit der jungen Gertrud Chodziesner weitgehend auf eine Arbeit als Privaterzieherin beschränkte. Die meisten dieser Arbeitsstellen befanden sich in Berlin und Gertrud konnte daher weiterhin im Elternhaus wohnen bleiben, was bei dem geringen Verdienst dieses Berufsstandes allein schon aus praktischen Gründen notwendig gewesen sein mag. Zweimal nahm sie eine Stelle außerhalb Berlins an, so im Juni/Juli 1921 für einige Wochen vorübergehend in Peine und von Dezember 1926 bis Sommer 1927 dann über mehrere Monate in Hamburg. Während dieser Zeiten erhielt sie jeweils freie Kost und Logis im Haus ihrer Arbeitgeber, wobei sie als Gouvernante gegebenenfalls das Zimmer mit ihren Zöglingen zu teilen hatte.

Den durchweg positiven Arbeitszeugnissen nach zu urteilen, hat sie sich ihrer pädagogischen Aufgabe als Erzieherin stets mit Sorgfalt und viel Engagement gewidmet. Besonders denjenigen, die anders waren, die es schwer hatten, Akzeptanz und einen Platz in der Gesellschaft zu finden, scheint sie sich mit intensiver Aufmerksamkeit zugewandt zu haben. So geht aus einer Beurteilung der Berliner Familie Schapski hervor, dass es der jungen Gertrud Chodziesner offenbar sehr einfühlsam gelungen war, »die Liebe und das vollste Vertrauen« ihrer zwei taubstummen Schützlinge »zu erwerben«, indem sie sich mit großer Geduld »in der anregendsten Weise« mit den Kindern beschäftigt habe.10 Auch im Berufsleben trat so ihre Gabe hervor, sich in jene hineinzuversetzen, die in einem eher von der Gesellschaft abgewandten, marginalisierten Bereich zu leben gezwungen waren.

Hinter dieser nach außen eher unauffälligen Fassade der jungen berufstätigen Frau verbargen sich jedoch noch ganz andere, eigene Interessen, denn Gertrud las viel, lernte weiterhin Sprachen – inzwischen noch Russisch –, schrieb Gedichte und verfasste manchmal sogar Prosa- und Theaterstücke. Insgeheim schien sie ein vielschichtiges und vielseitiges, von starken Gefühlen bestimmtes Innenleben zu führen, wobei die in ihrer Zeit vorherrschenden Konventionen für sie offenbar kaum eine Rolle spielten. Als ungefähr Zwanzigjährige ließ sie sich auf eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit einem jungen, preußischen Offizier ein und provozierte im bürgerlichen Sittenkodex der wilhelminischen Zeit mit der daraus hervorgehenden Schwangerschaft einen nicht wiedergutzumachenden Skandal. Gertrud durfte das Kind auf keinen Fall behalten und wurde, vermutlich vor allem von den eigenen Eltern, zur Abtreibung gedrängt. Eine Erfahrung, die sie nie ganz verwunden hat, ja – so vermutet jedenfalls ihre Biografin Johanna Woltmann – die sie sogar zu einem Selbstmordversuch im Jahr 1916 getrieben haben soll.11 Seit dieser Zeit jedenfalls scheint die Dichterin eine seelische Wunde mit sich herumgetragen zu haben, die niemals ganz verheilte und der sie auf vielfache Weise immer wieder auch Ausdruck in ihren Gedichten verleihen wird.

Im letzten Kriegsjahr dann übernahm Gertrud dank ihrer ausgezeichneten Sprachkenntnisse vom Herbst 1917 bis Ende November 1918 eine Stelle als Briefzensorin im Kriegsgefangenenlager Döberitz bei Spandau. Nach Kriegsende folgten weitere Berufstätigkeiten in abermals vorwiegend privaten Erzieherinnenstellungen. Bis sie schließlich im Juni 1927 noch zusätzlich die Übersetzerinnenprüfung beim Auswärtigen Amt in Berlin ablegte, um so die Erlaubnis für eine Dolmetschertätigkeit zu erhalten. Diese wurde ihr zwar zuerkannt, doch mit der Einschränkung, dass man ihre Dienste allein als außeramtliche Kraft und nur im Überlastungsfall in Anspruch nehmen könne. Vor allem aber entdeckte sie sich nun zunehmend als Dichterin und verfasste bereits zwischen 1918 und 1920 mehrere Gedichtzyklen. Eine erste Veröffentlichung mit dem Titel Gedichte war schon 1917, zum ersten Mal unter ihrem Künstlernamen Kolmar, im Egon Fleischel Verlag erschienen.

Was bedeutet ein Haus? Es geht dabei ja nicht allein um ein Gebäude, sondern zugleich um einen Ort der Vertrautheit, von Familie und Verwandtschaft, mit all seinen Schicksalen, Geschichten und Träumen, die darin eingezeichnet sind. Ein solches Haus, in dem man aufgewachsen ist, hat immer eine besondere Bedeutung, im Guten wie im Schlechten. Es sei »kein wolkenlos blauer Himmel« gewesen, der über diesem Ort ihrer Kindheit und Jugend in der Ahornallee in Berlin Westend gestanden habe, bemerkt Gertrud Kolmar in einem Brief, den sie Hilde Ende Januar/Anfang Februar 1940 schreibt, als sie nach langer Zeit einmal wieder das ehemalige Familienhaus aufgesucht hatte.12

Uneingeschränkt glücklich war sie dort nie. Zu vieles stand dem offenbar entgegen, zu eigensinnig begegnete dieses junge Mädchen den biederen, auf Konformität ausgerichteten bürgerlichen Umgangsformen ihrer Zeit und ihres Umfeldes. In all ihrer Zurückgezogenheit und äußeren Bescheidenheit, wovon häufig in Zeugnissen von Verwandten und Bekannten die Rede ist, war sie innerlich doch eine heimliche Rebellin, die oft genug den vorgezeichneten Weg verließ, um ihre geheimen Seitenwege einzuschlagen. Richtig zugehörig schien sie sich aus vielerlei Gründen nie fühlen zu können. Noch in einem ihrer letzten Briefe aus dem Jahr 1943 wird sie gegenüber Hilde jene »Kreise« ihrer Kindheit und Jugend erwähnen, in denen sie sich »mit 20 Jahren so wenig heimisch, ja, so unglücklich fühlte«, und zugleich erklären, dass sie nun »voll und ganz« begreife, »warum«.13 Und doch blieb es das Haus der Kindheit, zu dem sie sich gerade in der Zeit zunehmender Verfolgung und Bedrohung immer wieder hingezogen fühlte. Mehrmals wird sie sich gerade in diesen letzten schweren Jahren zur Ahornallee 37 begeben, wie ebenfalls aus ihren Briefen an Hilde hervorgeht.

Ende Januar 1940 in Berlin. Eine klirrende Kälte hatte Europa erfasst. Gleisanlagen waren eingefroren, Kanäle, Flüsse und sogar die Ostsee waren mit Eis überzogen. Es gab in diesem Winter viele Tote. Seit fünf Monaten befand Deutschland sich im Krieg. Die Situation der Juden hatte sich mit Kriegsbeginn noch weiterhin verschärft. In diesen bitterkalten Wochen wurde ihnen mit Erlass vom 23.1.1940 jeglicher Erwerb von Spinnstoffen, Schuhen und weiteren Ledermaterialien gesperrt. Ihre Lebensmittelkarten waren nun mit einem »J« gekennzeichnet und enthielten nur noch armselige Rationen des Allernötigsten.

Die Familie Chodziesner ist auseinandergerissen und in der ganzen Welt verstreut. Oft hört man wochenlang nichts voneinander, immer wieder weiß man nicht, wo sich der andere überhaupt befindet und wie es ihm geht. So viele sind schon fort. Auch Thea und Wölfchen sind vor nun schon fast zwei Monaten abgereist. Und auch wenn es eine große Erleichterung bedeutet, dass die beiden endlich aus Deutschland heraus sind, so wird doch die Leere, die sie hinterlassen haben, und die eigene Vereinsamung umso schmerzlicher spürbar. Sie fühle sich »müde und ›kopfschwach‹«, schreibt Gertrud Kolmar an Hilde kurz nach der Abreise der beiden.14 Zwei Briefe später, am 26.12.1939, erklärt sie dann, dass sie sich schon lange hier in der Fremde fühle. Sie sehne sich danach, »heimzukehren. In eine Landschaft, die südlicher und östlicher ist als Hellas … Auf immer …«15

Ob sich ihr Wunsch »heimzukehren« ganz konkret auf ein Ankommen im in südöstlicher Richtung gelegenen Palästina bezieht oder doch eher metaphorisch auf eine andere innere Art von Zugehörigkeit anspielt? Schon wenige Tage nach dieser Äußerung jedenfalls wird sie mit dem Schreiben ihrer letzten erhalten gebliebenen Erzählung Susanna beginnen, die sie zwischen dem 29. Dezember 1939 und dem 13. Februar 1940 fertigstellt. Es handelt sich um eine Geschichte, in der es zurückgeht in ein kleines Städtchen in Polen. Ein Städtchen ganz ähnlich jenem, wo die Familiengeschichte der Chodziesners einst begonnen hatte, bevor sie sich auf den Weg nach Westen machten.

Jede »dichterische Erschaffung« sei für sie wie eine Geburt, erklärt Gertrud Kolmar der Schwester in einem weiteren Schreiben aus dem Januar 1940, »(die Wehen sind manchmal scheußlich!).«16 Zumal sich dieser Vorgang nun im Dunkel der Nacht zu vollziehen hatte. Erst wenn die nervöse Zwangsgemeinschaft verängstigter Menschen in der Wohnung zur Ruhe gekommen war, wenn keine Haushaltspflichten mehr zu erledigen waren und auch der alte Vater nicht mehr ausgerechnet in »jener Stunde« konzentrierter Gedankenarbeit und dichterischer Versenkung »totsicher mit irgendeinem kleinen Anliegen oder auch nur einer Geschichte, die er mir erzählen will« ankam, »und dann – reißt der Faden ab und spinnt sich nicht weiter«, erst dann konnte sich die schöpferische Kraft entfalten, sich ein Stückchen weiter entwickeln, was ins Licht der Welt gehoben werden sollte. Ein Vorgang, der zugleich unter Anspannung der äußersten Kräfte geschah, einhergehend mit Schlafmangel und anschließender Erschöpfung. Nach dem Niederschreiben fühle sie sich morgens oft sehr müde, ja elend, habe sie Kopfschmerzen, kurz, sie habe »alle Anzeichen eines ›Katers‹, wie nach einer nächtlichen Ausschweifung, die es ja auch ist«.17

Einen solchen Exzess kann sie sich höchstens jede zweite Nacht erlauben. Doch sie gibt nicht auf und schreibt unter diesen Umständen und auf diese Weise ihre letzte erhalten gebliebene Erzählung. Jede Zeile, die nun geschrieben wird, ist »ein Sieg der den Mächten der Finsternis abgerungen«, wie es ihr Cousin Walter Benjamin ebenfalls im Januar 1940 in einem Brief an seinen Freund Gershom Scholem in Jerusalem so passend ausgedrückt hat.18 Sie rettet sich geradezu ins Schreiben und lotet ihre Sehnsucht nach »Heimkehr«, auch im Sinne einer Selbstvergewisserung im spannungsvollen Verhältnis zwischen den zwei Hauptpersonen aus: der verführerischen, poetischen Figuration der Susanna und der nüchternen, vernünftigen und alltagspraktischen Gestalt der Erzieherin, die stets das Naheliegende, Notwendige ins Auge fasst und doch zugleich tief fasziniert ist von Susannas Gabe, alle ihr begegnenden Wesen und Dinge mit einem eigenen poetischen Glanz zu durchdringen und zu beleben. Die entgegengesetzten Charaktere der zwei weiblichen Protagonistinnen entsprechen dabei offenbar zwei Seiten ihrer eigenen Person: Den Beruf der Erzieherin hatte sie selbst über Jahre hin ausgeübt, während in der Figur der Susanna eine Verbindung zu ihrem eigenen poetischen Dasein als Dichterin angelegt zu sein scheint.

Auch in dieser Novelle wird eine »unerhörte Begebenheit« in der Form einer Ich-Erzählung unter Verwendung einer bildhaften, symbolträchtigen Sprache berichtet. Die Rahmenerzählung setzt ein mit den Erinnerungen der alten Erzieherin – »mit grauendem Scheitel, zermürbter Stirn und Tränensäcken unter den müden Augen« –, die auf gepackten Koffern in einem Mietzimmer mit schäbigen Möbeln auf »das zweite Affidavit aus Plymouth/Massachusetts« wartet.19 Ein alltägliches Geschehen zur Zeit von Kolmars Niederschrift, in der so viele auf das begehrte Formular angewiesen waren, um ins amerikanische Exil ausreisen zu können. In dieser Situation angespannter Ungewissheit wird die Ich-Erzählerin zufällig beim Lesen einer Todesanzeige in der Zeitung an eine elf Jahre zuvor geschehene Begebenheit erinnert, als sie die junge, ungewöhnlich schöne, doch als gemütskrank geltende Susanna betreut hatte. Gewissermaßen in einer Rückblende auf das, was sie mit ihrer Abreise für immer hinter sich lassen würde, wird das damalige Geschehen noch einmal aufgerollt.

Und wieder einmal geht es auch diesmal zurück in eine Winterreise. Mitten im frostigen Winter hatte sich die Ich-Erzählerin, die ihr Judentum, »meinen Glauben« – wie sie selbst sagt –, nicht mehr wirklich kannte, die dieses Judentum eigentlich nur noch als einen geheimen, wenn auch wenig störenden »Makel« empfand, auf ihrem Weg zu Susanna Richtung Osten begeben.20 Nach dem Verlassen des Zuges in der kleinen, östlich gelegenen Stadt schlug ihr ein eiskalter Wind entgegen: »Denn ich hielt bloß zur Not meinen Schirm vor den Wind, der Schwaden körnigen, glasscharfen Schneestaubs gegen mich fegte.«21 Als würde sie unter widrigen Umständen in ihren eigenen Seelengrund zurückreisen, begegnet ihr in der Gestalt Susannas gleichsam ein Spiegelbild des Aufgegebenen und Verlorenen. Doch findet auch Susanna keinen wirklich eigenen Ort mehr in der Welt. Sie gilt als absonderlich und lebt völlig abgeschieden und allein, nur mit zwei zu ihrer Betreuung angestellten Frauen, »wie ein Kind zwischen zwei Erwachsenen« in einem »kleine[n] ängstliche[n] Haus«, das je auf der Linken und Rechten »ein größeres, neues Gebäude beschützte«.22

In ihrer Einseitigkeit sind beide Frauen in der Novelle von Entstellung gezeichnet. Erscheint das akkulturierte Judentum, wie es sich in der Figur der Erzieherin zeigt nur mehr als »etwas Brüchiges, Inkonsistentes, das nur in Partikeln zum Vorschein kommt«, so wird mit der Figur der Susanna dazu ein Gegenentwurf vorgestellt, der das Poetische und das Jüdische in eins zu denken sucht und auf diese Weise eine andere, ursprünglichere, wenn auch keineswegs unproblematische Möglichkeit jüdischen Selbstverständnisses vor Augen führt.23 Susanna fühlt sich tief verbunden mit aller Schöpfung, sowohl mit Pflanzen und Tieren wie auch den Schätzen der Erde, aber auch mit sagenumwobenen Elementargeistern wie Meerhund oder Meerkönig steht sie in einem inneren Austausch. Die Trennlinie zwischen Phantasie und Wirklichkeit verläuft für sie anders, in Märchen und Mythen fühlt sie sich zu Hause, zum antiken Orient wie auch zum jüdischen Schtetl vermag sie noch eine lebendige Verbindung für sich herzustellen. Gegenüber menschlicher Gesellschaft jedoch ist sie von ausdrücklicher Selbstgenügsamkeit:

Susanna brauchte mich nicht. Sie nahm mich an und fügte mich in ihre Welt, weil ich nun einmal da war, doch sie hatte mich nicht herbeigesehnt und hätte mich kaum vermißt; sie hätte sich, wie mit mir, mit der Hündin, den Muscheln, dem Turmalin und ihrem Fischadler unterhalten.24

Besonders ihr Name Susanna aber lässt an die apokryphe biblische Geschichte aus dem Buch Daniel der zu Unrecht verurteilten schönen und sinnlichen Frau denken. Führt man sich die Situation vor Augen, in der Gertrud Kolmar ihre Novelle geschrieben hat, so liegt es nahe, in dieser jeglicher Gerechtigkeit entbehrenden Verurteilung einer unschuldigen jüdischen Frau eine Anspielung auf das mitzulesen, was der Dichterin nun in Deutschland widerfuhr. Verfemt wie ein Tier, als seltsam und geisteskrank abgeurteilt, vermag die Jüdin Susanna dennoch voll Grazie und natürlicher Anmut eine königliche Zugehörigkeit für sich in Anspruch zu nehmen. Stolz erklärt sie gegenüber der Erzieherin: »Ich bin eine Tochter vom König David oder vom König Saul. Die lebten, das ist schon lange her, aber wir haben es nicht vergessen«.25

Nicht zuletzt entwirft Gertrud Kolmar mit ihrer Protagonistin Susanna auch eine Figur romantisch-jüdischer Verklärung und trifft sich auf diese Weise mit Ideen Martin Bubers, auf dessen Schriften sie in ihren Briefen ebenfalls verschiedentlich zu sprechen kommt und der diese Rückkehr zu den authentischen Quellen des Judentums aus dem Osten seit Beginn des 20. Jahrhunderts in seinen Ideen zur »Jüdischen Renaissance« propagiert hatte. Zwar wurde Buber zuweilen – besonders von Gershom Scholem und Walter Benjamin – eine übertriebene Romantisierung des Judentums vorgeworfen,26 doch hat zumindest der junge Scholem ebenfalls den Satz von der Romantik als »Revolution aus Sehnsucht nach besserem Geiste« geprägt (Tagebucheintrag vom 19.9.1915), eine Aussage, die für Kolmars Gestaltung der Susanna eine neue Gültigkeit erfährt.27 Vor dem düsteren Hintergrund ihrer Zeit entfaltet die Dichterin das anrührende Bild einer betörend schönen, jüdischen Frau aus dem Osten, die für die Sehnsucht nach einem unwiederbringlich Verlorenen steht.

Am Ende ist es die Liebe, an der auch Susanna scheitern wird. Der entscheidende Wendepunkt ereignet sich in einer fast märchenhaften, von der Erzieherin heimlich beobachteten, nächtlichen Szene. In eisiger Winternacht sieht sie die nur mit einem Nachthemd bekleidete Susanna am Gitter des offenen Küchenfensters:

Das Fenster war aufgerissen. Und auf dem Fensterbrett stand Susanna, hielt die Hände am Gitter, presste den Leib an die Stäbe und drängte hinaus. Ihr schwarzes Haar atmete wie ein Tier. Sie stand in dem langen Seidenhemd, das perlweiß schimmerte unter dem eisig silbernen Monde. Mit nackten Füßen stand sie und bebte und lachte leise und lockte.28

Die sinnlich begehrende Frau am vergitterten Fenster in einer Szene mit expressionistischen Anklängen. Ihre fast zum Wahnsinn gehende, hervordrängende Leidenschaft, die sogar ihr Haar lebendig wie ein atmendes Tier erscheinen lässt. Ihr Locken und leises Lachen, die ihr erotisches Verlangen ausdrücken und den Mann draußen vorm Fenster in den Bann ziehen. Und doch vermag sie sich nicht zu befreien, bleibt sie hinter dem eisernen Gitter und rettet sich in poetische Übersteigerungen, wenn sie den Geliebten, dessen Name Rubin ist, als ihren »Edelstein« oder als mythisches »Meerwesen« stilisiert. »Sie hockte nieder, sie kroch in sich zusammen, und ihr Gesicht suchte am Gitter entlang. Und ich sah einen Augenblick seinen Kopf an dem ihren, und beide waren eins …«29 Ein ungestillter Wunsch nach Liebe und Leidenschaft wird mit dieser Schlüsselszene von der jüdischen Dichterin im Winter 1939/1940 beschrieben. Ein vergebliches Begehren nach sinnlich erotischer Begegnung mit dem Anderen, das einhergeht mit einer großen Sehnsucht nach Befreiung des eigenen Gefühlslebens, wird mit diesem Flehen am vergitterten Fenster in dunkler, frostiger Nacht in der Figur dieser jungen Frau sichtbar.

Auch diese Königskinder konnten nicht zueinanderkommen. Das Wasser war viel zu tief. »Mein Schiff ist in Trümmern. Und meine Kleider zerfasern und fallen mir ab; aber ich bin nicht nackt … ich wehe so … in einem Wasserschleier … Und der Meerkönig kommt und sieht mich und findet mich schön.«30 Mit solchen poetischen Worten hatte Susanna noch wenige Tage zuvor auf einem abendlichen Winterspaziergang ihre eigene, höchst gefährdete, von Auflösung bedrohte Situation gegenüber der befremdeten Ich-Erzählerin zu beschreiben versucht. Die seelisch labile Susanna dürfe niemals heiraten, war der Erzieherin gleich zu Beginn ihrer Anstellung zu verstehen gegeben worden. Nun kann sie kaum glauben, was sie des Nachts beobachtet: »Aber was ich sah, schien so unwirklich, das weiße Mädchen, das Gitter, der Mond und der Geliebte im Garten, wie aus eines Buches Blättern gelesen […]« Von einer seltenen Faszination wie gebannt, vermag sie nicht einzugreifen. Sie kann nicht umhin, sich die Frage zu stellen: »Warum geschah doch nichts? Warum schoben sie zwischen sich dieses Gitter?«31

Warum dieses Gitter? Warum das Scheitern dieser Liebe? Warum lässt sich der ansonsten besonnen und überlegt wirkende Rubin, der Susanna offensichtlich aufrichtig zugetan ist, vom allgemeinen Urteil und den Hasstiraden der eigenen missgünstigen Mutter so sehr beeinflussen, dass er sich von seiner Liebe abwendet und die Stadt letztlich wegen Susanna verlässt? Auf seinem Weg nach Westen lässt er damit auch die kindlich-jüdische Seele, die Poesie und die Schönheit dieser jungen, eigenwilligen Frau zurück und folgt einer vermeintlich vernunftorientierten Handlungsweise, die schließlich mit Verfolgung und Vertreibung enden wird: »Sein Name stand nicht da«, bemerkt die Ich-Erzählerin beim Lesen jener Zeitungsanzeige vom Tod seiner Mutter, der alten Frau Rubin, die ihre Erinnerungen an Susanna überhaupt erst wieder geweckt hatte: »Nur eine Reihe ferner Städte: Shanghai, Tel Aviv, Parral, San Francisco.«32