IN GOTTES NAMEN? - Stephan F. - E-Book

IN GOTTES NAMEN? E-Book

Stephan F.

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Beschreibung

In welche Familie ein Kind hineingeboren wird, ist purer Zufall – ein Zufall, der zu einem tragischen Schicksal werden kann. Wenn die betreffende Familie nämlich von einem Vater beherrscht wird, der sich seiner Frau und seinen 19 (!) Kindern gegenüber regelmäßig gewalttätig verhält, sadistische Neigungen auslebt und dies alles im Namen Gottes tut, während die Mutter zur Mittäterin wird, weil sie der eigenen Opferrolle nicht entkommen kann, wird es praktisch unmöglich, unbeschadet aufzuwachsen. Psychische Unterdrückung, verbale Erniedrigungen, physische Angriffe und Vernachlässigung in Bezug auf die Ernährung, die medizinische Versorgung und die Schulbildung standen an Stephan F.s Tagesordnung, als dieser ein kleiner Junge war. Seine Geschwister und er wohnten auf kleinstem Raum und unter untragbaren Bedingungen, was die sanitären Anlagen betrifft, durften keinen Kontakt zur Außenwelt haben, kannten Schule weitgehend nur in der Form des Heimunterrichts, hatten stets zu wenig zu essen und fühlten sich in einem Wien und Niederösterreich der 70er- und 80er-Jahre mit alldem alleingelassen. Wie Stephan F. es schließlich als junger Mann geschafft hat, dieser Familienhölle zu entkommen, was ihm geholfen hat, trotz der dramatischen Erfahrungen, die seinen Alltag ausgemacht haben, niemals aufzugeben und um ein lebenswertes Dasein zu kämpfen, erzählt er "IN GOTTES NAMEN?". In seiner Biografie beleuchtet er auf äußerst intime Weise den Tatbestand "Autoritätsmissbrauch", berichtet von einer schiefen Optik seines Familienlebens nach außen und der scheinbaren Legitimität, mit der es seinem tyrannischen Vater möglich war, jahrelang dafür zu sorgen, dass seine Nachkommen von der Welt abgeschnitten in schier unvorstellbaren Verhältnissen aufwachsen mussten. Er hinterfragt ferner, ob die Wertigkeit von Kindern aus der Sicht verschiedener Institutionen bestimmt werden sollte und sieht sich als Eisbrecher für ein nach wie vor weitgehend tabuisiertes Thema in unserer Gesellschaft, das uns letztlich alle angeht.

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Für all die Kinder, die nicht für sich selbst einstehen können.

Stephan F.

Inhalt

Väterliche Gefahr

Wie viel ist Kindern zumutbar?

Die Geschichte einer geraubten Kindheit beginnt

Wenn sogar die eigene Notdurft verrichten zu müssen zur Tortur wird

Der Vater, der Tyrann

Die Mutter, die Verräterin

Ein Dorf beschließt, geschlossen wegzusehen

Schule als Hoffnungsschimmer und erstes Tor zur Außenwelt

Lernen als lebenslange Herausforderung

Erste Ansätze von Freiheit in der Großstadt

Kein Entkommen in Kanada

Zurück in Wien

Laaben – ein kleines Stück vom Glück

Die Flucht der gefallenen Kinder – ein Befreiungsschlag

Dem Wolf im Schafspelz entkommen – das Leben nach der Hölle

Der Versuch, den alten Schmerz zu verarbeiten

Kein Schweigen mehr!

Späte (mediale) Aufmerksamkeit

Die Schwierigkeit, ein normales Leben zu führen

Prägungen, denen nicht entkommen werden kann

Mein Vater, der Peiniger, und meine Mutter, die Hörige – der Versuch einer Erklärung

Wahre Werte

Ein Appell als Nachwort: Kindheit darf keine Qual sein!

Väterliche Gefahr 1

Justiz. Kein Ende im Fall F. Der „geisteskranke“ und „erziehungsunfähige“ Vater sorgt nach wie vor für drei seiner 19 Kinder. Das Gericht prüft, ob das gefährdend ist.

Wenn Familie F. abends um den Küchentisch sitzt, ist ihre kleine Welt in Ordnung. Pascal und Simone, die zwei Kleinsten, dürfen Hustenbonbons naschen, Carina geht ins Wohnzimmer malen, die Eltern erzählen, daß die Kinder allesamt sehr brav seien. Die 60-Quadratmeter-Wohnung in Wien-Mariahilf ist für fünf Personen etwas klein, doch daran haben sich alle gewöhnt. Warmes Wasser gibt es nur vom Herd, die Kleidung drückt Ordentlichkeit und Geldmangel aus.

Ein ganz normales Familienleben, ein Familienidyll und eine Familientragödie sehen an der Oberfläche oft gleich aus. Die Familie F. könnte dem Anschein nach eine normale Familie sein, vielleicht sogar eine glückliche, aber vieles spricht dafür, daß es das beste wäre, der Staat würde einschreiten und den Familienverband sprengen. Das fordern einige der mittlerweile erwachsenen Kinder des Ehepaares F. Sie wollen ihre Geschwister herausholen aus der Situation, die sie selbst kennengelernt haben und die sie als „psychischen Mißbrauch“ beschreiben.

Schon 1977 mischte sich erstmals ein Gericht in das Familienleben ein. Die älteste Tochter wurde den Großeltern mütterlicherseits zur Erziehung anvertraut. 1989 schließlich entscheidet das Jugendgericht, daß neun weitere minderjährige Kinder des Ehepaares F. in die Pflege und Erziehung von vier bereits volljährigen Geschwistern eingewiesen werden. Nur Pascal, Susanne und Carina, die drei jüngsten der insgesamt 19 Kinder, bleiben bei ihren Eltern. Die Familie ist zerrissen. Die Geschwister, die ihr Elternhaus verlassen durften, empfinden ein Gefühl der Befreiung.

In einer ORF-Dokumentation vor etwas mehr als einem Jahr [Anmerkung: Ausstrahlungstermin war der 29. November 1996] berichten sie, daß sie vom Vater körperlich und seelisch mißhandelt worden seien: völlige Isolation von der Außenwelt, statt Schulbesuch Heimunterricht durch den Vater, ein durch katholischen Fundamentalismus gekennzeichnetes Erziehungsregime, Schläge, stundenlanges Knien.

Angst um Geschwister.

Vor zwei Jahren reiste das Ehepaar F. mitsamt den drei verbliebenen Kindern nach Kanada. Die älteren Kinder sahen das als Alarmsignal und schalteten Polizei, Jugendamt und Gericht ein. Sie erinnerten sich an die erste Kanadareise und an die Träume des Vaters, in der Wildnis, fernab der modernen Gesellschaft zu leben.

Die Familie kehrt nach Österreich zurück. Seither verlangen die älteren Geschwister das Besuchsrecht und die Obsorge von Carina, Pascal und Susanne. Der Antrag wird zunächst vom Gericht abgelehnt, das Urteil in zweiter Instanz aufgehoben und der Fall zurück an das Erstgericht verwiesen.

Die drei Schwestern Melitta, Amalia und Angelika, die Carina, Pascal und Susanne in ihre Obsorge aufnehmen wollen, haben Angst um ihre jüngeren Geschwister. Melitta erinnert sich, wie schwierig es war, sich in der Welt draußen zurechtzufinden. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet.“ Soziale Kontakte kannten sie nur innerhalb der Familie, telefonieren, Popmusik, alles war neu.

Melitta nahm 1989 ihre minderjährige Schwester Angelika in Obsorge. In einer Art Kettenreaktion wurden die jüngeren Geschwister von den älteren mitgerissen, sich aus der sektiererischen Welt ihrer Eltern zu befreien. Heute wirken die drei Frauen ausgeglichen und lebenstüchtig. Aber sie verheimlichen nicht, daß ihre Vergangenheit ihnen immer noch Probleme bereitet. „Manchmal kommen Gefühle hoch von früher, wie Erinnerungen, mit denen ich nichts anzufangen weiß, aber mit denen ich fertig werden muß“, sagt Amalia.

Wahnsystem.

Die Frauen wissen, wie schwer es ist, anderen ihre Sorgen um ihre jüngeren Geschwister klarzumachen. Gerade weil sie selbst es geschafft haben, liegt der Schluß nahe, daß die Erziehung nicht so schlecht gewesen sein könne. „Wenn wir im Leben gescheitert wären, obdachlos, drogensüchtig oder asozial, würde man uns wahrscheinlich eher glauben“, vermutet Melitta. So können sie nur ihre Ängste wiederholen: „Unsere Geschwister werden psychisch mißhandelt. Auch wenn sie es selbst noch nicht ahnen. Wir wissen, welches Leid auf sie zukommen wird.“

Der Psychiater Max Friedrich, der vom Gericht als Gutachter beauftragt wurde, einen Befund über die Familie F. zu erstellen, muß nicht mit diffusen Ängsten argumentieren. Er findet in seinem Gutachten klare Worte: „Ein weiterer Verbleib in der Obhut des Vaters führt zu weiterer Schädigung der Kinder, weshalb dem Kindesvater die Obsorge aus medizinischer Sicht zu entziehen ist.“ Vater und Mutter werden als erziehungsuntüchtig beschrieben. Der Vater weist laut Friedrich ein „paranoides Wahnsystem“ auf, das alle Kriterien einer Psychose erfüllt. Die Mutter identifiziere sich intensiv mit dem „wahnhaften, kranken“ Gatten.

Dennoch zögert das Gericht. Schließlich reicht Psychiater Friedrich „aufgrund mehrerer Interventionen“ eine Ergänzung zu seinem Gutachten nach, in der er die bereits diagnostizierte Persönlichkeitsentwicklungsstörung der Kinder als „keine aufnahmepflichtige Erkrankung“ bezeichnet. In einem nicht signierten Aktenvermerk wird Friedrich mit der Ansicht wiedergegeben, er trete für eine Abklärung ein, ob bei den Kindern eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung vorliegt. Der Richter kommt angesichts der nachträglichen Anmerkungen zu dem Schluß, erst ein neuerliches ergänzendes Gutachten von Max Friedrich könne eine endgültige Interpretation liefern, ob und gegebenenfalls wer in welchem Ausmaß gestört sei. Andrea Wukovits, die Anwältin der erwachsenen Kinder, drängt hingegen auf eine rasche Entscheidung: „Das Gutachten ist eindeutig, wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Besonders für Carina, die in die Pubertät kommt, wäre es wichtig, sie möglichst rasch in ein neues Umfeld zu bringen.“

Hinter dem Zögern des Gerichts könnte sich Unsicherheit verbergen, die dadurch ausgelöst wird, daß die behaupteten Mißhandlungen an den Kindern nicht so einfach greifbar sind wie körperliche Gewalt. Dazu kommt, daß der Anschein normaler Erziehung gewahrt ist. Susanne, Pascal und Carina sind Vorzugsschüler, die beiden letzteren bereits im Gymnasium. Sie sind höflich, lächeln, fallen ihren Eltern nicht ins Wort, Carina malt leidenschaftlich gern Tierbilder. Sie lieben ihre Eltern und wollen nicht von ihnen weg, sagen sie. Nicht ins Heim und auch nicht zu ihren Geschwistern, die sie gar nicht kennen.

Die Kinder werden von äußeren Einflüssen ferngehalten. Sie dürfen zur Schule gehen, doch Kontakte mit anderen Kindern am Nachmittag werden unterbunden. Gutachter Friedrich stellt fest, die Kinder seien emotional und sozial nicht ihrem Lebensalter entsprechend gereift. Sie wirkten gedrillt, gehorsamsverpflichtet und unsicher. Herr F. erklärt, daß er seine Kinder nicht zu fremden Leuten schicken könne. Da er selbst so gut wie keine Bekannten außerhalb der Familie hat, gelten eben alle als fremde Leute.

Weltfremd.

Die Lehrer klagen darüber, daß die Kinder weltfremd erzogen seien und sich nicht kindgerecht verhielten. Maria Jindra, Direktorin der Volksschule, in der Susanne die letzte Klasse besucht, bestätigt, daß den Kindern eine seltsame Sicht der Welt vermittelt werde. „Wenn es darum geht, sie auf das spätere Leben vorzubereiten, sollten die Kinder besser raus aus der Familie.“ Andererseits, so Jindra, seien sie gut gepflegt und ernährt und wirkten nicht unglücklich.

Das Jugendamt teilt mit, daß es gut mit den Eltern zusammenarbeite, diese kontrolliere und daß keine akute Gefährdung der Kinder bestehe. Es gebe keinen Verdacht auf Mißhandlungen.

Die ordentlichen, braven, intelligenten Kinder beklagen sich nicht, daß sie keine Freunde haben können. Sie akzeptieren ihren Vater, wie er ist. Wie sollen sie wissen, daß er laut Gutachter Friedrich „geisteskrank“ ist? Der 63jährige Hochbauingenieur, der seinen Beruf nie ausgeübt hat, zimmert sich Verschwörungstheorien zusammen. Beim Bau der UNO-City habe man seine Patente verwertet und ihn um sein Geld geprellt. Da stehe jemand dahinter, der vielleicht auch seine erwachsenen Kinder manipulierte, bis die ihm seine letzten Kinder wegnehmen wollen.

Der Mann hat eben einen Herzanfall hinter sich, wirkt etwas müde, aber intellektuell fit. Das Alter hat ihn sanfter werden lassen. Vielleicht spielt bei dem bevorstehenden Gerichtsentscheid Mitleid mit dem alten Mann eine Rolle. Soll man ihm die letzten Kinder wegnehmen? Er ist geisteskrank und erziehungsunfähig. Aber das weiß nur der Gutachter. Die Kinder werden es erst später erfahren. Möglicherweise am eigenen Leib.

Strenge oder Folter?

19 mißhandelte Kinder? Ein Richter zweifelt, läßt drei davon vielleicht zu Recht bei den Eltern, aber seine Entscheidung wird aufgehoben: Er hat geschlampt.

Nach dem Tumor-Mädchen Olivia und dem Kistenkind Maria geht ein neuer Film ab: Die 19 mißhandelten Kinder der Wiener Familie F. spielen die Hauptrollen im jüngsten Justiz-Porno. Besser gesagt, die drei jüngsten der Geschwister. Das Drehbuch: Ein schwachsichtiger Richter überläßt sie den entmenschten Eltern zur weiteren Mißhandlung. Und das, obwohl genau deshalb die ältesten der anderen 16 schon vor Jahren das Sorgerecht für die Jüngeren ertrotzt hatten.

Pornos gehen direkt in den Bauch und lassen kaum Fragen offen. Jeder weiß, wo‘s langgeht. Ob die Darstellung auch stimmt, ob sie wenigstens wahrscheinlich ist, fragt sich kaum jemand. Diesfalls ein Mangel, denn es geht um eine Kernfrage von Staat und Familie: Wieviel Autonomie und Abweichung hält die Gesellschaft aus? Tatsächlich sind die Eltern F. Außenseiter, der Vater ein wirrer Ingenieur, paranoid verstrickt in fruchtlose Patent-Prozesse und religiösen Wahn.

Österreich, so sagt er, wird noch 1996 untergehen. Seine Rettungsversuche für die Familie würden durch den Staat unterbunden, der auch seine Söhne unfruchtbar machen wolle. Seine Gewalttätigkeit gegenüber den Kindern ist verbrieft und durch das Urteil der 16 ältesten Kinder in der wahren Dimension abzuschätzen.

Nicht nur körperliche Gewalt: 1988 bekommen die Erwachsenen unter den F.-Kindern das Sorgerecht für ihre minderjährigen Geschwister, weil die in jeder Weise isoliert, mißhandelt, unter mittelalterlicher Hygiene und in bitterster Not aufwachsen. Kein Außenkontakt, kein TV, kein Bad und Warmwasser in der 60 Quadratmeter kleinen Wohnung in der Wiener Mariahilfer Straße. Kaum Spielzeug, Bücher und Zeitschriften werden zensuriert.

Die Ehefrau aus bürgerlichem Haus hat der alttestamentarischen Härte nicht einmal die Empfängnisverhütung entgegenzusetzen. Den sozialen Abstieg bremst nur ihre Mitgift. Der Mann arbeitet nicht; er widmet sich zur Gänze den Kindern. Nur die drei Jüngsten besuchen die Schule. Alle anderen hatten häuslichen Unterricht – so wie ihre jungen Geschwister übrigens mit hervorragendem Erfolg. Die Berichte von „versäumter Schulausbildung“ sind ebenso Erfindung wie der pauschale Vorwurf, Sozial- und Jugendamt hätten „immer nur weggeschaut“. Heute ist nahezu alles verbraucht; wovon die Eheleute mit den drei Kindern zwischen acht und 13 Jahren heute leben, ist unklar. Das war im November dieses Jahres eine wesentliche – und falsch beantwortete – Frage, als ein Richter am Wiener Jugendgerichtshof den Antrag von acht älteren Geschwistern ablehnte, den Eltern nun auch die drei jüngsten abzunehmen. Sie lebten von Ersparnissen, Familienbeihilfe und Notstandshilfe, hatten sie erklärt. Der Richter nahm das wie vieles andere ungeprüft hin. Tatsache ist aber, daß sie nur über knapp 6000 Schilling Familienbeihilfe verfügen.

An diesem Punkt macht die Anwältin der älteren Geschwister ihre Kritik am Richter beispielhaft fest: „Ich bin schon aus guten politischen Gründen die letzte, die ein von der Norm abweichendes Familienleben als Grund sieht, jemandem gleich seine Kinder wegzunehmen“, sagt Andrea Wukovits. „Aber daß ein Richter die Abweichung von der Norm nicht hinterfragt, daß er gegen den Akteninhalt entscheidet, ohne ein einziges Gutachten über den Zustand von Eltern und Kindern, das geht nicht an.“

Diese Darstellung skizziert den Fall, wie er wirklich ist: trotz scheußlicher Einzelheiten keineswegs so klar, wie er medial getrommelt wird. Die Kritik an der Entscheidung kann sich nur darauf beziehen, daß über Erziehungsfähigkeit der Eltern und Entwicklungsstand der Kinder nicht genug Klarheit geschaffen wurde. Dies sind aber zentrale Fragen. Deshalb bleibt dem Berufungssenat am Jugendgerichtshof gar nichts anderes übrig, als sie aufzuheben. Der Richter glaubte nämlich schon nach 15 Minuten Gespräch mit den Kindern genug über sie zu wissen: Sie machten auf ihn einen wohlerzogenen Eindruck. Das haben Richter oft gern. Als die dann noch sagten, sie würden keineswegs geschlagen, sie seien glücklich zu Hause und wollten unter keinen Umständen zu den – ihnen übrigens fast ganz unbekannten – Geschwistern, war die Entscheidung gefallen: Die Kinder bleiben bei den Eltern; ihre Geschwister bekommen nicht einmal ein Besuchsrecht. Wenn die Kinder die Wahrheit gesagt haben, entsprechen alle diese Entscheidungen der üblichen Rechtsprechung – und sind auch richtig im Sinne von vernünftig. Bloß wurden im Justiz-Porno der Medien die Begründungen des Richters dafür ebenso unterschlagen wie die gleichlautende Empfehlung des Jugendamtes. Diese Gründe markieren die Linie, die dem Staat von der Justiz vorgegeben wird, wenn es um Eingriffe ins Familienleben geht: Das Recht auf ungestörtes Familienleben verwirkt nicht schon, wer seine Kinder als Außenseiter, in Armut oder Beengung aller Arten aufwachsen läßt. Der ungestörte Kontakt von Kindern und Eltern ist wichtiger als die Ansichten einer Mehrheit über Erziehungsmethoden, Auftreten und Ansichten. Der Richter hielt im Fall der Familie F. fest, daß es eine offenkundig enge Bindung zwischen Kindern und Eltern und keine Anzeichen gebe, daß das von gängiger Auffassung abweichende „strikte Erziehungsreglement“ der Eltern die Kinder verstört oder sonst sichtbar schädigt. Und die Kinder wollen bleiben. Nicht zu vergessen, daß sich die „alten“ und „jungen“ Geschwister kaum (mehr) kennen. Es gebe (entgegen den Vermutungen der älteren, damals tatsächlich geschlagenen Geschwister) keinen Hinweis auf Mißhandlungen. Und man sehe zwar durchaus „gravierende Unterlassungen“ der Eltern, aber die Kinder seien keineswegs derart gefährdet, daß man nur mit ihrer Abnahme reagieren könne. Zuletzt sieht der Richter in der außerordentlich starken (und wahrscheinlich außerordentlich begründeten) Abneigung zwischen den „alten“ Kindern und den Eltern ein schweres Spannungsverhältnis, aus dem man die Kinder heraushalten müsse. Deshalb verweigere er auch das Besuchsrecht, weil es die Minderjährigen in schwere Loyalitätskonflikte stürzen müsse. Das war – bei allen ruinösen Verfahrensmängeln – eine Entscheidung für das Wohl der Kinder, nicht für das von Erwachsenen. Der Richter mag auch geschlampt und mehr Sympathie für die herben Erziehungsmethoden haben, als für diesen Fall gut war – seine prinzipiellen Überlegungen über das, was Kindern zu ersparen ist, stimmen jedenfalls. Das Gesetz hält den Rahmen dafür bewußt weit. Erstens, weil kein Einzelfall dem anderen gleicht. Zweitens sind Verstöße im Familienleben schwer meßbar. Und drittens welken Normen schnell: Was heute verbindlich gilt, kann morgen überholt oder sogar ins Gegenteil verkehrt sein. Die Spruchpraxis beweist das: Ob man ein Kind im Zweifel eher bei den jahrelang vertrauten Pflegeeltern läßt oder auch nach sechs Jahren der plötzlich wieder auftauchenden Mutter zuspricht, dazu gibt es wahre Meinungs-Konjunkturen. (Nur der OGH ist dauernd für die „wahre“ Mutter.) Bei Sekten taucht das Problem der 19 Kinder zugespitzt auf: Ab wann ist eine strenge (religiöse) Erziehung untersagbar? Was sagt der OGH zu einem islamischen Mädchen, das sich gegen Tschador und brüderliche Befehlsgewalt wehrt? Die Antwort gibt das Gesetz: Erziehung darf die persönliche Entwicklung nicht beeinträchtigen. Deutlich zeigt der Begriff vom „Kindeswohl“, wie brüchig unsere Konventionen dazu sind: Wenn die Pilhars ihre schwerkranke Olivia durch halb Europa zerren und dabei halb umbringen, regen sich alle auf. Tut ein gut katholisches Ehepaar dasselbe und schleppt sein krebskrankes Kind nach Lourdes, finden es alle in Ordnung.

1Treichler, Robert: „Väterliche Gefahr“, in: „profil“ Nr. 52/97, 20. Dezember 1997, S. 89.Zur Erklärung: Diese Reportage wurde trotz der Rechtschreibreform im Jahr 1996 noch in der alten deutschen Rechtschreibung verfasst und ist deshalb auch genau so und inklusive der Rechtschreibfehler hier übernommen worden, um den Gesetzen des Zitierens zu entsprechen.

Wie viel ist Kindern zumutbar?

Ein gewalttätiger Vater, eine Mutter, die zusieht und den tyrannischen Vater sogar noch unterstützt, und neunzehn hilflose Kinder, die unter unvorstellbaren Umständen aufwachsen müssen – das beschreibt kurz zusammengefasst, welche Art Kindheit ich erleben musste: Es war ein nicht enden wollendes Martyrium. Tag für Tag. Meine Eltern waren arbeitslos und streng katholisch – wobei sie die Bibel und die Religion an sich so ausgelegt haben, wie es ihnen in den Kram passte. Und das war nicht zu unserem Vorteil …

So war ich von Beginn an ein Kind mit zersplitterter Seele. Dennoch gab es immer wieder Hoffnungsschimmer und Seifenblasen, die ich mir nicht habe nehmen lassen – denn der Mensch hat einen starken Überlebenswillen. Allerdings war es mir erst im erwachsenen Alter möglich, zu hinterfragen, wie viel einem Menschen tatsächlich zumutbar ist, weil ich als Kind derart konditioniert worden war, dass mir freies Denken gänzlich verwehrt wurde. Außerdem ist von Seiten meiner Eltern ein Austausch mit familienfremden Personen weitgehend verhindert worden, was es nicht einfacher gemacht hat, da es mir dadurch gänzlich verwehrt geblieben ist, ein klares Bild von Grenzen und von „richtig und falsch“ zu erhalten.

Als erwachsener Mann konnte ich dann endlich alles durchleuchten und auf den Punkt bringen, was geschehen war: Gegen meine Geschwister und mich ist während unserer gesamten Kindheit Missbrauch auf beinahe allen Ebenen verübt worden. Einige Menschen aus unserer Umgebung müssen das auch geahnt oder sogar aktiv mitbekommen haben. Doch Kinderfeindlichkeit und gewaltvolle Erziehungsmethoden waren zu dieser Zeit noch durchaus geduldete Gesinnungen, ja die Züchtigung von Minderjährigen war damals ein gängiges Mittel, um eigenen und fremden Kindern Herr zu werden und sie einem untertan zu machen. Das schien sich durch sämtliche Bevölkerungsschichten zu ziehen. Auf diese Weise konnte jede Konfession oder Partei ihre eigenen Unterdrückten heranziehen. Meines Erachtens erreichte die Nazizeit durch ihren ihr innewohnenden verlängerten Arm nicht nur Familien, Schulen und Heime – gleichgültig, ob nun staatlich oder kirchlich organisiert –, sondern auch die österreichische Politik. Darum wohl sahen die meisten weg, darum wohl setzte sich lange Zeit niemand für uns ein.

Obwohl es eine Unzahl unaufgeklärter Fälle gibt, sterben Wiederholungstäter oder Sympathisanten dieser zerstörerischen Erziehungsstile nicht aus. Das hat furchtbare Folgen und Nachwirkungen für die Betroffenen und damit Auswirkungen auf unsere gesamte Gesellschaft. Viele Betroffene stammen aus sozial schwachen Familien, was wiederum die Möglichkeiten, später auf elitären Posten Platz zu nehmen, stark einschränkt. Obwohl in der jüngsten Vergangenheit vermehrt international gerügt, erhält nur ein auffallend geringer Teil aus den „schlechteren Schichten“ die Chance auf eine gute Ausbildung. Meiner Erfahrung nach ist das nicht nur so, weil es am Geld mangelt, sondern weil benachteiligten Jugendlichen die Förderer und Netzwerker fehlen.

Es stimmt mich unendlich traurig, wie wir Menschen miteinander umgehen – schließlich leben wir nur einmal! Geld ist meiner Erfahrung nach nicht immer notwendig, um unseren Nächsten Gutes zu tun, sehr wohl aber sind Zeit und Empathie Grundpfeiler für ein gesundes Miteinander, speziell gegenüber Kindern und jungen Erwachsenen. Ein Mantel aus Liebe, Fürsorge und Geborgenheit hätte mir im Aufwachsen Sicherheit gegeben. Und das wiederum hätte meinem Selbstwert bessere Entwicklungsmöglichkeiten geboten. Heute weiß ich: Ein gesundes Selbstwertgefühl ist eine notwendige Basis für seelisches Gedeihen.

Ich wurde einmal in einer offenen Gesprächsrunde gefragt, wie ich mich fühle. Ich beschrieb mich als einen hohlen Baum. Nachträglich ergibt dieser Gedanke durchaus Sinn, weil in mir ständig das Gefühl hochkommt, wichtige Entwicklungsbrücken verpasst zu haben: Urvertrauen, Freude, Empathie, Perspektiven, Liebe und Herzlichkeit, Zuneigung und Wärme – im Grunde alles, was ein Mensch für sein Aufwachsen benötigt! Vielleicht passt dazu das Bild eines blinden inneren Kindes, weil das, was es sieht oder wahrnimmt, keine Gültigkeit hat. Einem Kind zu vermitteln, es sei nicht „in Ordnung“, empfinde ich als einen schweren Frevel. Die Erfahrungen während meiner Kindheit zwingt mich bis heute, laufend nach Methoden zu suchen, um diesem leeren Kapitel in meiner Seele einen Inhalt zu geben. Trotzdem fühlt es sich teilweise wie verlorene Liebesmüh an, denn im Vergleich zu anderen Menschen erkenne ich immer wieder einen gewaltigen Entwicklungsrückstand in manchen Bereichen, der mir schlicht nicht nachholbar erscheint. Ganz simpel auf den Punkt gebracht betrifft das nicht nur meinen Beziehungsstatus, sondern prinzipiell meine Unfähigkeit, lieben zu können, ohne mir ständig Fragen der Unsicherheit zu stellen.

Mehrere Gründe haben mich dazu bewegt, unsere Kindheitsgeschichte als Buch veröffentlichen zu wollen, doch ein Faktum liegt mir besonders im Magen: dass ich nicht der Einzige war und bin, der solch ein Martyrium durchmachen musste. Mit diesem Buch möchte ich allen unterdrückten und misshandelten Kindern meine Stimme leihen – damit ausgesprochen wird, worum es geht, ein Bild entstehen kann, wie ein solches Leben aussieht. Unterstützt hat mich dabei meine Schwester Amalia, die Ihnen, liebe Leser und Leserinnen, ebenfalls Einblick in ihre Erinnerungen gewähren wird. Von Zeit zu Zeit werden Sie darum eingefügte Textpassagen vorfinden, die unsere Kindheit aus ihrer Sicht sowie ihre persönlichen Erlebnisse schildern. Zum Schutz der Privatsphäre meiner Geschwister wurden übrigens alle Namen in diesem Buch geändert.

Die Geschichte einer geraubten Kindheit beginnt

Es fällt mir nicht leicht, von mir und meiner Kindheit zu erzählen, denn ich erkenne mich in dem kleinen Buben von damals nicht wieder, weil ich mich zum Glück zu einem halbwegs gesunden Menschen entwickelt habe. Ich wundere mich auch immer noch darüber, wie ich das überhaupt alles überleben konnte … Das einzig Schöne aus der Vergangenheit, das mich bis heute begleitet, ist mein Name: Ich wurde Stephan Clemens getauft und damit kann ich mich gut identifizieren. Offensichtlich war ich kein Wunschkind, sondern ein Zufallsprodukt, das aus religiösen Gründen entstehen musste. Meine Erinnerung an meine Kindheitsjahre ist mit dem Betreten eines vernebelten Raumes vergleichbar, in dem viel Leid und Schmerz verursacht wurde – und all das überschattet von ständiger Angst. Ja, die Angst ist mir ein wahrlich treuer Begleiter, der durch die Kälte einiger Menschen teilweise bis heute an meiner Seite verweilt.