In der Mitte schlägt das Herz - René Prêtre - E-Book

In der Mitte schlägt das Herz E-Book

René Prêtre

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Beschreibung

Was empfindet ein Arzt, wenn er ein Neugeborenes operiert, dessen Leben am seidenen Faden hängt? Was sagt er einem schwerkranken Mädchen, das Angst hat, zu sterben? Und wie reagiert ein erfahrener Kinderherzchirurg, wenn in einem improvisierten OP in Kambodscha während des Eingriffs der Strom ausfällt? René Prêtre wuchs auf einem Schweizer Bauernhof auf – und wurde zu einem der angesehensten Herzchirurgen der Welt. Sein Weg war außergewöhnlich, und ebenso außergewöhnlich sind die Schicksale, mit denen Prêtre heute zu tun hat. In seinem Buch zeichnet er seinen Weg nun nach und berichtet vom Kampf gegen einen viel zu frühen Tod, von Hoffnung und Zweifeln und vom Glück, das er empfindet, wenn ein operiertes Kinderherz wieder zu schlagen beginnt. "René erzählt auf faszinierende Weise von Geheimnissen des Herzens, die mir ganz unbekannt sind. Ich empfinde seine Art, darüber zu sprechen, fast als lyrisch." Henning Mankell

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René Prêtre

In der Mitte schlägt das Herz

Von der großen Verantwortung für ein kleines Leben

Aus dem Französischen von Anja Malich, Maren Partzsch und Regine Schmidt

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Was empfindet ein Arzt, wenn er ein Neugeborenes operiert, dessen Leben am seidenen Faden hängt? Was sagt er einem schwerkranken Mädchen, das Angst hat, zu sterben? Und wie reagiert ein erfahrener Kinderherzchirurg, wenn in einem improvisierten OP in Kambodscha während des Eingriffs der Strom ausfällt?

René Prêtre wuchs auf einem Schweizer Bauernhof auf – und wurde zu einem der angesehensten Herzchirurgen der Welt. Sein Weg war außergewöhnlich, und ebenso außergewöhnlich sind die Schicksale, mit denen Prêtre heute zu tun hat.

In seinem Buch zeichnet er seinen Weg nun nach und berichtet vom Kampf gegen einen viel zu frühen Tod, von Hoffnung und Zweifeln und vom Glück, das er empfindet, wenn ein operiertes Kinderherz wieder zu schlagen beginnt.

 

Über René Prêtre

René Prêtre, Jahrgang 1957, studierte an der Universität Genf Medizin. Nach dem Studium zog er nach New York, anschließend arbeitete er in England, Deutschland und Frankreich. Ab 2001 war Prêtre Chefarzt der Kinderherzchirurgie am Kinderspital Zürich und Professor an der Universität Zürich. Seit 2012 ist er Professor und Klinikdirektor der Herz- und Gefäßchirurgie für Erwachsene und Kinder am Universitätsspital Lausanne und Professor an der Universität Lausanne. Seine Stiftung «Le Petit Cœur» ist in Mosambik und Kambodscha tätig; die teilnehmenden Ärzte operieren dort einmal im Jahr Kinder und Jugendliche. 2009 wurde er zum Schweizer des Jahres gewählt.

Für Camille, Tatiana und Gabriela,

meine Leibgarde

Prolog

Es war zu Beginn des neuen Jahrtausends. Wir hatten mit unserer Operation buchstäblich «eine Nabelschnur durchtrennt».

Der Ultraschall hatte beunruhigende Anzeichen einer Herzerkrankung dargestellt. Darum waren meine Kollegen aus der Gynäkologie hierhergekommen, um diesen Kaiserschnitt im Operationssaal der Kardiologie durchzuführen. Kaum dass das Kind das Licht des Kreißsaals erblickt hatte, kaum dass die frische Luft seine Lungen erstmals durchströmt hatte, war es auf meinem Operationstisch eingeschlafen, damit wir sein schwerkrankes Herz korrigieren konnten.

Das war in Zürich. Kurz zuvor hatte ich die Direktion der Kinderherzchirurgie übernommen. Die Kunststücke, die wir in unserem Beruf vollführen müssen, begeisterten mich wie am ersten Tag, und die Verantwortung, die in unseren Händen liegt, verursachte mir immer noch regelmäßig Schwindelgefühle. An jenem Tag beschloss ich, aus der Euphorie des Moments heraus, diese Geschichten auf Band zu sprechen. Um sie vielleicht, eines Tages, weiterzugeben. Bald sammelten sich die Kassetten in einer Schublade. Mir fehlte die Zeit. Sie verstaubten. So glaubte ich lange, dass sie wie gestrandete Wracks, zugänglich, aber vergessen, ihre Schätze für immer für sich behalten würden.

 

Nachdem zehn Jahre später meine Arbeit und ich im Rampenlicht standen (ich wurde 2009 zum Schweizer des Jahres gewählt), hauchten ein paar Verleger der Idee neues Leben ein und überzeugten mich, diese Momente des Lebens wieder flottzumachen. Ich holte sie also hervor und brachte sie zu Papier. Dabei wurde mir bewusst, dass sie Einblicke in das Leben einiger Familien bedeuten würden, in denen Vertraulichkeit gewahrt werden sollte, das Risiko eines Vertrauensbruchs bargen. Doch Zufall und Glück kamen mir zu Hilfe. Es ergab sich, dass einige dieser Geschichten, so ungewöhnlich sie auch waren, sich wiederholten, wie etwa, dass ein Hubschrauber mich vom Berg holte, weil ich eine Herztransplantation durchführen sollte. Ich beschloss also, einige Spuren zu verwischen – manchmal aus Notwendigkeit, manchmal aus Zartgefühl. Ich taufte Kinder um und hin und wieder ihre Eltern, vertauschte Reiseziele oder andere Details. Hinzu kamen die Ratschläge von Freunden, denen ich von dem Projekt erzählt hatte. Sie überzeugten mich, auch von dem Hindernislauf zu erzählen, den man bewältigen muss, will man sich seine Sporen als Chirurg verdienen, indem ich – darauf bestanden sie – meinen etwas atypischen Weg beschrieb.

 

Damit will ich sagen, all diese, mit biographischen Anekdoten verwobenen Geschichten sind belegt, manche als Tonspur einer Kassette, andere als Schwingungen, da allein im Gedächtnis bewahrt. Selbst wenn ich mir seiner schwindenden Zuverlässigkeit bewusst bin und ich zugebe, Dialoge rekonstruiert zu haben, so versichere ich doch, dass der hier beschriebene Werdegang die Tatsachen und erlebten Stimmungen getreu abbildet.

Ebenso wie meine Emotionen.

Die Schachpartie

COMMENDATORE: Ah, soccorso! Son tradito! L’assassino m’ha ferito, e dal seno palpitante sento l’anima partir.

DON GIOVANNI: Ah! Già cade il sciagurato! Affannosa e agonizzante già dal seno palpitante veggo l’anima partir.[*]

 

Wolfgang Amadeus Mozart, Lorenzo da Ponte, Don Giovanni

New York, 1988–1990

«Trauma team, trauma team, call 4344 stat, 4344 stat!»

Dieser keinen Widerspruch duldende Befehl aus den über alle Etagen und in allen Winkeln des Bellevue Hospitals verstreuten Lautsprechern, zweimal wiederholt, lässt buchstäblich die Meute los. Die Meute, das sind wir, junge Chirurgen in der Ausbildung und im Bereitschaftsdienst auf der «Trauma»[*]. Gierig nach Nervenkitzel, aber vor allem unserer Verantwortung und Fähigkeiten gewiss, lassen wir alles stehen und liegen, stürmen die Treppen hinunter und finden uns schnellstmöglich im Trauma-Slot ein, dem Bereich der Notaufnahme, der Schwerstverletzten vorbehalten ist. Der Tonfall der Ansage, die Eingeweihte elektrisierende Nummer, gefolgt von dem einem Peitschenknall ähnlichen «stat»[*], lösten bei uns jedes Mal den gleichen Pawlow’schen Reflex aus: Wir – je nachdem – nahmen die Stethoskope von Patientenoberkörpern, stürmten aus Zimmern oder würgten die Reste eines Hamburgers runter und rannten in «the slot», die Notaufnahme.

«Young man. Stabbed in the abdomen on 28th street. Blood pressure 120 over 60. Pulse 90 on arrival. Remained stable during transfer. One peripheral line. No known allergy.»[*]

Während sie uns ihre Litanei herunterbeten, ziehen die Rettungssanitäter die Fahrtrage heraus und übergeben uns, dem chirurgischen Team, ihren Verletzten wie einen Staffelstab. Mein Team, das aus drei Assistenten besteht, hantiert eifrig rund um den liegenden jungen Mann, dabei einem gut eingespielten Vorgehensmuster folgend, jeder weiß genau, was er zu tun hat, und führt die knappen Befehle aus, die ich ihnen gebe.

Als ich das Gesicht des Verletzten bewusst wahrnehme, fällt mir seine Blässe auf. Tatsächlich hat er das Stadium der einfachen Blässe bereits überschritten: Seine Haut ist fahl, durchzogen von grauen Streifen, glanzlos. Er schlottert, dabei haben wir erst Herbst, eine hier noch recht milde Saison. Vor allem ist er bedrückt, verängstigt. Zähneklappernd:

«I feel it, I am dying!»

Ich mochte es nie, wenn die Patienten mir von diesem Gefühl des bevorstehenden Todes erzählen, einem Symptom, das uns die Fakultät nie beigebracht hatte. Nach einigen Monaten in der «Trauma» weiß ich nur zu gut: Manche hatten recht, erschreckend recht. Der Tod hat sie wirklich geholt, trotz all unserer Bemühungen, ihn daran zu hindern. War es möglich, dass dieser kalte Schatten die Angst mit sich brachte, wenn er sich über sie legte? Dass sich das verlöschende Leben bemerkbar machte? Ein Gefühl, das Wissenschaftler nie wirklich genau beschrieben haben, das manche vielleicht spüren, wenn sie sich jenem letzten, dämmrigen Moment nähern, nach dem das Bewusstsein für immer erlöschen wird.

Auf Adrien Rohners Rat hin arbeite ich in New York. «Monsieur Rohner», wie alle Welt ihn nannte, leitete die Chirurgie der Universitätsklinik Genf. Er war der Archetyp des Chefarztes mit angeborenem Charisma und Noblesse, was ihm eine natürliche Autorität verlieh. Er hatte mich eingestellt und nach einigen Wochen in seiner Abteilung zu sich ins Büro gerufen.

«Prêtre, welche Ziele in der Chirurgie haben Sie?»

«Ich will so gut wie möglich ausgebildet sein, damit ich die medizinische Leitung des Krankenhauses zu Hause, in Porrentruy, übernehmen kann. Die Stelle wird in einigen Jahren frei.»

Ungehalten hatte er sich aus seinem Sessel erhoben, hatte die Stirn gerunzelt, einen Augenblick nachgedacht und nach einigen Sekunden erwidert:

«Nein, nein. Sie, Sie müssen eine Universitätskarriere machen. Haben Sie das amerikanische Staatsexamen?»

«Nein.»

«Das ist ärgerlich, denn ich würde Sie zu gerne rüberschicken. Man mag die Amerikaner kritisieren, doch man muss anerkennen, dass sich noch heute auf unserem Gebiet bei ihnen das meiste bewegt. Amerika ist das Gravitationszentrum unserer Medizin geblieben.»

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er mit einem Bleistift auf seine Hand klopfte, den Blick eher in die Ferne als auf mich gerichtet, und dann fortfuhr:

«Ich habe einige gute Kontakte dort drüben und würde mich von meiner Seite aus darum kümmern, dass die Fakultät Sie unterstützt. Aber Sie brauchen das Staatsexamen.»

Dies Gespräch und vor allem die Worte «Universitätskarriere» und «Gravitationszentrum» gingen mir tagelang durch den Kopf. Wie Versuchsballons schickte ich schließlich Stellenbewerbungen an einige Universitäten in den USA, darunter auch in New York. Ihre chirurgische Abteilung hatte gerade ein paar Stellen für ausländische Ärzte geschaffen, und meine Anfrage wurde in Betracht gezogen, doch mit der unabänderlichen Bedingung: ihr berühmtes Staatsexamen.

Im Rahmen meiner Facharztausbildung rotierte ich gerade durch die unterschiedlich spezialisierten Stationen und hatte vor kurzem in der Orthopädie begonnen, einer angenehmen Fachabteilung, in der exzellentes Fachwissen wichtiger ist als subtile Strategien. Ihre Patienten sind zumeist jünger und widerstandsfähiger als die anderer Abteilungen, ganz abgesehen davon, dass ein Bruch den Organismus weniger belastet als eine eitrige Peritonitis oder ein Myokardinfarkt. Bei ihnen bleiben also, wenn man das Krankenhaus verlässt, nur wenige Probleme in der Schwebe, die einem den Abend verderben könnten. So setzte ich mich fortan jeden Abend, nachdem ich einige gebrochene Knochen zusammengeschraubt oder verschobene Oberschenkelköpfe und -hälse repositioniert hatte, an die langwierige Arbeit, mein medizinisches Basiswissen zu entstauben.

Und ich bestand ihr verfluchtes Examen.

Ich konnte also in New York auflaufen, mit dem Stethoskop um den Hals.

Mit Scheren entledigen wir unseren Neuankömmling seiner Kleidung: Jacke, Hemd, Hose werden von oben nach unten zerteilt und der Körper enthüllt, als würde man eine Languste aus ihrem Panzer schälen. Eine glatte Wunde sticht ins Auge, markiert von einem feinen Blutfluss, unterm Rippenbogen rechts. Beim Umdrehen, eine zweite, kleiner, im Bereich der Lende. Die Frage schießt heraus:

«Haben Sie nur zwei Messerstiche abbekommen?»

«Nein, nicht zwei, einen. Nur einen! Es war nur ein Messerstich!»

Ich blicke ihn einen Moment an, anfangs ungläubig, dann betroffen. Die Klinge hatte den Bauchraum komplett durchstoßen, von einer Seite zur anderen und war hinten wieder ausgetreten. Eine transkorporale Verletzung! Eine von der Art, die zwingend innere Organe beschädigt und Blutungen verursacht. Das Drama noch steigernd, liegt hier die Leber im Verlauf des Stichkanals, ein wahrer Blutschwamm. Nun gilt es keine Sekunde damit zu verlieren, die Diagnose zu bestätigen oder zu verfeinern. Er muss sofort in den Operationssaal, die Hämorrhagie, die ohne Zweifel heimtückisch weiterblutete, und das seit dem Angriff auf ihn, muss gestoppt werden. Die Sanduhr seines Lebens leert sich wie seine Blutbahnen. Die verbleibende Zeit, um diese Entwicklung unter Kontrolle zu bringen, ist knapp.

«Bloody hell! Sagt im OP Bescheid, wir kommen!»

Narkose, Intubation, Transfusion. Die Bremsen an seiner Fahrtrage lösen und den Unbekannten, noch ohne Namen und Alter, in den Operationssaal befördern. Unser Konvoi stürmt durch die Flure, drängt zur Seite, was sich ihm in den Weg stellt, überwindet jedes Hindernis, bis er in der Mitte des Operationssaals zum Halten kommt. Nun werden Brust und Bauch mit einem Desinfektionsmittel bepinselt, während sterile Abdecktücher rundum ein großes Rechteck Körperoberfläche isolieren.

Ein Schnitt mit dem Skalpell: Die Haut öffnet sich über nahezu die gesamte Länge des Abdomens. Fast keine Blutung! Rar geworden, hat das Blut bereits die peripheren, strategisch weniger wichtigen Körperschichten verlassen, zugunsten der lebenswichtigen Organe. Die Muskelschicht ist durchtrennt, nun bleibt nur noch das Peritoneum, diese feine Membran, die die Eingeweide umgibt. Sie wölbt sich durch den Druck des Bluts. An der Oberfläche wirkt alles friedlich, doch man ahnt darunter eine große Unruhe. Oft hat mich diese falsche Ruhe an attackierende Haifische erinnert, die aus den Tiefen empor auf die Oberfläche eines arglosen Wassers zuschießen. Szenen aus Der weiße Hai blitzen dann in meinem Kopf auf. Ein Seitenblick zu den Anästhesisten …

«Bereit? Oder wollt ihr vorher noch mehr Blut übertragen?»

«Nein, wir sind bereit, wir haben etwas Spielraum.»

… einer zu meinen zwei Assistenten und zu meiner Instrumenteurin.

«Für euch auch okay? Na dann … der große Sprung, los geht’s!»

Diese Stadt, dann die Arbeit stürzten sich auf mich.

Da war zuerst ihre Hektik. Alles war laut, schnell, stroboskopisch. Ein unablässiger Hintergrundlärm, rhythmisiert durch das Fauchen der Sirenen, die durch eine Art dissonantes Brüllen noch gesteigert wurden, was mich jedes Mal zusammenzucken ließ. Ich erinnere mich an den ersten Tag in diesem Tohuwabohu, an einen Konvoi aus Polizeimotorrädern, gefolgt von einem Rettungswagen, heulende Sirenen, Blaulichter peitschten die Straßen, auf das Bellevue Hospital zurasend … exakt dorthin, wo ich arbeiten würde. Verdutzt hielt ich auf dem Bürgersteig inne, von dieser Prozession ebenso beeindruckt wie eingeschüchtert. Und langsam keimte dieser erregende Gedanke: «In ein paar Tagen werde ich auf der anderen Seite des Empfangsschalters stehen.» Eine gewisse Furcht, dem nicht gewachsen zu sein, vermischt mit Stolz, im Herzen des Geschehens zu sein, durchströmten mich.

Dann war da diese Maßlosigkeit. Alles schien verstärkt zu sein, verzerrt, um ein Vielfaches gesteigert. Als Angestellter der NYU – der Universität New Yorks – arbeitete ich abwechselnd in jedem ihrer drei Krankenhäuser in der 1st Avenue: dem NYU Medical Center, heute NYU Langone Medical Center genannt, dem Bellevue Hospital und dem Veteran Administration Hospital. Sie erstreckten sich über mehr als einen Kilometer und bildeten einen gigantischen Krankenhauskomplex, den bei weitem beeindruckendsten, den ich je gesehen hatte. Dann war da das Charisma der Stadt. Ein Gefühl, intensiver zu leben, sich im Gravitationszentrum der Dinge zu befinden. Geht man durch ihre Straßen, ergreift eine berauschende Schwingung von einem Besitz.

Von den drei Krankenhäusern war mir das Bellevue Hospital das liebste, aufgrund seiner Menschen, der Freiheit, die es uns bot, und seiner Aura. «At Bellevue», wie wir es mit der Vertraulichkeit alter Hasen nannten, zu arbeiten, bedeutete, sich in einer Welt aus Originalität und Exzentrik zu plagen. Für sein Aushängeschild, die Notaufnahmen, benutzten wir die Worte «Fauna» oder «Dschungel», um seine Bewohner zu charakterisieren. Dort geschahen alle möglichen eindrucksvollen Geschichten, abenteuerliche Situationen, homerische Wendungen, manchmal am Rande des Glaubhaften. Innerhalb seiner Mauern zirkulierte ein stolzer Spruch: «Was im Bellevue noch nicht gesehen wurde, existiert wahrscheinlich nicht.»

Zu Anfang erschien mir das übertrieben.

Doch nur zu Anfang.

Mit der geöffneten Schere teile ich mit einem beherzten Schnitt das Peritoneum, von oben nach unten, nahezu blind, denn kaum geöffnet, quillt ein Strom Blut heraus und breitet sich in alle Richtungen aus. Der weiße Hai! Meine Hände tauchen in den Bauchraum, der plötzlich außer Rand und Band zu sein scheint. Man fühlt sich wie angesichts eines Vulkanausbruchs, denn der freigewordene Druck und das Eindringen meiner Hände verursachen Eruptionen von Blut, das nun rundum überfließt. Zwei Absauger auf maximaler Leistung machen es möglich, sich durch die Eingeweide vorzuarbeiten, auf der Suche nach den Blutungsquellen in Wallung. Stichwaffenverletzungen haben den Vorteil, dass man ihren Verlauf und so die Linie der betroffenen Organe relativ leicht identifizieren kann. Hier besteht über den Verletzungskanal keinerlei Zweifel, die Leber wurde durchstochen und blutet reichlich. Meine Finger finden das Ligamentum hepatis, wo ihre Blutgefäße, die Leberarterie und die Pfortader, verlaufen. Eine Gefäßklemme ist schnell gesetzt, um ihre Durchblutung zu stoppen. Mein erster Assistent und ich komprimieren nun das Organ mit unseren Händen, rund um die Wunde, um die rückläufige Blutung durch die Lebervene zu stoppen.

Ein Seitenblick in Richtung der Anästhesisten.

«Wie steht es bei euch? Wir haben die Situation jetzt mehr oder minder unter Kontrolle.»

«Gebt uns ein bisschen Zeit, der Druck ist stark abgefallen.»

Nachdem die Blutung fürs Erste beherrscht ist, hat sich die kritische Arbeit nun zu ihnen hin verlagert. Sie müssen zügig unsere Nachzeitigkeit aufholen, unser Hinterherhinken, die Verluste kompensieren. Hierfür leeren sich Blutbeutel in mehrere Venen.

Diese vorübergehende Verschlechterung war zu erwarten. Die Öffnung des Bauchraums, womit die einzig verbliebene Kompression wegfiel, musste die Blutung zwangsläufig wiederaufflammen lassen. Auch die Behandlung der Verletzung direkt – welche wir momentan noch über den Druck unserer Hände im Zaum halten – wird die verletzten Gefäße wieder freigeben und ihre Blutungen erneut in Schwung bringen. Wir bewegen uns noch zu nah am Abgrund, um jetzt mit Ligaturen[*] oder Elektro-Kauterisation[*] zu beginnen. Wir müssen zuerst den fast leeren Blutkreislauf aufpäppeln, Reserven aufbauen. Uns vom Point of no Return entfernen.

Ich hebe die Augen zum Monitor.

Der Blutdruck steigt.

«Das ist es also, das berühmte Bellevue!»

Kaum in Manhattan angekommen, war ich rund um seinen Komplex auf Erkundung gegangen.

Es ist Eigentum der Stadt und – offen für alle – zog es auch viele Arme und Notleidende an. Zudem war es Teil der Stadtgeschichte des Big Apple. Aufgrund seiner Anekdoten – oft vollmundig erzählt – und einiger herausragender Anerkennungen. Man rühmt sich noch heute dafür, dass hier der erste Ambulanzdienst der Vereinigten Staaten eingerichtet wurde – während der Sezessionskriege. Doch für uns besaß es jene andere, noch verlockendere Exklusivität: Es war eines von New Yorks «Trauma Level One», jener Spezialzentren und -teams für die ganz großen Notfälle.

Als ich es betrat, glaubte ich zuerst, ich hätte mich auf ein Polizeirevier verirrt. Die Zahl der «Cops» im Empfangsbereich war verblüffend: Oft waren sie es, die die Verletzten aus den heißen Vierteln holten und sie blutend und blass zu uns brachten. Andere ermittelten. Die über die Metropole verteilte Kriminalität hatte ein paar gemeinsame Punkte, zwangsläufige Stationen für ihre Opfer, die Notaufnahmen eben, darunter unsere! Demzufolge fühlten sich die Polizisten hier wie zu Hause: Sie gingen auf und ab, entspannt, die Jacke offen, Holster und Revolver gut sichtbar.

Links befand sich der «Slot», der Schockraum – unser Betätigungsfeld –, ein großer Saal für Schwerstverletzte, rechts lagen weitere Behandlungsräume für eher medizinische Notfälle – wie etwa für Blutvergiftungen, Herzinfarkte, schwere Asthmaanfälle – sowie die kleine Traumatologie, für nicht allzu schwere Verletzungen. Dort nähte ich Wunden oberflächlicher Messerattacken. Unter anderem im Gesicht. Ich bemühte mich immer, schöne Narben zu produzieren – in diesem Fall schöne Schmisse – mit regelmäßigen, abstandsgleichen Stichen. Die Cops, die diese zähen Typen in Handschellen brachten und auf meinen letzten Knoten warteten, um sie zu vernehmen, riefen mir manchmal zu: «Wenn ich eines Tages mal zusammengeflickt werden muss, möchte ich, dass Sie das machen!»

«Okay, ihr könnt loslegen. Der arterielle Blutdruck ist wieder gut.»

Wir untersuchen den Verlauf des Stichkanals gründlich mit einer Technik, die hier im Bellevue Hospital entwickelt wurde. Noch eine seiner Erfindungen! Fast logisch, bei den örtlichen Erfahrungen. Nach einer guten Stunde Arbeit gibt es keine punktuellen Blutungen mehr, nur noch ein diffuses Durchsickern, weil das Blut nicht mehr gerinnt. Der Körper hat bei dem verzweifelten Versuch, die Blutungen selbst zu stoppen, seine Blutplättchen und Gerinnungsfaktoren aufgebraucht. Wir entscheiden uns für ein «Packing» – das heißt, für einen Dauerdruck auf die aussickernden Flächen mit sterilen Tüchern. In einigen Stunden sollte der Körper seine Faktoren regeneriert haben und die letzte, verschließende Arbeit vollendet haben. Wir nähen eine abdichtende Membran über die Ränder des Einschnitts, um die Eingeweide abzudecken. Morgen wird das Durchsickern versiegt sein. Dann kann die Kompression entfernt werden und der Bauchraum endgültig verschlossen werden.

Es ist 5 Uhr morgens. Die Anspannung im Operationssaal lässt nach, denn der Sieg in diesem Kampf scheint nah. Der Wettlauf mit dem Schicksal sollte zu unseren Gunsten ausgehen, selbst wenn der Tod noch nicht ganz kapituliert hat. Denn erst wenn es diesem stark gebeutelten Organismus gelingt, seine Blutgerinnung wiederherzustellen und darüber hinaus allen Infektionen zu widerstehen, wird die Schlacht endgültig geschlagen sein. Insgesamt sind wir guter Hoffnung. Unser Patient ist jung, und in diesem Alter sind die Regenerationsfähigkeiten ausgezeichnet.

Als ich Genf verließ, besaß ich gewisse Erfahrungen in der Notfallmedizin, jedoch waren sie bezüglich durch Waffen verursachter Verletzungen nur begrenzt. Ich hatte eher Rasenmäherangriffe behandelt als Messerattacken oder Schusswunden. Bei diesen ist alles beschleunigt. Alles ist dramatischer. So sprangen mir nach der Stadt seine Notaufnahmen an die Kehle. In den schlimmsten Nächten fühlte ich mich, als habe man mich in einen reißenden Strom geworfen, nur wenige Tage nachdem ich gewissenhaft die ersten Schwimmzüge gelernt hatte. Ich fühlte mich, als strampelte ich in einem Wildwasser, trieb anfangs an der Oberfläche, kam dann allmählich in Vorwärtsbewegung und erreichte schließlich, indem ich meinen Energieeinsatz besser einteilte, eine gewisse Effizienz.

Ich lernte, die Traumatologie mit der Strategie eines Schachspielers anzugehen. Taktisch ähnelten unsere Handgriffe denen von Großmeistern. In der ersten Phase der Behandlung kaum komplizierte Überlegungen, stattdessen der Einsatz geschulter Reflexe. Diese sind flink, in einem Moment, wo es um Minuten oder gar Sekunden geht, wenn man ein Leben retten will. In diesen Duellen hatte das Schicksal den ersten Zug getan, führte die weißen Steine auf dem Schachbrett, und wir mussten sie abwehren. Die besten Gegenzüge waren bekannt und mussten zügig gemacht werden, ohne Abweichungen vom idealen Zug, sonst riskierte man, sich sehr schnell in eine nicht mehr zu verteidigende Position zu manövrieren. War der Patient erstmal mit allem Notwendigen versehen, der diagnostische Block abgeschlossen, die Klemmen auf die zerfetzten Gefäße gesetzt, begann die Mitte der Partie. Konstante Panoramasicht auf das Schachbrett. Die Automatismen machten der Reflexion Platz, jener Synthese aus Erfahrung, Wissen und Argumentation. Die Prioritäten anpassen, von einer Verletzung unter Kontrolle zu einer anderen, noch unbeherrschten wechseln, zügig die Reparaturtechniken anwenden, sich nicht in zeitfressende Details verirren. All das erlaubte, verlorenes Terrain zurückzugewinnen in einem Kampf, der an mehreren Fronten tobte.

«Closure time!»

Dieser Ausruf hallte wie ein Befehl. Sogleich setzte sich ein Kassettenrecorder in Gang. Er hielt seit mehreren Wochen eine Kassette gefangen, die Mark, einer meiner The-Village-trendbewussten Kollegen, zusammengestellt hatte. Es war Tradition, dass es zu diesem Zeitpunkt des Eingriffs, wenn wir uns aus dem Feldzug zurückzogen, Zeit für Rock ’n’ Roll war. Er rhythmisierte all unsere Nähte. Manche dauerten länger als der Weg des großen Zeigers über das Zifferblatt, wenn Schnitte in Thorax, Abdomen oder andere Wunden an den Extremitäten in mehreren Schichten vernäht werden mussten. Wir machten uns zu zweit oder auch zu dritt gleichzeitig daran, um schneller zu sein. Es waren Hochgeschwindigkeitsnäharbeiten, und die arme Instrumenteurin, die gleichzeitig drei Chirurgen assistierte, begann wie ein Jongleur zu schielen, weil ihr Blick jedem unserer Bälle folgen musste.

She drives me crazy der Fine Young Cannibals drang als Erstes aus dem Gerät. Und der Tonus des Stücks gab uns wieder Tempo! Wir waren alle erschöpft, chronisch erschöpft. Eine im Laufe der Schichtarbeit akkumulierte Müdigkeit, je mehr schlaflose oder auch fast schlaflose Nächte aufeinanderfolgten. Die Müdigkeitsattacken waren für uns, die Operateure, weniger brutal als für unsere Assistenten. Der Stress, die Verantwortung, die Tatsache, mit Händen und Hirn aktiv zu sein, presste aus unseren Nebennieren das Adrenalin und pumpte es in unser Blut, das unsere Kräfte aufrechthält und unsere Konzentration hoch. Das uns voranpeitscht.

Wir pfiffen. «You are too good to be true. Can’t take my eyes off of you.»

Wir schmetterten.

Unser gefürchtetster Feind war das Verbluten – der Verlust der fünf Liter Blut, die den Körper am Leben erhalten –, und unser Herausforderer bei einem manchmal teuflischen Countdown, den es zu stoppen galt. Die Überlebenssanduhr der Opfer war im Moment des Angriffs gewendet worden, lange bevor wir ins Spiel kamen. Wenn der Sand langsam rieselte und die Reserve kaum verbraucht war, war die Situation leicht in den Griff zu bekommen. Doch wenn sich die Sanduhr schnell leerte und bei der Einlieferung schon das Meiste durchgelaufen war … verloren wir ein Leben – fast immer jung.

Unser anderer, heimtückisch im Hinterhalt lauernder Gegner war die Infektion. Sie hat eine Vorliebe für ermüdete, geschwächte, blutarme Organismen. Eine Lazeration der Eingeweide, eine Perforation der Lunge, ein offener Bruch an den Extremitäten öffnen die Tore weit für das Eindringen von Bakterien und bringen die fulminantesten Sepsen mit sich. Je schneller diese Einfallstore geschlossen werden, umso kleiner ist das Risiko, dass diese zweite Angriffswelle unsere Überlebenden dahinrafft. Auch hier hing unser Erfolg von unserer Schnelligkeit in der Ausführung ab.

Stunde um Stunde harter Arbeit halfen mir, zwei Grundpfeiler der Ausbildung eines Chirurgen aufzubauen: Technik und Strategie. Sie sind für die Chirurgie des Entfernens oder des Ersetzens mittels einer Prothese ausreichend. Später sollte ich für die Spezialisierung in der Rekonstruktion fehlgebildeter Strukturen einen dritten, wichtigen Pfeiler entdecken: die Kunstfertigkeit. Die Beherrschung des Raums, der dritten Dimension. Die Kontrolle der Kurven, Formen, des Volumens. Sie in Harmonie zu bringen bedarf der Fähigkeiten eines Bildhauers.

Wir sangen.

Diese Momente, wenn sich der Sieg uns zuwandte, waren voller Magie. Vor allem nach einem harten Kampf. Eine ansteckende Euphorie erfasste uns alle, eine Mischung aus Stolz und diesem Gefühl, bestimmte Fähigkeiten zu besitzen. Manchmal sangen wir aus vollem Halse. Die gleiche Musikzusammenstellung, seit Wochen. Wenn der Kassettenrecorder kaputtgegangen wäre? Wir hätten zu Ende gesungen, vermutlich ohne es zu merken.

An diesem Tag, in den frühen Morgenstunden, singen wir genauso. Wir sind davon überzeugt, dass die Natur, eine treue Verbündete, uns nicht im Stich lassen wird und dass unser Patient überleben wird. Das ist der Jubel über einen schönen Sieg. Und das ganz besondere Gefühl, diesmal schlauer – oder zumindest ebenso abgefeimt – wie der Sensenmann gewesen zu sein. Eine Fülle, ein Stolz: Wir fühlen uns in dieser Nacht außergewöhnlich gut.

«Das Bellevue» spielte auch zu Hause eine besondere Rolle, aufgrund seiner gleichermaßen wohltuenden wie schrecklichen Reputation. Ich musste immer lachen, wenn meine ältere Tochter Camille wütend auf ihre Schwester wurde und ihr schließlich im Brustton einer Vierjährigen an den Kopf warf: «Tatiana, wenn du so weitermachst, endest du im Bellevue!» Ohne alles zu verstehen, verfolgte sie aufmerksam die Berichte unserer Meisterleistungen, und das Bellevue wurde darin zwar als ein Ort der Heldenstücke und Wunder geschildert, doch ebenso als Hölle, Ort der Flüche und des Verlusts.

Es ist wahr, dass seine Menschen, vor allem in der Nacht, New Yorks dämonische Seite enthüllten. Zu jener Zeit – zu Beginn der 1990er Jahre – lag bleierne Unsicherheit über der Stadt. Eine kriechende Plage, Crack, suchte seine Stadtviertel heim und breitete sich wie eine mittelalterliche Epidemie aus. Für uns war diese Droge ein endloser Lieferant von Gewaltopfern, die mit ihr in Zusammenhang standen. New York wurde zu einer der Welthauptstädte des Verbrechens, eine auf zwiespältige Art zur Schau gestellte Besonderheit, zwischen Hochmut und Fatalismus. Diese Metropole nährte nicht ohne Stolz seine Paradoxien aus Modernität und Dekadenz.

Wir gehen zurück in die Umkleide, reißen die blutige Kleidung herunter, werfen sie in große Mülleimer und ziehen frische an. Wir bleiben einen Moment lachend und scherzend auf einer Bank sitzen. Eine Stimmung wie in Fußballerumkleidekabinen. Bald würde es zurück, runter in die Notaufnahme gehen, um die reingekommenen Fälle zu entwirren, um jene Aufgaben wieder aufzunehmen, die die Lautsprecher unterbrochen hatten, und um schließlich auf Station allem den letzten Schliff zu geben. In weniger als einer Stunde würde die Visite der Chefärzte stattfinden. Diese würden nichts von unserer aufregenden Nacht hören wollen. Sie würden zur gewohnten Stunde durch die Türen unserer Hölle kommen, unsere neueste Patientenvorstellung als schlichtweg normal bezeichnen und erwarten, dass ihnen die Station aufpoliert präsentiert würde.

Außerhalb seiner Notaufnahmen fand ich mich in jener berauschenden, derart weitläufigen, lebendigen Stadt wieder, der es gelang, mich davon zu überzeugen, sie sei das Zentrum der Welt. Ich liebte es, aufs nahe gelegene Empire State Building zu steigen, die Luft hoch über den Häusern zu atmen und zu versuchen, ihre Maßlosigkeit zu erfassen. Der beste Moment kam, wenn es Nacht wurde und die Dämmerung die Farben kontrastierte. Der Bereich im Nordwesten, die Bronx, beeindruckte mich. Denn ich wusste, dort passierten im selben Moment die extremsten Dinge, die gravierendsten Taten. Zu jener Zeit war die South Bronx berühmt für Gewalt, Verfall und Verzweiflung. Wie die flirrende Atmosphäre über einer Wüste, schien ein feiner, zu heißer Dunst über ihre Straßen zu wabern.

Gerne gingen wir auch rund um St. Marks’ Place spazieren, Tatianas Kinderwagen vor uns herschiebend. Die Gegend war noch ganz Boheme, strotzte vor übermütiger Atmosphäre. Die letzten Spuren Underground der 1960er Jahre, die Schatten Andy Warhols und Jimi Hendrix’ waren spürbar. Knallbunte Kleidung, Graffiti, Latinomusik. Jedoch auch betäubende Gerüche, Dealer und kurzes Aufblitzen von Klingen, je näher wir Alphabet City kamen. Wir mieden Straßen ohne Beleuchtung, ein sicheres Zeichen, dass dort andere Regeln, andere Gesetze herrschten, dass jemand anders den Ton angab.

Ende der Visite. Es gab nur ein paar kränkende Anmerkungen unserer Chefs über seit dem Vorabend nicht gewechselte Verbände. Dann hatten sie mit überheblichem Blick unseren Patienten betrachtet, noch «frischgebacken» mit seinem bandagierten Bauch. Ausbleibende Kritik ihrerseits wurde unsererseits als Kompliment gewertet.

Wir würden unsere Müdigkeit in einem nahen Café in der 1st Avenue abschütteln. Big Apple funkelte noch, in seinen Straßen rauschte es schon, seine Taxis nörgelten, sporadisch brüllten seine Sirenen. Inzwischen abgehärtet gegen den Tumult in den Straßen und den Notaufnahmen, macht mir dies akustische Auf und Ab nichts mehr aus, und die Bedenken des Anfangs haben sich gelegt. Der Lärm lässt mich gleichgültig, so wie ein Schmied vom Klang seines Hammers auf dem Amboss zwangsläufig taub wird.

Ein neuer Tag beginnt. Unser Patient vom Frühprogramm dürfte jetzt schlafen.

Zwei Jahre später kam ich an meine Universität und mein Krankenhaus in Genf zurück. Ich hatte das Genfer Angebot – ein Ausbildungsplatz in der Herzchirurgie – einem ähnlichen Angebot in der Neuen Welt vorgezogen. Es war eine schwierige Entscheidung gewesen, denn ich wusste, sie würde meine Familie unveränderlich auf der Weltkarte festnageln. So verlockend Big Apple auch war, wie die nicht enden wollende Kulisse eines Actionfilms mit mir als Darsteller, und sosehr es auch den Eindruck vermittelte, dass in jedem Moment etwas Außergewöhnliches passieren konnte, konnte ich doch den Charme des guten alten Europas nicht vergessen. Für mich und die meinen. Ich hatte den Zauber der Stadt, die niemals schläft, ausreichend genossen, um für immer von ihr geprägt zu bleiben. Was mich noch heute, nach all den Jahren, daran erinnert, dass ich zu einem Fragment seiner Geschichte gehöre. Was noch heute, nach all den Jahren, diese so lebendigen Erinnerungen in mir wiederaufleben lässt.

 

So wie neulich bei einer Aufführung der Oper Don Giovanni von Mozart in Porrentruy, wo ich früher aufs Gymnasium gegangen bin. Die Inszenierung in einer alten Kirche war grandios, und die Sänger waren ebenso überzeugende Schauspieler. Kurz gesagt, es war das Duell zwischen dem frechen Verführer und dem tapferen Komtur. Sie kreuzen die Klingen, bis Don Giovanni mit seinem Schwert den Bauch seines Verleumders durchsticht. Dieser sackt zusammen, und die beiden intonieren jene Arie, in der der Komtur stirbt, Kraft und Blut verlierend und spürend, wie seine Seele seinen Körper verlässt, dass das Leben sich von ihm zurückzieht. Und da, die Rückblende! Das «I feel it, I am dying» meines Verletzten aus dem Bellevue. Auch er spürte, wie das Leben hinausglitt und der Tod sich einschlich. Der Film unserer Rettung lief in Zeitraffer wieder in meinem Kopf ab. Die Schachpartie mit ihrer so klassischen Eröffnung, die sich leerende Sanduhr und unsere gut eingespielten Züge, um ihr Rieseln zu blockieren. Trotz des Dramas auf der Bühne und der Verzweiflung der Schauspieler zog ein Lächeln über mein Gesicht. Ich konnte nicht anders, als gutgelaunt zu denken: «Schade, dass das Bellevue nicht in der Nähe war. Wir hätten den Komtur sicher gerettet!»

The Making of a Surgeon

I knew then, as I know now, that after every operation I performed, every decision I made, every crisis I met, I would be a bit more of a surgeon than I had been

 

William A. Nolen, The Making of a Surgeon

New York, Genf, 1988–1996

Ich drehte den Kopf zu Isabelle, der Anästhesistin heute. Wie erwartet, lag ein Hauch Skepsis in ihrem Blick. Um abzulenken und zu verhindern, dass dieses Gefühl wuchs, fragte ich sie eher bestätigend als fragend:

«Isa, du schaffst es doch, ihn zu stabilisieren, solange wir nähen, oder?»

«Schwer zu sagen, René, wir sind wirklich am Limit. Wie lange brauchst du noch?»

Ihre Augen zeigten eine Sorge, der ich nur noch selten begegnete: Auch wenn ich noch in der Ausbildung war, waren all meine Operationen bisher gut verlaufen, und die guten Ergebnisse hatten mein Selbstvertrauen hypertrophieren lassen.

«Zwölf Minuten, vielleicht auch fünfzehn.»

Ich wollte optimistisch sein.

«Wenn du nicht länger brauchst, ja, dann sollte ich es schaffen. Aber du hast keine Sekunde mehr. Du arbeitest ohne Netz und doppelten Boden.»

«Ich weiß, Isa, aber wenn wir voll konzentriert und effizient bleiben, dann schaffen wir es.»

 

Ich hatte vor einigen Minuten eine Klemme auf die linke Lungenarterie gesetzt, blockierte damit den Blutfluss und zwang ihn, ganz in den anderen Lungenflügel zu fließen. Das Kind vertrug das gut: Der Sauerstoffgehalt im Blut blieb stabil, ohne abzusinken. Das Piep-piep-piep unseres Oximeters – jenes Apparats, der den Puls an einer Fingerkuppe misst – veränderte seine Tonlage nicht, wie es der Fall ist, wenn der Gehalt absackt. Die Operation ohne Unterstützung einer Herz-Lungen-Maschine, ohne externe Sauerstoffanreicherung des Blutes, schien möglich.

Das Kind kam aus Afrika. Es litt an einer schweren Form der Fallot-Tetralogie, der berüchtigten «Blausucht». Es war tatsächlich nachtblau gewesen, und kaum dass es angekommen war, verschlechterte sich sein Zustand besorgniserregend kritisch. Sein durch die lange Reise angegriffener Zustand entwickelte sich unerbittlich in Richtung einer fatalen Asphyxie. Um dieser Bedrohung zu begegnen, musste sehr schnell ein Shunt gelegt werden, bevor einige Wochen später eine vollständige Korrektur durchgeführt werden konnte.

Die Fallot-Tetralogie, einer unserer Klassiker!

Bereits 1888 von Arthur Fallot in Marseille beschrieben, ist sie der Archetyp der «Blausucht», ein Name, der ihr gegeben wurde wegen der Färbung dieser Kinder: Auf ihrer äußeren Haut sowie ihren Nägeln und Schleimhäuten zeigt sich die blauviolette Farbe des Blutes.

Blut besitzt die schöne Eigenschaft, seine Farbe zu verändern, je nach seinem Sauerstoffgehalt. Sein Spektrum reicht dabei von Karmesinrot bei voller Sauerstoffsättigung bis zu Nachtblau, je nachdem wie wenig Sauerstoffmoleküle enthalten sind. Es ist also das arterielle Blut, das unsere Haut rosa färbt, unsere Lippen und Fingerkuppen. Blautöne dunkeln das ab, und der Teint des Körpergewebes, das durchflossen wird, ändert sich, wenn sich venöses Blut dazumischt.

Bei der Fallot-Tetralogie hat sich die Lungenarterie, die das Herz mit der Lunge verbindet, kaum entwickelt. Blaues, venöses Blut findet nicht den richtigen Weg zur Lunge, sondern fließt über eine Verbindung zwischen den beiden Herzkammern direkt in die andere Herzhälfte. Dort vermischt es sich mit dem wenigen hellroten, sauerstoffreichen Blut, dass die Lunge durchflossen hat, und diese Mischung wird in den Körperkreislauf gepumpt. Je schmaler der Engpass hin zum Lungenkreislauf ist, umso blauvioletter ist die Färbung der Haut, umso stärker ist die Zyanose.

Ohne Behandlung sterben manche dieser Kinder bereits wenige Tage nach ihrer Geburt, wenn sich der Ductus arteriosus (eine indirekte Blutversorgung der Lungen) schließt. Andere sterben als Kleinkind, manchmal im Jugendalter, doch nur wenige erreichen das Erwachsenenalter. Wie eine Flamme unter einem übergestülpten Glas scheint ihr Leben zu ersticken. Es ist niemals strahlend, niemals klar und stark, und eines Tages beginnt es zu flackern und erlischt.

Dieses grausame Schicksal – der Tod auf kleiner Flamme – zwang die Mediziner dazu, nach Lösungen zu suchen, und seien sie noch so ungewöhnlich. Helen Taussig und Alfred Blalock vom Johns Hopkins Hospital in Baltimore in den USA hatten die Idee, eine zusätzliche Blutversorgung für die zu wenig durchblutete Lunge zu schaffen. Technisch gesehen verband Blalock die Arterie, die den linken Arm mit Blut versorgt, mit der anatomisch nahen Lungenarterie, sodass ihr Blut nicht mehr in den Arm floss, sondern in die Lungen.

Das Resultat war spektakulär. Mit diesem zusätzlichen Blutzufluss veränderte sich die Färbung des Kindes unter den Augen des Chirurgen, wechselte von Dunkelblau zu Rosa. Man sprach von einem Wunder, sprach von einem Weg aus dem Dunkel ans Licht und erklärte das denkwürdige Datum 29. November 1944 zu einem Wendepunkt der Herzchirurgie. Dieses Umlegen einer Arterie bekam die Bezeichnung «Shunt». Sie verbreitete sich weltweit und wurde für lange Zeit das Heilmittel der Blausucht.

Ich ließ die Klemme los, um das Blut wieder durch beide Lungenflügel fließen zu lassen und mir die Zeit zu nehmen, meine Möglichkeiten erneut abzuwägen. Der Rückgriff auf eine externe Sauerstoffversorgung würde den Eingriff sicherer machen, das stand fest, doch um den Preis einer erheblichen Störung des Organismus und einer wesentlichen Erschwerung unserer Operation. Die Realisation des Shunts ohne diese Unterstützung wäre für den Organismus nur ein leichter Eingriff, kaum spürbar.

Bei derart weit entwickelten Asphyxien wie dieser hier, hängt der Erfolg des Eingriffs auch davon ab, wie schnell er durchgeführt wird. Ich nutzte den Moment also, um mit Ari und Irène, meinen Assistenten, und Jocelyne, der Instrumenteurin, die wichtigen Schritte noch mal durchzugehen. Die Arbeit des gesamten Teams würde koordiniert und flüssig sein müssen. Ich wollte, dass die Bewegungen aller mit ruhiger Kraft liefen, im richtigen Takt, reibungslos.

Ich fühlte mich in meiner Herangehensweise bestärkt: Wir würden es in der knappen Zeit schaffen. Ich wandte mich wieder an Isabelle.

«Bist du mit deinen Medikamenten bereit?»

Sie nickte halbherzig. Ich blickte noch einmal auf die beiden noch intakten Arterien, atmete tief ein und sagte:

«Okay, und von uns aus? Fäden? Instrumente? Ja? Also dann, los geht’s!»

Es sind diese tiefgreifenden Entscheidungen und die Konfrontation mit den Kernproblemen, die die Stärke der Chirurgie ausmachen. Es ist dieser Kampf mit der Krankheit, manchmal mit dem Schicksal, der mich stets fasziniert hatte und meine Berufswahl bestimmte, als ich anfing und noch nicht viel über das kunstvolle Räderwerk der Medizin wusste.

Wir hatten wohl einen Hausarzt, doch wir sahen ihn nicht oft, und ich hatte mich nie wirklich mit ihm unterhalten. Tatsächlich war unser Tierarzt der daheim am häufigsten konsultierte Mediziner. Er vollbrachte die denkwürdigsten Heldentaten, mit einfachsten Mitteln, direkt auf unserem Bauernhof. Ich sehe es noch vor mir, wie ich mit ungläubig staunenden Kinderaugen einen Kaiserschnitt bei einer Kuh unter örtlicher Betäubung beobachtete, das Tier an einem Regenrohr nur leicht angebunden, die ganze Zeit stehend, unbeschreiblich stoisch. Nach dem Schnitt durch die Haut, dann der Öffnung der Gebärmutter, hatte «unser Gynäkologe» wie selbstverständlich das Kalb herausgehoben, die Plazenta entfernt und die unterschiedlichen Schichten wieder zugenäht. Ich erinnere mich an seine Nadeln – Schuhmachernadeln mit einem gewaltigen Nadelöhr –, und sein Faden lag in eher starren Schlingen. «Catgut! Katzendarm!», schnaubte er uns zu, ihn triumphierend hochhaltend. Während er nähte, fügte er hinzu:

«Kühe halten alles aus. Ihr könntet sogar in die Wunde spucken, sie würde sich nicht entzünden. Pferde hingegen, das ist eine ganz andere Geschichte! Sie sind viel empfindlicher! Nur durch das Anschauen ihrer Kratzer würdet ihr ihnen eine Infektion verpassen!»

Dennoch war es nicht diese deftige Episode, die mich von den phantastischen Fähigkeiten der Chirurgie überzeugte. Die für mich entscheidende Begegnung mit der praktischen Medizin fand zu Beginn meiner Ausbildung, im Rahmen meines Pflegepraktikums statt.

Ich klemme die Lungenarterie erneut ab und die Arterie des linken Arms ebenfalls. Einige Sekunden innehalten: Das Oximeter gibt unverändert sein Signal. Öffnung mit dem Skalpell der ersten Arterie über fünf Millimeter, Durchtrennen der zweiten und Umlegen auf diesen Einschnitt. Beginn des Nähens mit einem feinen, glatten Faden. Ari übernimmt den Faden, nach jeder Passage meiner Nadel durch die Gewebe, um den Übergang zu straffen. Alles ist gut rhythmisiert, fließend, regelmäßig.

Plötzlich, ohne dass es eine unangebrachte Bewegung oder einen Ruck gegeben hätte, beginnt das Oximeter zu nörgeln. Seine Frequenz verlangsamt sich, und seine Tonlage sackt in die tiefen Töne, als würde seine Kraft schwinden. Der Sauerstoff im Blut, eh schon gering, reduziert sich weiter, und das Herz, immer stärker asphyktisch, droht nun aufzugeben. Eigentlich sind es seine Klagen, die uns der Apparat zuwimmert, die eines Motors, der unter einer übermäßigen Anstrengung stockt. Isabelle injiziert Adrenalin, um den Blutdruck anzuheben, ein Versuch, den Teufelskreis aufzuhalten, der einzusetzen droht. Ihre alarmierte Stimme:

«René, ich schaffe es bald nicht mehr, das Herz zu halten. Du musst dich beeilen, es wird bald stehenbleiben.»

Ich war einer Station für chronisch Kranke zugeteilt. Entgegen meiner Idealvorstellung von der Medizin musste ich dort erleben, dass diese Wissenschaft ihre Kranken eher pflegte als heilte. Mit zwanzig Jahren hatte diese Feststellung der Machtlosigkeit etwas Desillusionierendes für mich, vor allem da sie in solch krassem Kontrast zu den Cowboy-Großtaten unseres Tierarztes stand. Gegen Ende des Praktikums bat ich den Chefchirurgen, an einer seiner Operationen teilnehmen zu dürfen. Er war einverstanden, und zum ersten Mal durchquerte ich die Türen eines Operationssaals.

Ich spürte sofort den geradezu heiligen Charakter dieses für die Außenwelt verschlossenen Refugiums. Man musste durch eine Schleuse, um in diese geschützte Höhle hineinzukommen, musste seine Kleidung wechseln, seine Schuhe, eine Mütze aufsetzen, eine Maske. Das veränderte die Physiognomie der Menschen radikal, vermittelte den Eindruck, sie würden zu einem Clan gehören, sowohl bezüglich ihrer Aufmachung als auch ihrer Mission. An diesem Tag war ich bei meiner ersten Operation dabei: einer Appendektomie. Von Anfang an war ich beeindruckt von der kühlen Entschlossenheit des Operateurs. Ohne zu zögern ging er direkt aufs Ziel zu, führte mit dem Skalpell einen klaren und tiefen Schnitt aus und legte mit seiner scharfen Klinge das betroffene Organ frei. Dies wurde souverän aus dem Körper entfernt. Anschließend nähte er den verbleibenden Stummel mit Catgut. Der Benennung des Fadens, des in meiner Erinnerung immer noch ruhmbehafteten Wortes, ließ meine Gedanken zehn Jahre in die Vergangenheit zurückkehren.

Am folgenden Morgen schon erklärte der junge Patient sich für genesen: Das hohe Fieber, die Bauchschmerzen, das Erbrechen, alles war verschwunden! Es schien, als wären sie ebenso radikal wie das Organ herausoperiert worden, wie sein Blinddarm. Der junge Mann konnte intakt entlassen werden.

Die Fähigkeit der Chirurgie, die Krankheit anzupacken, energische Maßnahmen zu ergreifen, ohne Umschweife die ursächlichen Teile zu entfernen, um wirklich zu heilen und nicht nur zu versorgen, war eklatant. Und die Rolle des Chirurgen als großer Zauberer, der sich mit dem Eindringen in einen lebenden Körper über alle Grundregeln hinwegsetzt, hatte etwas Hypnotisierendes.

Es bleiben mir noch drei Stiche mit der Nadel, um die Naht abzuschließen, und normalerweise müsste ich den Faden noch verknoten, bevor ich die Klemme löse. Ich beschleunige mein Tempo noch. Ich kann sehen – und vor allem hören –, dass dies Leben drauf und dran ist, wegzukippen. Die Farbe des Gewebes ist derart dunkel, dass praktisch kein Sauerstoff mehr im Blut vorhanden sein dürfte. Das Oximeter macht auf geradezu ergreifende Weise die letzten Schläge des Herzens miterlebbar, derart langsam ist es und seine Tonlage so düster. Man spürt, dass der Stillstand unmittelbar bevorsteht …

Die Verzauberung wirkte einige Tage in meinem Kopf nach.

Denn ich hatte diesen Praktiker mit seinen Händen arbeiten sehen. Ich hatte die Agilität seiner Finger gesehen, wie sie jeder Tücke ausgewichen waren, um an ihr Ziel zu kommen. Ich stammte aus einer Welt, in der noch Handarbeit vorherrschte. Ich erkannte in den Bewegungen bei der Operation eine Choreographie wieder, die sicherlich feiner als unsere war, doch im Wesentlichen ziemlich ähnlich.

Diese Erfahrung wurde so zur Offenbarung: Ich hatte einen Beruf entdeckt, der etwas bewirkte, der den Lauf der Dinge veränderte und in dem die manuelle Geschicklichkeit eine wesentliche Rolle spielte.

Nach dieser Blinddarmentfernung fühlte ich mich nicht nur in meiner bis dahin doch etwas zufälligen Entscheidung für die Medizin bekräftigt, sondern von da an war ich sicher, in der Chirurgie meinen Weg gefunden zu haben.

Ich halte Ari den Faden des letzten Stichs hin. Im gleichen Moment, noch vor dem Verknoten, löse ich die Klemmen von der Lungenarterie und der Arteria subclavia. Dank des Shunts fließt endlich zusätzliches Blut in die Lunge. Zwei bange Sekunden – bedrohliche Stille –, dann gibt das Pulsoximeter wieder einen Ton von sich, grabestief. Während ein zweites, dann ein drittes Piepen folgen, auch sie dumpf und zögerlich, bereite ich mich auf eine Herzmassage vor. Dann ein viertes, ein schnelleres fünftes, beide auch weniger tief. Die Tonlage steigt. Endlich! Ihre Kraft und ihre Frequenz ebenfalls. Noch ein paar Sekunden, dann entschließt sich die Bewegung definitiv für Beschleunigung. Unter der Wirkung des Adrenalins heult sie schließlich sogar auf, und die Tonlage steigert sich ins Schrille, in dem Maße, wie der Sauerstoff das Blut entfacht und das Herz seine Kraft zurückgewinnt. Gleichzeitig finden die Gewebe, eben noch so dunkel, so matt, ihr Strahlen wieder, ihren Glanz, ihre Helligkeit. Innerhalb von dreißig Sekunden hat eine Metamorphose stattgefunden, das ganze Kind hat sich von einem dunklen Nachtblau in ein normales Rosa verfärbt.

Nun verknote ich die Nahtfäden sehr vorsichtig, denn unter dem Druck einer prallen Arterie könnten sie sehr leicht ausreißen. Als die Knoten fixiert sind, werden die Fäden gekappt. Die Gefahr ist endgültig gebannt. Der drohende Schatten, dessen Kälte und Herannahen wir gespürt haben, ist erstarrt. Nun weicht er langsam zurück.

Diese flüssige, beherrschte Choreographie und Entschlossenheit ließen mich sofort begreifen, dass die Entwicklung eines Chirurgen eines sicherlich langwierigen und anstrengenden Trainings seiner Hände, seiner Finger, seines Geistes bedurfte, und sei es nur, indem er sich die technische Fertigkeit und das Verständnis für die organischen Charakteristika eines jeden Gewebes – ihre Beschaffenheit, ihre Anordnung – wieder und wieder operierend aneignete.

Und das tat ich seit meiner Rückkehr nach Genf täglich, unermüdlich. Ich reihte Operationen aneinander, sowohl als Assistent wie als Operateur … am Herzen. Ja, am Herzen, denn ich hatte die Fachrichtung gewechselt. Schuld daran war das Bellevue Hospital. Schuld daran waren Grossi und Spencer. Schuld daran war das Herz selbst. Der Schock, den ich bekam, als ich bei meiner ersten Bypassoperation das Herz seine Kraft zurückgewinnen sah, war gewaltig, zu gewaltig, um mich unberührt zu lassen. Und die Erschütterung, die das bei mir hervorrief, ließ mich nicht mehr los. Dies wurde zu meiner zweiten Offenbarung. Eine von der Art, die den Weg wechseln lässt. Eine, die dazu bringt, von allen anderen Organen, die zwar auch sehr spannend waren, dennoch abzulassen, um sich nur noch einem zu widmen: dem Herzen. Und Gene Grossi und Frank Spencer waren die Urheber dieser Umkehr, indem sie mich in ihr Fachgebiet lockten, indem sie mir in New York die Türen zur «Kardio» öffneten.

Spencer, der Chef der Chirurgie an der NYU, sagte etwas, das prophetisch für mich sein sollte: «Das Herz macht süchtig. Lassen Sie nicht irgendwen in seine Nähe, denn der, der es berührt, wird von ihm abhängig.»

Genau das geschah an jenem Tag mit mir.

Allerdings begannen nun meine Hände zu zittern, mein Magen verkrampfte, meine Beine schlotterten. Wir alle sahen uns bestürzt an, noch immer wie gelähmt von dieser tückischen, sich auflösenden Kraft. Isabelles Blick war vorwurfsvoll.

«Du hast mir eine verdammte Angst eingejagt!»

Ein bisschen verlegen, hob ich eine Schulter und gab zu:

«Nicht nur dir, Isa. Nicht nur dir.»

Niemand hatte Lust, mehr zu sprechen. Wir spürten zwar eine Mischung aus Angst und Erleichterung, noch mal davongekommen zu sein, doch etwas Anderes war vorherrschend. Jenes helle und lebendige Gefühl großer Klarheit, das auf extrem nahe Blitzeinschläge folgt. Wenn alles wieder ruhig ist, wenn nur Blendung und Betäubung noch einige Zeit anhalten. Auch hier war alles wieder zur Ruhe gekommen. Es schien unglaublich. Nichts von dem in letzter Sekunde abgewendeten Drama war mehr sichtbar. Der Herzrhythmus war normal, die Tonalität harmonisch. Der Blutdruck war gut, der Sauerstoffgehalt exzellent, wie noch nie zuvor.