In der Gegenwart - Hannah Arendt - E-Book

In der Gegenwart E-Book

Hannah Arendt

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Beschreibung

Die Essays der weltberühmten Philosophin haben nachhaltig das politische Denken in Europa und in den USA bestimmt. »Das einzige Ziel dieser Essays ist«, schreibt Hannah Arendt, »Erfahrungen darin zu erwerben, wie man denkt. Sie enthalten keine Vorschriften darüber, was gedacht werden soll.«

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Die Texte der Kapitel 4, 5, 7, 9, 13, 17 und 18 wurden von Ursula Ludz aus dem Amerikanischen übertragen.

 

ISBN 978-3-492-96446-3

April 2017

 

© Piper Verlag GmbH, München 2000

Herausgegeben von Ursula Ludz

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Fotograf/Künstler: Fred Stein Archive

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

I. Deutschland am Ende des Krieges und Entwicklungen in der Bundesrepublik

(1) Das »deutsche Problem« ist kein deutsches Problem[1]

Beim »deutschen Problem«, von welchem heutzutage die Rede ist, handelt es sich um eine Ausgrabung aus der Vergangenheit, und wenn dieses Fundstück jetzt einfach als das Problem germanischer Aggression präsentiert wird, dann geschieht dies wegen der sanften Hoffnungen, die man sich auf eine Restauration des Status quo in Europa macht. Angesichts des Bürgerkriegs, der den Kontinent überzieht, war es deshalb anscheinend notwendig, zuerst einmal die Bedeutung des Krieges im Sinne des 19. Jahrhunderts als eines rein nationalen Konflikts zu »restaurieren«, in welchem eher Länder als Bewegungen und eher Völker als Regierungen Niederlagen erleiden und Siege erringen.

Folglich liest sich die Literatur über das »deutsche Problem« größtenteils wie eine revidierte Ausgabe der Propaganda aus dem letzten Krieg [d.h. dem Ersten Weltkrieg[1]], die lediglich den offiziellen Standpunkt mit dem passenden historischen Wissen ausschmückte und im übrigen nicht besser oder schlechter war als ihr deutsches Pendant. Nach dem Waffenstillstand ließ man die Papiere dieser belesenen Herrschaften auf beiden Seiten einer barmherzigen Vergessenheit anheimfallen. Der einzige interessante Aspekt dieser Literatur war der Eifer, mit welchem Wissenschaftler und Schriftsteller von internationalem Ruf ihre Dienste anboten – nicht um unter Einsatz ihres Lebens ihr Land zu retten, sondern um unter äußerster Geringschätzung der Wahrheit ihrer Regierung zu dienen. Der einzige Unterschied zwischen den Propagandisten der beiden Weltkriege besteht darin, daß diesmal eine ganze Reihe von Personen, die früher den deutschen Chauvinismus mit zusammengebraut haben, sich selbst den alliierten Mächten als »Experten« für Deutschland zur Verfügung gestellt haben, ohne durch diesen Wandel irgend etwas von ihrem Feuereifer oder ihrer Unterwürfigkeit einzubüßen.

Diese Experten des »deutschen Problems« sind die einzigen Überbleibsel des letzten Krieges. Während jedoch ihre Anpassungsfähigkeit, ihre Dienstbereitschaft und ihre Angst vor intellektueller und moralischer Verantwortung konstant geblieben sind, hat sich ihre politische Rolle geändert. Im Ersten Weltkrieg, der seinem Wesen nach kein ideologischer Krieg war, hatte man die Strategien der politischen Kriegführung noch nicht entdeckt, und die Propagandisten, die das Nationalgefühl des Volkes weckten oder ihm zum Ausdruck verhalfen, waren kaum etwas anderes als Moral-Aufbauer. Wenn man nach der ziemlich allgemeinen Verachtung urteilt, die ihnen von den Fronttruppen entgegengebracht wurde, versagten sie vermutlich sogar bei dieser Aufgabe; doch ansonsten waren sie sicherlich ganz bedeutungslos. In der Politik hatten sie nichts zu sagen, noch waren sie das Sprachrohr der Politik ihrer jeweiligen Regierungen.

Heute jedoch ist Propaganda an sich nicht mehr effektiv, insbesondere wenn sie vorzugsweise mit nationalistischen und militärischen anstatt mit ideologischen und politischen Begriffen operiert. Haß, beispielsweise, ist ganz offenkundig nicht vorhanden. Die Wiederbelebung des »deutschen Problems« hat deshalb bloß einen negativen Propagandaerfolg gezeitigt: Viele, die sich angewöhnt haben, die Greuelgeschichten des letzten Krieges abzutun, weigern sich schlicht zu glauben, daß es sich dieses Mal um grausige Wirklichkeit handelt, weil sie ihnen in der alten Form nationaler Propaganda dargeboten wird. Das Gerede vom »ewig gleichen Deutschland« und dessen ewigen Verbrechen dient nur dazu, den Schleier der Skepsis über Nazideutschland und dessen gegenwärtige Verbrechen zu breiten. Als 1939 – um nur ein Beispiel zu nennen – die französische Regierung die Parolen des Ersten Weltkriegs aus dem Arsenal hervorholte und das Schreckgespenst vom »Nationalcharakter« Deutschlands verbreitete, bestand die einzige sichtbare Wirkung darin, daß der Terror der Nazis nicht für voll genommen wurde. So sah das überall in Europa aus.

Doch während Propaganda viel von ihrer Anregungskraft eingebüßt hat, hat sie eine neue politische Funktion erhalten. Sie ist zu einer Form politischer Kriegführung geworden und dient dazu, die öffentliche Meinung auf bestimmte politische Schritte vorzubereiten. Wird dann das »deutsche Problem« herausgestellt, indem man die Vorstellung verbreitet, daß der wirkliche Grund des internationalen Konflikts bei den Greueltaten der Deutschen (oder der Japaner) zu suchen sei, dann hat dies den Effekt, die eigentlichen politischen Fragen zu verschleiern. Indem man den Faschismus mit dem Nationalcharakter und der Geschichte Deutschlands identifiziert, wird den Menschen weisgemacht, die Zerschlagung Deutschlands sei ein Synonym für die Ausrottung des Faschismus. Auf diese Weise wird es möglich, die Augen zu verschließen vor der europäischen Krise, die noch keinesfalls überwunden ist und es den Deutschen erlaubt hat, den Kontinent zu erobern (mit der Hilfe von Quislingen und Fünften Kolonnen). So können alle Versuche, Hitler mit der deutschen Geschichte zu identifizieren, nur dazu führen, daß dem Hitlerismus unnötigerweise nationale Respektabilität verliehen und ihm bescheinigt wird, daß er durch eine nationale Tradition sanktioniert sei.

Ob man Hitler mit Napoleon vergleicht, wie das die englische Propaganda manchmal getan hat, oder mit Bismarck, man entlastet in beiden Fällen Hitler und geht mit der historischen Reputation Napoleons oder Bismarcks großzügig um. Napoleon lebt in der Erinnerung Europas letzten Endes immer noch fort als der Führer von Armeen, die von einer wie auch immer verzerrten Vorstellung von der Französischen Revolution beseelt waren; Bismarck war weder besser noch schlechter als die meisten nationalen Staatsmänner Europas, die das Spiel der Machtpolitik im Interesse der Nation betrieben, wobei ihre Ziele eindeutig definiert und klar begrenzt waren. Obwohl Bismarck versuchte, an einigen Stellen die deutschen Grenzen auszudehnen, dachte er nicht im Traum daran, irgendeine der rivalisierenden Nationen zu vernichten. Widerwillig stimmte er aufgrund von Moltkes »strategischenGründen« der Eingliederung Lothringens in das Reich zu, aber er wollte innerhalb der deutschen Grenzen keine fremden Teilstücke haben und besaß nicht die geringste Ambition, fremde Völker als unterworfene Rassen zu beherrschen.

Was für die politische Geschichte Deutschlands gilt, trifft sogar in weit größerem Maße auf die geistigen Wurzeln zu, die der Nazismus haben soll.

I

Es ist völlig abwegig, den Nazismus aus einer speziellen deutschen Charakteranlage oder aus der deutschen Tradition erklären zu wollen. Zum Nazismus gehört kein Teil der westlichen Tradition, sei er deutsch oder nicht, katholisch oder protestantisch, griechisch oder römisch. Weder Thomas von Aquin noch Machiavelli oder Kant oder Hegel oder Nietzsche – die Liste kann auf Grund der Literatur über das »deutsche Problem« ins Unendliche verlängert werden – tragen die geringste Verantwortung für das, was in den deutschen Vernichtungslagern geschehen ist. Ideologisch gesprochen, beginnt der Nazismus mit überhaupt keiner traditionellen Basis. Es wäre besser gewesen, diese Gefahr der radikalen Verneinung jeder Tradition zu begreifen, die von Anfang an der wichtigste Charakterzug des Nazismus war (im Unterschied zu den Anfangsstadien etwa des italienischen Faschismus). Schließlich waren die Nazis selbst die ersten, die um ihre totale Leere herum eine Nebelwand von gelehrten Interpretationen hochzogen. Die meisten Philosophen, die gegenwärtig von den übereifrigen Experten des »deutschen Problems« verteufelt werden, sind schon lange von den Nazis für sich reklamiert worden – aber nicht weil den Nazis an Respektabilität gelegen war, sondern einfach deshalb, weil sie begriffen, daß es kein besseres Versteck als den großen Spielplatz der Geschichte und keinen besseren Leibwächter als die Kinder dieses Spielplatzes gibt, will heißen die »Experten«, die man so leicht für seine Dienste gewinnen und so leicht irreführen kann.

Die grausigen Ausschreitungen des Nazi-Regimes sollten uns gezeigt haben, daß wir es hier mit etwas Unerklärlichem zu tun haben, das sich nicht einmal mit den schlimmsten Perioden der Geschichte vergleichen läßt. Niemals, weder im Altertum noch im Mittelalter, noch in der Neuzeit, wurde Zerstörung ein gut formuliertes Programm und seine Ausführung ein gründlich organisierter, bürokratisierter und schematisierter Prozeß. Es ist richtig, daß der Militarismus in Beziehung zur Wirksamkeit der Nazi-Kriegsmaschine steht und daß der Imperialismus viel mit seiner Ideologie zu tun hat. Aber um dem Nazismus näher zu kommen, muß man den Militarismus all seiner ihm innewohnenden Kriegstugenden entkleiden und den Imperialismus all seiner Träume vom Imperiums-Aufbau als einer »Aufgabe des weißen Mannes«. Mit anderen Worten, man kann im modernen politischen Leben leicht gewisse Neigungen finden, die an sich auf den Faschismus hinzielen, und gewisse Klassen, die leichter zu gewinnen und leichter zu betrügen sind als andere, aber alle müssen ihre sozialen Grundfunktionen verändern, bevor der Nazismus sie verwenden kann.[2] Der deutsche Militarismus, wie er in der deutschen Armee vertreten war, hatte kaum mehr Ehrgeiz als der Militarismus der alten französischen Armee der Dritten Republik: Die deutschen Offiziere wollten ein Staat im Staate sein und nahmen fälschlicherweise an, daß die Nazis ihnen dienlicher sein würden als die Weimarer Republik. Sie waren bereits im Stadium der Auflösung, als sie ihren Fehler erkannten – ein Teil war liquidiert und der andere selbst dem Nazi-Regime angeschlossen.

Es ist richtig, daß die Nazis gelegentlich die Sprache des Militarismus gesprochen haben, wie sie die Sprache des Nationalismus gesprochen haben; aber sie haben die Sprache jedes existierenden Ismus gesprochen, Sozialismus und Kommunismus nicht ausgeschlossen. Das hinderte sie nicht, Sozialisten, Kommunisten, Nationalisten und Militaristen zu liquidieren, alle gefährliche Nachbarn der Nazis. Nur die »Experten« mit ihrer Schwäche für das gesprochene oder geschriebene Wort und ihrem Unverstand für politische Realitäten nahmen diese Äußerung der Nazis für bare Münze und interpretierten sie als die Folge dieser oder jener deutschen oder europäischen Traditionen. Im Gegenteil, der Nazismus ist heute der Untergang aller deutschen oder europäischen Traditionen, der guten wie der schlechten.

II

Viele Anzeichen deuteten auf die Katastrophe hin, die Europa mehr als ein Jahrhundert bedrohte und die in Marx’ bekannten Worten prophezeit ist, in denen er von der Alternative zwischen Sozialismus und Barbarei spricht. Während des letzten Krieges wurde diese Katastrophe sichtbar in Form der größten Zerstörungen, die die europäischen Völker je erlebt haben. Von da ab änderte der Nihilismus seine Bedeutung. Er war nicht mehr eine mehr oder weniger harmlose Ideologie, eine der vielen rivalisierenden Ideologien des 19. Jahrhunderts. Er blieb nicht mehr im ruhigen Reiche der bloßen Negation, des Skeptizismus und verzweifelten Pessimismus. Er begann statt dessen die Zerstörung als tatsächliche Erfahrung zu seiner Grundlage zu machen in dem unsinnigen Traum, die Leere schaffen zu können. Die Erfahrung in der Zerstörung wurde durch die Nachkriegswirren enorm gestärkt, als die Kriegsgeneration durch Inflation und Arbeitslosigkeit in die widerspruchsvolle Situation einer äußersten Hilflosigkeit und Untätigkeit innerhalb des Räderwerks einer scheinbar normalen Gesellschaft gestoßen wurde. Wenn die Nazis an das berühmte »Fronterlebnis« appellierten, weckten sie nicht nur Erinnerungen an die »Volksgemeinschaft« der Schützengräben, sondern brachten auch die süßen Erinnerungen an eine Zeit außerordentlicher Aktivität und Zerstörungskraft des Einzelnen.

Es stimmt, daß die Situation in Deutschland sich mehr als irgendwo für den Bruch mit allen Traditionen eignete. Das hängt mit der späten Entwicklung der Deutschen als Nation, ihrer unglücklichen politischen Geschichte und dem Mangel jeglicher demokratischer Erfahrung zusammen. Es hängt noch mehr mit der Tatsache zusammen, daß die Nachkriegssituation der Inflation und Arbeitslosigkeit – ohne die die zerstörerische Kraft des »Fronterlebnisses« ein vorübergehendes Phänomen geblieben wäre – mehr Menschen stärker in Mitleidenschaft zog als irgendwo. Aber wenn es auch leichter gewesen sein mag, europäische Traditionen in Deutschland zu zerbrechen, so steht es doch auch fest, daß sie zerbrochen werden mußten, so daß es nicht irgendeine deutsche Tradition als solche, sondern die Verletzung aller Traditionen war, die den Nazismus hervorbrachte. Wie erfolgreich der Nazismus an die Veteranen des letzten Krieges in allen Ländern appellierte, zeigt der fast universelle Einfluß, den er in allen Veteranen-Organisationen Europas hatte. Die Veteranen waren die ersten Sympathisanten, und die ersten Schritte, die die Nazis auf dem Felde der Außenpolitik taten, waren häufig darauf berechnet, jene »Waffenbrüder« jenseits der Grenzen zu wecken, bei denen sie sicher waren, daß sie ihre Sprache verstanden, von denselben Gefühlen bewegt wurden und den gleichen Wunsch nach Zerstörung in sich trugen.

Das ist die einzig wirkliche psychologische Deutung des »deutschen Problems«. Das Beunruhigende ist nicht der deutsche Nationalcharakter, sondern die Auflösung dieses Charakters oder die Tatsache, daß er keine Rolle mehr in der deutschen Politik spielt. Er gehört genauso der Vergangenheit an wie der deutsche Militarismus oder Nationalismus. Es wird nicht möglich sein, ihn wieder zum Leben zu erwecken, indem man die Mottos alter Bücher zitiert oder extreme politische Maßnahmen ergreift. Aber es gibt etwas Beunruhigenderes, und das ist der Mensch, der »den Deutschen« ersetzt hat – hauptsächlich der Typ, den die Angst vor Vernichtung selbst in eine zerstörerische Macht verwandelt, und den gibt es nicht nur in Deutschland. Das Nichts, aus dem der Nazismus entsprang, kann in weniger mystischen Umschreibungen als das Vakuum bezeichnet werden, das dem fast gleichzeitigen Zusammenbruch der sozialen und politischen Strukturierung Europas folgte. Gerade darum wird die Restauration so heftig von den europäischen Widerstandsbewegungen bekämpft, weil sie wissen, daß genau das gleiche Vakuum hervorgerufen werden würde, ein Vakuum, vor welchem sie in tödlicher Furcht leben, selbst wenn sie gerade jetzt gelernt haben, daß es »weniger schlimm« als der Faschismus ist. Die ungeheure psychologische Anziehungskraft des Nazismus beruht weniger auf seinen falschen Versprechungen als auf der offenen Anerkennung dieses Vakuums. Seine ungeheuerlichen Lügen paßten zu dem Vakuum. Diese Lügen waren psychologisch wirksam, weil sie gewissen fundamentalen Erfahrungen entsprachen und gewissen fundamentalen Wahrheiten. Man kann sagen, daß der Faschismus der alten Kunst des Lügens eine neue Variation geschenkt hat – die teuflischste Variation –: die Wahrheit zu lügen.

Die Wahrheit war: Die Klassenstruktur der europäischen Gesellschaft konnte nicht länger funktionieren, weder in ihrer feudalen Form im Osten noch in ihrer bourgeoisen Form im Westen. Nicht nur, daß ihr Mangel an Gerechtigkeit täglich offensichtlicher wurde; sie warf dauernd Millionen und Abermillionen von Individuen aus jedwedem Klassenstatus (durch Arbeitslosigkeit und andere Ursachen). Die Wahrheit war, daß der nationale Staat, einst das Symbol der Souveränität des Volkes, nicht mehr das Volk repräsentierte und unfähig wurde, seine äußere oder innere Sicherheit zu gewährleisten. Ob Europa zu klein für seine Organisationsform geworden war oder ob die europäischen Völker über die Organisation ihrer Nationalstaaten hinausgewachsen waren – sie verhielten sich nicht mehr als Nationen und konnten nicht mehr von nationalen Gefühlen bewegt werden. Die meisten von ihnen waren nicht gewillt, einen nationalen Krieg zu wagen, auch dann nicht, wenn er um ihre Unabhängigkeit ging.

Diese soziale Wahrheit des Niedergangs der europäischen Klassengesellschaft wurde von den Nazis mit der Lüge der »Volksgemeinschaft« beantwortet, die sich gründete auf der Komplizenschaft im Verbrechen und geführt wurde von einer Bürokratie von Gangstern. Die Deklassierten konnten mit dieser Antwort sympathisieren. Und die Wahrheit des Niedergangs des nationalen Staates wurde mit der famosen Lüge der »Neuen Ordnung« in Europa beantwortet, die die Völker in Rassen einteilte und sie für ihre Vernichtung präparierte. Die Leichtgläubigkeit der europäischen Völker – die in so vielen Fällen die Nazis in ihre Länder ließen, weil die Nazis auf der Grundlage gewisser fundamentaler Wahrheiten logen – hat sie einen enormen Preis gekostet. Aber sie haben schließlich eine große Lektion gelernt: daß keine der alten Kräfte, die den Mahlstrom des Vakuums produzierten, so furchtbar ist wie die neue Kraft, die aus ihm entsprang und deren Absicht ist, das Volk in Übereinstimmung mit dem Gesetz des Mahlstroms zu organisieren – das die Vernichtung selbst ist.

III

Die europäischen Widerstandsbewegungen erwuchsen in denselben Völkern, die 1938 die Münchner Vereinbarungen bejubelt hatten und in denen der Ausbruch des Krieges nur Mißbehagen hervorgerufen hatte. Diese Bewegungen wurden erst dann lebendig, als die Nationalisten und die Haßprediger aller Schattierungen ihre Gelegenheit bekommen hatten, Kollaborationisten zu werden, so daß die fast unvermeidliche Zuneigung aller Nationalisten zum Faschismus und die der Chauvinisten zur Unterwerfung unter den ausländischen Unterdrücker ganzen Völkern offenbar wurde. (Die wenigen Ausnahmen solcher altmodischen Nationalisten wie de Gaulle oder des Journalisten [Henri de] Kérillis bestätigen die Regel.) Die Untergrund-Bewegungen waren also mit anderen Worten das direkte Ergebnis der Niederlage, erstens des nationalen Staats, der durch Quisling-Regierungen ersetzt wurde, und zweitens des Nationalismus selbst. Die, die aufstanden, um den Kampf zu wagen, kämpften gegen den Faschismus und nichts anderes. Das ist nicht überraschend; was überraschend ist – gerade wegen seiner strikten, fast logischen Konsequenz –, ist, daß alle diese Bewegungen plötzlich ein positives politisches Schlagwort fanden, das vollkommen den nichtnationalen, so sehr populären Charakter des neuen Kampfes zeigte: Dieses Schlagwort war einfach EUROPA.

Hierdurch erweckte natürlich das »deutsche Problem«, so wie es von den Experten präsentiert wurde, sehr wenig Interesse in der europäischen Widerstandsbewegung, Es galt als feststehend, daß das alte Festhalten am »deutschen Problem« nur die Auffassung des »ideologischen Krieges« vernebeln und daß die Entrechtung Deutschlands eine Lösung der europäischen Frage verhindern würde. Viele wohlwollende Korrespondenten, die ihre Lektion von den Experten über Deutschland gelernt hatten, waren schockiert durch das Fehlen persönlichen Hasses gegen die Deutschen in den befreiten Ländern und durch das Vorhandensein eines politischen Hasses gegen Faschisten, Kollaborationisten und Konsorten gleich welcher Nationalität. Die Worte, die Georges Bidault, Chef der französischen Widerstandsbewegung und jetzt Außenminister, zu verwundeten deutschen Soldaten unmittelbar nach der Befreiung von Paris[3] sprach, klingen wie ein einfacher und glänzender Ausdruck der Gefühle derer, die gegen Nazi-Deutschland nicht mit ihren Federn, sondern mit ihrem Leben kämpften. Er sagte: »Deutsche Soldaten, ich bin der Chef der Widerstandsbewegung. Ich bin zu Euch gekommen, um Euch gute Gesundheit zu wünschen. Mögt ihr Euch bald in einem freien Deutschland und in einem freien Europa befinden!«

Das Bestehen auf Europa gerade in solchem Moment ist charakteristisch. Alle anderen Worte würden nicht der Überzeugung entsprochen haben, daß die europäische Krise vor allem eine Krise des Nationalstaats ist. Mit den Worten der holländischen Untergrundbewegung: »Wir durchleben jetzt eine Krise der staatlichen Souveränität. Eins der Hauptprobleme des kommenden Friedens wird sein: Wie können wir unter der Wahrung unserer kulturellen Autonomie die Bildung größerer Einheiten auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet durchführen? … Ein guter Friede ist heute unerreichbar, wenn die Staaten nicht Teile ihrer wirtschaftlichen und politischen Souveränität zu Gunsten einer höheren Autorität aufgeben. Wir lassen die Fragen offen, ob ein europäischer Rat, eine europäische Föderation, die Vereinigten Staaten von Europa oder was sonst für ein Einheitstyp gebildet werden soll.«

Es ist offensichtlich, daß für diese Menschen, die wahrhaft neuen Menschen Europas, das deutsche Problem nicht wie für de Gaulle das Zentrum der Welt, nicht einmal das Zentrum Europas ist. Ihr Hauptfeind ist der Faschismus, nicht Deutschland; ihr Hauptproblem ist die Krise aller Staatsorganisationen des Kontinents, nicht nur des deutschen oder preußischen Staates. Ihr Schwerpunkt ist Frankreich, das Land, das kulturell und politisch jahrhundertelang wahrhaft das Herz Europas gewesen ist und dessen letzte Beiträge zum politischen Denken es wieder an die geistige Spitze Europas gestellt haben. In diesem Zusammenhang war es mehr als bedeutsam, daß die Befreiung von Paris in Rom mit größerer Begeisterung gefeiert wurde als seine eigene Befreiung; und daß die Botschaft der holländischen Widerstandsbewegung an die französischen Streitkräfte des Innern nach der Befreiung von Paris mit den Worten schloß: »Solange Frankreich lebt, wird Europa nicht sterben.«

Für die, die Europa während der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen genau gekannt haben, muß es fast erschütternd gewesen sein zu sehen, wie schnell dieselben Völker, die nur wenige Jahre vorher keineswegs mit Fragen politischer Art vertraut waren, plötzlich die Hauptbedingungen für das Weiterleben des europäischen Kontinents entdeckt haben. Unter der Nazi-Unterdrückung haben sie nicht nur die Bedeutung der Freiheit wieder kennengelernt, sondern auch ihre Selbstachtung und das Streben nach Verantwortung zurückgewonnen. Das zeigt sich besonders deutlich in allen ehemaligen Monarchien, wo – zur Überraschung und zum Mißvergnügen einiger Beobachter – das Volk vor allem ein republikanisches Regime wünscht. In Frankreich, einem Land reifer republikanischer Traditionen, gewinnt die Ablehnung der alten zentralisierten Regierungsformen, die dem einzelnen wenig Verantwortung überlassen, immer mehr an Boden. Der Wunsch nach neuen Formen, die dem Bürger sowohl mehr Pflichten wie mehr Rechte und Stellungen im öffentlichen Leben geben, ist charakteristisch bei allen Parteien.

Das Hauptprinzip der französischen Widerstandsbewegung war: »libérer et fédérer«, und mit der Föderation war eine föderierte Struktur der Vierten Republik gemeint (im Gegensatz zum »zentralistischen Staat, der totalitär werden muß«), eingefügt in eine europäische Föderation. Wenn auch die französischen, tschechischen, italienischen, norwegischen und holländischen Untergrundzeitungen in fast gleichen Ausdrücken darauf als primärer Bedingung für einen künftigen Frieden bestehen, sind meines Wissens nur die Franzosen so weit gegangen festzustellen, daß die föderative Struktur Europas sich gründen muß auf ähnlich föderierten Strukturen der beteiligten Staaten.

Ebenso umfassend, aber nicht so neu, sind die sozialen und ökonomischen Forderungen. Alle verlangen eine Änderung des Wirtschaftssystems, Kontrolle des Reichtums, Verstaatlichung und Vergesellschaftlichung der Grundstoffe und der Hauptindustriezweige. Auch hier haben die Franzosen wieder einige eigene Vorstellungen. Wie [Louis] Saillant es formuliert hat, wollen sie keinen »Aufguß irgendeines sozialistischen oder anderen Programms«, da sie hauptsächlich interessiert seien an »der Verteidigung jener menschlichen Würde, für welche die Menschen in der Résistance gekämpft und sich geopfert haben«. Die Gefahr eines »étatisme envahissant« [aggressiven Etatismus] hoffen sie dadurch zu vermeiden, daß die Arbeiter und das technische Personal jeder Fabrik am Betriebsergebnis beteiligt werden und die Verbraucher eine entscheidende Stimme im Management erhalten.

Es war notwendig, dieses allgemeine programmatische Stückwerk zu skizzieren, denn nur in seinen Ausdrücken bekommt die Antwort auf das »deutsche Problem« einen Sinn. Verdächtig erscheint jede Art von Vansittartismus [Deutschenhaß[4]]. Ein französischer Offizier, einer derer, die täglich mit Hilfe der deutschen Untergrundbewegung aus den Nazi-Gefangenenlagern entflohen, bezeichnet den Unterschied zwischen den Gefangenen und den Leuten zu Hause, die die Deutschen mehr als jene hassen. »Unser Haß, der heftige Haß der Gefangenen, gilt den Kollaborationisten und den Profitmachern und allen, die dem Feind halfen – und wir sind drei Millionen.«

Die polnische sozialistische Zeitung Freiheit warnte vor dem Rachegeschrei, weil es »leicht in den Wunsch, andere Nationen zu unterdrücken, umschlagen kann, wodurch nach der Niederlage des Nazismus seine Methoden und Ideen wieder triumphieren würden.« Sehr ähnliche Feststellungen wurden von den Bewegungen der anderen Länder gemacht. Die Furcht, in irgendeine Art von Rassismus zu verfallen, nachdem seine deutsche Spielart vernichtet ist, hat zur Folge, daß man auf jede Idee der Zerstückelung Deutschlands verzichtet. In dieser wie in vielen anderen Fragen ist die Uneinigkeit zwischen den Widerstandsbewegungen und den Exilregierungen fast vollständig.[5]

Indessen stehen die Holländer, Polen, Norweger und Franzosen wie ein Mann hinter dem Programm der Nationalisierung der deutschen Schwerindustrie, der Liquidierung der Junker und Industriellen als Gesellschaftsklassen, der vollkommenen Entwaffnung und der Kontrolle der industriellen Produktion. Einige treten für eine föderale deutsche Verwaltung ein. Die französische sozialistische Partei erklärt, dieses Programm »muß in die Praxis umgesetzt werden in engster brüderlicher Zusammenarbeit mit deutschen Demokraten«. Alle Programme schließen mit der Ermahnung, daß »siebzig Millionen Menschen im Herzen Europas wirtschaftlichem Elend zu überlassen« (Norweger) die letzte Möglichkeit verhindern heißt, »Deutschland in die Gemeinschaft der europäischen Nationen und in eine europäische Planwirtschaft aufzunehmen« (Holländer).

Wenn man in Begriffen des europäischen Untergrunds denkt, dann wird man gewahr, daß die heftig umstrittenen Alternativen eines milden oder harten Friedensschlusses mit Deutschland kaum etwas mit dem Problem der künftigen Souveränität dieses Landes zu tun haben. Daher behaupten die Holländer, daß »das Problem der Gleichberechtigung nicht dadurch gelöst werden kann, daß der besiegte Staat die Souveränitätsrechte zurückerhält, sondern nur dadurch, daß ihm ein begrenzter Einfluß in einem europäischen Rat oder einer europäischen Föderation gewährt wird«. Die Franzosen, die schon für den Zeitabschnitt vorausplanen, wenn die nichteuropäischen Besatzungsarmeen den Kontinent verlassen haben und sie selbst wieder mit strikt europäischen Belangen konfrontiert sein werden, haben darauf hingewiesen, daß »wesentliche Beschränkungen der deutschen Souveränität nur dann problemlos ins Auge gefaßt werden können, wenn alle Staaten gleichfalls bedeutende Einschränkungen ihrer eigenen Souveränität akzeptieren«.

Lange bevor der Morgenthau-Plan bekannt wurde, hatten die Untergrundbewegungen jeden derartigen Gedanken an die Zerstörung der deutschen Industrie zurückgewiesen. Diese Ablehnung ist so allgemein, daß es überflüssig ist, dafür besondere Quellen zu zitieren. Die Gründe liegen offen zutage: Es gibt eine erdrückende und insgesamt berechtigte Angst davor, daß halb Europa Hunger leiden müßte, wenn die deutsche Industrie die Produktion einstellen würde.

Anstelle der Zerstörung dieser Industrie wird deren Kontrolle vorgeschlagen, die weniger von einem besonderen Land oder einem Volk, sondern von einem europäischen Beratergremium ausgeübt werden soll, das zusammen mit deutschen Repräsentanten die Verantwortung für das Management der deutschen Industrie übernehmen würde, um die Produktion anzukurbeln und die Verteilung zu steuern. Am bemerkenswertesten unter den Wirtschaftsplänen zur europäischen Nutzung der deutschen Industrie ist das französische Programm, das in der Zeit vor der Befreiung als Diskussionsvorschlag im Gespräch war. Diesem Programm zufolge sollten, ohne daß die Landesgrenzen verschoben würden, die Industrieregionen Westdeutschlands, das Ruhrgebiet, das Saargebiet, das Rheinland und Westfalen mit den Industriegebieten im Osten Frankreichs und Belgiens zu einem einzigen Wirtschaftssystem zusammengefaßt werden.

Doch diese Bereitschaft, sich mit einem künftigen Deutschland abzufinden, läßt sich nicht allein aus der Sorge um das wirtschaftliche Wohl oder gar aus dem natürlichen Gefühl heraus erklären, daß es ungeachtet der Entscheidungen der Alliierten die Deutschen auch weiterhin in Europa geben werde. Man muß außerdem die Tatsache in Rechnung stellen, daß der europäische Widerstand in vielen Fällen Seite an Seite mit deutschen Antifaschisten und Deserteuren aus der Wehrmacht gekämpft hat.

Die Widerstandsbewegung weiß von der Existenz der deutschen Untergrundbewegung durch die Millionen von ausländischen Arbeitern und Gefangenen, die im Reich Gelegenheit hatten, ihr Wirken zu beobachten. Ein französischer Offizier, der beschreibt, wie französi-sche Gefangene in Deutschland Kontakt zu französischen Zwangsarbeitern und zur französischen Untergrundbewegung selbst bekamen, spricht von der deutschen Untergrundbewegung als feststehender Tatsache, wenn er schreibt: »Ohne die aktive Hilfe der deutschen Soldaten und Arbeiter wäre dieser Kontakt nie möglich gewesen.« Er spricht auch davon, »viele gute Freunde unter den Deutschen hinterlassen zu haben, als wir den Stacheldraht durchschnitten«. Noch beeindruckender ist seine Mitteilung, daß der deutsche Untergrund auf die Hilfe der Franzosen in Deutschland zähle, und zwar »in dem Augenblick, wo man zum letzten Schlag ausholt«, und daß dank der organisierten Zusammenarbeit zwischen den beiden Gruppen die Franzosen den Ort kennten, an welchem der deutsche Untergrund seine Waffen gelagert habe.

Diese Einzelheiten werden erwähnt, um zu verdeutlichen, welche konkrete Erfahrung den programmatischen Vorstellungen der europäischen Résistance über Deutschland zugrunde liegt. Diese Erfahrung hat ihrerseits die Einstellung überzeugender werden lassen, die schon seit einigen Jahren für europäische Antifaschisten charakteristisch ist. Bernanos hat diese Haltung jüngst definiert als »l’espoir en des hommes dispersés à travers l’Europe, séparés par les frontières et par la langue, et qui n’ont guère de commun entre eux que l’expérience du risque et l’habitude de ne pas céder à la menace«[6].

IV

Die Rückkehr der Exilregierungen könnte diesem neuen Gefühl europäischer Solidarität rasch ein Ende bereiten, denn die ganze Existenz dieser Regierungen hängt davon ab, daß der Status quo wiederhergestellt wird. Von daher rührt ihr hartnäckiges Interesse an einer Schwächung und Auflösung der Widerstandsbewegungen, mit dem Ziel, die politische Wiedergeburt der europäischen Völker zunichte zu machen.

Diejenigen, die die Restauration des Vorkriegszustandes in Europa erstreben, verteidigen im wesentlichen drei Prinzipien. Erstens haben sie das Prinzip der kollektiven Sicherheit wieder zum Leben erweckt, das kein neuer Begriff ist, sondern aus den glücklichen Zeiten der Heiligen Allianz übernommen wurde. Es wurde nach dem letzten Krieg wiedererweckt in der Hoffnung, daß es als Abschreckung nationalistischer Aggressionsgelüste dienen würde. Daß dieses System in die Brüche ging, kam nicht durch eine solche Aggression, sondern durch das Auftreten ideologischer Faktoren. So weigerte sich das von Deutschland angegriffene Polen z.B., die Hilfe der Roten Armee zu suchen, trotz der Tatsache, daß in diesem Falle kollektive Sicherheit ohne diese Hilfe kaum wirksam werden konnte. Die strategische Sicherheit wurde geopfert, weil der Hauptaggressor – Deutschland – als das Bollwerk gegen den Bolschewismus galt. Es ist klar, daß das kollektive Sicherheitssystem nur auf der Voraussetzung wieder errichtet werden kann, daß hemmende ideologische Faktoren nicht mehr existieren. Solche Voraussetzung ist jedoch eine Illusion.

In der Absicht, unter den ideologischen Kräften, die in allen Nationen zu finden sind, Zwietracht zu vermeiden, wurde das zweite politische Prinzip eingeführt – das der scharf begrenzten Interessensphären. Das ist eine Politik, die imperialistische Kolonialmethoden in Europa anwenden will. Es ist jedoch nicht wahrscheinlich, daß die Europäer sich wie Kolonialvölker behandeln lassen werden in einer Zeit, in der diese auf dem Wege sind, ihre Unabhängigkeit zu erringen. Noch unrealistischer ist die Hoffnung, auf einem so dicht bevölkerten Gebiet wie Europa Mauern aufrichten zu können, die ein Volk vom andern trennen und den Einbruch ideologischer Kräfte verhindern sollen.

Heute wohnen wir der Auferstehung der guten alten zweiseitigen Allianz bei, die das bevorzugte politische Instrument des Kreml zu sein scheint. Dieses letzte, aus dem reichen Arsenal der Machtpolitik geborgte Stück hat nur eine Bedeutung, und das ist die Wiederverwendung politischer Methoden des 19. Jahrhunderts, deren Unwirksamkeit nach dem letzten Krieg entdeckt und angeprangert wurde. Worauf solche zweiseitigen Vereinbarungen schließlich hinauslaufen, ist, daß der stärkere Partner den schwächeren politisch wie ideologisch beherrscht.

Die Exilregierungen, die nur an der Wiederherstellung der Verhältnisse und an nichts anderem interessiert sind, schwanken kläglich zwischen diesen Alternativen hin und her und sind bereit, fast alles zu akzeptieren, was die Großen Drei zu bieten haben – kollektive Sicherheit, Interessensphäre oder Allianz. In diesem Zusammenhang muß man de Gaulle eine Sonderstellung einräumen. Im Unterschied zu den anderen repräsentiert er die Kräfte von vorgestern – also einer Zeit, die trotz aller ihrer Fehler den menschlichen Absichten um einiges wohlgesonnener war als die jüngere Vergangenheit. Mit anderen Worten, er allein repräsentiert wirklich Patriotismus und Nationalismus im alten Sinn. Als seine ehemaligen Kameraden in der französischen Armee und in der Action Française[7]zu Verrätern wurden, als Frankreich vom Pazifismus wie von einem Fieber erfaßt wurde und die herrschenden Klassen nicht schnell genug kollaborieren konnten, da hat er nicht einmal verstanden, was vor sich ging. Er hatte gewissermaßen das Glück, nicht zu begreifen, was er sah – nämlich, daß die Franzosen keinen nationalen Krieg gegen Deutschland wollten. Alles, was er seither getan hat, hat er um der Nation willen getan, und sein Patriotismus ist so tief im Volkswillen verwurzelt, daß die Résistance, d.h. das Volk, in der Lage war, seine Politik zu unterstützen und zu beeinflussen. De Gaulle ist der einzige nationale Staatsmann, den es in Europa noch gibt, und er ist auch der einzige, der es ernst meint, wenn er vom »deutschen Problem als dem Zentrum des Universums« spricht. Für ihn ist der Krieg wirklich ein nationaler und kein ideologischer Konflikt. Was er für Frankreich möchte, das ist ein möglichst großer Anteil am Sieg über Deutschland. Sein Appetit auf Annexion ist von der Résistance gezügelt worden; der neue und angeblich von Stalin akzeptierte Vorschlag, demzufolge die Schaffung eines separaten deutschen Staates im Rheinland unter alliierter oder französischer Kontrolle vorgesehen ist, sieht aus wie ein Kompromiß zwischen seinen früheren Annexionsplänen und den Hoffnungen der Résistance auf ein föderatives Deutschland und eine von europäischen Gremien kontrollierte deutsche Wirtschaft.

Die Restauration hat logischerweise mit der Wiederaufnahme der endlosen Grenzlinien-Dispute begonnen, an denen einige altmodische Nationalisten lebhaft interessiert sind. Trotz der heftigen Proteste der Untergrundbewegungen der betreffenden Länder haben alle Exilregierungen territoriale Forderungen gestellt. Diese Forderungen, gestützt und möglicherweise inspiriert von London, können nur auf Kosten der Besiegten erfüllt werden, und wenn die Freude bei der Aussicht auf Erwerb neuer Gebiete nicht sehr groß ist, so deshalb, weil niemand weiß, wie die dann entstehenden Bevölkerungsprobleme gelöst werden können. Die Minoritäten-Abkommen, von denen nach dem letzten Krieg Wunder erwartet wurden, wurden offen mißachtet,[8] da niemand Vertrauen zu der einzigen Möglichkeit, der der Assimilation, hatte. Heute hofft man, das Minoritäten-Problem mit Hilfe des Bevölkerungsaustauschs zu lösen. Die Tschechen waren die ersten, die ihren Entschluß bekanntgaben, die Minoritäten-Abkommen zu liquidieren und zwei Millionen Deutsche ins Reich zu deportieren. Die anderen Regierungen folgten dem Beispiel und sprachen ähnliche Pläne aus für die Deutschen, die sich in den abgetretenen Gebieten befinden – das sind viele Millionen.

Wenn solche Bevölkerungs-Austausche tatsächlich stattfinden, werden sie nicht nur eine endlose Verlängerung des Chaos zur Folge haben, sondern vielleicht noch etwas viel Schlimmeres. Die abgetretenen Territorien werden unterbevölkert sein, und die Nachbarn Deutschlands werden sich in die Unmöglichkeit versetzt sehen, sie zu bevölkern und an ihren Rohstoffquellen zu profitieren. Das würde zu einer Rückwanderung deutschen Menschenpotentials führen und so die alten Gefahren wieder heraufbeschwören, oder zu einer Situation, in der ein überfülltes Land mit hochqualifizierter Arbeiterschaft und hochentwickelter Technik gezwungen ist, ingeniöse industrielle Methoden zu entdecken, um weiterbestehen zu können. Das Ergebnis solch einer »Bestrafung« würde genau das gleiche sein wie das des Versailler Vertrags, der auch gedacht war als ein Mittel, Deutschlands wirtschaftliche Macht zu brechen, das aber zur Ursache der Überrationalisierung und des bedrohlichen Anwachsens der deutschen Industrie-Kapazität wurde. Seit in unserer Zeit Menschenpotential weit wichtiger ist als Territorien und seit technische Geschicklichkeit vereint mit hochgradiger wissenschaftlicher Forschung zukunftsreicher ist als Rohstoffe, könnten wir sehr wohl dahin kommen, in der Mitte Europas ein gigantisches Pulverfaß zu schaffen, dessen Explosivkraft die Staatsmänner von morgen ebenso überraschen wird wie das Auferstehen des besiegten Deutschland die Staatsmänner von gestern.

Der Morgenthau-Plan, schließlich, scheint eine definitive Lösung zu zeigen. Aber dieser Plan kann schwerlich Deutschland in eine Nation der Kleinbauern verwandeln, denn keine Macht würde es unternehmen, die ca. dreißig Millionen überzähligen Deutschen auszurotten. Jeder ernsthafte Versuch dazu würde nämlich die »revolutionäre Situation« heraufbeschwören, welche die, die eine Restauration wünschen, mehr als alles andere fürchten.

Die Restauration verspricht also nichts. Wenn sie Erfolg haben sollte, würde sich der Prozeß der letzten dreißig Jahre in einem schnelleren Tempo wiederholen. Der verhängnisvolle Kreislauf, in dem sich alle Diskussionen über das »deutsche Problem« drehen, zeigt klar den utopistischen Charakter des »Realismus« und der Machtpolitik in ihrer Anwendung auf die wahren Erfordernisse unserer Zeit. Die einzige Alternative diesen veralteten Methoden gegenüber, die noch nicht einmal den Frieden bewahren, geschweige denn die Freiheit sichern würden, ist der Kurs, den die europäische Widerstandsbewegung eingeschlagen hat.

[1]1945 in deutscher und englischer Sprache veröffentlicht, zu Einzelheiten siehe in dieser Ausgabe Kap. 1. »Anmerkungen«.

(2) Organisierte Schuld[2]

I

Je größer die militärischen Niederlagen der deutschen Armee im Felde werden, desto stärker macht sich der Sieg der politischen Kriegführung der Nazis, die sehr zu Unrecht oft mit bloßer Propaganda identifiziert wird, geltend. Die zentrale These dieser Kriegführung, die stets sich in gleichem Maße an die »innere Front«, an das deutsche Volk selbst, wie an seine Feinde richtete, hieß, daß es einen Unterschied zwischen Nazis und Deutschen nicht gebe, daß das Volk geschlossen hinter seiner Regierung stehe, daß alle Hoffnungen der Alliierten auf ideologisch nichtinfizierte Teile des Volkes, alle Appelle an ein demokratisches Deutschland der Zukunft Illusion seien. Die Konsequenz dieser These ist natürlich, daß es eine Teilung der Verantwortung nicht gebe, daß deutsche Antifaschisten im selben Maße wie deutsche Faschisten von der Niederlage betroffen sein werden und daß die Alliierten Unterschiede zu Beginn des Krieges nur zum Zwecke der Propaganda gemacht hätten. Die weitere Konsequenz ist, daß die alliierten Bestimmungen über die Bestrafung der Kriegsverbrecher sich als leere Drohungen deshalb erweisen werden, weil man niemanden finden wird, auf den die Definition des Kriegsverbrechers nicht zutrifft.

Daß diese Behauptungen nicht bloße Propaganda sind, sondern sich auf eine sehr reale Unterlage, auf eine furchtbare Wirklichkeit berufen können, haben wir alle zu unserm Schrecken in den letzten Jahren erfahren. Die Terrorformationen, die ursprünglich von der Masse des Volkes streng geschieden waren und in die nur Leute aufgenommen wurden, die nachweisen konnten, Verbrecher zu sein, oder bereit waren, Verbrecher zu werden, sind ständig erweitert worden. Das Verbot der Parteizugehörigkeit von Mitgliedern der Armee ist von dem Generalbefehl, der alle Soldaten der Partei unterstellt, abgelöst worden. Während die Verbrechen, die seit Beginn des Regimes in den Konzentrationslagern zur täglichen Routine gehören, früher ein eifersüchtig gehütetes Monopol der SS und der Gestapo waren, werden zu den Massenmorden heute beliebige Wehrmachtsangehörige abkommandiert. Die Berichte über diese Verbrechen, welche am Anfang möglichst geheimgehalten wurden und deren Veröffentlichung als »Greuelmärchenpropaganda« unter Strafe gestellt war, wurden erst auf dem Wege der von den Nazis selbst inszenierten Flüsterpropaganda verbreitet, und sie werden heute von ihnen völlig offen als Liquidierungsmaßnahmen zugestanden, um diejenigen »Volksgenossen«, welche man aus organisatorischen Gründen nicht hat in die »Volksgemeinschaft« des Verbrechens aufnehmen können, wenigstens in die Rolle der Mitwisser und Komplizen zu drängen. Die totale Mobilmachung hat in der totalen Komplizität des deutschen Volkes geendet.

Um die entscheidende politische Veränderung der realen Verhältnisse, welche die Nazipropaganda seit dem Verlust der Schlacht um England begleitet und schließlich den Verzicht der Alliierten auf eine Differenzierung zwischen Deutschen und Nazis zur Folge hatte, richtig einzuschätzen, muß man sich vergegenwärtigen, daß bis zum Ausbruch des Krieges, ja bis zum Beginn der militärischen Niederlagen nur die verhältnismäßig kleinen Gruppen aktiver Nazis – zu denen noch nicht einmal die große Zahl der Sympathisierenden gehörte – und die ebenso kleine Anzahl aktiver Antifaschisten über die Vorgänge wirklich Bescheid wußten. Alle anderen – ob Deutsche oder Nichtdeutsche – hatten die verständliche Neigung, einer offiziellen, von allen Mächten anerkannten Regierung eher zu glauben als Flüchtlingen, die als Juden oder als Sozialisten ohnehin verdächtig waren. Von diesen wiederum kannte auch nur ein verhältnismäßig kleiner Prozentsatz die volle Wahrheit; und es war natürlich ein noch kleinerer Bruchteil, der bereit war, das Odium der Unpopularität auf sich zu nehmen und die Wahrheit zu sagen.

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