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Sylvie Schenks neuer Roman über das Loslassen und über das Glück, das in unverhofften Begegnungen liegen kann – mit Leichtigkeit und Witz erzählt Irène, eine deutsch-französische Schriftstellerin, wird mit Verdacht auf einen Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert. Bald schon gibt es Entwarnung, aber sie muss vorsorglich einige Zeit in der Klinik bleiben und richtet sich dort ein. Ironisch-sarkastisch beschreibt sie ihren neuen Alltag zwischen Krankenzimmer und Untersuchungen. Sie erinnert sich an ihren Mann, der erst vor kurzem gestorben ist, sie lernt ihre Zimmergenossin Ada kennen, eine junge Muslima, und einen rätselhaften Patienten, den sie den »Froschmann« nennt und der sie an Houellebecq erinnert. In der Auseinandersetzung mit ihm denkt sie über ihr eigenes Schreiben, über Leben und Tod nach. Kaum jemand, der darüber mit solcher Leichtigkeit erzählen kann wie Sylvie Schenk.
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Seitenzahl: 205
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Irène, eine deutsch-französische Schriftstellerin, wird mit Verdacht auf einen Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert. Bald schon gibt es Entwarnung, aber sie muss vorsorglich einige Zeit in der Klinik bleiben und richtet sich dort ein. Ironisch-sarkastisch beschreibt sie ihren neuen Alltag zwischen Krankenzimmer und Untersuchungen. Sie erinnert sich an ihren Mann, der erst vor kurzem gestorben ist, sie lernt ihre Zimmergenossin Ada kennen, eine junge Muslima, und einen rätselhaften Patienten, den sie den »Froschmann« nennt und der sie an Houellebecq erinnert. In der Auseinandersetzung mit ihm denkt sie über ihr eigenes Schreiben, über Leben und Tod nach. Kaum jemand, der darüber mit solcher Leichtigkeit erzählen kann wie Sylvie Schenk.
Sylvie Schenk
In Erwartung eines Glücks
Roman
Hanser
Für meinen geliebten Sohn Stephan Schenk
Vielleicht ist das Leben ganz einfach, dachte Paul, vielleicht braucht man so gut wie nichts zu wissen, braucht sich nur leiten zu lassen.
Michel Houellebecq, Vernichten
Bitte benutzen Sie den Aufzug B3. Fahren Sie zur Etage 8. Gehen Sie zum Flur 18. Melden Sie sich auf der Station Neurologie.
Irène hatte Kopfschmerzen, lief im Zickzack, suchte nach Worten und fand sie nicht, stellte eine Tumbheit im Arm fest und: Ihre Gedanken zerbarsten. Sie rief Simon, einen guten Freund, an, der sofort kam, sie in seinen Toyota verfrachtete und zur Stroke-Unit der nächsten Klinik fuhr. Sie starrte eine Stunde lang auf ihre schlecht lackierten Nägel, Simon ging auf und ab, es kam kein Notarzt, und nach einem feindlichen Austausch mit der Angestellten am Empfang entschied der Freund, Irène zur Uniklinik zu fahren. Setz dich hinten rein, schnall dich an. Sie fuhren schnell und schweigend, er besorgt, Irène stumm. Ein roter Staubsauger lag auf dem Sitz neben ihr. Sie strich mit der rechten Hand über sein glattes Gehäuse. »Mein Lieblingskind«, sagte Simon rätselhafterweise. Sie wurden geblitzt. »Ich bezahle das Knöllchen«, sagte Irène. Ihr war danach, alles mit sich geschehen zu lassen, im Augenblick verharrend, sah sie die Hausreihen und Bäume vorbeiflutschen. Sie wusste längst, dass Ängste sich nur im Zaum halten lassen, wenn man die Zukunft ignoriert, die Vergangenheit ausblendet und sich in der Gondel der Gegenwart schaukeln lässt: Ich bin da, noch atme ich. Vor zwei Tagen hatte sie sich Träume erlaubt, aber Träume sind Schaum, und bald schmecken sie nach Seife.
Sie erinnerte sich schlecht an die ersten Untersuchungen, nur, wie erleichtert sie war, »angekommen« zu sein, sie hatte darauf hingefiebert. Dass eine freundliche Notärztin ihren Namen kannte, sie auf ihre Romane ansprach, gefiel ihr. Sogar in Todesangst bleibt der Mensch eitel. Als sie später zu einer neurologischen Station gefahren wurde, fragte sie: »Bringen Sie mich jetzt zur Schlagabfallstation?« »Nicht Abfallstation«, grinste der Pfleger. »An-fall.« Irène wiederholte brav: »An-fall. Schlag-anfall-sta-sta-sta-tion.« Irène war Französin, sie spielte mit den deutschen zusammengesetzten Wörtern wie mit Legosteinen. Aus ihrem kleinen Koffer fischte sie ein Nachthemd heraus und zog es nicht an. Von der achten Etage der Uniklinik aus ließ sie ihren Blick in die Fünfsterneaussicht fallen.
Die Kirschbäume blühten. Sie verlor sich in grünen Ebenen, segelte im Schwarm der Vögel. Später ging der Mond wie im Lied auf und glitt hinter die Wolken. Sie legte sich hin, watete in lahmen Gedanken, sank in die Nacht und war eingeschlafen, als ein Arzt sie aufweckte und sagte, die Ergebnisse der ersten Untersuchungen hätten es erwiesen, kein Schlaganfall, sie leide an einer Gehirnhautentzündung und werde deshalb in eine andere neurologische Station auf der gleichen Etage gebracht. Die Ursachen der Krankheit könnten viral, bakteriell, überhaupt sehr vielfältig sein, das Wort Krebs ließ Irène zittern. In dem neuen Zweibettzimmer schlief eine andere Frau, die sich umdrehte, und eine junge Stimme sagte »Scheiße«, als Irène hineingefahren wurde. Irène starrte auf die leere Wand gegenüber. Dort hing nur ein Kasten mit Gummihandschuhen. Sie schlief wieder ein. Es folgte ein Tag, an dem sie den Kopf im Nebel hatte und zwischen zwei Untersuchungen nur noch schlief oder auf die Wand gegenüber glotzte. Der Weg zum maroden Bad, zum Kaffeewagen, zum MRT, zum EKG, zum Enzephalogramm, die erste Lumbalpunktion, die Visiten, das waren Abenteuer genug. Im Nachbarbett lag die sehr junge Frau, die immer wieder kichernd in einer Fremdsprache telefonierte, und Irène floh zum Ende der Diele, wo sie sich wieder in der grün-weißen Landschaft des Frühjahrs verlor und sich an ihren Mann erinnerte, der die Kirschblüten geliebt hatte und der im letzten Frühjahr gestorben war. Im Herbst hatte er sich auf die Apriltulpen und Narzissen gefreut. Nachdem er nach vierzehn Tagen in der Covidstation eingesperrt die Blütenpracht nicht hatte bewundern können, starb er. Die Erinnerung ist ein schwarzer Schleier. Trauer verhüllte plötzlich die Landschaft, eine ehemalige Bauernlandschaft, wo jetzt Wohnhäuser, Klinikabteilungen aufgeschossen waren. Irène wollte auf andere Gedanken kommen und suchte auf ihrem Handy das »Dudenwort des Tages«, eine Gewohnheit, die sie sich längst angeeignet hatte, um dem Alltag eine Färbung zu verleihen, eine Inspiration zu finden oder den Moment hinauszuzögern, an dem sie anfangen musste, an ihrem Roman zu arbeiten. Heute stand das Wort Flageolett im Rampenlicht, das unter anderem für eine sehr kleine Blockflöte gebraucht wird. Sie versuchte, auf YouTube entsprechende Töne zu finden, fand schließlich eine schrille Tanzmusik, dann eine weitere, mit einem Doppel-Flageolett gespielt, die sie leider wieder melancholisch stimmte. Sie spürte, wie träge Wolken sie umhüllten, sie gab sich einen Ruck, schüttelte sich, atmete tief ein und aus. Eine Krankenschwester, die zur Personaltoilette ging, kam in ihre Nähe, fragte, ob alles in Ordnung sei, Irène lächelte zurück, ja, Schwester, alles ist in bester Ordnung. Diese Bezeichnung ›Schwester‹ für eine Person, die nicht zu ihren Geschwistern gehörte und auch keine Nonnentracht trug, fand sie unzeitgemäß. Über dieses mittelalterliche Überbleibsel machte sich keiner Gedanken, nur zu Genderschreibweisen kamen eigenartige Vorschläge, zum Beispiel Ärzt:innen, eine Lösung, die Männer kastrierte und Frauen als Anhängsel stigmatisierte, es nervte. War man in einer Zeit angekommen, wo man schwerfällige Lösungen für leichte Probleme vorschlug und schwere Probleme mit Blablabla bedeckte, Blätterwerk über einem Bombentrichter? Und sie? War sie dabei, eine verbitterte Nörglerin zu werden? Blablablamage.
Ihre Temperatur war gesunken, sie verfiel in ihr übliches Lesefieber. Sie hätte schwören können, dass sie Houellebecqs Roman Anéantir — auf Deutsch Vernichten — eingesteckt hatte, sie durchsuchte ihren kleinen Koffer, sichtete die zwei Regale des ihr zugedachten Schranks und fand zwar einen anderen Roman, aber nicht Anéantir. Ihr Verlangen nach diesem Buch wuchs eruptionsartig. Sie hatte es zu Hause schon gelesen und war von der ersten Seite an fasziniert gewesen. Sie wollte es jetzt wieder lesen und ein Buch über dieses Werk schreiben, nein, eher ein eigenes Buch in Anlehnung daran, besser gesagt, irgendetwas in der Gesellschaft dieses Buchs schreiben, sie wusste nicht genau, was sie wollte, nur nicht allein schreiben, nicht in der Einsamkeit ihres eigenen Ichs. Paul, der Protagonist in Vernichten, hatte zwar Krebs, und sein Tod am Ende des Buchs ist leider unabwendbar, dennoch schien er ihr der beste Begleiter im Klinikum und beim eigenen Schreiben zu sein. Nun, was konnte sie jetzt tun? Sie versuchte, sich in einen anderen Roman zu vertiefen. Sie las brav einige Seiten, aber die Lektüre schmeckte so wenig wie der Krankenhausfraß. Sie rief eine Nachbarin an, die ihre Hausschlüssel besaß, und bat sie, nach dem Buch zu suchen und es per Boten zu schicken. Die Nachbarin war alt und fuhr keine längeren Strecken mehr, schon gar nicht zu einem Krankenhaus. Sie ging aber zu Irènes Haus, schaute gewissenhaft überall, kroch trotz ihres hohen Alters auf allen vieren, um unter das Bett zu spähen, wühlte im Chaos von Irènes Arbeitszimmer und rief zurück: Houellebecq war unauffindbar. Dann erzählte sie akribisch vom eigenen Befinden und von Rückenschmerzen. Irène kochte vor Ungeduld.
Sie hing gerade am Tropf und wartete auf das Ende der Kortisoninfusion, surfte indessen im Internet. Das Wort des Tages bei Duden war fußläufig. Bald konnte sie sich anziehen, zum Aufzug B3 gehen, dann ins Parterre fahren. Auf einem gelb-apfelgrün-schwarz gestreiften Teppichboden lief sie an einer langen Glaswand vorbei. Dahinter lag ein dunkelgrün bepflanzter Innenhof, wo zwei Menschen in blauen Kitteln schwebten oder dümpelten, zwei Wesen in einem Aquarium. Sie gelangte zum Empfang, wo sie eine Hauptbahnhof- bzw. Flughafenstimmung einfing. Die Uniklinik war Krankenhaus, Universität, Forschungslabor und noch mehr, ein interdisziplinäres Riesengebäude, daher dieses wimmelnde Leben überall. Sie stand unter angezogenen Menschen, erstarrte eine Minute vor den Rolltreppen, fixierte eine große, runde hängende Uhr, fünf vor fünf, schaute oben zu ihrer Linken auf eine Pferdestatue, wie fast alles hier schwefelgelb und grün, mit der Farbe der Hoffnung hatte man nicht gegeizt. Es wurde ihr schwindelig, sie streckte einen Arm aus zu einer imaginären Stütze, hielt sich am Nichts fest und blickte erneut auf die Uhr: immer noch fünf vor fünf. Sie schaute eine Zeit lang hypnotisiert darauf, wusste nicht, was sie darin sah, ein Auge, ein Zyklopenauge, ein Gesicht, ihr Gesicht, sie guckte, zählte, immer noch fünf vor fünf, eine lethargische Sekunde, eine erstarrte Sekunde, ihr Herz kam aus dem Takt, in ihrem Kopf tickte es falsch, in diesem funktionalen Gebäude spielte eine Uhr verrückt, ein Gag der ansonsten rationalen und klugen Architekten und Bauingenieure? Der Anspruch an ein ganzheitliches Konzept konnte allerdings bizarr und befremdend wirken, das Gebäude sah gar nicht aus wie ein Krankenhaus. Sie hob den Blick zu der Metallkonstruktion an der Decke, dann wieder zur Uhr, immer noch fünf vor fünf, die Zeit war also stehen geblieben. »Dreh dich nicht um«, flüsterte Johann, »jammere nicht um die vertane Zeit. Jede Zeit ist vertan, wenn man all die Dinge betrachtet, die man nicht gleichzeitig machen kann.« »Ich weiß nicht, warum du mir das sagst«, antwortete sie, »meine kleine Macht liegt nur darin, in die Zeit Zäsuren hineinzuwerkeln, ein ›Davor‹ und ein ›Danach‹ zu erfinden: Davor war ich gesund, danach war ich krank, davor war ich krank, danach war ich gesund, davor war ich verheiratet, danach war ich verwitwet.« Sie blinzelte: Drei vor fünf, sie hatte sich verlesen. War ihr Sehvermögen von der Meningitis angegriffen? Sie streckte wieder einen Arm nach der imaginären Stütze aus (einem grünen Baumzweig), konnte das Gleichgewicht wiederherstellen. Den Trick hatte sie auch in den Bergen angewandt, als es ihr am Rand eines Abgrunds schwindelig wurde. Drei vor fünf. Ein junger Mann, der die Rolltreppe nehmen wollte, hielt an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie sagte, ja, sie suche nur die Cafeteria. Manchmal log sie ohne Not, einfach so, aus dem Gefühl heraus, gerade der Satz, der einem herausrutschte, sei vom Zuhörer erwartet worden. Und wer wollte nicht den Erwartungen eines Menschen entsprechen, der einem körperlich so nahe stand wie dieser junge Mann mit den leuchtenden schwarzen Augen und der sanften Bassstimme, ein Medizinstudent vielleicht, der seinen Weg unterbrochen hatte und sich leicht zu ihr geneigt mit einem fremden Akzent um ihre Gesundheit sorgte? Oder sie hatte den Satz »Ich suche die Cafeteria« formuliert, um in die Normalität einzutreten, die sorgenlose Banalität der Gastronomie, und ja, sie könnte sich in der Tat an einen Tisch setzen, eine warme oder kalte Schokolade trinken, die Beine ausstrecken, aufatmen und verschmitzt die Menschen beobachten, die sich hier und da auf dem gelb-grün-schwarz gestreiften Teppich bewegten. Nur dass sie keine Lust auf eine warme oder kalte Schokolade hatte und es nicht mochte, allein in einem Lokal zu sitzen vor einer warmen oder kalten Schokolade. »Hier«, sagte der junge Mann, »direkt hier zu Ihrer Rechten.« Er zeigte auf eine Balustrade, eine Art Balkon, er lächelte, sie auch, die Begegnung der zwei lächelnden Gesichter hätte überall passieren können, dachte sie, nicht nur in diesem Krankenhaus, das nicht wie ein Krankenhaus aussah, sie war in einem dystopischen oder utopischen Film angelangt. Sie riss sich von der Anziehung der Uhr los, drehte sich zu einer Gruppe von fröhlichen jungen Leuten hin, die auf einen Hörsaal zusteuerten, betrat dann einen Laden mit Zeitschriften, Süßigkeiten, Schreibwaren und wenigen Taschenbüchern. Vernichten war nicht dabei. Sie kaufte Zeitungen, einen Schreibblock, einen Bleistift, sie mochte Bleistifte und das Wort Bleistift, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder in ihr Zimmer zurückzukehren. Sie hatte sich zwar den Namen der Station und die Etage gemerkt, die Flurnummer aber nicht. So fuhr sie mit dem falschen Aufzug in die achte Etage, irrte durch verschiedene Gänge, setzte sich ein paar Minuten auf einen Stuhl, betrachtete schwer atmend den Teppichboden. Wie das ganze Haus stand auch er unter Denkmalschutz. Vielleicht sollte sie da immer wohnen bleiben. Nicht weit von ihr unterhielten sich zwei Ärztinnen. Sie hätte gern das Gespräch belauscht, aber die zwei waren zu leise. Sie erhob sich mühsam, drehte sich wieder im Kreis, kroch müde auf Gelb-Grün-Schwarz, entschied, wieder hinunterzufahren und am Empfang den Namen der Patientin Irène Dumont anzugeben. Man überreichte ihr ein Zettelchen mit den nötigen Anweisungen. Endlich konnte sie sich zu ihrem Zimmer schleppen und fiel erschöpft ins Bett. Die junge Frau im Nebenbett hatte Besuch von einem jungen Mann. Sie warf Irène einen verärgerten Blick zu, aber Irène war zu müde, um wieder aufzustehen. Sie stellte sich schlafend.
Begehren macht müde. Sie sollte auf das Buch von Houellebecq verzichten und die schönen Augenblicke ihres Lebens mit Johann, ihrem kürzlich verstorbenen Mann, wachrufen. Papageienmenschen behaupten, man solle nicht nach hinten, sondern nach vorn schauen. »Vorn« sah eher wie ein Tunnel mit fragwürdigem Ende aus. »Hinten« war gemischt, aber man konnte sich ein paar schöne Momente herauspicken. Sie konnte sich die Zeit der Jugend zurückrufen, das Jahr, als der junge Johann und sie räumlich getrennt lebten, sie in Lyon, er in Frankfurt, und sie sich leidenschaftliche Briefe schrieben, die sie vor Kurzem auf dem Dachboden gefunden hatte. Wie gepflegt sein Französisch war, wie klar seine Schrift, wie zärtlich seine Worte! Sie dachte sich in die Liebe zurück und in die letzten gemeinsamen Urlaubsreisen. Blätterte im Bilderbuch der ersten Jahre, die Aufregung der ersten Küsse, des ersten Schmusens in einer Kneipe (der Wirt hatte sie zur Ordnung gerufen), sie katapultierte sich in eine Karnevalsfete mit Freunden, lief auf einem Wanderweg im Spessart, wollte die Zeit der Gesundheit, die Lebensabschnitte heraufbeschwören, in denen beide keine Verantwortung übernehmen mussten, weder für kranke Eltern noch für ein Kind, es ging nur um sie beide, um ihren Hunger nach Erlebnissen und Entdeckungen. Es war eine Zeit der Unschuld oder der Blindheit, egal, die Zeit, als der ausgetauschte Blick über den Esstisch von der Vollkommenheit des Daseins zeugte. Und dann, später, als das Geld üppiger wurde, die Gespräche leider dünner, gab es noch die kurzen Urlaubsreisen an die Loire, in die Bretagne oder viel später als Rentner nach Sizilien, Portugal, Jordanien, Russland, Marokko, Gran Canaria. Irène fühlte sich allerdings überall fehl am Platz, wie ein Haar in der Suppe, sie schämte sich, wenn sie das Elend der Bevölkerung wahrnahm, ihre Bewunderung für die Pracht von Versailles hielt sich in Grenzen, das Erlernte vergaß sie schnell. Ihr Glück hatte sie schon immer im Betrachten eines tiefen Tals im Herbst oder im Betrachten der Wolken über den Bergen ihrer Heimat gefunden. Ja, eine Kreuzfahrt auf einem kleineren Schiff an der norwegischen Küste gefiel ihr schon eher, Johann und sie waren auch eins im Bewundern der Ostsee, und in der Normandie zeigten sie sich gegenseitig die Kreidefelsen. Sie versuchte, weiter zurückzurudern, die dunklen Abgründe ihres Lebens zu umschiffen, und fand sich in ihrem alpinen Ferienhaus wieder, das sie erst mit fünfzig nach dem Tod ihrer Eltern und dem Verkauf ihres Chalets mit ihrer Schwester und ihrem Schwager zusammen erworben hatte, weil sie sich nicht vorstellen konnte, ohne eigene Unterkunft in die Alpen zu fahren, so wie Touristen. Es schlich sich das sommerliche Bild von Freunden auf der Terrasse des Ferienhauses ein, sie hörte am reichlich gedeckten Tisch die vielen »Santé«-Sprüche, die überhaupt nichts nutzten, denn einige Monate später starben ihr Mann und ihr Schwager. Sie sah sich nach den großen Stürmen des Lebens mit ihrem Mann an sonnigen Nachmittagen auf einem Liegestuhl auf der Terrasse liegen. Diese Terrasse war eng, jeder trachtete danach, eine schattige Stelle zu ergattern, beide hatten ein Buch in den Händen, hoben manchmal den Kopf, um die Gipfel zu betrachten, senkten wieder den Blick auf die Lektüre, die sie in fremde Umgebungen und Situationen beförderte, und manchmal lachte man kurz auf und las dem Partner einen guten Satz vor. So friedlich war es, das Liegen und das Lesen, der knappe Austausch, die Landschaft, die unaufgeregte Zufriedenheit des Alters. Ach, wie lange dauerte bei ihr »die unaufgeregte Zufriedenheit des Alters«? Eine halbe Stunde? Wem hatte sie den dummen Spruch geklaut?
Und die Erinnerung an die Lesezeit brachte sie wieder zum vermissten Buch. Sie war sich sicher, dass sie es eingepackt hatte und weder im Auto von Simon noch in der ersten Klinik vergessen hatte, wo sie zu lange gewartet hatten, noch in der Notaufnahme des Klinikums, wo sie in die Hände der literaturaffinen Ärztin gefallen war. Vielleicht aber doch in ihrer geistigen Umnachtung in der Stroke-Unit, wohin sie auch in der Uniklinik zuerst gebracht worden war? So stand Irène doch auf und schleppte sich weiter dahin. Sie zögerte zwischen zwei Fluren, die zu dieser Unit gehörten. Irène war eine schüchterne Frau, und sie musste sich ernsthaft aufraffen, bevor sie dort klingelte und eine Krankenschwester fragte, ob sie da vor drei Tagen gelegen habe und ihr Buch, ja, der Roman Anéantir, von Houellebecq, ein dickes Buch in französischer Sprache mit einem weißen Umschlag, in dieser Abteilung liege. Die Schwester rief eine Kollegin vom Empfang, die daraufhin im Computer suchte, ob Irène da gelegen hatte, ja, so war es, und sie guckte in Schränken und sagte, sie fände zwar einen vergessenen Krimi, nur leider kein dickes weißes Buch. Irène schleppte sich enttäuscht in ihr Zimmer zurück. Sie hatte zwar immer digitales Lesen verweigert, aber ausnahmsweise hätte sie das Buch auf ihr Handy laden müssen. Sie gehörte nun mal zu einer Generation, die Papier riechen muss, und auf dem schlanken Handy wäre das Lesen pure Qual gewesen.
Zurück an der Tür ihres Zimmers, Zimmer 7, stieß sie auf die Logotherapeutin, die mit ihr Sprachübungen machen wollte. Sie ging mit ihr hinein, die Bettnachbarin und ihr Besuch ergriffen die Flucht. Irène sollte Wörter aus dem Sprachfeld Bäume finden, Botanik war sowieso ihre Stärke. Ulme, Eiche, Birke, Platane, Esche, leierte sie und wollte noch den Ahorn und die Zeder nennen. Später musste sie Wörter finden, die mit v anfingen, und außer viel, voll und Vögel fiel ihr nichts ein. »Vor…, Ver…«, half ihr die Logotherapeutin auf die Sprünge: »Vernichten«, stieß sie triumphal hervor. Houellebecq wurde zu einer Obsession. Als die Logotherapeutin ging, lief Irène bis zum Ende der Diele, um sich wieder in dem Panorama zu verlieren. Es schien, dass die zarte grüne Farbe des Frühlings intensiver wurde. Die Frische der Kirschbäume nahm sie ein. Sie setzte sich hin und schaute. Ihr Geist saugte am Nektar. Aus einem Krankenzimmer hörte sie aber einen alten Mann, der um Hilfe rief, es versetzte ihr einen Stich und erinnerte sie an Johann, der am Ende nachts öfter um Hilfe rief, hatte die Krankenschwester gesagt, und die blöde Kuh hatte dabei gegrinst, was Irène irritierte, die nicht geistesgegenwärtig genug war, um die Frau zur Schnecke zu machen. Sie selbst war die Schnecke. Was sie hätte sagen müssen, schoss ihr fünf Minuten zu spät ins Gehirn. Johann war verwirrt, nachts unterschied er nicht mehr zwischen Telefon, Fernbedienung und Notrufapparat, er verfiel in Panik, und er hatte gewiss auch vergeblich um Hilfe gerufen, bevor er selbst aufstand und im Bad stürzte. Irène kreuzte die Arme vor der Brust und wollte einen guten Grund oder mehrere Gründe zum Weiterleben. Der erste Grund waren ihr Sohn und seine Kinder. Jemand, der seinen Kindern kein Inferno wünscht, kann niemals Selbstmord begehen. Sie fahndete nach mehr Gründen. Freunde? Seit der Krankheit und dem Tod ihres Mannes überschätzte sich Irène nicht mehr. Die Freunde waren mit sich selbst beschäftigt und würden sich schnell von seinem und von ihrem Tod erholen. Es blieb das Glück, das sie in der Natur empfand. Der Berg, der See, das Meer, die Wiese, der Sand, die brennende Sonne, die Gerüche der nassen Erde, die fallenden Blätter. Es waren die universellen Bilder des Glücks. Es blieb das Wandern in den heimatlichen Bergen, zu denen sie oft zurückkehrte. Die Wege wurden aber immer steiler, steiniger: Wie lange würde ihr Gesundheitszustand dieses Laufen und Steigen erlauben? Irène rief vier Gipfel über dreitausend in ihr Gedächtnis, Berge, die sie früher erklettern wollte und aufgeben musste, des Écrins, le Râteau, Nummer drei und vier fehlten. Doch! Les Agneaux hätte sie gern bestiegen, es hatte sich aber keine Gelegenheit ergeben. Sie rief Bilder von bescheidenen Wanderungen mit Johann auf, sah die letzten Schritte bis zum Kreuz noch vor sich, bis zum Bergsee, bis zum Gipfel, sie spürte am Pass den Gegenwind in ihrem Gesicht und die Kälte oder die brennende Sonne. Sie mochte Pässe, weil man da oben zwei verschiedene Landschaften sah, je nachdem, wie man sich drehte, nach Osten oder nach Westen, man stand in der Mitte wie die Achse der Welt. Von ihrem Krankenbett aus sah sie die gezackten Felsen, die gelben ährigen Edelrauten, weit unter sich die grüne Linie der letzten Lärchen, die weit entfernten Täler, drehte sich um und sah einen steilen Weg nach Italien hin, rollende Steine und eine Kohorte Bergsteiger, schloss die Augen und, ach, schaffte es nicht, Namen aus ihrem Gedächtnis zu kramen.
Wenn sie niemanden mehr liebte, trug das Glück den Namen eines Gipfels, den man im Schweiße seines Angesichts erobert hatte. Das Unglück brauchte man sich nicht zu erschwitzen, es kam von selbst. Das Schlechte, das Schmerzhafte, das Verkehrte trugen den Namen einer Krankheit, eines bösen Menschen, einer schlechten Tat. Man spürte es in sich, ohne es sich einprägen zu müssen.
Ja, und es blieb das Schreiben. Beinahe hätte sie in ihrer Aufzählung die angeblich schönen Stunden des Romaneschreibens ausgelassen: Für sie blieb das Schreiben unabhängig vom Erfolg harte Arbeit, ständiges Zweifeln, ein Unzulänglichkeitsgefühl, ein ewiges Schwitzen beim Aufstieg und ein kurzes Glück, wenn das Buch angenommen wurde. Sie lebte in einer Zeit, in der erwartet wird, dass man sich positiv zeigt, und sie gab sich Mühe, positiv auszusehen. Was sie oft als Lebenselixier bejubelte, war das aber für sie wirklich so existenziell? Das Lesen hatte sie als Kind beglückt, sodass sie auch Romane schreiben wollte. Hatte sie sich nicht mit diesem Wunsch etwas vorgegaukelt, eine Lebensberechtigung, vor allem in Deutschland eine fiktive Aufenthaltsgenehmigung ergattert? Vor allem: Lohnte es sich, weiter zu schreiben? Irène kannte es von vielen bekannten Schriftstellern, dass sie sich am Ende ihres Lebens nur noch wiederholten, das gleiche Buch in Schleifen schrieben und dabei immer schwächer und unsichtbarer wurden. Irène war alt geworden, litt an einer Gehirnhautentzündung, und es würde nicht anders mit ihr werden. Und: Wie viele Bücher wurden täglich auf der Welt produziert, schlechte, sehr schlechte und gute, sehr gute Bücher? Wie viele Wälder müssen dafür dran glauben, wie viele seltene Erden, um die triumphalen Bilder der Schreiberlinge aufs Tablet zu zaubern? Ehrlich gesagt, was sollte ein Büchlein mehr oder weniger auf dieser Welt? Es gab wirklich genug: zum Beispiel Vernichten von Houellebecq.
Ach, sie beherrschte perfekt die Kunst der Scheinfragen. Die Wahrheit steckte in einer anderen, sich stets wandelnden Realität, die sie immer wieder in ihre Wortnetze einfangen musste: Wenn sie spazieren ging und das satte Grün der Wiese im Frühjahr sie für sich einnahm oder wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und sich über eine schwarze Lache zu einem Zweig Schwarzdorn streckte, um dessen Duft einzuatmen, oder wenn sie beim Vorbeigehen den Blick einer anderen Spaziergängerin kreuzte, die einen Kinderwagen schob und ihr ein verstohlenes Lächeln zuwarf, oder wenn sie eine Zeile las, die sie zu einer eigenen Idee verführte, ja, sie ließ die Einfälle, die Eindrücke, die Gerüche und Visionen in sich absinken, die der Tag ihr schickte, der Tag mit dem kapriziösen Relief und den kurvenreichen Wegen, und alle Partikeln dieser Dinge, real oder abstrakt, hauchten sie an und wollten aufs Papier ausgeatmet werden. Die Welt war für sie doppelt, das Leben brauchte eine Durchschrift und wurde sinnlos, wenn es seine papierenen Projektionen nicht entrollen durfte. Sie musste schreiben. Und sie musste jetzt gegen die Krankheit anschreiben, damit ihr Leben nicht ganz seine Beschaffenheit verlor.
Ihre Bettnachbarin lag wie aufgebahrt und zurechtgemacht, blass und die Arme auf dem Brustkorb gekreuzt. Der Besuch ihres Freundes hatte sie ermattet. Irène legte sich auch hin und sackte in ihre Trübsal. Sie nahm später den Deckel vom Abendessen ab, ein kaltes Zeug. Sie ekelte sich vor zwei toten Scheiben Schinkenwurst und einem fahlen Stück Käse, pickte sich eine saure Gurke heraus, biss in ein Knäckebrot, machte den Deckel zu und ließ Tränen und Rotz ins Kopfkissen sickern.
