In Knochen geätzt - Anne Bishop - E-Book

In Knochen geätzt E-Book

Anne Bishop

5,0

Beschreibung

Nachdem die Alten viele der menschlichen Städte gesäubert und zurückerobert haben, müssen Simon und Meg mit dem menschlichen Rudel zusammenarbeiten, um den zerbrechlichen Frieden im Lakeside Courtyard aufrechtzuhalten. Ihre Bemühungen werden jedoch durch Lieutenant Montgomerys zwielichtigen Bruder bedroht, der leichte Beute wittert. Die angespannte Stimmung unter den Menschen zieht die Aufmerksamkeit der Alten auf sich, die mit Neugier verfolgen, welchen Einfluss ein unbedeutendes Raubtier auf ein Rudel haben kann. Aber Meg ist sich der Gefahr bewusst, denn die Blutprophetin hat in den Karten gesehen, wie alles enden wird – mit ihr selbst neben einem Grab.

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Anne Bishop

Ein Roman über die Anderen

Copyright © 2022 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Satz & Layout: Astrid Behrendt

Übersetzung: Nina Bellem

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski – www.alexanderkopainski.de

Bildmaterial: shutterstock.com

Titelschrift: Alexander Kopainski

Kartenreproduktion: Astrid Behrendt

www.annebishop.com

Druck: Booksfactory

Copyright © Anne Bishop 2017

Published by Arrangement with Anne Bishop

Originaltitel: Etched in Bone

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

ISBN 978-3-95991-615-8

eISBN 978-3-95991-616-5

© 2022 Drachenmond Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Band 1: In Blut geschrieben

Band 2: Krähenjagd

Band 3: Visionen in Silber

Band 4: In Fleisch gezeichnet

Band 5: In Knochen geätzt

FürAnne SowardsundJennifer Jackson

Und fürRuth »the Ruthie« StuartDu bleibst unvergessen.

Inhalt

Geografie

Lakeside

Lakeside Courtyard

Eine kurze Geschichte der Welt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Danksagung

Geografie

Namid – Die Welt

Kontinente/ Landmassen

Afrikah

Australis

Brittania /Wild Brittania

Cel-Romano/Cel Romano Allianz der Nationen

Felidae

Fingerbone Inseln

Sturm Inseln

Thaisia

Tokhar-Chin

Zelande

Die Großen Seen

Superior, Tala, Honon, Etu und Tahki

Andere Seen

Feather Lake, Finger Lake

Flüsse

Talulah / Talulah Wasserfälle

Gebirge

Addirondak

Städte oder Orte

Bennett, Endurance, Ferryman’s Landing, Hubb NE (aka Hubbney), Jerzy, Lakeside, Podunk, Prairie Gold, Ravendell, Shikago, Sparkletown, Sweetwater, Talulah Falls, Toland, Walnut Grove, Wheatfield

Wochentage

Erdtag

Mondtag

Sonnentag

Windtag

Thaistag

Feuertag

Wassertag

Lakeside

© 2012 Anne Bishop

Diese Karte wurde von einer geographisch minderbemittelten Autorin angefertigt, die nur die Teile einfügte, die sie für die Geschichte brauchte.

Lakeside Courtyard

© 2012 Anne Bishop

1. Änderungsschneiderei & Apartments

2. A Little Bite

3. Howling Good Reads

4. Run & Thump

5. Sozialzentrum

6. Garagen

7. Earth Native & Henrys Studio

8. Büro der Verbindungsperson

9. Konsulat

10. 3P

11. Angestelltenparkplatz

12. Kundenparkplatz

Eine kurze Geschichte der Welt

Vor langer Zeit gebar Namid Lebensformen aller Art, darunter auch die Lebewesen, die man Menschen nennt. Sie gab den Menschen fruchtbare Teile ihrer selbst, und sie gab ihnen gutes Wasser. Und da sie die Natur der Menschen und auch die ihrer anderen Kinder verstand, sorgte sie außerdem für ausreichende Abschirmung, um ihnen die Chance zu geben, zu überleben und zu wachsen.

Und das taten sie.

Sie lernten Feuer zu machen und Hütten zu bauen. Sie lernten das Land zu bestellen und Städte zu errichten. Sie bauten Boote und fischten im Mittelmeer und im Schwarzen Meer. Sie vermehrten sich und verbreiteten sich bis in die letzten Winkel ihrer Welt, bis sie in die wilden Gebiete vordrangen. Und dort entdeckten sie, dass die anderen Kinder Namids bereits die restliche Welt ihr Eigen nannten.

Die Anderen sahen die Menschen nicht als Eroberer. Sie sahen in ihnen eine neue Art von Beute.

Kriege wurden um den Besitz der Wildnis ausgetragen. Manchmal obsiegten die Menschen und ihre Nachkommenschaft verbreitete sich ein wenig weiter. Doch noch öfter verschwanden Teile der Zivilisation und die angsterfüllten Überlebenden versuchten, nicht jedes Mal zu erzittern, wenn in der Nacht ein Geheul aufstieg oder wenn ein Mann sich zu weit von der Sicherheit der stabilen Türen und des Lichts entfernte und man ihn am nächsten Morgen ohne Blut in den Adern wiederfand.

Jahrhunderte vergingen und die Menschen bauten größere Schiffe und segelten über den Atlantischen Ozean. Als sie dort unberührtes Land vorfanden, gründeten sie eine Siedlung am Meeresufer. Dann entdeckten sie, dass auch die Terra Indigene, die Eingeborenen der Erde, dieses Land ihr Eigen nannten. Die Anderen.

Die Terra Indigene, die diesen Kontinent beherrschten, den sie Thaisia nannten, wurden zornig, als die Menschen Bäume fällten und den Boden, der nicht ihnen gehörte, mit dem Pflug bearbeiteten. Daher aßen die Anderen die Siedler und machten sich mit der Form dieser neuen Beute vertraut, wie sie es so viele Male in der Vergangenheit getan hatten.

Die zweite Welle von Entdeckern und Siedlern kam an, fand die verlassene Siedlung und versuchte noch einmal, das Land für sich zu beanspruchen.

Die Anderen aßen auch sie.

Der Anführer der dritten Siedlerwelle jedoch war etwas schlauer als seine Vorgänger. Er bot den Anderen warme Decken und Stoffe für Kleidung sowie interessante glänzende Dinge im Austausch für die Erlaubnis, in der Siedlung leben zu dürfen, und für genug Ackerland zum Bestellen. Die Anderen betrachteten das als fairen Handel und zogen sich aus dem Gebiet zurück, das von nun an die Menschen bewohnen durften. Weitere Gaben wurden für Jagd- und Fischprivilegien ausgetauscht. Diese Vereinbarung stellte beide Seiten zufrieden, obgleich die eine Seite ihre neuen Nachbarn mit eher zähnefletschender Duldsamkeit betrachtete und die andere Seite furchtsam die Zähne zusammenbiss und dafür sorgte, dass die Ihren vor Einbruch der Nacht stets sicher hinter den Mauern der Siedlung geborgen waren.

Jahre vergingen und immer mehr Siedler trafen ein. Viele starben, doch genug Menschen gediehen und kamen zu Wohlstand. Aus Siedlungen wurden Dörfer, die zu Ortschaften und dann zu Städten wurden. Nach und nach verbreiteten sich die Menschen auf Thaisia so gut es ging über das Land, das sie betreten durften.

Jahrhunderte zogen ins Land. Die Menschen waren klug. Die Anderen auch. Die Menschen erfanden Elektrizität und sanitäre Anlagen. Die Anderen beherrschten die Flüsse, welche die Kraftwerke der Menschen antrieben, und die Seen, die frisches Trinkwasser lieferten. Die Menschen erfanden Dampfmaschinen und Zentralheizung. Die Anderen hatten die Kontrolle über den Brennstoff, der zum Betreiben der Maschinen und zum Beheizen der Gebäude nötig war. Die Menschen erfanden und produzierten Waren. Die Anderen kontrollierten die Naturreserven und entschieden dadurch, was in ihrem Teil der Welt hergestellt wurde und was nicht.

Natürlich gab es Zusammenstöße, und manche Orte wurden zu düsteren Mahnmalen für die Toten. Diese Mahnmale machten den Menschen schließlich klar, dass es die Terra Indigene waren, die Thaisia beherrschten, und dass dies bis zum Ende der Welt wohl auch so bleiben würde.

So sind wir nun in der heutigen Zeit angelangt. Kleine menschliche Dörfer stehen inmitten riesiger Landstriche, die den Anderen gehören. Und in größeren menschlichen Städten gibt es eingezäunte Parks, die sogenannten »Höfe«, in denen Andere leben, deren Aufgabe es ist, die Einwohner der Stadt im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass die Abkommen, die zwischen Menschen und Terra Indigene getroffen wurden, auch eingehalten werden.

Da ist immer noch dieselbe zähnefletschende Toleranz auf der einen Seite und die Angst vor dem, was im Dunkeln umgeht, auf der anderen. Doch sofern die Menschen vorsichtig sind, werden sie überleben.

Meistens überleben sie.

Prolog

Ende Sumor

Sie versammelten sich im Wilden Land zwischen Tala und Etu, zwei der Großen Seen, und ihre Schritte erfüllten das Land mit einer schrecklichen Stille.

Sie gehörten zu den Alten, einer urwüchsigen Form der Terra Indigene, die die wilden, unberührten Teile der Welt bewachten. Den kleineren Formen der Erd-Ureinwohner – Wandlern wie den Wölfen und Bären und Panthern – waren sie als Namids Zähne und Klauen bekannt.

Menschen – diese invasiven zweibeinigen Raubtiere – hatten den Terra Indigene den Krieg erklärt, hatten die kleineren Wandler im Wilden Land, das an Cel-Romano grenzte, getötet, ein Ort, der auf der andere Seite von Ozeans Domäne lag. Und hier in Thaisia waren so viele Wolfgard getötet worden, dass ihr Lied in ganzen Landstrichen fehlte.

Als die Menschen in Thaisia und Cel-Romano ihren Sieg über die kleineren Formen der Terra Indigene feierten, hatten die Elementarwesen und Namids Zähne und Klauen den Aufruf zum Krieg beantwortet. Sie hatten die Eindringlinge ausgemerzt und dann damit begonnen, die menschlichen Herden in beiden Teilen der Welt auszudünnen und voneinander zu isolieren.

Aber jetzt standen sie vor einem Problem.

<Einige von uns werden die Menschen überwachen müssen>, sagte das älteste Männchen, das die Reise zu diesem Ort auf sich genommen hatte. <Einige von uns werden schon von dem wenigen Kontakt vergiftet werden.> Es folgte eine kurze Stille, während sie über die Aufgabe nachdachten, die die kleineren Wandler so viele Jahre lang auf sich genommen hatten. Dann die Frage: <Wie viel Menschliches werden wir behalten?>

<Tötet sie alle!>, fauchte ein anderes Männchen. <Das ist, was die Menschen machen würden.>

<Du würdest den Nicht-Wolf vom süßen Blut töten?>, fragte ein Weibchen schockiert.

Eine schwere Stille entstand, während sie über diese Frage nachdachten.

Das süße Blut, der heulende Nicht-Wolf, hatte die Dinge im Lakeside Courtyard verändert – hatte sogar einige der Terra Indigene, die in diesem Courtyard lebten, verändert. Sie war nicht wie die menschlichen Feinde. Sie war keine Beute. Sie und ihre Art waren Namids Schöpfung, wundervoll und schrecklich zugleich.

Nein, sie konnten den Nicht-Wolf vom süßen Blut nicht töten, diejenige, die man in den Geschichten, die ihren Weg in das Wilde Land gefunden hatten und selbst die gefährlichsten Formen der Alten amüsierten, Besenmädchen nannten.

Sie kamen überein, dass alle Menschen in Thaisia zu töten nicht die Antwort war, und dachten weiter über das Problem nach, auch noch, als die Sonne unter- und der Mond aufging.

<Falls wir einigen Menschen erlauben zu bleiben, was für eine Art von Menschen soll das sein?>, fragte das älteste Männchen schließlich.

Eine andere Frage.

Eine Im-Dornenbusch-hängende-und-im-Schlamm-feststeckende-Frage. Viele der kleineren Wandler, die die menschlichen Angriffe überlebt hatten, hatten sich von den von Menschen bewohnten Orten zurückgezogen und hatten die Menschen, die dort lebten, der harten Gnade der Alten überlassen.

Einige kehrten ins Wilde Land zurück, wandten sich auch noch von der kleinsten Spur von allem Menschlichen ab, während andere entschieden, sich in den Städten niederzulassen, die zurückgefordert worden waren – Orte, an denen es menschliche Gebäude und menschliche Dinge, aber keine Menschen mehr gab.

Aber die Alten, die das Wilde Land bewachten, hielten normalerweise Abstand zu den menschlichen Städten, außer sie kamen als Namids Zähne und Klauen an diese Orte. Sie lernten nicht von den Menschen, so wie es die kleineren Wandler taten. Die Lehrgeschichten hatten ihnen beigebracht, dass es verschiedene Arten von Menschen gab, aber warum war der eine Mensch respektvoll dem Land und den gesetzten Grenzen gegenüber, während der andere tötete und das Fleisch zurückließ oder versuchte, den Gefiederten und Bepelzten die Heimat wegzunehmen? Die HFL-Menschen hatten den Terra Indigene den Krieg erklärt. Gab es noch andere Arten von Menschen, die ihre Feinde waren – andere Arten, die die Alten noch nicht erkennen konnten?

Wenn die Menschen wieder in die zurückeroberten Städte zogen, würden sie dann gegen die Wandler kämpfen, die diese Orte zu einer Heimat für die Terra Indigene machten, die die menschliche Form nicht vollkommen ablegen wollten? Aber die Erd-Ureinwohner absorbierten nicht einfach die Form eines anderen Raubtieres; sie absorbierten auch Aspekte dieses Raubtieres, Charakterzüge, die in die Form eingewoben wurden. Gab es menschliche Charaktereigenschaften, die die Terra Indigene nicht absorbieren sollten? Wo konnten sie nah genug an die Menschen herankommen, um sie zu studieren und zu lernen, was in den rückeroberten Städten nicht wieder Fuß fassen durfte?

Wie eine einzelne Gestalt wandten die Alten sich nach Nordosten, sahen in die Richtung, in der Lakeside lag.

<Dieser Courtyard wurde nicht verlassen, und er besitzt ein menschliches Rudel>, sagte das älteste Männchen.

Dort gab es auch den Wolf und den heulenden Nicht-Wolf, der so viele der Alten faszinierte. Die Geschichten, die ihren Weg in das Wilde Land fanden, mit eigenen Augen sehen zu können, war die menschliche Kontamination wert.

Sie waren alle neugierig, aber nur zwei der Alten – ein Männchen und ein Weibchen – wurden ausgewählt, um Zeit auf dem kleinen Stück Land zu verbringen, das von Menschen umringt war. Sie waren schon einmal in Lakeside gewesen, als sie als Namids Zähne und Klauen durch die nebelverhangenen Straßen geschlichen und menschliche Beute gejagt hatten.

Die Alten waren zufrieden mit ihrer Entscheidung, und die meisten von ihnen kehrten zu ihrem Zuhause im Wilden Land zurück, während die beiden, die auserwählt worden waren, um das menschliche Rudel zu studieren, ihre Reise nach Lakeside begannen.

Kapitel 1

Windtag, 1. Messis

Simon Wolfgard, Anführer des Lakeside Courtyard, konnte es kaum erwarten, seine Freunde bei einem frühen Morgenlauf zu begleiten. Er lief auf die Terra-Indigene-Wölfe zu, die Bäume und Laubhaufen als Tarnung benutzten, während sie die gepflasterte Straße beobachteten, die als Ring durch den gesamten Courtyard führte. Um genau zu sein, beobachteten sie den Mann, der in gemächlichem Tempo auf der Straße entlangfuhr.

<Das ist Kowalski>, knurrte Blair. Es war ein leises Knurren, aber der Mensch sah sich plötzlich um, als hätte er das Geräusch mit seinen kleinen Ohren gehört.

<Auf einem Fahrrad>, fügte Nathan hinzu.

<Wir haben ihm die Erlaubnis gegeben, auf den gepflasterten Straßen zu fahren>, sagte Simon. Die gebündelte Aufmerksamkeit, die sich auf einen Menschen konzentrierte, den sie ziemlich gut kannten, bereitete ihm ein wenig Sorgen.

Karl Kowalski war einer der menschlichen Officers, die direkt mit den Terra Indigene zusammenarbeiteten, um die Konflikte zwischen den Menschen und den Anderen zu minimieren. Aus dem Grund hatte man ihn schon als Wolfsliebchen beschimpft, und er hatte mehr als genug Streit mit anderen Menschen gehabt. Der letzte Zwischenfall war erst eine Woche her. Ein Auto war versehentlich ausgewichen und hätte Kowalski dabei fast überfahren, der gerade mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit gewesen war. Da die Terra Indigene das als Angriff auf ein Mitglied ihres menschlichen Rudels gesehen hatten, hatten Simon, Vladimir Sanguinati und Henry Beargard – Mitglieder der Unternehmensvereinigung des Courtyard – entschieden, dem menschlichen Rudel zu erlauben, auf den gepflasterten Straßen des Courtyard fahren zu dürfen.

Simon hatte gedacht, die Entscheidung der Unternehmensvereinigung sei allen Wölfen mitgeteilt worden – vor allem Nathan, der der Wachwolf im Verbindungsbüro war, und Blair, dem dominanten Vollstrecker des Courtyard –, aber es war das erste Mal, dass ein Mensch auf einer Straße entlangfuhr, an der noch immer das Eindringlinge-werden-gefressen-Schild als Warnung prangte.

<Fahrrad, Simon.> Blairs Knurren war dieses Mal nicht mehr so leise.

Es musste laut genug gewesen sein, dass auch menschliche Ohren es hören konnten, denn Kowalski begann ein wenig fester in die Pedale zu treten.

Oh. Fahrrad. Jetzt verstand Simon, was die Aufmerksamkeit der Wölfe in Wahrheit auf sich zog und weswegen sie so aufgeregt waren. Die Menschen waren schon ein paarmal mit ihren Fahrrädern bis zum Grünen Komplex und auch an einige andere Stellen im Courtyard gefahren, und die Wölfe waren immer von den zweirädrigen Vehikeln fasziniert gewesen. Aber bei diesen Fahrten war es darum gegangen, etwas zu transportieren. Das hier war etwas anderes.

<Eine Runde Jagen?>, fragte Jane, die Körperwandlerin der Wolfgard, hoffnungsvoll.

<Kowalski könnte die Spiel-Beute sein>, sagte Nathan.

<Weiß er, wie man Jagen spielt?>, fragte Blair.

<Er ist ein Officer>, erwiderte Nathan. <Er jagt ständig andere Menschen.>

<Was nicht bedeutet, dass er unser Spiel versteht.> Simon war sich sicher, Nathans Vorstellung von Polizeiarbeit hatte mehr mit Hoffnung und weniger mit einer akkuraten Abbildung der Realität zu tun. Dennoch, sie konnten Kowalski anbieten, mit ihm zu spielen. Falls er ablehnte, konnten sie einfach ihre Laufrunde genießen. Aber … Fahrrad. Simon wollte wirklich zu gern eins jagen. <Finden wir es heraus.>

Die Wölfe liefen die Straße entlang, Simon und Blair ganz vornweg, und sie brachten die Entfernung zwischen dem Rudel und ihrer Spiel-Beute schnell hinter sich. Aber würden sie auch spielen können?

Kowalski warf einen Blick über die Schulter. Er riss die Augen auf – und trat fester in die Pedale.

Ja!

<Wir fangen ihn nicht, wir jagen nur>, sagte Simon.

<Er ist schnell!> Jane überholte die Männchen und befand sich binnen von Sekunden auf gleicher Höhe mit dem hinteren Reifen des Fahrrads.

<Schnapp nicht nach den Reifen>, sagte Nathan. <Falls sich einer deiner Zähne in den Speichen verfängt, könntest du dir den Kiefer brechen oder Schlimmeres.>

<Ich war dabei, als Officer Karl den Welpen erklärt hat, wie gefährlich es ist, in die Reifen zu schnappen>, knurrte Jane. Nathans ungebetene Warnung hatte sie eindeutig beleidigt. Sie wurde ein wenig schneller und befand sich auf gleicher Höhe mit Kowalskis Wade.

Kowalski schielte zu Jane und radelte schneller. Anstatt über die Brücke zu fahren, die ihn zum Hawkgard-Bereich führen würde – und den Menschen auf die große Runde rund um die knapp hundertzwanzig Hektar des Courtyard geschickt hätte –, bog Kowalski auf die Straße ein, die den See der Elementarwesen umrundete und zurück zum Grünen Komplex führte.

Die Wölfe rannten, blieben aber auf Abstand, selbst als Kowalski eine Anhöhe hinauffuhr und dabei langsamer wurde. Sie wechselten sich damit ab, das Fahrrad anzutreiben und ihre Beute weiter und weiter laufen zu lassen. Beziehungsweise radeln zu lassen. Als sie die Kreuzung der Main Street des Courtyard erreichten, bog Kowalksi nach links in Richtung Grüner Komplex ab, anstatt nach rechts zum Marktplatz zu fahren.

Der Großteil des Rudels war in Trab verfallen, weil ihre Beute müde geworden war, und sie kehrten zum Wolfgard Komplex zurück. Nathan lief in Richtung des Marktplatzes und des Verbindungsbüros, wo er die Lieferanten im Auge behalten und Meg Corbyn, die menschliche Verbindungsperson des Courtyard, bewachen konnte. Simon und Blair verfolgten Kowalski, bis er den Grünen Komplex erreicht hatte. Dann lief Blair weiter zum Wirtschaftskomplex, während Simon zum Wassertrog im Gemeinschaftsbereich rannte. Dieser Bereich bildete die offene Mitte des einzigen Komplexes im Courtyard, in dem mehrere Spezies zu Hause waren. Er trank etwas Wasser, wandelte sich dann zu seiner menschlichen Form und steckte den Kopf in den Trog. Als er sich wieder aufrichtete und sich dabei das dunkle Haar aus dem Gesicht schleuderte, spritzte er dabei mit Wasser um sich. Er bespritzte sich auch die Arme und die Brust mit Wasser und grinste, als Kowalski sein Fahrrad abstellte und sich zögerlich dem Trog näherte.

»Das war eine tolle Runde Jagen«, sagte Simon glücklich. »Sie wissen, wie man sich als Spiel-Beute anstellen muss.«

»Tue ich das?«

»Ja.« Simon legte den Kopf schief, die Vorsicht des Menschen verwirrte ihn. Hatten sie nicht gerade gespielt, hatten sie nicht Spaß gehabt? »Wollen Sie etwas Wasser?«

»Danke.« Kowalski spritzte sich Wasser ins Gesicht und an den Hals und dann auf die Arme. Aber er trank nicht.

Simon dachte einen Moment lang über die Tatsache nach, dass er nichts trank. Menschen waren clevere, invasive Raubtiere, die den Terra Indigene erst kürzlich wieder gezeigt hatten, warum man ihnen nie vollkommen vertrauen konnte – sie konnten sich nicht einmal untereinander vertrauen. Aber körperlich waren sie so viel schwächer als andere Raubtiere. Dieses Nichttrinken zum Beispiel. Das Wasser im Trog war vollkommen in Ordnung. Jemand hatte das Wasser von gestern bereits gewechselt, damit den eingetopften Baum und andere Pflanzen in dem offenen Bereich gegossen und den Trog mit frischem Wasser aufgefüllt, das man trinken und mit dem man sich abkühlen konnte. Menschen tranken Wasser aus dem Brunnen, wenn es in einem Glas oder einem Eimer oder irgendeinem anderen kleinen Behälter war, aber sie konnten dasselbe Wasser nicht trinken, wenn es sich in einem Behälter befand, der unter freiem Himmel stand und an dem sich alle bedienen konnten?

Er fragte sich, wie sie als Spezies so lange hatten überleben können, um zu einem solchen Problem zu werden.

»Also, wer weiß denn nicht, wie man sich als Spiel-Beute anstellen muss?«, fragte Kowalski und rieb sich mit der Hand über das Gesicht.

»Das weibliche Rudel. Jedes Mal, wenn wir sie einladen zu spielen, steigen sie von ihren Fahrrädern und fragen, ob sie uns helfen können.« Simon spreizte die Arme in einer Was-soll-das-Geste aus. Dann deutete er auf Kowalski. »Aber Sie haben uns eingeladen zu spielen, und wir alle hatten einen guten Lauf.«

Kowalski lachte leise und schnaubend. »Na ja, ich hatte ganz sicher einen guten Lauf.«

»Da die Weibchen nicht so weit oder so schnell wie Sie radeln können, können Sie vielleicht mit den Welpen Jagen spielen.« So konnten die Welpen lernen, wie man als Rudel rannte, ohne das Risiko, von echter Beute getreten zu werden.

Simon musterte Kowalski, der wiederum ihn musterte.

»Ich spreche mit Ruthie darüber«, sagte Kowalski schließlich.

Sie hörten beide das Klimpern von Gläsern und sahen zu dem abgeschirmten Wintergarten, der sich unterhalb von Meg Corbyns Wohnung befand.

»Muss später sein, als ich dachte«, sagte Kowalski. »Ich sollte besser nach Hause gehen und mich vor der Arbeit sauber machen.«

Simon sah dem Mann nach, als er zu seinem Fahrrad ging – und zum Wintergarten. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Kowalski reingehen und mit Meg reden, und Simon spürte, wie seine Zähne auf Wolfsgröße anwuchsen und seine Lippen sich zu einem stummen Knurren verzogen. Aber Kowalski hob nur grüßend seine Hand, sagte »Morgen, Meg« und fuhr davon.

Simon umrundete den Trog, blieb dann aber abrupt stehen, als ihm auffiel, dass er in seiner menschlichen Form nackt war- Das war nie ein Problem gewesen, bis Meg in den Courtyard gekommen war. Aber Menschen reagierten auf verschiedene Weisen, wenn sie einander ohne Kleidung sahen, selbst wenn Kleidung weder zum Schutz noch zum Wärmespenden benötigt wurde. Meg hatte sich ganz gut daran gewöhnt, dass ihre Freunde sich zu ihrer menschlichen Form wandelten, um ihr eine Nachricht zu überbringen oder eine Frage zu beantworten, bevor sie sich wieder in ihre bevorzugte fellige oder gefiederte Form zurückverwandelten, aber bei ihm war es etwas anderes – möglicherweise weil ihre Freundschaft sich von denen unterschied, die sie mit den Menschen oder den Terra Indigene führte.

In den meisten Nächten schlief er in seiner Wolfsform bei ihr. Sie hatten beide ihre eigenen Wohnungen, aber diese waren mit dem Wintergarten und einer Treppe verbunden, die in den oberen Flur führte, und so wurden sie mehr und mehr zu einem gemeinsamen Bau statt zwei einzelnen. Aber sie waren nicht auf dieselbe Weise Gefährten, wie es Kowalski und Ruthie waren. Allerdings paarten Terra-Indigene-Wölfe sich auch nur einmal im Jahr, wenn die Weibchen läufig wurden. Meg blutete, wie es menschliche Weibchen taten, aber sie hatte bisher kein Interesse an einem Liebhaber gezeigt. Abgesehen von …

Vor ein paar Wochen hatte sie ihn gefragt, ob er mit ihr zum Nacktbaden gehen würde. Sie war nervös gewesen, weil sie zusammen im Wasser waren, und hatte sogar ängstlich gewirkt, nachdem er die Narbe, die auf der rechten Seite ihres Kiefers prangte, geküsst hatte – eine Narbe, die von dem Schnitt herrührte, der die Wolfgard in Lakeside und viele andere Wölfe überall in der nordöstlichen Region und sogar noch darüber hinaus gerettet hatte.

Er hatte sie schon früher geküsst – ein- oder zweimal auf die Stirn. Aber als er diese Narbe geküsst hatte, hatte er das Aufflackern von Veränderung in sich gespürt, und in den darauffolgenden Tagen begann er auf instinktive Weise zu verstehen, dass er nicht mehr ganz so war wie die übrigen Lakeside Wolfgard. Nicht mehr.

Nach dem Kuss hatte er, nicht nur Meg zuliebe, vorgeschlagen, dass sie ein Wolfsspiel spielen, obwohl sie beide menschlich aussahen. Danach hatte sie keine Angst mehr gehabt. Und seitdem … Na ja, ihm war aufgefallen, dass menschliche Männer an Sommertagen wie diesem fast kaum etwas in und um ihre Baue herum trugen und sich niemand daran störte.

»Oben ist es heiß«, sagte Meg und wurde nicht lauter, weil sie das auch nicht musste. Seine Ohren mochten menschlich aussehen, aber er war noch immer ein Wolf und konnte sie sehr gut hören. »Ich habe etwas zum Essen runtergebracht, als Frühstück.«

»Ich gehe mich schnell duschen und komme dann dazu.«

Er eilte ins Innere des Gebäudes und die Treppe hinauf zum Badezimmer in seiner Wohnung. Haar und Körper zu waschen brauchte nicht lang, aber er stand unter der Dusche und genoss das kühle Wasser, das auf ihn niederprasselte, während er über das komplizierte Wesen nachdachte, das Meg Corbyn darstellte.

Er hatte sie in den Courtyard gebracht, hatte ihr den Job als menschliche Verbindungsperson angeboten, bevor er herausgefunden hatte, dass sie eine Blutprophetin, eine Cassandra Sangue war – eine Rasse von menschlichen Weibchen, die die Zukunft vorhersagen konnten, wenn man in ihre Haut schnitt. Sie war dem Mann, der sie besessen und sie benutzt hatte, entkommen, und Simon und die übrigen Terra Indigene in Lakeside hatten sie aufgenommen.

Das klang einfach, aber das war es nicht gewesen. Nichts an Meg war einfach. Sie war ein Kiesel, der in den Teich namens Lakeside Courtyard gefallen war, und die sich ausbreitenden Wasserkreise ihrer Anwesenheit hatten so vieles verändert, einschließlich der Terra Indigene, die sich mit ihr angefreundet hatten. Dank Meg interagierten die Einwohner des Courtyard auf eine Weise mit den Menschen, wie es zuvor noch nie vorgekommen war – beziehungsweise hatte man diese Weise seit Jahrhunderten nicht in Betracht gezogen. Dank Meg hatten die Terra Indigene in ganz Thaisia versucht, die übrigen Blutprophetinnen zu retten, die wie ungewollte Welpen von den Menschen, die sie früher besessen hatten, einfach weggeworfen worden waren. Dank Meg besaß der Lakeside Courtyard ein menschliches Rudel, das es den Terra Indigene ermöglichte, zusätzliche Erfahrungen im Umgang mit Menschen zu sammeln, die ihre Fehler nicht ausnutzen würden.

Dank Meg beschlich ihn das unangenehme Gefühl, dass ihm ein klein wenig Menschliches anhaftete und sich nicht mehr von seiner Wolfsform trennen ließ.

Viele menschliche Weibchen hatten über die Jahre einen Spaziergang auf der wilden Seite machen und Sex mit einem Terra Indigene haben wollen. Und viele Terra Indigene waren ebenso neugierig darauf, Sex in ihrer menschlichen Form zu haben. Aber dabei ging es nur darum, dem Körper eine Nacht lang Vergnügen zu gönnen und sich dann wieder anderen Dingen zuzuwenden. Oder, wie im Fall der Sanguinati, es ging darum, Lust als Köder einzusetzen, um das Blut der bevorzugten Beute trinken zu können. Sex mit jemandem zu haben war etwas anderes, als der Gefährte von jemandem zu werden. Sich zu paaren war eine ernste Sache. Es ging um das Rudel und Familie. Einige Formen der Terra Indigene paarten sich fürs Leben; andere nicht. Selbst unter den Arten, die sich normalerweise ein ganzes Leben lang banden, hielten diese Bande nicht immer. Simons Vater Elliot sprach nie über den Grund, aus dem seine Gefährtin ihn verlassen hatte. Und Daphne, Simons Schwester, hatte ihnen nie verraten, wer ihr Gefährte gewesen war, oder warum sie eines Tages allein in Lakeside aufgetaucht war, nur wenige Tage bevor ihr Welpe geboren wurde.

Nein, das Paarungsband hielt nicht immer, und meistens fielen die Konsequenzen im Anschluss gering aus. Möglicherweise aber löste sich ein Rudel auf, nachdem das dominante Paar sich getrennt hatte. Einige schlossen sich dann anderen Rudeln an oder zogen sogar in andere Teile des Kontinents. Doch normalerweise würde eine Spezies nicht aussterben, wenn das Paarungsband zerriss – aber genau das konnte geschehen, falls das Band der Freundschaft zwischen Meg und ihm zu mehr wurde, aber dieses mehr nicht überleben, eine physische Paarung nicht überleben würde. Er wusste das. Tess und Vlad und Henry wussten das. Möglicherweise wussten das auch ein paar der Menschen. Aber er glaubte nicht, dass Meg es wusste, war sich nicht sicher, ob sie stark genug wäre, die Last dieser Entscheidung zusätzlich zu all dem zu tragen, was bereits von ihr verlangt worden war.

Sie war von den Menschen, die sie eingesperrt und benutzt hatten, verletzt worden. Auf eine Weise verletzt, die in ihr die Angst vor der männlichen Form erweckt hatte. Auch wenn er sich manchmal fragte, ob der Sex mit einem Menschen sich anders anfühlen würde, wenn es sich bei diesem Menschen um Meg handelte, war er doch nicht bereit, das Band, das sie bereits verband, zu zerreißen. Wie viel Menschliches würden die Terra Indigene behalten? Die Alten hatten diese Frage gestellt, ohne dabei zu sagen, ob sie die menschliche Bevölkerung, menschliche Erfindungen oder die untrennbaren Aspekte einer Form meinten, die man automatisch mit der physischen Form aufnahm, wenn man zu lange in einer bestimmten Haut verbrachte.

Simon stellte das Wasser aus und trocknete sich ab, bevor er sich eine Jeansshorts überstreifte.

Als die Alten diese Frage zum ersten Mal gestellt hatten, hatte er gedacht, sie würden die Antwort in Worten erwarten. Aber nach dem letzten Krieg, der die Cel-Romano Allianz der Nationen auf der anderen Seite des Atlantiks zerbrochen hatte, und der Entscheidung der Alten, die menschlichen Herden in Thaisia auszudünnen und voneinander zu isolieren, hatte Simon verstanden, dass die Antwort aus dem erwachsen würde, was die Alten aus den Geschehnissen erfuhren, die sich im und um den Lakeside Courtyard herum abspielten.

Meg war mit den Tellern auf dem kleinen Tisch im Wintergarten beschäftigt, aber in Gedanken ging sie immer wieder das Bild von Simon und Karl Kowalski durch, die am Wasser standen und sich unterhielten. Simon hatte glücklich ausgesehen. Karl hatte mit dem Rücken zum Wintergarten gestanden, wodurch sie sein Gesicht nicht hatte sehen können, aber er hatte angespannt gewirkt. Sie fragte sich, ob Karl wegen dem angespannt war, weswegen Simon so fröhlich gewesen war. Immerhin sahen ein Wolf und ein Mensch die Dinge oft unterschiedlich.

Aber während sie die beiden beobachtet hatte, gesehen hatte, wie ihre Körper unterschiedliche Emotionen vermittelten, waren ihr die Ähnlichkeiten aufgefallen. Anders als Henry Beargard, der sogar in menschlicher Form groß und muskulös war, besaßen Simon und Karl die Stärke und die schlanken Muskeln von Jägern, die ihre Beute jagten – auch wenn sie nicht glaubte, dass Karl normalerweise Menschen, die er einsperren wollte, hinterherrennen musste. Sie besaßen beide dunkles Haar, aber Karls war kürzer geschnitten als Simons. Der wirkliche Unterschied waren, zumindest auf den ersten Blick, die Augen. Karls waren braun, Simons bernsteinfarben, egal ob er in menschlicher oder in Wolfsform war.

Und als Karl gegangen war, waren ihr die Teile von Simon aufgefallen, die man normalerweise nicht sah. Sie fielen ihr auf – aber sie war sich nicht sicher, wie sie sich dabei fühlte. Verängstigt, ja, aber auch ein wenig neugierig. Sie und Simon waren Freunde, und sie liebte seinen Neffen Sam. Aber mehr als das waren sie zu Partnern geworden, deren Ziel es war, den Courtyard – und die Stadt Lakeside – intakt zu halten. Und sie waren Partner, deren Ziel es war, den Cassandra Sangue dabei zu helfen, in einer Welt, die zu voll von Eindrücken war, zu überleben.

In den Büchern, die sie gelesen hatte, schienen Leute, die sich voneinander angezogen fühlten, sich oft miteinander zu streiten, oder es gab Missverständnisse zwischen ihnen, oder sie hatten Sex und trennten sich dann, bevor sie wieder zusammenfanden. Aber das waren alles Menschen, keine Blutprophetin und ein Wolf. Auf der Anlage waren ihr Dinge angetan worden, an die ihr Körper sich zwar immer noch erinnerte, die ihrem Geist aber verborgen blieben – Dinge, die der Grund dafür waren, warum sie sich lieber in Simons Nähe aufhielt, wenn er in Wolfsform war. Sie wusste tief in ihrem Herzen, dass Simon ihr nie so schlimme Dinge antun würde, wie die Männer auf der Anlage es getan hatten, aber der pelzige Wolf fühlte sich dennoch als Begleiter sicherer an, trotz seiner Zähne und Klauen.

Und doch, Simon dieses Mal ohne Kleidung zu sehen … Beängstigend, ja, aber daran zu denken brachte etwas in ihr zum Flattern, etwas, was in ihr die Frage aufkommen ließ, wie es wäre, wenn sie …

»Du bist durcheinander.«

Erschrocken stieß Meg beinah ein Glas mit Wasser um. Sie hatte Simon gar nicht in den Wintergarten kommen hören.

»Nein, bin ich nicht.« Aber als sie ihn ansah, wurde sie von dem männlichen Körper, den er ihr zur Schau stellte, abgelenkt. Alles war zu sehen, bis auf die Furcht einflößenden Stellen, die von den Jeansshorts verdeckt wurden. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie nichts weiter trug als ein dünnes Baumwollkleidchen und ihre Unterhose. Das war noch nicht so wichtig gewesen, als sie das nach dem Duschen angezogen hatte.

Sie wollte es so. Meg wusste nicht mehr, ob sie die Phrase in einem Buch gelesen hatte oder ob sie Teil einer Re–Erinnerung waren – einem Bild aus einer alten Prophezeiung. Aber sie wusste, dass es eine Ausrede war, die ein Mann benutzte, wenn er die Schuld auf die Frau abwälzen wollte, nachdem er sie gezwungen hatte, Sex mit ihm zu haben.

Sie hatte keinen Gedanken darauf verschwendet, wie wenig sie am Leib trug, aber wenn sie Simons Körper bemerkte, bemerkte er dann auch ihren. Und wenn es so war …

Sie wollte es so.

Nein! Ein menschlicher Mann mochte so denken, aber Simon nicht, nicht einmal in seiner menschlichen Form. Ihr Hirn wusste das; es würde für alle einfacher werden, wenn sie ihren Körper auch davon überzeugen könnte.

»Doch, bist du.« Simon kam näher und verengte die Bernsteinaugen – aber nicht schnell genug. Meg konnte das rote Flackern darin sehen, das Verärgerung bedeutete. »Du riechst durcheinander – und ein wenig erregt. Aber in erster Linie riechst du durcheinander.« Er knurrte und entblößte seine Fangzähne, die eindeutig nicht zu einem Menschen gehörten. »Hat Kowalski dich durcheinandergebracht?«

»Nein.« Ihr Inneres fühlte sich noch ein wenig durchgeschüttelt an, aber ihre Antwort war fest und bestimmt. Das Letzte, was sie wollte, war, dass Simon auf irgendeinen ihrer menschlichen Freunde wütend war. »Ich habe nur an etwas gedacht, was mich unglücklich gemacht hat.«

Er hörte auf zu knurren und legte den Kopf schief, dabei wirkte er mehr überrascht als wütend. »Warum solltest du so etwas tun?«

Sie starrte ihn an. Sie wollte ihm nicht erzählen, worüber sie nachgedacht hatte, was wahrscheinlich seine nächste Frage sein würde, darum zuckte sie mit den Schultern und wechselte das Thema zu etwas, von dem sie wusste, dass es ihn interessieren würde: Essen. »Ich konnte mich nicht entscheiden, was wir essen wollen, darum habe ich viele Sachen mitgebracht, einschließlich dem hier.« Sie nahm einen Becher und einen Löffel und zögerte dann.

»Was ist das?«

»Joghurt.« Sie aß einen Löffel voll und fragte sich, warum Merri Lee und Ruth gesagt hatten, das würde schmecken. War das ein Geschmack, an den man sich erst gewöhnen musste? »Probier mal.« Sie nahm einen Löffel voll und hielt ihn Simon entgegen, fragte sich, was er wohl tun würde.

Er beugte sich zum Löffel und schnüffelte. Dann aß er, was sie ihm anbot.

Meg hielt den Atem an und war sich nicht sicher, ob er den Joghurt ausspucken oder ihn hinunterschlucken würde.

Er schluckte ihn hinunter. Dann sah er zu den übrigen Speisen, die sie mit nach unten gebracht hatte. »Warum sollte man das essen, wenn man Fleischscheiben vom Bison essen kann?«

Da sie nicht unbedingt sagen konnte, dass sie den Geschmack von Bison mochte, bestand für sie darin kein Unterschied. »Merri Lee und Ruth haben gesagt, Joghurt sei gut für die Innereien, vor allem für die Innereien von Frauen.«

»Da bin ich froh, keine Frau zu sein«, murmelte er, während er sich ein paar Bisonfleischscheiben auf den Teller häufte, ehe er das übrige Essen musterte.

Meg nahm noch einen Löffel voll Joghurt und machte den Becher dann wieder zu. So. Sie hatte heute genug für ihre Innereien getan. Sie aß die Hälfte der Beeren und schob Simon dann die Schüssel hin. Halb hoffte sie darauf, dass er ihr Angebot ablehnen und sagen würde, er habe genug Bison zu essen, aber er nahm die andere Hälfte der Beeren dankbar und ohne ein Wort an, sodass sie an einer Scheibe scharfen Käse knabbern musste.

»Du isst nichts«, sagte Simon einige Minuten später.

»Ich habe für den Moment genug gegessen.« Was stimmte, denn sie wollte vor der Arbeit noch schnell bei A Little Bite vorbeischauen und sehen, was Nadine Fallacaro und Tess im Café des Courtyard im Angebot hatten.

Sie brachten das übrig gebliebene Essen rauf in ihre Wohnung und wuschen das Geschirr ab. Simon ging im Anschluss in seine Wohnung, um sich für die Arbeit umzuziehen.

Meg starrte die Kleidung in ihrem Schrank an und überlegte, was davon angemessene Bürokleidung für die menschliche Verbindungsperson und gleichzeitig praktisch für einen heißen, schwülen Tag war. Sie entschied sich für dunkelgrüne Shorts, eine kurzärmlige rosen-pfirsichfarbene Bluse und Sandalen, die hübsch aussahen und bequem waren.

Nachdem Meg nachgesehen hatte, ob das Buch, das sie gerade las, sich in ihrer Tragetasche befand, schloss sie die Wohnungstür ab und ging die Außentreppe hinab, um dort auf Simon zu warten.

Lieutenant Crispin James Montgomery drehte den Kopf, um Agent Greg O’Sullivan vom Untersuchungskommando ansehen zu können, der auf der Rückbank des Streifenfahrzeugs saß. O’Sullivan wiederum sah zu dem dritten Mann im Wagen und Monty richtete seine Aufmerksamkeit auf seinen Partner, Officer Karl Kowalski, der sie zu dem Meeting mit dem neuen amtierenden Bürgermeister und dem Commissioner fuhr.

Kowalski war ein kräftiger Mann in seinen späten Zwanzigern. Ein hingebungsvoller Officer, der glaubte, dass den Menschen in Lakeside am besten mit einer gut funktionierenden Beziehung zu den Terra Indigene geholfen war – ein Glaube, der schon für einige private Probleme mit einem Vermieter gesorgt und eine Kluft zwischen Karl und seinen Eltern und seinen Bruder geschlagen hatte.

Aber nachdem in einigen Städten im mittleren und nördlichen Westen Menschen abgeschlachtet worden waren, als Wiedergutmachung für das Abschlachten der Wolfgard in ebendiesen Gegenden; nach den Stürmen, die auf dem ganzen Kontinent Thaisia gewütet und auch Lakeside getroffen hatten; nachdem die Menschen einen winzigen Blick auf die furchtbaren Terra Indigene hatten werfen können, die im Wilden Land lebten und es beschützten, fragte Monty sich, ob Kowalski immer noch glaubte, dass die Menschen darauf hoffen konnten, die Macht und die Wut der Elementarwesen und der Terra Indigene zu überleben, die als Namids Zähne und Klauen bekannt waren.

Und dann fragte er sich, was er machen würde, wenn Kowalski und Michael Debany, der andere Officer in seinem Team, in ein anderes Team oder vielleicht sogar auf eine andere Wache versetzt werden wollten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Monty. Hatte es überhaupt Sinn, das zu fragen, wenn O’Sullivan auch im Wagen saß? Der Agent gab sein Bestes, um einen Dialog zwischen Simon Wolfgard und den anderen Mitgliedern der Unternehmensvereinigung des Courtyard herzustellen, aber niemand kannte ihn gut genug, um ihn als engen Freund ansehen zu können.

Kowalksi hielt hinter einem Bus, in den gerade ein paar Passagiere einstiegen, anstatt einfach die Spur zu wechseln und so auszuweichen. Wenn sie weiter hinter dem Bus herfahren und an jeder Haltestelle anhalten mussten, würden sie noch zu spät zu ihrem Meeting kommen.

Aus dem Augenwinkel sah Monty, wie O’Sullivan die Uhr an seinem linken Handgelenk bedeckte. Es war eine stumme Botschaft: Wir dürfen auf keinen Fall zu spät bei diesem Meeting ankommen.

Rein vom Aussehen waren Monty und O’Sullivan das genaue Gegenteil voneinander. Greg O’Sullivan war ein Mann in seinen frühen Dreißigern. Er hatte grüne Augen, in denen sich immer eine wache Intelligenz abzeichnete, und seine kurzen dunklen Haare begannen auf dem Scheitel bereits dünner zu werden. Während er arbeitete, strahlte er eine brennende Entschlossenheit aus und trug einen Gesichtsausdruck, der Monty an einen Krieger erinnerte, der sich für ein streng enthaltsames Leben entschieden hatte.

Monty wiederum war der älteste der drei Männer, auch wenn er die vierzig noch nicht erreicht hatte. Seine Haut war schwarz, die Augen braun und er besaß kurz geschnittenes gelocktes Haar, in das sich bereits ein paar graue Strähnen geschlichen hatte – und nicht alle Falten in seinem Gesicht waren Lachfalten. Nicht mehr.

»Heute Morgen bin ich mit dem Fahrrad durch den Courtyard gefahren und war plötzlich in ein Jagdspiel mit einigen der Wölfe verwickelt«, sagte Kowalski. »Ich war die Beute.«

O’Sullivan beugte sich vor. »Geht es Ihnen gut?«

Kowalski warf einen Blick in den Rückspiegel und überholte dann den Bus, als der an der nächsten Haltestelle ranfuhr. »Das war mehr Sport, als ich an einem so schwülen Tag machen wollte. Die Wölfe haben mich nicht verletzt, falls es das ist, was Sie wissen wollten. Sie haben es gar nicht versucht.«

Monty und O’Sullivan warteten.

»Für sie war es ein Spiel, und irgendwie muss ich ihnen signalisiert haben, dass ich auch spielen will. Aber, ihr Götter, sie auf dem Marktplatz zu sehen … Man vergisst nicht, wie groß sie sind, aber ich hatte nicht vor Augen, was ihre Größe bei der Jagd ausmacht. Als ich gesehen habe, wie sie auf mich zugerannt sind, habe ich nur noch rein instinktiv gehandelt und versucht, vor ihnen wegzulaufen. Hab’s natürlich nicht geschafft.«

»Wissen Sie, was genau Sie getan haben, damit Sie plötzlich Teil des Spiels wurden?«, fragte Monty leise.

Kowalski konzentrierte sich einen Moment lang auf den Verkehr. »Simon sagte, die Frauen bleiben immer stehen und fragen, ob sie behilflich sein können, anstatt die Einladung zum Spielen anzunehmen, also kann es durchaus einfach daran gelegen haben, dass ich schneller gefahren bin, anstatt einfach anzuhalten.«

»Raubtierinstinkt«, sagte O’Sullivan. »Wenn ein Raubtier etwas rennen sieht, wird es gejagt.«

»Aber sie haben nie zuvor jemanden von uns gejagt, und wir fahren ständig mit den Fahrrädern zum Küchengarten im Grünen Komplex.«

Die Ampel sprang auf Gelb. Kowalski bremste, anstatt schneller zu werden, um die Kreuzung zu passieren, bevor die Ampel von Gelb auf Rot sprang. »Zuerst dachte ich, die Wölfe, die mich jagten, hätten noch nicht mitbekommen, dass wir jetzt auf den gepflasterten Wegen fahren dürfen. Aber dann erkannte ich Nathan, und ich dachte, ich hätte auch Simon erkannt. An den Straßen hängen noch Schilder, auf denen ›Eindringlinge werden gefressen‹ steht, und als ich gesehen habe, wie sie auf mich zugerannt kamen …« Er atmete tief aus, und als die Ampel auf Grün sprang, trat er aufs Gas. »Nur ein Spiel. Simon dachte, wir hätten viel Spaß dabei gehabt. Ich wette, die anderen Wölfe dachten das auch.«

»Und Sie?«, fragte Monty.

»Wir schauen dieselben Dinge an, aber wir sehen nicht dasselbe. Mir ist klar geworden, wie leicht es ist, das hier zu vermasseln und das falsche Signal zu senden.«

Monty sah aus dem Fenster und fragte sich, welche Art von Signal der neue Bürgermeister und Commissioner senden würden.

Meg schloss das Verbindungsbüro auf und sah dann zur Wanduhr. Nathan war spät dran, aber Jake Crowgard hockte auf seinem üblichen Platz auf der schulterhohen Backsteinmauer, die den Lieferbereich von dem Hof hinter Henrys Studio trennte.

Auch gut, dann hatte sie das Büro noch ein paar Minuten für sich.

Ihre Arme kribbelten. Es war nicht das Prickeln, das sie vor dem Bedürfnis, sich zu schneiden und eine Prophezeiung zu sprechen, warnte. Das hier war schwächer, mehr eine kurze Notiz als ein plärrender Alarm.

Sie öffnete eine Schublade, hob den Deckel der Holzschatulle an, die Henry für sie gefertigt hatte, und betrachtete den Rücken verschiedener Decks aus Wahrsagekarten. Sie lernte gerade, mit diesen Karten die Prophezeiungen zu legen, anstatt sich die Haut mit ihrem silbernen Rasiermesser aufzuschneiden. Vielleicht war heute der Tag, an dem sie endlich alle Karten aus der Schatulle nehmen und beginnen würde, diejenigen auszusortieren, die für das Pionier–Deck aus Prophezeiungskarten nicht gebraucht wurden.

Sie verschob die Karten in einem vagen Versuch, sie zu mischen. Nicht dass es einen Unterschied gemacht hätte. Wenn man eine Frage stellte, prickelten ihre Hände, und sie wählte die Karten danach aus, wie stark dieses Gefühl war.

Meg schloss die Augen, damit sie ihre Auswahl nicht dadurch beeinflusste, weil sie den Rücken eines bestimmten Decks erkannte. Sie legte die Fingerspitzen auf die Karten und flüsterte: »Was wird die Einsetzung des neuen Bürgermeisters für Lakeside bedeuten?«

Nichts. Nichts. Ihre Finger strichen über die Karten, auch wenn das Kribbeln bereits vollständig verflogen war. Dann summten die Fingerspitzen ihrer rechten Hand. Sie schob die oberen Karten beiseite, bis sie die erreichte, die das Summen ausgelöst hatte. Dann nahm sie die Karte und öffnete die Augen – und kannte die Antwort, bevor sie die Karte überhaupt umgedreht und das Bild darauf gesehen hatte. Die Karte stammte aus einem Kinderspiel und war versehentlich unter ihre Prophezeiungskarten gemischt worden. Aber die Bilder aus diesem Spiel hatten sich als nützlich erwiesen, auch wenn die Antworten, die sie lieferten, normalerweise nicht besonders willkommen waren.

Was würde der neue Bürgermeister für Lakeside bedeuten? Ein großes Fragezeichen. Zukunft noch nicht entschieden. Die Zukunft Lakesides war unsicher, seit den Terra Indigene hier klar geworden war, dass die Antwort der Alten auf die Taten der Humans–First–and–Last–Bewegung sehr, sehr übel ausfallen würde.

Aber heute hatte sie auf eine andere Antwort gehofft.

Sie legte die Karte zurück und wollte die Schatulle gerade schließen, als ihr eine weitere Frage einfiel. Lakeside war eine von den Menschen kontrollierte Stadt, aber der Courtyard gehörte den Terra Indigene. Nach den jüngsten Konflikten hätte jede Art von Feindseligkeit zwischen den Menschen und den Anderen furchtbare Konsequenzen.

Meg schloss die Augen und legte ihre Finger wieder auf die Karten. Als sie angefangen hatte, mit den Decks zu arbeiten, hatte sie beschlossen, dass eine Legung aus drei Karten Subjekt, Aktion und das Resultat repräsentieren sollte. Sie wusste nicht, ob andere Leute die Wahrsagekarten auf diese Weise benutzten, aber für sie schien es zu funktionieren.

»Was wird mit meinen Freunden im Courtyard geschehen?« Sie wiederholte die Frage wieder und wieder, während sie nach den Bildern suchte, die ihr die Antwort liefern würden. Nachdem sie die drei herausgesucht hatte, bei denen sie das stärkste Prickeln verspürt hatte, nahm sie sie mit zu dem großen Sortiertisch aus Holz und drehte sie in der Reihenfolge um, in der sie sie ausgewählt hatte.

Auf der ersten Karte waren drei Bilder zu sehen: Zug, Bus, Auto. Auf der zweiten Karte war eine Explosion abgebildet. Und die dritte Karte … das Fragezeichen. Zukunft noch nicht entschieden.

Das war nicht gut.

Sie zog ein Notizbuch aus einer Schublade, schlug eine leere Seite auf, schrieb dann ihre Fragen und die Antworten, die sie gezogen hatte, auf.

Sie zögerte, wollte die Karten noch nicht wieder zurücklegen, bevor sie nicht jemanden dazugeholt hatte, der sie sich ansah, aber sie war ebenso zögerlich, irgendjemandem aus der Unternehmensvereinigung von dieser Antwort zu erzählen. Vielleicht sollte sie es lieber einem ihrer menschlichen Freunde erzählen? Ruth Stuart lebte auf der gegenüberliegenden Straßenseite in dem Mehrfamilienhaus in der Crowfield Avenue, und Merri Lee zog in eine Wohnung in eines der angrenzenden Steinhäuser, das der Courtyard vor Kurzem gekauft hatte, um seinen Angestellten einen Ort zum Wohnen zur Verfügung stellen zu können, die keine von Menschen vermietete Wohnungen bekamen.

Es klopfte an dem Durchgang zwischen dem Sortierraum und dem Hinterzimmer und sie keuchte auf. Als sie Twyla Montgomery dort entdeckte, die darauf wartete, dass sie sie wahrnahm, entspannte sie sich. Normalerweise war der Zugang zum Sortierraum für Menschen – bis auf ein paar Ausnahmen – verboten, und nachdem so viele neue Menschen den Marktplatz besuchten, war diese Regel noch einmal mit Knurren und scharfen Zähnen unterstrichen worden.

»Guten Morgen, Miss Twyla«, sagte Meg.

Im Vorzimmer war ein Kratzen zu hören, und Meg erkannte, dass Nathan hereingekommen sein musste, während sie die Karten benutzt hatte.

»Guten Morgen, Miss Meg.« Twyla durchquerte das Zimmer und stellte einen Thermosbecher und eine Dose auf den Sortiertisch. »Und auch Ihnen guten Morgen, Mr Nathan. Heute wird es sehr schwül, und ich beneide Sie nicht um Ihren Fellmantel, egal wie schön er auch aussehen mag.«

Schweigen. Dann signalisierte Nathan mit einem leisen Arroo, dass er sie gehört hatte, und trottete zurück zu dem Wolfsbett unter dem großen Fenster im vorderen Zimmer.

Meg lächelte. Twyla Montgomery was Lieutenant Montgomerys Mutter. Eine schlanke Frau mit dunkler Haut, die durch das Alter langsam erschlaffte, braunen Augen, die normalerweise freundlich wirkten, und kurzem, gelockten Haar, mehr silber als schwarz. Aber Twyla ließ sich auch keinen Unsinn gefallen oder von irgendjemandem auf der Nase herumtanzen – eine Eigenschaft, die die Wölfe dazu brachte, sie aus sicherer Entfernung eingehend zu beobachten.

»Mr Simon ist ins A Little Bite gekommen und grummelte etwas von Jogurt und Fraueninnereien, und dass Sie keinen Bison mögen«, sagte Twyla. »Ich dachte schon, er hätte irgendeine Art von Fieber und würde nur Unsinn erzählen, aber Miss Tess hat gesagt, Sie haben wahrscheinlich nicht genug gefrühstückt, und darum hat sie Ihnen ein Eiersalatsandwich und noch so einiges mehr zubereitet.« Kurzes Schweigen. »Mädchen, essen Sie nicht genug?«

»Nein, Ma’am. Ich habe zu Hause nicht so viel gegessen, weil ich mir heute auf dem Weg zur Arbeit etwas holen wollte.« Twyla starrte sie nur an, darum fügte Meg hinzu: »Ich mag den Geschmack von Bison wirklich nicht besonders.«

»Neulich habe ich eine Scheibe probiert und kann auch nicht behaupten, dass es mich besonders angesprochen hätte. Aber ich schätze, wenn ich mich zwischen Bison oder hungern entscheiden müsste, würde er mir schon schmecken – und Ihnen auch.«

Meg nickte. »Falls die Wahl so aussehen würde, könnte Simon sogar lernen, Joghurt zu mögen.«

Twyla lachte. »Glauben Sie?«

Meg stellte sich vor, jemand würde ihr einen Teller mit Bisonröllchen reichen, die man in Joghurt getunkt hatte. Schaudernd fragte sie sich, ob man aus Gras Salat machen konnte.

Twyla tippte knapp über den drei Karten auf den Tisch. »Was ist das? Oder dürfen Sie das nicht verraten?«

»Das sind Wahrsagekarten, aber ich nenne sie Prophezeiungskarten. Ich versuche herauszufinden, ob einige der Cassandra Sangue die Karten dazu benutzen können, um Prophezeiungen zu sprechen, anstatt sich einen Schnitt setzen zu müssen.« Eintausend Schnitte. Man sagte, dass Blutprophetinnen nur so viele Schnitte hatten, bevor der nächste sie töten oder wahnsinnig machen würde. Da die meisten Prophetinnen ihren fünfunddreißigsten Geburtstag nicht erlebten, war Meg mit vierundzwanzig hoch motiviert, eine Alternative zum Rasiermesser zu finden.

»Was sagen sie Ihnen?«, fragte Twyla.

»Ich bin mir nicht sicher. Ich habe gefragt, was mit meinen Freunden im Courtyard geschehen wird. Diese Karten kamen als Antwort darauf.« Meg wartete, bis die ältere Frau den Tisch umrundet hatte und neben ihr stand. Sie deutete auf jede einzelne Karte. »Subjekt, Aktion, Resultat.«

Twyla sah mit einem Stirnrunzeln auf die Zug/Bus/Auto-Karte. »Bedeutet das Reisen, oder sind damit die Transportmittel selbst gemeint?«

»Es könnte beides bedeuten. Ich habe die Karte als das Subjekt gezogen, also sollte die Sache darauf gemeint sein, aber es könnte auch bedeuten, dass eines dieser Transportmittel jemanden oder etwas nach Lakeside bringen wird. Die Explosion – das ist die Aktionskarte – könnte bedeuten, es geht um eine Ruf-das-Entschärfungskommando-Explosion oder um eine emotionale Explosion in einem Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen von Leuten. Möglicherweise reist also eine Gruppe von Leuten nach Lakeside, und die werden für irgendeine Art von Problem für den Courtyard sorgen. Ich bin mittlerweile ziemlich gut darin, die Karten zu finden, die die Antwort auf die Frage legen, aber Merri Lee und ich arbeiten noch immer daran, sie richtig zu interpretieren.«

Während sie Twyla dabei zusah, wie sie die Karten betrachtete, begann die Haut zwischen ihren Schulterblättern zu prickeln.

»Welche Bedeutung hat das Fragezeichen?«, fragte Twyla. Sie klang besorgt.

»Zukunft noch nicht entschieden. Das war dieselbe Antwort, die ich gezogen habe, als ich heute Morgen eine Frage zu Lakeside gestellt habe.« Meg musterte die ältere Frau. »Sie wissen, was die Karten bedeuten, nicht wahr?«

»Ich habe eine Ahnung, aber nichts, worüber ich sprechen möchte. Jetzt zumindest noch nicht.« Twyla ging auf das Hinterzimmer zu.

»Danke, dass Sie mir das Essen gebracht haben«, sagte Meg.

Twyla drehte sich um und sah sie an. »Gern geschehen. Vernachlässigen Sie das Essen nur nicht. Dazu gibt es keinen Grund.«

Meg hörte, wie die Tür zum Büro geschlossen wurde. Dann griff sie über ihre Schulter und kratzte sich am Rücken. Sie mochte Twyla Montgomery, und selbst die Anderen hatten der älteren Frau ihr Vertrauen geschenkt, etwas, was sie sonst nur selten bei jemandem machten, den sie erst so kurz kannten. Das war der Grund, aus dem Meg sich jetzt unwohl fühlte.

Sie hoffte nur, Miss Twyla entschied sich, ihre Gedanken bezüglich der Karten zu teilen, bevor etwas Schlimmes passierte.

Twyla wischte die Schreibtische im Konsulat ab – dem Gebäude im Courtyard, das die Domäne von Elliot Wolfgard darstellte. Er war das öffentliche Gesicht des Courtyard, der Terra Indigene, der mit dem Bürgermeister und den Mitgliedern des Stadtrates sprach, der an politischen Events teilnahm und der mit der Presse sprach. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie verstanden hatte, dass Elliot zwar der Sprecherwolf des Courtyard in der Öffentlichkeit war, aber der wahre Anführer war Simon.

»Die anderen Menschen haben nie so lange gebraucht, um die Schreibtische sauber zu machen«, sagte Elliot.

Twyla zuckte zusammen und drehte sich zu ihm um. Sie hatte nicht gehört, dass er aus seinem Büro im ersten Stock heruntergekommen war.

Auf den ersten Blick hätte man ihn für den CEO einer erfolgreichen Firma halten können: teurer Anzug, dünner werdendes Haar, das von jemandem geschnitten worden war, der dafür wahrscheinlich mehr Geld bekommen hatte, als sie in einer ganzen Woche verdiente, schlanker Körper, der von vielen Stunden im Fitnessstudio zeugte. Ja, er konnte durchaus als so ein Mann durchgehen, und sie würde darauf wetten, dass genug CEOs und Politiker den Fehler gemacht hatten, die Tatsache, dass er aussah wie sie, bedeutete, er dachte auch wie sie. Aber die Bernsteinaugen gehörten zu einem Wolf, und selbst wenn die Menschen ignorieren sollten, was er war, war sie sich doch sicher, dass Elliot das nie tat.

»Ich habe bemerkt, dass sie sich hier nicht so viel Zeit zum Putzen genommen haben, aus dem Grund brauche ich auch länger, um sie jetzt richtig sauber zu machen«, erwiderte sie.

Elliot musterte sie. Sie gewöhnte sich langsam daran. Die Krähen, die am Marktplatz arbeiteten, hatten mehr Fragen als ein ganzes Haus voller kleiner Kinder, und wann immer sie in eines der Geschäfte ging, um etwas zu kaufen, kam mindestens eine von ihnen zu ihr und wollte wissen, warum sie diese Sache und nicht jene gekauft hatte. Die Wölfe beobachteten sie, beobachteten alle Menschen, denen es zeitweise erlaubt war, die Geschäfte im Courtyard zu besuchen aber ihr war aufgefallen, dass sie sie und Nadine Fallacaro und Katherine Debany, Officer Debanys Mutter, stärker im Auge hatten als die jungen Frauen, die Meg Corbyns weibliches Rudel bildeten.

Wer unterrichtete die Jungen in einem Wolfsrudel?

»Kommen Sie her«, sagte Elliot. Als sie keine Anstalten machte, sich zu bewegen, fügte er hinzu: »Bitte.«

Er führte sie zu den Aktenschränken, die an der Wand standen, und deutete dann auf einen Stapel Akten, der schief gegen den hintersten Aktenschrank lehnte. »Wissen Sie, wie man die auf menschliche Weise sortiert?«

Sie nahm eine der Akten, sah auf die Markierung am Rand und suchte dann die entsprechende Aktenschublade. Dann öffnete sie noch eine Schublade. Und noch eine.

Sie schloss die Schubladen wieder und drehte sich zu ihm herum. »Was ist das für ein Unsinn?«

»So sortieren Menschen Akten ein.«

»Das glauben Sie.«

In Elliots Augen flackerte ein rotes Funkeln auf wie ein Blitz. »Was soll das heißen?«

»Das bedeutet, wer auch immer das hier organisiert hat, hatte sein eigenes System, was bedeutet, es ist für jeden anderen nahezu unmöglich, die richtige Akte zu finden. Oder dieser Trottel hat die Sachen einfach in die Schubladen gestopft und gehofft, er würde niemals darum gebeten werden, irgendetwas herauszusuchen.« Sie machte einen Schritt nach vorn, um die Akte wieder auf den schiefen Stapel zu legen, und Elliot trat einen Schritt zurück. Er musterte sie auf eine Weise, die sie glauben ließ, er wollte gerade irgendwem die Zähne in den Körper jagen, und ihrer wäre dafür gerade gut genug.

»Können Sie das in Ordnung bringen?«, fragte er.

Er schien mit der Aussprache bestimmter Worte Probleme zu haben, und sie fragte sich, was mit seinem Mund nicht mehr stimmte. Vor einer Minute schien noch alles in Ordnung damit zu sein.

»Wissen Sie, wie man an einem Ort wie hier arbeitet?«

Jeder im Courtyard hatte einen Job. Jeder im Wolfsrudel hatte eine Position. Und auch wenn nicht alle Menschen, denen es erlaubt war, an den Vorteilen des Courtyard teilzuhaben, eine bestimmte Aufgabe erfüllten, war es doch kein Geheimnis, dass die Anderen von allen Neuankömmlingen erwarteten, dass sie sich überlegten, welche Fähigkeiten sie beisteuern könnten, die ihre Anwesenheit im Courtyard rechtfertigen würden.

Twyla dachte über das nach, was Elliot gesagt hatte. Es wäre mal etwas anderes, als die Böden zu wischen und Toiletten zu putzen – auch wenn sie dann jemanden brauchten, der das erledigte. Sie ging nicht davon aus, dass viele Leute Elliot aufsuchten, was bedeutete, dieser Job wäre ruhiger als ein Job in einem der Läden am Marktplatz, und wenn sie nachmittags auf die Kinder aufpasste, konnte sie ein wenig Ruhe in ihrem Alltag gut gebrauchen.

»Ich habe nie Tippen gelernt oder wie man mit Computern umgeht oder ähnliche Dinge«, sagte sie schließlich. »Anrufe entgegennehmen und Akten sortieren – das kann ich für Sie übernehmen. Aber nur morgens, wenn die Kinder unterrichtet werden. Ich bin nach Lakeside gekommen, um für Crispin auf Lizzy aufzupassen, und das hat Vorrang.«

»Natürlich«, sagte Elliot ruhig, und seine Aussprache war wieder makellos. »Wir kümmern uns um unsere Jungen.« Er schwieg einen Moment lang, bevor er einlenkend sagte: »Sam ist mein Enkel.«

Twyla lächelte. »Er ist ein guter Junge.« Sie hatte Sam schon auf dem Marktplatz gesehen. Manchmal verbrachte er dort Zeit mit den anderen Kindern, aber meistens war er in Begleitung von Meg Corbyn und einem jungen Wolf namens Skippy unterwegs. Als sie ihn das erste Mal gesehen und seine grauen Augen bemerkt hatte, hatte sie gedacht, er sei ein menschliches Kind, dessen Haarfarbe eine seltsame Mischung aus Gold und Grau aufwies. Und sie hatte gedacht, er sei Megs jüngerer Bruder oder ihr Cousin. Dann hatte sie Meg mit einem Wolfswelpen gesehen, dessen Fell dieselbe Farbe hatte.

»Die Sierra hatte Computer und Schreibtätigkeiten als einige ihrer Fähigkeiten aufgelistet«, sagte Elliot. »Vielleicht könnte sie …«

»Nein.«

Die Schärfe in ihrer Stimme überraschte sie mehr, als sie Elliot überraschte. Aber sie hatte Zeit gehabt, um über die Prophezeiungskarten nachzudenken, die Meg an diesem Morgen gezogen hatte. Sie wusste nicht, wie jemand anderes diese Karten interpretieren würde, aber sie wusste, was sie aus ihnen über ihre Familie herausgelesen hatte. Es machte sie wütend, und es brach ihr das Herz, als ihr klar geworden war, dass Sierra Crispin angelogen hatte. Das Mädchen hatte beteuert, sie habe keine Möglichkeit, um ihren Bruder Cyrus zu kontaktieren. Wäre sie ehrlich gewesen, hätte Crispin zwar nicht für Cyrus’ Ticket nach Lakeside bezahlt, wie er es für seine Mutter, Schwester und seine beiden Nichten getan hatte, aber er hätte seinen Bruder angerufen und ihm gesagt, er solle Toland verlassen, bevor der Sturm zugeschlagen hatte.

Twyla sah Elliot an. Nicht der wirkliche Anführer, aber er hatte innerhalb des Courtyard und unter den Wölfen eine wichtige Position inne. Sie konnte Crispin nicht fragen, ob er ihre Befürchtung bestätigen konnte. Als Officer würde er das leicht herausfinden können, aber es würde zu Streit zwischen ihm und seiner kleinen Schwester führen, sobald ihm klar geworden wäre, dass Sierra noch immer in Kontakt zu Cyrus stand. »Meine Sierra ist ein gutes Mädchen. Sie ist klug, sie ist freundlich, sie arbeitet hart und sie liebt ihre Kinder. Und an den meisten Tagen und bei den meisten Dingen kann man ihr vertrauen. Aber wir haben alle unsere Schwächen, Mr Elliot, und Sierras Schwäche ist ihr Bruder Cyrus. Er setzt ihr Flausen in den Kopf und überzeugt sie davon, Dinge zu tun, die sie nicht tun sollte – Dinge, von denen sie weiß, dass sie falsch sind.« Twyla sah sich im Erdgeschoss des Konsulats um. »Das hier ähnelt einem Regierungsgebäude. Einige Dinge gehören zum Tagesgeschäft und sind nicht wichtig, und einige Dinge gehen niemanden etwas an, außer Sie. Falls Sierra hier für Sie arbeiten würde und Cyrus vorbeikäme, um sie dazu zu drängen, ihm Informationen zu geben, die er verkaufen kann, würde sie vielleicht kurz Widerstand leisten, schlussendlich würde sie sie ihm aber geben und dann versuchen, eine Rechtfertigung dafür zu finden, warum er die Informationen haben sollte. Das würde ihr und auch dem Rest von uns Probleme bereiten.«

»Aber der Cyrus ist nicht hier«, sagte Elliot.

»Ich glaube, er könnte auf dem Weg hierher sein.« Sie ging zu einem der Schreibtische und schrieb die Telefonnummer des Howling Good Reads auf. Sie riss das Blatt Papier ab und reichte es Elliot. »Sierra hat Crispin und mir gesagt, Cyrus habe keine Nummer hinterlassen, unter der man ihn erreichen könne. Ich glaube, sie hat gelogen. Ich glaube, sie hat ihn schon ein paarmal angerufen, seit wir hier sind. Ich weiß nicht, ob sie ohne Erlaubnis von irgendeinem anderen Telefon aus angerufen hat, aber als ich gesehen habe, wie sie an einem Tag, an dem Mr Simon und Mr Vlad nicht im vorderen Teil des Ladens waren, das Telefon an der Kasse benutzt hat, wurde sie nervös und hat behauptet, sie habe nur Pizza bestellt. Ich weiß sicher, dass die Kinder an dem Abend keine Pizza zum Abendessen bekommen haben.« Sie zögerte. »Die Polizei könnte die Anrufe von einigen Telefonen zurückverfolgen, aber ich kann Crispin nicht darum bitten, das zu überprüfen. Selbst wenn ich falschliege und sie nicht Cyrus angerufen hat, seit wir in Lakeside leben, wird die Lüge, die sie in Toland abgegeben hat, zu Spannungen zwischen ihr und Crispin führen.«