Visionen in Silber - Anne Bishop - E-Book

Visionen in Silber E-Book

Anne Bishop

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Beschreibung

Die Anderen befreiten die Blutprophetinnen, um sie vor Missbrauch zu schützen. Doch ihre Taten hatten furchtbare Konsequenzen, denn die fragilen Seherinnen sind nun in größerer Gefahr als zuvor. Simon Wolfgard, Gestaltwandleranführer der Anderen, bleibt keine Wahl: Er muss die Blutprophetin Meg Corbyn um Hilfe bitten – ohne Rücksicht auf das Risiko, das sie damit eingeht. Meg weiß, dass jeder Schnitt mit der Klinge sie dem Tod näherbringt. Doch Menschen wie Andere brauchen Antworten – und Megs Visionen sind Simons einzige Hoffnung, als die Schatten des Krieges den Horizont verdunkeln und bis zu ihnen vordringen.

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Visionen in Silber

Die Anderen

Anne Bishop

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6 50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Layout: Michelle N. Weber

Übersetzung: Dennis Frey

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Lillith Korn

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski – www.alexanderkopainski.de

Bildmaterial: shutterstock.com

Titelschrift: Alexander Kopainski

Kartenreproduktion: Astrid Behrendt

www.annebishop.com

Copyright © Anne Bishop 2015

Published by Arrangement with Anne Bishop

Originaltitel: Vision in Silver

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

ISBN 978-3-95991-608-0

© 2018 Drachenmond Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Band 1: In Blut geschrieben

Band 2: Krähenjagd

Für Jennifer Crow

Inhalt

Geografie

Eine kurze Geschichte der Welt

1. Thaistag, Maius 10

2. Thaistag, Maius 10

3. Thaistag, Maius 10

4. Thaistag, Maius 10

5. Thaistag, Maius 10

6. Thaistag, Maius 10

7. Thaistag, Maius 10

8. Thaistag, Maius 10

9. Feuertag, Maius 11

10. Feuertag, Maius 11

11. Feuertag, Maius 11

12. Feuertag, Maius 11

13. Feuertag, Maius 11

14. Feuertag, Maius 11

15. Feuertag, Maius 11

16. Feuertag, Maius 11

17. Wassertag, Maius 12

18. Wassertag, Maius 12

19. Wassertag, Maius 12

20. Wassertag, Maius 12

21. Wassertag, Maius 12

22. Wassertag, Maius 12

23. Wassertag, Maius 12

24. Wassertag, Maius 12

25. Wassertag, Maius 12

26. Wassertag, Maius 12

27. Wassertag, Maius 12

28. Wassertag, Maius 12

29. Wassertag, Maius 12

30. Wassertag, Maius 12

31. Erdtag, Maius 13

32. Erdtag, Maius 13

Kapitel 33

34. Mondtag, Maius 14

35. Mondtag, Maius 14

36. Mondtag, Maius 14

37. Mondtag, Maius 14

38. Mondtag, Maius 14

39. Mondtag, Maius 14

40. Windtag, Maius 16

41. Thaistag, Maius 17

42. Feuertag, Maius 18

43. Feuertag, Maius 18

44. Feuertag, Maius 18

45. Feuertag, Maius 18

46. Wassertag, Maius 26

47. Wassertag, Maius 26

48. Wassertag, Maius 26

49. Wassertag, Maius 26

50. Wassertag, Maius 26

51. Erdtag, Maius 27

52. Erdtag, Maius 27

53. Mondtag, Maius 28

54. Mondtag, Maius 28

55. Mondtag, Maius 28

56. Mondtag, Maius 28

57. Mondtag, Maius 28

58. Windtag, Maius 30

Danksagung

Geografie

Kontinente/ Landmassen

Afrikah

Australis

Brittania /Wild Brittania

Cel-Romano/Cel Romano Allianz der Nationen

Felidae

Fingerbone Inseln

Sturm Inseln

Thaisia

Tokhar-Chin

Zelande

Die Großen Seen

Superior, Tala, Honon, Etu und Tahki

Andere Seen

Feather Lake, Finger Lake

Flüsse

Talulah / Talulah Wasserfälle

Gebirge

Addirondak

Städte oder Orte

Ferryman’s Landing, Hubb NE (aka Hubbney), Jerzy, Lakeside, Podunk, Sparkletown, Talulah Falls, Toland, Walnut Grove,

Wheatfield

Wochentage

Erdtag

Mondtag

Sonnentag

Windtag

Thaistag

Feuertag

Wassertag

Eine kurze Geschichte der Welt

Vor langer Zeit gebar Namid Lebensformen aller Art, darunter auch die Lebewesen, die man Menschen nennt. Sie gab den Menschen fruchtbare Teile ihrer selbst, und sie gab ihnen gutes Wasser. Und da sie die Natur der Menschen und auch die ihrer anderen Kinder verstand, sorgte sie außerdem für ausreichende Abschirmung, um ihnen die Chance zu geben, zu überleben und zu wachsen.

Und das taten sie.

Sie lernten Feuer zu machen und Hütten zu bauen. Sie lernten das Land zu bestellen und Städte zu errichten. Sie bauten Boote und fischten im Mittelmeer und im Schwarzen Meer. Sie vermehrten sich und verbreiteten sich bis in die letzten Winkel ihrer Welt, bis sie in die wilden Gebiete vordrangen. Und dort entdeckten sie, dass die anderen Kinder Namids bereits die restliche Welt ihr Eigen nannten.

Die Anderen sahen die Menschen nicht als Eroberer. Sie sahen in ihnen eine neue Art von Beute.

Kriege wurden um den Besitz der Wildnis ausgetragen. Manchmal obsiegten die Menschen und ihre Nachkommenschaft verbreitete sich ein wenig weiter. Doch noch öfter verschwanden Teile der Zivilisation und die angsterfüllten Überlebenden versuchten, nicht jedes Mal zu erzittern, wenn in der Nacht ein Geheul aufstieg oder wenn ein Mann sich zu weit von der Sicherheit der stabilen Türen und des Lichts entfernte und man ihn am nächsten Morgen ohne Blut in den Adern wiederfand.

Jahrhunderte vergingen und die Menschen bauten größere Schiffe und segelten über den Atlantischen Ozean. Als sie dort unberührtes Land vorfanden, gründeten sie eine Siedlung am Meeresufer. Dann entdeckten sie, dass auch die Terra Indigene, die Eingeborenen der Erde, dieses Land ihr Eigen nannten. Die Anderen.

Die Terra Indigene, die diesen Kontinent beherrschten, den sie Thaisia nannten, wurden zornig, als die Menschen Bäume fällten und den Boden, der nicht ihnen gehörte, mit dem Pflug bearbeiteten. Daher aßen die Anderen die Siedler und machten sich mit der Form dieser neuen Beute vertraut, wie sie es so viele Male in der Vergangenheit getan hatten.

Die zweite Welle von Entdeckern und Siedlern kam an, fand die verlassene Siedlung und versuchte noch einmal, das Land für sich zu beanspruchen.

Die Anderen aßen auch sie.

Der Anführer der dritten Siedlerwelle jedoch war etwas schlauer als seine Vorgänger. Er bot den Anderen warme Decken und Stoffe für Kleidung sowie interessante glänzende Dinge im Austausch für die Erlaubnis, in der Siedlung leben zu dürfen, und für genug Ackerland zum Bestellen. Die Anderen betrachteten das als fairen Handel und zogen sich aus dem Gebiet zurück, das von nun an die Menschen bewohnen durften. Weitere Gaben wurden für Jagd- und Fischprivilegien ausgetauscht. Diese Vereinbarung stellte beide Seiten zufrieden, obgleich die eine Seite ihre neuen Nachbarn mit eher zähnefletschender Duldsamkeit betrachtete und die andere Seite furchtsam die Zähne zusammenbiss und dafür sorgte, dass die Ihren vor Einbruch der Nacht stets sicher hinter den Mauern der Siedlung geborgen waren.

Jahre vergingen und immer mehr Siedler trafen ein. Viele starben, doch genug Menschen gediehen und kamen zu Wohlstand. Aus Siedlungen wurden Dörfer, die zu Ortschaften und dann zu Städten wurden. Nach und nach verbreiteten sich die Menschen auf Thaisia so gut es ging über das Land, das sie betreten durften.

Jahrhunderte zogen ins Land. Die Menschen waren klug. Die Anderen auch. Die Menschen erfanden Elektrizität und sanitäre Anlagen. Die Anderen beherrschten die Flüsse, welche die Kraftwerke der Menschen antrieben, und die Seen, die frisches Trinkwasser lieferten. Die Menschen erfanden Dampfmaschinen und Zentralheizung. Die Anderen hatten die Kontrolle über den Brennstoff, der zum Betreiben der Maschinen und zum Beheizen der Gebäude nötig war. Die Menschen erfanden und produzierten Waren. Die Anderen kontrollierten die Naturreserven und entschieden dadurch, was in ihrem Teil der Welt hergestellt wurde und was nicht.

Natürlich gab es Zusammenstöße, und manche Orte wurden zu düsteren Mahnmalen für die Toten. Diese Mahnmale machten den Menschen schließlich klar, dass es die Terra Indigene waren, die Thaisia beherrschten, und dass dies bis zum Ende der Welt wohl auch so bleiben würde.

So sind wir nun in der heutigen Zeit angelangt. Kleine menschliche Dörfer stehen inmitten riesiger Landstriche, die den Anderen gehören. Und in größeren menschlichen Städten gibt es eingezäunte Parks, die sogenannten »Höfe«, in denen Andere leben, deren Aufgabe es ist, die Einwohner der Stadt im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass die Abkommen, die zwischen Menschen und Terra Indigene getroffen wurden, auch eingehalten werden.

Da ist immer noch dieselbe zähnefletschende Toleranz auf der einen Seite und die Angst vor dem, was im Dunkeln umgeht, auf der anderen. Doch sofern die Menschen vorsichtig sind, werden sie überleben.

Meistens überleben sie.

1

Thaistag, Maius 10

Meg Corbyn betrat den Waschraum des Verbindungsbüros für Menschliche Angelegenheiten und breitete die Dinge vor sich aus, die sie die Werkzeuge der Prophezeiung nannte: Desinfektionsmittel, Bandagen und das silberne Klapp-Rasiermesser, dessen Griff auf einer Seite hübsche Blätter und Blumen zierten. Auf der anderen Seite war in schmucklosen Buchstaben die Bestimmungsnummer cs759 eingraviert. Vierundzwanzig Jahre lang war diese Nummer der einzige Name gewesen, den sie gehabt hatte.

Jetzt hatte sie einen richtigen Namen und, statt der sterilen Zelle, ein echtes Apartment. In der Anlage, in der man sie aufgezogen, trainiert und … und benutzt hatte, hatte sie eine einzige Freundin gehabt: Jean, das Mädchen, das niemandem erlauben wollte zu vergessen, dass sie einmal ein Zuhause und eine Familie außerhalb der Anlage gehabt hatten – das Mädchen, das Meg schließlich zur Fluch verholfen hatte.

Jetzt hatte Meg viele Freunde und es machte keinen Unterschied, dass die meisten davon keine Menschen waren. Die Terra Indigene hatten ihr die Chance gegeben, sich ein Leben aufzubauen, und halfen ihr mit der Sucht umzugehen, die sie irgendwann umbringen würde.

Simon Wolfgard, der Anführer des Lakeside Courtyard, bestand darauf, dass er jemanden wie sie gesehen hatte, der lange genug überleben würde, um eine alte Frau zu werden. Sie wollte glauben, dass das möglich war. Und sie hoffte, dass dieses morgendliche Experiment ihr einen Hinweis darauf geben konnte, wie es möglich war.

Nachdem sie noch einmal sichergestellt hatte, dass sie alles Nötige beisammen hatte, setzte Meg sich auf den geschlossenen Toilettensitz und wartete auf Merri Lee. Sie war einer ihrer menschlichen Freunde und lernte gerade, als Megs Zuhörer zu arbeiten und ihre Worte zu deuten.

Die Cassandra Sangue sahen Prophezeiungen, wenn ihre Haut aufgeschnitten wurde. Sie waren darauf trainiert, die Visionen und Bilder zu beschreiben – doch sie waren niemals dazu ausgebildet worden, zu interpretieren, was sie sahen. Das wäre nutzlos gewesen. In dem Moment, wenn das Mädchen zu sprechen begann, durchdrang sie eine Euphorie, die ihren Geist verschleierte und sie vor dem beschützte, was die Bilder ihr zeigten. Tatsächlich war der einzige Weg, auf dem eine Blutprophetin die Erinnerung an das behalten konnte, was sie sah, den Mund zu halten. Sprach sie die Worte nicht laut aus, blieben sie in ihr bestehen.

Es brauchte schon eine ganz besondere Art von Willenskraft – oder Verzweiflung – um die Pein zu ertragen, die ein Mädchen erfüllte, das nicht sprach, nachdem ihre Haut aufgeschnitten worden war. Die Erleichterung, die die Euphorie dann brachte, glich einem Orgasmus und war der Hauptgrund dafür, dass die Cassandra Sangue eine Sucht nach dem Schneiden entwickelten.

Es war nicht einfach, sich einzugestehen, dass sie dieser Sucht niemals ganz entkommen würde, nachdem sie über Jahre hinweg regelmäßig für den Profit anderer geschnitten worden war. Die Prophezeiungen in ihr würden sich einen Weg bahnen, ob sie wollte oder nicht. Meg musste sich schneiden.

Deswegen war ihre heutige Verabredung mit dem Rasiermesser auch so wichtig. Sie spürte nicht das unangenehme Prickeln und Stechen, das sie davor warnte, dass etwas geschehen würde. Nichts drängte sie und das machte diesen Morgen perfekt dafür herauszufinden, was passierte, wenn sie einen kontrollierten Schnitt setzte.

Die Hintertür des Büros öffnete sich. Einen Moment später stand Merri Lee in der Tür des Waschraums, Stift und Block in der Hand.

Sie waren beide zart gebaute Frauen, ungefähr gleich alt, und hatten helle Haut. Was sie unterschied, war, dass Merri Lee dunkle Augen und dunkles Haar hatte, das ihr in einem Stufenschnitt bis über die Schultern fiel, während Meg klare graue Augen hatte und ihr kurzes schwarzes Haar noch immer in einem merkwürdigen orange-rot gefärbt war, nachdem sie versucht hatte, sich auf der Flucht vor dem Mann, den man als den Controller kannte, zu verkleiden.

»Und du bist dir wirklich sicher?«, fragte Merri Lee. »Vielleicht sollten wir doch warten, bis Simon und Henry von Great Island zurück sind.«

Meg schüttelte den Kopf. »Wir sollten es genau jetzt machen, bevor das Büro öffnet und ich zusätzlichen … Einflüssen ausgesetzt bin. Das könnte verändern, was ich sehe. Vlad arbeitet heute bei Howling Good Reads. Wir können ihm von der Prophezeiung erzählen – und er ist auch nah genug, falls wir Hilfe brauchen.

»Na gut«, sagte Merri Lee und zog sich aus der kleinen Essecke neben dem Waschraum einen Stuhl herüber. Sie ließ sich darauf fallen. »Was soll ich dich fragen?«

Meg hatte darüber nachgedacht. Wenn Klienten in die Anlage des Controllers gekommen waren, dann hatten sie ganz spezifische Fragen gehabt. Sie wusste nicht so genau, wonach sie eigentlich suchte, aber sie brauchte irgendeine Art von Grenze. »Ich denke, du solltest mich fragen, worauf die Bewohner des Lakeside Courtyard in den nächsten dreizehn Tagen besonders achten sollten.«

»Das ist aber sehr schwammig formuliert«, sagte Merri Lee. »Und … warum dreizehn Tage?«

»Wenn ich nach etwas Bestimmten im Courtyard frage, könnte etwas anderes übersehen werden – und das könnte dann genau das sein, was für die Anderen wichtig gewesen wäre«, antwortete Meg. »Zwei Wochen sind ein guter Zeitraum. Und wegen der dreizehn Tage – ich habe gelesen, dass dreizehn eine magische Zahl ist, und es klingt irgendwie besser. Denkst du nicht, es passt besser zu einer Prophezeiung als ›zwei Wochen‹?«

»Aber wenn es nicht funktioniert und wir nichts Brauchbares erfahren, dann hast du den Schnitt völlig umsonst gesetzt.«

»Nicht umsonst«, sagte Meg. Die Euphorie war Grund genug, sich zu schneiden, aber das war nichts, was sie ihrer Freundin verraten würde, und so schob sie eine andere Wahrheit vor.

»Wenn ich die Zeit zwischen den Schnitten ausdehnen kann, weil ein einzelner mir die Warnungen für zwei Wochen gibt und das schreckliche Prickeln abstellt, das mich zum nächsten Schnitt treibt, werde ich länger leben. Und ich will leben – besonders jetzt, wo ich tatsächlich ein Leben habe.«

Einen Herzschlag lang herrschte Stille, dann nickte Merri Lee. »Bist du bereit?«

»Ja.« Sie öffnete das silberne Rasiermesser und legte es sich flach auf die Haut. Es war etwa einen Zentimeter breit, was den perfekten Abstand zwischen zwei Schnitten darstellte. So blieben die Prophezeiungen getrennt, ohne wertvolle Haut zu verschwenden. Sie richtete die Klinge an der letzten Narbe auf ihrem linken Unterarm aus. Dann drehte sie ihre Hand und schnitt gerade tief genug, um das Blut zum Fließen zu bringen und – ebenso wichtig – um eine Narbe zu hinterlassen.

Allumfassende Schmerzen durchdrangen sie als Vorbote der Prophezeiung. Sie hörte jemanden weinen – jemanden, den sonst niemand hören konnte. Meg biss die Zähne zusammen, legte das Rasiermesser zur Seite und ließ ihren blutenden Arm im Waschbecken ruhen. Dann nickte sie Merri Lee ruckartig zu.

»Worauf sollen die Bewohner des Lakeside Courtyard in den nächsten dreizehn Tagen besonders achten?«, fragte Merri Lee. »Sprich, Prophetin, und ich werde zuhören.«

Sie sprach und schilderte alles, was sie sah. Die Bilder verblassten im Klang ihrer Worte und Wellen der Euphorie riefen ein wundervolles Kitzeln in ihren Brüsten und eine rhythmisches Pulsieren zwischen ihren Beinen hervor, die den Schmerz wegspülten.

Sie wusste nicht, wie lange sie sich auf der Lust treiben ließ, die von der Euphorie hervorgerufen wurde. Manchmal schien sie sofort zu verschwinden, wenn das letzte Bild vor Megs innerem Auge verschwamm, während sie manchmal noch für eine ganze Weile danach einen Schleier der Ekstase über alles legte. Als sie wieder klar denken konnte und sich ihrer Umgebung bewusst wurde, erkannte Meg, dass genug Zeit vergangen war, um Merri Lee die Gelegenheit zu geben, ihren Schnitt zu verbinden, die Klinge zu reinigen und das Waschbecken auszuspülen.

Das Blut der Cassandra Sangue war gefährlich, sowohl für Menschen als auch für Andere. Man hatte es genutzt, um Zum Wolf Geworden und Feelgood herzustellen, zwei Drogen, die in den letzten Monaten in ganz Thaisia für eine Menge Ärger gesorgt hatten. Deswegen hatten sie bei ihrer Planung für diesen Schnitt beschlossen, dass alles Blut weggewaschen und die Bandagen später im Versorgungskomplex des Courtyard verbrannt werden sollten.

»Hat es funktioniert?«, fragte Meg. »Habe ich etwas geweissagt? Habe ich etwas Nützliches gesehen?«

Ihre Stimme war rau und ihr Hals tat weh. Sie wollte Merri Lee um ein Glas Wasser bitten, vielleicht um einen Saft, doch sie hatte nicht die Kraft, um mehr zu sagen.

»Vertraust du mir, Meg?«

Das klang mehr als verdächtig, besonders weil die Antwort auf ihre Frage »Ja. Ich vertraue dir« lautete.

Merri Lee nickte, als würde sie für sich selbst etwas bestätigen. »Ja, es hat funktioniert. Besser als wir erwartet hatten, aber ich brauche etwas Zeit, um die Bilder zu sortieren.«

Keine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit.

Meg sah ihre Freundin durchdringend an. »Du willst mir nicht sagen, was ich gesehen habe.«

»Nein, will ich nicht. Wirklich nicht.«

»Aber –«

»Meg.« Merri Lee schloss für einen Moment die Augen. »Niemand im Courtyard ist in unmittelbarer Gefahr, aber du hast ein paar Sachen gesagt, die … na ja, die verstörend waren. Sachen, bei denen ich mir nicht sicher bin, was sie zu bedeuten haben. Ich möchte die Bilder vorab mischen. So wie letztes Mal, als wir sie auf Karteikarten gezeichnet und die Reihenfolge geändert haben, bis sie uns eine Geschichte erzählt haben. Dann gehe ich rüber zu Howling Good Reads und rede mit Vlad.«

»Habe ich gesehen, dass Sam irgendetwas zustößt? Oder Simon? Oder … irgendjemandem hier?«

In seiner menschlichen Form sah Sam Wolfgard aus, als wäre er acht oder neun Jahre alt, und er war immer noch ein Welpe. Simon war ihr Freund. Alleine der Gedanke, dass einem von ihnen etwas Schlimmes passieren könnte, zog ihr die Brust zusammen.

Merri Lee schüttelte den Kopf. »Du hast nichts gesagt, von dem ich darauf schließen konnte, dass irgendjemand hier in Gefahr ist.« Sie legte ihre Hand auf Megs. »Wir lernen beide gerade erst, was wir hier tun, und ich hätte einfach gerne eine zweite Meinung, bevor du und ich über das reden, was du gesehen hast. Okay?«

Keine unmittelbare Gefahr. Kein Risiko für ihre Freunde. »Okay.«

»Es ist beinahe neun Uhr. Du solltest noch etwas essen, bevor du das Büro öffnest.«

Meg folgte Merri Lee aus dem Waschraum und ihr Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Sie brauchte wirklich etwas zu essen und ein klein wenig Ruhe. Musste sich etwas überlegen, das sie dem wachhabenden Wolf erzählen konnte. Selbst wenn sie ihm aus dem Weg ging, würde er Blut und Desinfektionsmittel riechen können. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie John überzeugen konnte, keinen Alarm zu schlagen, und wenn heute Skippy an der Reihe war, Wache zu halten, würde ein Teller mit Keksen reichen, um ihn abzulenken. Wenn aber Blair, der führende Vollstrecker des Courtyard, mit Skippy auftauchte, wie er es so oft tat …

Vielleicht hatte Merri Lee recht und es war besser, mit Vlad zu reden, bevor jemand wegen des Schnittes herumjaulte und alle angerannt kamen und Antworten verlangten.

»Merri?«, sagte Meg, als ihre Freundin die Hintertür des Büros öffnete. »Habe ich sonst nichts von den Anderen gesehen?«

Merri Lee schüttelte den Kopf und verzog dann das Gesicht. »Na ja, du hast grabende Pfoten gesehen.«

»Graben?« Jetzt verzog Meg das Gesicht. »Warum sollte das wichtig genug sein, um in einer Vision aufzutauchen?«

»Keine Ahnung. Vielleicht sagt es Vlad oder einem der Wölfe etwas.« Merri Lee zögerte. »Bist du in Ordnung? Ist dir schwindlig, oder so?«

»Nein. Mir geht es gut.«

»Vergiss nicht, etwas zu essen.«

»Versprochen.«

Sobald Merri Lee die Hintertür geschlossen hatte, sah Meg in den kleinen Kühlschrank unter der Theke. In der Anlage hatten die Wandelnden Namen, die sich um die Mädchen kümmerten, ihnen nie die Wahl gelassen, was sie nach einem Schnitt zu essen bekamen. Sie wurden gut genährt, aber durften niemals selbst bestimmen. In keiner Hinsicht.

Weil sie sich nicht entscheiden konnte, wärmte Meg ein kleines Stück Quiche und ein halbes Rindfleisch-Sandwich in der Mikrowelle auf. Sie goss sich ein Glas Orangensaft ein, dann trug sie ihre Mahlzeit in den Empfangsraum.

Sie konnte sich eine der CDs anmachen, die sie sich von Music and Movies ausgeliehen hatte, und sich die Musik anhören, während sie aß. Oder sie konnte eines der vielen Magazine lesen, die sie sammelte, um sich Inspiration zu neuen Bildern für ihre Prophezeiungen zu holen.

Aber eigentlich wollte sie gerade weder neue Töne noch neue Bilder. Sie wollte wissen, was sie gesehen hatte. Sie wollte dabei helfen, herauszufinden, was die Bilder bedeuteten.

Und obwohl ihre beste Freundin sich Mühe gegeben hatte, sie zu beruhigen, wollte Meg doch wissen, was sie gesehen hatte und worüber Merri Lee nicht sprechen mochte.

Vladimir Sanguinati, Mit-Manager von Howling Good Reads, ließ sich hinter dem Schreibtisch im Büro der Buchhandlung nieder. Er schaltete den Computer an, ignorierte den wachsenden Stapel Papierkram und schrieb eine kurze E-Mail an Stavros Sanguinati, der in Toland lebte, der großen Stadt an der Ostküste, in der alle großen Verlage saßen.

Die Verlage der Menschen. Seit den Unruhen im Mittleren Westen vor einigen Wochen, hatten sich die Lieferungen fast aller Rohstoffe extrem verlangsamt, ganz egal, ob sie aus den betroffenen Gebieten kamen oder nicht. Es konnte also tatsächlich sein, dass die menschlichen Verleger die bestellten Titel wirklich nicht vorrätig hatten. Vielleicht warteten sie nur auf eine neue Lieferung Papier, um die bestellten Bücher und Neuerscheinungen zu drucken. Oder aber sie waren dumm genug, nur die Bücher nicht auf Lager zu haben, die von Terra Indigene bestellt worden waren.

Stavros würde es herausfinden. Genau wie Großvater Erebus genoss er die alten Filme etwas zu sehr und spielte oft eine Karikatur seiner eigenen Art – den Hinterwäldler-Vampir, der Bluejeans und ein kariertes Hemd trug, dessen Füße in schweren Arbeitsstiefeln steckten und der mit übertrieben düsterer Stimme Dinge wie »Wir wollen ein Sixpack Blut« sagte. Wenn er aber in offiziellem Auftrag des Toland Courtyard unterwegs war, folgte Stavros der Tradition der Sanguinati und trug schwarz. Es war nichts Hinterwäldlerisches an ihm, wenn er in einer Limousine vorfuhr und einen Anzug aus feinstem Stoff trug.

Stavros wurde als der Problemlöser des Toland Court bezeichnet und dabei grinsten die Leute. Da Vlad wusste, wie der andere Vampir mit Problemen umging, taten Menschen, die einen offiziellen Besuch von ihm erhielten, Vlad beinahe leid. Stavros würde dafür sorgen, dass die Unternehmen Läden wie Howling Good Reads an erste Stelle setzten, wenn sie ihre Bestellungen abarbeiteten, und Vlad würde die Anfragen der Terra-Indigene-Siedlungen erfüllen können, die ihre Waren über den Lakeside Courtyard bezogen. Die von den Menschen hergestellten Güter waren der einzige Grund, warum die Terra Indigene des Kontinents Thaisia die anhaltende Existenz der einfallenden Affen überhaupt duldeten. Wenn diese Güter nicht mehr geliefert wurden, waren die Menschen nur noch als eines gut: Fleisch.

Nachdem Vlad seine E-Mail abgeschickt hatte, hörte er jemanden die Treppe heraufkommen. Zögernde Schritte, aber kein Schleichen. Es konnte jemand aus dem Menschenrudel sein, der den Computer der Geschäftsvereinigung nutzen wollte, deren Räume die andere Hälfte im HGR-Obergeschoss füllten. Sie hatten Anweisung bekommen, vorher um Erlaubnis zu fragen, und die neueren Angestellten mussten sich noch immer daran gewöhnen, so nah mit den Anderen – und vor allem für die Anderen – zu arbeiten. Das konnte das Zögern erklären.

Als Merri Lee im Türrahmen stehen blieb und er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah, war ihm klar, dass sie gezögert hatte, weil sie wusste, dass ihm nicht gefallen würde, was sie ihm zu sagen hatte. Er schloss das E-Mail-Programm und wartete darauf, dass sie mit der Sprache herausrückte.

Als Howling Good Reads noch für Menschen geöffnet gewesen war, hatte er gehört, wie Menschenweibchen ihn als »Eye Candy« bezeichnet hatten, womit sie meinten, dass sein dunkles Haar und die ebenso dunklen Augen, seine olivfarbene Haut und sein hübsches Gesicht ihm auf Beutefang gute Dienste leisteten. Für ihn war das Nähren oft genug gleichzeitig auch Vorspiel.

Aber Merri Lee hatte nie sexuelles Interesse an ihm gezeigt, was nur bewies, dass sie intelligenter als das durchschnittliche Menschenweibchen war. Außerdem ging sie mit einem Polizisten aus und so war es unwahrscheinlich, dass sie gekommen war, um sich ihm an den Hals zu werfen.

Das wiederum bedeutete, dass ihm der Grund für ihre Anwesenheit wirklich nicht gefallen würde.

»Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann, Ms. Lee?«, fragte er schließlich, als sie weder sprach noch eintrat.

Sie eilte zum Besucherstuhl und setzte sich.

Sie zittert, dachte er und sein Körper spannte sich an. »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete sie. »Im Moment. Du musst dem wachhabenden Wolf sagen, dass er sich nicht aufregen und keine Unruhe verursachen soll.«

Ihm schoss durch den Kopf, dass er gar nicht wusste, wer heute für den Wachdienst eingeteilt war. Wenn Meg im Menschlichen Verbindungsbüro arbeitete, war es normalerweise Nathan Wolfgard, einer der besten Vollstrecker des Courtyard. Aber Nathan war noch für ein paar Wochen in den Addirondaks und rannte mit den Wölfen, die in der bergigen Region lebten. Er hatte seine Pflichten wie seine menschliche Haut abgestreift. Die Sanguinati fühlten sich in den menschlichen Städten sehr viel wohler, da der Rauch, ihre zweite Gestalt, sie zu den perfekten Raubtieren für städtische Gebiete machte. Aber für Gestaltwandler wie Wölfe, Bären und die verschiedenen Katzenartigen, war das Leben in einem Courtyard eine ständige Belastung.

In einem Courtyard zu arbeiten, war ein Opfer, das manche Terra Indigene für das Wohl ihrer Art bringen mussten. Sie konnten die zweibeinigen Räuber, die aus anderen Teilen der Welt nach Thaisia gekommen waren, nicht einfach unbeaufsichtigt lassen. Sie ermöglichten es den Menschen auf diesem Kontinent überhaupt, existieren zu können. Vlad wunderte sich, ob es überhaupt Menschen gab, die das begriffen – oder die wussten, was mit Orten passierte, die man den Menschen geliehen hatte und in deren Nähe ein »zivilisierter« Ort wie ein Courtyard von der Karte verschwand.

Aber diese Gedanken waren jetzt nicht wichtig. Nicht, während das Weibchen ihn von der anderen Seite des Schreibtisches aus anstarrte.

»Was wird den Wolf aufregen?«, fragte er mit dem unguten Gefühl, dass er die Antwort bereits kannte.

»Meg hat einen Schnitt gesetzt.«

Vlads Hände ballten sich zu Fäusten, doch er blieb sitzen.

»Wir hatten es für diesen Morgen geplant«, sagte Merri Lee schnell, als wollte sie es hinter sich bringen. »Eine Art Experiment.«

Lass sie reden. »Hat irgendetwas Meg verstört?«

»Nein. Weißt du, das war überhaupt der Grund, warum sie es getan hat. Sie wollte einen kontrollierten Schnitt setzen, ohne dass etwas sie dazu treibt.«

Tausend Schnitte. Anscheinend war das ein Limit, das eine Cassandra Sangue nicht überschreiten konnte, bevor sie den Schnitt tat, der sie entweder umbrachte oder ihr den Verstand raubte.

Aber es zählten nicht nur die Schnitte mit dem Rasiermesser. Jede Verletzung, die ihre Haut durchbrach, brachte sie dem Ende näher. Die meisten dieser Mädchen erlebten nicht einmal ihren fünfunddreißigsten Geburtstag und hier hatten wir Meg, die sich schnitt, obwohl es nicht nötig war.

Die Sucht ist ihr eigener Grund. Es machte Sinn, dass Meg einen Zeitpunkt gewählt hatte, zu dem Simon Wolfgard und Henry Beargard nicht am Courtyard waren. Aber es erklärte nicht, warum Merri Lee jetzt zu ihm kam.

Er musste ruhig klingen. Vernünftig. Merri Lee war ein Mitglied von Megs menschlichem Rudel und die beiden hatten in der Vergangenheit gezeigt, dass sie zusammenarbeiten und die Vorhersagen interpretieren konnten. »War das Experiment erfolgreich?«

Merri Lee nickte. »Es unterschied sich sehr vom letzten Mal, als ich ihr geholfen habe. Nach dem anfänglichen … Unbehagen … begann Meg zu sprechen. Viele Bilder. Ich denke, sie hat auch Dinge gehört, aber die Geräusche zu Teilen der Bilder gemacht. Ich habe alles aufgeschrieben.« Sie reichte ihm ein Blatt Papier.

Vlad studierte die lange Liste aufmerksam. »Was hat das zu bedeuten?« Er zeigte auf ein eingeklammertes P hinter manchen Wörtern.

»Das sind Pausen«, sagte Merri Lee. »Das war auch anders als beim letzten Mal. Meg hat Pausen gemacht wie ein Aufatmen in der Musik, deswegen dachte ich, dass die unterteilten Wortgruppen vielleicht je ein Bild ergeben könnten.« Sie reichte ihm einige Karteikarten, die er nach kurzem Zögern betrachtete.

»Was für eine Frage habt ihr gestellt?«

»Wir wollten wissen, worauf die Bewohner des Courtyard in den nächsten dreizehn Tagen achten sollten.«

»Bewohner? Nicht nur die Terra Indigene?«

Sie zögerte. »Nein. Wir haben ausdrücklich Bewohner gesagt, nicht nur die Anderen. Was Meg gesehen hat, trifft für alle zu, die im Courtyard leben.«

Also alle, einschließlich Meg und Merri Lee.

Vlad sah sich die ›Geschichten‹ auf den Karteikarten an und musste ein Schaudern unterdrücken.

Hilfe gesucht: WLU

Feuerschneise, neuer Weg (Brand/Inferno?). Pfad Kompass / Kompass Pfad?

Schwangeres Mädchen auf einem Feldweg. Silbernes Rasiermesser. Blut. »Tu es nicht! Es ist noch nicht zu spät!«

Weinendes Mädchen. Silbernes Rasiermesser. Zerschmettertes Reh am Highway (überfahren).

Braunbär isst Juwelen.

Gemüsegarten. Pfoten graben, Hände pflanzen.

Käufer-gesucht-Schilder.

Einige dieser ›Geschichten‹ ergaben für ihn keinen Sinn. Aber wenn er die anderen richtig interpretierte, würden die Terra Indigene schnell und als Einheit handeln müssen.

Vlad sah Merri Lee aufmerksam an.

»Welche davon verstehen Sie?« Er legte die Karteikarten an den Rand des Schreibtischs, wo die Frau sie erreichen konnte.

Sie zögerte, dann deutete sie auf »Hilfe gesucht: WLU.«

»Über der Tür des Verbindungsbüros stehen die Buchstaben MGU, für ›Menschliche Gesetze Ungültig‹. WLU steht für ›Wolfliebhaber unerwünscht‹.« Sie schluckte schwer und mied seinen Blick. »In der letzten Woche sind mehrere Stellenanzeigen in der Lakeside News aufgetaucht, die diese Buchstaben am Ende trugen, und ich habe sie auch schon in den Fenstern einiger Läden gesehen.«

»Ich verstehe.« Und wie er verstand. Brandmarke jeden, der den Frieden zwischen den Menschen und den Terra Indigene wahren will, als Wolfsliebhaber – besonders wenn derjenige in irgendeiner Weise direkt mit den Anderen zu tun hat – und zwinge diese Leute, sich zwischen einem Job und der Möglichkeit, ihre Familie zu ernähren, entscheiden zu müssen, oder zwinge den Widerstand, sich gegen einige Idioten zu wehren. Idioten, die einen Kampf provozierten, der mit vielen, vielen toten Menschen oder Vertriebenen enden würde.

Er dachte an die Menschen, die im Courtyard arbeiteten, und an die zwei grundlegenden Dinge, die jeder brauchte – Essen und Unterkunft. »Werden diese Buchstaben nur für Stellenausschreibungen genutzt oder auch für Wohnungen?«, knurrte er.

Merri Lee antwortete nicht und das war Antwort genug.

»Was noch?«, fragte Vlad.

»Das … Es ist nicht wirklich meine Angelegenheit.«

Er lehnte sich vor. Sie zuckte zurück.

»Sagen Sie es trotzdem«, schlug er vor.

»Ruth Stuart und Karl Kowalski. Jeder wurde dazu angehalten, diesen Sommer einen Garten anzulegen und Gemüse zu pflanzen, um zusätzliche Lebensmittel zu haben und nicht nur auf das Angebot auf dem Mark angewiesen zu sein. Na ja, Ruth und Karl haben Materialien gekauft und ein Hochbeet für ihr Mietshaus gebaut. Es war abgesprochen, dass sie eine Hälfte des Beets nutzen und die anderen Bewohner, einschließlich des Vermieters, sich die andere Seite teilen. Aber kaum war die Arbeit erledigt, schickte ihnen der Vermieter die Kündigung, weil sie unannehmbare Mieter seien. Er will sie bis Ende des Maius aus der Wohnung haben und hat bereits annehmbare Leute gefunden, die am ersten Juin einziehen. Das gibt Ruth und Karl gerade mal drei Wochen, um ein neues Zuhause zu finden und umzuziehen. Sie haben den Vertrag für ein Jahr unterschrieben und hatten kaum Zeit, sich einzurichten. Der … Mann sagt, er wird ihnen die Materialien, die sie gekauft haben, nicht erstatten, und auch nicht die Kaution oder die Miete für den letzten Monat, die sie gezahlt haben, als sie eingezogen sind. Wenn sie annehmbar waren, bevor sie so viel Arbeit in ihr neues Zuhause gesteckt haben, warum sind sie es dann jetzt nicht mehr? Und wenn dieser Kerl damit durchkommt, was hält dann den nächsten Vermieter davon ab, denselben Mist durchzuziehen?«

Und was würde diesen Vermieter davon abhalten, denselben Trick beim nächsten Mieter abzuziehen? Es klang auf den ersten Blick nach einem Menschen-gegen-Menschen-Problem. Schließlich betrogen sich Menschen gegenseitig am laufenden Band.

Aber Karl Kowalski war einer der Polizisten, die direkt mit den Führern des Courtyard zusammenarbeiteten, um dafür zu sorgen, dass nicht jeder Zusammenstoß zwischen Menschen und Anderen in einem ausgewachsenen Kampf endete. Wenn Kowalski dafür als Wolfliebhaber ausgestoßen und aus seinem Zuhause gejagt wurde, mussten die Anderen ihre Aufmerksamkeit auf die Dinge richten, die oberflächlich nach reinen Menschenangelegenheiten aussahen.

Aber wenn Ruthie keine annehmbare Mieterin mehr war, weil sie jetzt für den Lakeside Courtyard arbeitete, dann war zumindest der Ärger mit diesem speziellen Vermieter keine rein menschliche Angelegenheit mehr, oder?

Das würde er mit Großvater Erebus besprechen müssen.

Wenigstens hatte Merri Lee in der Verteidigung ihrer Freunde ihr altes Feuer wiedergefunden und verhielt sich nicht mehr wie ein verschrecktes Häschen. Sie erzählte ihm von Ruthie und Kowalski, aber sie berichtete auch von den Problemen, die sich vor ihr und Michael Debany auftaten. Debany war ein weiterer Polizist, der mit den Anderen zu tun hatte, und Merri Lee arbeitete für den Courtyard. Im Moment lebte sie in einer der Einzimmerwohnungen über der Näherei, aber früher oder später würden sie und Debany als Paar zusammenziehen wollen und sich denselben Anfeindungen ausgesetzt sehen.

»Noch etwas?«, fragte er. Sie hatte ihm schon einiges zum Nachdenken gegeben, aber er spürte, dass sie noch nicht ganz fertig war.

Merri Lee deutete auf die Warnung, dass es noch nicht zu spät für etwas sei.

»Ich glaube, das war kein Teil der Vision. Ich glaube, Meg wollte es dem Mädchen zurufen, das sie gesehen hat.« Sie atmete schwer aus. »Diese beiden Geschichten mit den Mädchen beinhalten ein silbernes Rasiermesser. Die Blutprophetinnen sind in Gefahr, oder?«

Gefahr könnte ein zu schwaches Wort für das sein, was mit diesen Mädchen drohte.

»Danke, Ms. Lee«, sagte Vlad, anstatt auf ihre Frage zu antworten. »Sie und Meg haben mir viel zum Nachdenken gegeben. Aber es ist Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Sie versenden heute die Bestellungen aus dem Buchladen, nicht wahr?«

»Zumindest die Bestellungen, die ich versenden kann.« Merri Lee stand auf, bewegte sich aber nicht auf die Tür zu. »Ruth wollte dir nichts von dem Gemüsebeet oder den … anderen Sachen erzählen.«

»Dann bin ich besonders froh, dass Sie es getan haben.«

Vlad lauschte Merri Lees Schritten, bis sie im Erdgeschoss angekommen war, dann stieß er sich vom Tisch ab und ging zu den Fenstern, die über die Crowfield Avenue hinaussahen.

Verdammte Affen. Plapperten im Radio und in der Zeitung über die erste und letzte Bewegung der Menschen. Humans First and Last. Dabei waren sie Neulinge in der Welt! Die Terra Indigene waren in der einen oder anderen Form schon auf der Welt gewandelt, bevor es Dinosaurier gegeben hatte, aber die Menschen dachten trotzdem, sie hätten das Recht, irgendetwas zu kontrollieren. Und dann die Ansprachen der Mitglieder der HFL-Bewegung, die dieses Denken auch noch unterstützten.

War den Menschen nicht klar, dass die Terra Indigene solche Worte schon zuvor gehört hatten?

Begriffen sie nicht, dass sie mit solchen Worten nur davor warnten, dass sich ein Kampf um den Lebensraum anbahnte?

Und hatten sie sich nie gefragt, was mit all den Städten und Zivilisationen der Menschen geschehen war, die in der Vergangenheit solche Forderungen gestellt hatten?

Aber gut, dachte Vlad. Macht ihr nur. Ihr Affen habt doch keine Ahnung, was da draußen im Wilden Land lauert. Aber ihr werdet es herausfinden. Wenn ihr einen Kampf mit den Anderen in Thaisia herausfordert, werdet ihr es herausfinden.

Während er abwesend den Verkehr betrachtete, der sich die Crowfield Avenue entlang zog, sah er ein Auto, das auf der anderen Seite der Straße an den Rand fuhr und dort anhielt. Zwei Männer stiegen aus, holten ein Käufer-gesucht-Schild aus dem Kofferraum und brachten es im Vorgarten eines der großen steinernen Wohnhäuser gegenüber des Courtyards an. Dann gingen sie zu einem anderen Haus und wiederholten das Ganze.

Vlad schaute über seine Schulter zu den Karteikarten auf dem Schreibtisch. Er studierte die Schilder erneut.

Ich muss das mit Simon besprechen, dachte er, während er sich wieder an den Schreibtisch setzte und eine kurze Mail an alle Sanguinati in Thaisia schickte. Was Meg gesehen hat, ist schon in vollem Gange, und das bedeutet die Blutprophetinnen, das Süße Blut, ist bereits in Gefahr.

Er schloss sein E-Mail-Programm und verließ Howling Good Reads, ohne sich auch nur damit aufzuhalten, Merri Lee zu sagen, dass er ging. Er wechselte zu seiner Rauchgestalt und eilte zu den Kammern, um Großvater Erebus zu berichten.

AN: Alle Sanguinati in Thaisia

BETREFF: WLU

Lest die Stellenanzeigen in menschlichen Zeitungen. Haltet nach den Buchstaben WLU Ausschau. Sie stehen für ›Wolfliebhaber unerwünscht‹ und sind ein Schlag gegen die Menschen, die keine Feinde der Terra Indigene sind. Erstellt eine Liste der Unternehmen, die diese Anzeigen aufgegeben haben. Sucht auch in den Anzeigen für Wohnungen oder Häuser nach diesem Kürzel. Sammelt Informationen, aber handelt noch nicht. Unsere wahre Beute sind die zweibeinigen Raubtiere des Rudels, das sich Humans First and Last nennt. Sie verstecken sich zwischen den anderen Menschen und WLA ist ein Zeichen ihrer Anwesenheit in eurem Territorium.

Unter den Sanguinati werden diese Menschen als Giftzungen bezeichnet werden, da sie andere Menschen mit ihren Worten vergiften.

Bleibt wachsam und erstattet Bericht. Lasst die Giftzungen ans Licht kommen. Dann sind sie einfacher zu töten.

– Vladimir Sanguinati im Auftrag von Erebus Sanguinati

2

Thaistag, Maius 10

Simon Wolfgard stellte den Minivan auf dem Parkplatz für die Passagiere der Great Island Fähre ab. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und drehte sich dann noch einmal zu seinem Begleiter, Henry Beargard, um. »Warum hat Vlad angerufen?«

»Er möchte, dass die Geschäftsvereinigung zusammenkommt, sobald wir wieder im Courtyard sind«, antwortete Henry. »Er sagt, wir sollen uns mit Lieutenant Montgomery und Dr. Lorenzo treffen, sobald wir können. Vielleicht auch mit Captain Burke.«»Was ist passiert?« Simon knurrte und spürte, wie sich seine Eckzähne zu Wolfslänge ausfuhren.

»Nichts, um das du dir jetzt Sorgen machen müsstest, aber einige Dinge, über die wir sprechen müssen. Um die sich gekümmert werden muss. Mit Meg ist alles in Ordnung«, fügte Henry hinzu. »Vlad ist rüber zum Verbindungsbüro und hat nachgesehen, bevor er angerufen hat.«Er wusste ganz genau, wie er diese Worte zu interpretieren hatte. »Sie hat sich geschnitten und eine Vision gehabt.«

Henry nickte. »Meg ist besorgt, weil Merri Lee ihr nicht sagen will, was passiert ist, aber Vlad sagt, beiden Mädchen geht es gut. Der Schnitt ist mit Sorgfalt gesetzt und gut behandelt worden. Genau genommen war Meg zwar beunruhigt über ihre Vorhersage, klang aber fröhlich und entspannt. Sie hat wohl etwas von einem Symbol für einen Neuanfang gesagt und Vlad dann damit abgewimmelt, dass es Frauensache sei.«

Aus ›Frauensachen‹ wollte Simon seine Nase lieber heraushalten. Das konnte sehr schnell sehr gefährlich werden. Aber zumindest über den Schnitt musste er sich diesen Worten nach keine Gedanken machen.

Falls Meg Anlass zur Sorge bot, würde Vlad das nicht ignorieren, besonders da Großvater Erebus, der Anführer der Sanguinati in Lakeside – und vielleicht der Anführer der Sanguinati der nordöstlichen Regionen oder sogar von ganz Thaisia – ein besonderes Interesse an dem Mädchen zeigte, das er das Süße Blut nannte.

Nun, nicht wirklich ein Mädchen, dachte Simon, während er und Henry den Minivan abschlossen und zu der kleinen Bude gingen, an der die Fahrkarten für die Fähre verkauft wurden. Meg war vierundzwanzig. Eine erwachsene Frau. Aber die Cassandra Sangue erhielten sich die Süße des kindlichen Herzens, was einer der Gründe war, warum sie als Nicht-Beute angesehen wurden.

Der andere Grund war, dass die Blutpropheten Namids Schöpfungen waren, erstaunlich und schrecklich zugleich, und sehr viel gefährlicher, als irgendjemand bisher erfasst hatte. Deshalb hatten die Anderen etwas verlangt, was die Menschen die ›Völlige Offenheit‹ nannten – sie mussten aufdecken, wo die Blutpropheten lebten, oder mussten sonst in Kauf nehmen, dass ganze Städte ausgelöscht wurden, wenn sie die Mädchen versteckt hielten.

Es hatte den ganzen Kontinent erschüttert, als die Terra Indigene den Mann gejagt hatten, den man den Controller nannte. Die Anderen im Mittleren Westen, wo sein Hauptquartier gelegen hatte, zerstörten nicht nur den Mann und jene, die für ihn arbeiteten, sondern brachten vor den Augen der menschlichen Behörden auch ans Licht, was die Gesetze, die ›Wohlwollenden Besitz‹ erlaubten, für die Cassandra Sangue bedeuteten, die in solchen Lagern gehalten wurden.

Meg war aus diesem Lager im Mittleren Westen gekommen. Simon hatte sie in ihrer Zelle gefunden, während er nach ihrer Freundin Jean gesucht hatte, und schon die Erinnerung an ihren Geruch an diesem Ort erfüllte ihn mit Zorn.

Der Mann in dem Fahrkartenhäuschen winkte sie durch. »Ihr fahrt heute kostenlos. Seht zu, dass ihr ans Wasser kommt, sie halten die Fähre für euch zurück.«

<Das ist ungewöhnlich>, sagte Henry und wechselte zu der Art der Kommunikation, die den Terra Indigene zu Eigen war, während sie zur Fähre gingen.

<Nein. Aber als Steve Ferryman angerufen hat, um uns um dieses Treffen zu bitten, habe ich die Angst in seiner Stimme gehört.>

Simon war sich nicht sicher, wie die Intuits sich selbst sahen – als eine Rasse, getrennt von den Menschen, oder eine Gruppe von Leuten, die unterdrückt wurden, weil sie eine besondere Gabe hatten, die es ihnen ermöglichte, die Dinge um sie herum zu erspüren, die anderen Menschen abging. Wie auch immer man diese Gabe nennen wollte – Intuition oder das Zweite Gesicht – sie schenkte den Intuits keine Visionen, sondern ein Gefühl zu etwas, eine Ahnung, ob es gut oder schlecht war. Man hatte sie vor Generationen aus den menschlichen Siedlungen verjagt und sie schlossen ihre eigenen Verträge mit den Terra Indigene, die ihnen ihre eigenen Dörfer zusicherten, die tief im Wilden Land lagen und wo sie sich vor ihren Verfolgern verstecken konnten.

Aber sie waren nicht immer außer Reichweite gewesen. Als sie noch unter den Menschen gelebt hatten, wurde von Zeit zu Zeit ein Mädchen geboren, das noch sensibler war als der Rest der Intuits. Mädchen, die tatsächlich Visionen hatten. Aus den Intuits entstanden die ersten Cassandra Sangue, die Warnungen der Zukunft sahen, wann immer in ihre Haut geschnitten wurde.

In gewisser Weise vollendete sich der Kreis. Die Intuit, die damals ihre Nachkommen aufgegeben hatten, weil sie dachten, sie würden damit sowohl die Mädchen als auch ihre anderen Kinder retten, meldeten sich jetzt freiwillig um sich um die Seherinnen zu kümmern, die aus den Lagern kamen, in denen sie als Gegenstände angesehen und auch als solche behandelt wurden.Meg war kein Gegenstand. Längst nicht mehr. Sie war eine Freundin – und sie hätte auf seine Rückkehr warten sollen, bevor sie das silberne Rasiermesser angesetzt hatte.

Sobald er wieder Zuhause war, würde er Meg dafür anknurren, dass sie diesen Schnitt heimlich gesetzt hatte. Und er würde Merri Lee anknurren. Das würde Eindruck hinterlassen.

Oder auch nicht.

Als Howling Good Reads noch für Menschen geöffnet gewesen war, hatten ständig Frauen in den Regalen herumgestöbert – entweder, um einen Blick auf einen Terra Indigene in Fell oder Federn zu erhaschen, oder aber, um sich auf die wilde Seite zu wagen. Letztere sahen Sex mit einem Mann, der kein Mensch war, als eine Art Trophäe an. Ein Verhalten, das leicht zu verstehen und noch leichter zu ignorieren war. Aber das Menschenrudel des Courtyards! Mit diesen Frauen war nichts einfach.

<Hör auf zu knurren>, sagte Henry. <Du machst den Menschen Angst.>

Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er knurrte. Schnell fuhr er sich mit der Zunge über die Zähne und entdeckte, dass er dringend seine Eckzähne einziehen musste, bis sie etwas menschlicher aussahen, bevor er die nervösen Menschen anlächelte, die ihn im Auge behielten.

»Guten Morgen«, sagte der Menschenmann, als Simon und Henry an Bord der Fähre traten. »Ich bin Will Ferryman, Steves Bruder. Und das hier ist unsere Tante, Lucinda Fish. Wir werden euch rüber auf die Insel bringen. Steve hat ein Zimmer im Rathaus für euch reserviert. Wisst ihr, wie ihr da hinkommt?«

»Wissen wir«, sagte Henry.

»Macht es euch etwas aus, wenn wir draußen bleiben?«, fragte Simon. Die Fähre war kein großes Boot und er wollte die Nacht wirklich nicht eingeschlossen mit ein paar nervösen Menschen verbringen. Nervös rochen sie mehr nach Beute, was den Jagdinstinkt des Wolfs ansprach. Das machte es sehr viel schwerer, sich zurückzuhalten, wenn der Geruch von Blut in der Luft lag.

»Kein Problem. Lehnt euch nur nicht zu weit über das Geländer«, sagte Will. »Selbst ein guter Schwimmer kann bei der Strömung hier in echte Schwierigkeiten kommen.«

<Denkt der, wir sind derart blöd?>, fragte Simon Henry, als sie zum Bug gingen.

<Nein, aber er hatte schon mit Menschen zu tun, die derart blöd waren>, antwortete Henry.

Will und seine Tante lösten die Leinen und die Fähre begann ihre Reise über den Talulah.

Ferryman’s Landing war ein Intuit-Dorf, das vom Fluss geteilt wurde. Die eine Hälfte des Dorfs lag auf dem Festland, während die andere sich auf Great Island befand. Im Gegensatz zu Lakeside, einer von Menschen kontrollierten Stadt auf dem Land, das von den Terra Indigene gemietet wurde, war Ferryman’s Landing schon immer eine menschliche Siedlung, die von den Anderen kontrolliert wurde. Das bedeutete, dass die Ureinwohner der Erde in allem, was die Menschen taten, das letzte Wort hatten, egal, ob es darum ging, ein neues Gebäude zu errichten oder jemandem zu erlauben, in das Dorf zu ziehen. Und sie hatten keine Skrupel, Menschen auszuschalten, die versuchten, Ärger zu machen.

Das war die schmutzige Wahrheit, die noch immer nicht ganz bei den Einwohnern von Talulah Falls angekommen war, jetzt, wo die Stadt nicht länger von Menschen kontrolliert wurde.

»Sieht so aus, als hätte Steve Ferryman nicht warten wollen, bis wir zum Rathaus gelaufen sind«, sagte Henry, als das Dock für die Fähre in Sicht kam und dort zwei Männer standen, die sie beobachteten. »Oder Ming Beargard hat seine eigenen Gründe, uns treffen zu wollen.«

Der Schwarze Bär behauptete, einfach nur in seiner Freizeit dafür sorgen zu wollen, dass der Frieden auf der Insel gewahrt blieb. Aber Ming war einer der wenigen Terra Indigene auf der Insel, die tatsächlich in das Dorf gingen, also war seine Behauptung ungefähr so zutreffend, wie wenn jemand gesagt hätte, Henry wäre nur ein Bildhauer. Lakesides Grizzly war ein Mitglied der Geschäftsvereinigung und der Seelenführer des Courtyard. Und als solcher hatte Henrys Meinung Gewicht.

Genau wie die Tatze, die einer Person ganz schnell wieder Vernunft einprügeln konnte.

<Steve bittet darum, dass ihr auf der Fähre bleibt>, verriet Ming ihnen. <Der Treffpunkt hat sich geändert.>

Ein Mantel aus Fell spross aus Simons Schultern. Als Mensch war er ein ganz anständiger Schwimmer. Als Wolf war er hervorragend. Trotzdem hatte er heute kein Interesse daran, seine Stärke und Ausdauer am Talulah River zu testen. Es gefiel ihm nicht, dass er sich darüber Gedanken machen musste, dass Steve Ferryman sie zu dieser Insel brachte und sie dann nicht hierhaben wollte, doch er hatte keinen Grund, dem Bürgermeister des Dorfs zu misstrauen. Noch nicht.

Sobald die Fähre anlegte, gingen Steve und Ming an Bord. Während Steve zum Steuerhaus ging, um mit Will zu sprechen, ermunterten Ming und Lucinda Fish die menschlichen Passagiere, das Schiff zügig zu verlassen. Die Fahrgäste warfen einen Blick auf Henry und Simon und ließen sich nicht lange bitten.

Noch immer am Bug der Fähre, beobachtete Simon, wie Roger Czerneda, der offizielle Polizist des Dorfs, und Flash Foxgard, ein weiterer Teilzeit-Friedenswahrer, Sägeböcke aufstellten, um den Zugang zur Fähre abzusperren.

»Irgendetwas ist merkwürdig«, sagte er leise zu Henry.

<Steve möchte, dass wir uns in die Kabine setzen und reden>, sagte Ming, nachdem der letzte Passagier an Land geeilt war und sich zwischen den Böcken hindurchgezwängt hatte.

<Gibt es einen Grund dafür, dass er uns nicht auf der Insel haben will?>, fragte Simon.

<Zu viele Menschen möchten mitreden, anstatt Steve ihre Stimme sein zu lassen>, antwortete Ming. <Sie haben sich in Erwartung eurer Ankunft vor dem Rathaus versammelt. Steve ist durch den Hintereingang geschlüpft, um euch hier zu treffen.>

<Haben die Intuits ein Gefühl für dieses Treffen empfangen?>

<Zu viele Emotionen, schätze ich. Keine Gefühle, die führen.>

<Nicht gut>, sagte Henry. Er ging auf die Kabine zu, ohne auf Simon zu warten.

Steve Ferryman war ein kraftvoller, gesunder Menschenmann mit sehnigen Muskeln, die mehr an einen Wolf als an einen massigen Bären erinnerten. Sein dunkles Haar war sauber und in den braunen Augen schimmerte eine wache Intelligenz.

Heute sah der Mann etwas … durchgekaut aus. Nein. Menschen würden nicht ›durchgekaut‹ sagen. Ausgelaugt. War das die eine menschlichere Ausdrucksweise?

»Danke, dass ihr euch bereit erklärt habt, euch mit mir zu treffen«, sagte Steve. »Und bitte entschuldigt die unvorhergesehene Änderung unserer Pläne, aber es war die einzige Möglichkeit für ein ruhiges Gespräch. Sollte es nötig werden, ist Will jederzeit bereit, abzulegen und uns in der Mitte des Flusses zu halten, um uneingeladene Gäste fernzuhalten.« Er atmete tief aus. »Wir haben etwas Gebäck von Eamers Bäckerei dabei und Tante Lu sagt, im Kessel ist Kaffee, falls ihr welchen möchtet.«

»Was wir wirklich möchten, ist eine Erklärung für deinen Anruf. Warum sind wir hier?«, sagte Simon.

Steve rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Das ganze Dorf hat Angst. Wir pissen uns in die Hosen und brauchen Hilfe.«

Simon hielt sich gerade noch davon ab, unter den Tisch zu schauen und zu schnüffeln. Die abgebrochene Bewegung zauberte ein Lächeln auf Steves Lippen.

»Das sagt man nur so«, erklärte er. »Es bedeutet, wir haben sehr viel Angst.«

Die Menschen hatten ja einige wirklich nützliche Flüche und Ausdrücke entwickelt, aber das war etwas, das Simon sicher nicht in seinen Wortschatz übernehmen würde.

»Ist es die Angst vor der Herrschaft der Terra Indigene in Talulah Falls?«, fragte Henry.

»Das gehört auch dazu«, bestätigte Steve. Er warf einen Seitenblick zu Ming.

»Die Anderen, die Talulah Falls kontrollieren, fühlen einen tief liegenden Hass gegenüber Menschen und würden ihnen niemals trauen«, sagte Ming. »Viele Ureinwohner der Erde um die Großen Seen denken, die Menschen hätten sich die Wut und das Misstrauen verdient. Denken, man sollte die menschliche Bevölkerung von Talulah Falls aussortieren, bis nur noch die übrig sind, die unbedingt notwendig sind, um die Maschinen und Geschäfte am Laufen zu halten, auf die nicht verzichtet werden kann. Sie suchen nach Gründen, um Menschen zu töten, und reagieren auf jede Art von Problem mit äußerster Gewalt. Selbst Menschen, die eine angeforderte Lieferung bringen, begeben sich in Gefahr.«

»Diese Art von Wut entspringt aus Erfahrungen«, grollte Henry.

»Das weiß ich. Aber diese Wut ist wie ein Waldbrand – entweder sie brennt aus oder entzündet die ganze Umgebung.«

»Die Crowgard von Talulah Falls und Great Island hatte eine Zusammenkunft. Nur deshalb haben wir überhaupt ein wenig von dem erfahren, was vor sich geht«, sagte Steve. »Die Krähen von Falls sagen, die Terra Indigene haben einen Vollstrecker angestellt, der sie unruhig macht. Er hat völlig freie Hand im Umgang mit Menschen, die sich auch nur den kleinsten Fehltritt erlauben. Sie sagen, sein Haar ist lang und zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, in deren Enden kleine Knochen eingeknüpft sind. Manchmal schlagen die Knochen aneinander, selbst, wenn er stillsteht, und es klingt wie wütende Schlangen. Das Haar wechselt die Farbe. Sie sahen einige Menschen mit Terra Indigene streiten. Es wirkte, als würde es einen Kampf geben. Die Krähen sahen den Vollstrecker nicht an, als die Knochen klapperten und die Haare schwarz wurden, aber sie starrten auf die Menschen, die tot zu Boden fielen.«

»Kennt ihr diese Form von Terra Indigene?«, fragte Ming.

Stille. Dann sagte Henry: »Die Zöpfe und Knochen sagen mir nichts, aber wir kennen die Form. Es ist gefährlich, auch nur davon zu sprechen. Falls ihr nach Talulah Falls müsst, seid sehr vorsichtig – und seht den Vollstrecker nicht an, wenn sein Haar schwarz wird.«

Ein Ernter, dachte Simon. Die Terra Indigene hatten einen Ernter gerufen, um sich der störenden Menschen anzunehmen. Ob Tess wusste, dass sich ein anderes Mitglied ihrer Art in der Gegend befand? Gab es einen sicheren Weg, sie zu fragen? Wahrscheinlich nicht.

Simon konzentrierte sich wieder auf Steve. »Was beunruhigt dich sonst noch?«

»Was wirklich Unruhe in unsere Gemeinschaft bringt, sind die fünf Cassandra Sangue, die ihr aus dem Mittleren Westen mitgebracht habt«, sagte Steve. »Wir dachten, sie würden sich hier einfügen. Zumindest schienen sie während der ersten paar Tage hier völlig in Ordnung. Aber jetzt vergeht kein Tag, ohne dass eine oder mehrere von ihnen einen emotionalen Zusammenbruch erleidet oder in Katatonie verfällt. Das kann zwischen ein paar Minuten bis zu ein paar Stunden anhalten. Wir wissen nicht, warum das passiert. Wir wissen nicht, wie wir ihnen helfen können. Es ist klar, dass sie aus dem Bed and Breakfast aus- und in ein normales Umfeld einziehen müssen. Nur was für eins? Und wo? Wir haben versucht, sie für eine Routineuntersuchung in unser Krankenhaus zu bringen. Drei von ihnen haben sich eingenässt und die anderen beiden sind in blinder Panik weggelaufen und wären beinahe überfahren worden. Erinnert ihr euch, dass ich von Jerry Sledgemans Familie erzählt habe? Seine Nichte hat angefangen, sich zu schneiden, und ist dann in den Fluss gesprungen und ertrunken. Ihr könnt euch sicher vorstellen, was es mit seiner Familie macht, fünf junge Mädchen zu sehen, die derart zusammenbrechen.«

»Du möchtest, dass wir sie mitnehmen?«, fragte Henry.

Steve schüttelte vehement den Kopf. »Die Intuits haben schon einmal Mädchen wie diese jemand anderem überlassen und es ist eine Schande, mit der wir zu leben haben. Wir werden diesen Fehler ganz sicher nicht noch einmal wiederholen. Aber es ist nicht nur unsere Gemeinschaft. Jedes Intuit-Dorf, das Mädchen aus dem Lager aufgenommen hat, hat diese Probleme. Jeden Tag bekomme ich E-Mails von anderen Dorfvorstehern, die um Hilfe bitten. Wir wollen nicht, dass diese Mädchen sterben, aber wir alle haben Angst, dass es damit enden wird.«

»Was ist mit Jean?«, fragte Simon. »Was sagt sie?«

Steve seufzte. »Jean ist … das Geschehene verfolgt sie. Sie hat sich kaum selbst unter Kontrolle. Sie wiederholt nur immer wieder, dass Meg es weiß. Dass Meg helfen kann.«

Als Simon Jean gerettet hatte, erzählte sie ihm, dass Meg der Pfadfinder war. Der Vorreiter. Damals hatte ihm der Klang dieser Worte gefallen. Jetzt klangen sie eher wie Mühlsteine, die jemand um Megs Hals binden wollte, bevor er sie in den Fluss warf, um zu sehen, ob sie überlebte. Aber die Mädchen, die er, zusammen mit Lieutenant Montgomery und Dr. Lorenzo, aus dem Lager des Controllers gerettet hatten, waren zwischen acht und elf Jahren alt. Noch immer Welpen, die, um zu überleben, auf die Hilfe der Erwachsenen des Rudels angewiesen waren. Jean, die eine Erwachsene und von dem, was man ihr angetan hatte, innerlich gebrochen war, blieb Megs Freundin.

»Ich werde mit Meg reden«, sagte Simon, dem es gar nicht gefiel, diese Entscheidung treffen zu müssen. Aber er war sich sicher, dass Meg alles andere als glücklich sein würde, wenn einer der anderen Blutprophetinnen etwas geschah.

»Es gibt etwas, das ihr sofort tun könnt, um den Mädchen ein wenig zu helfen«, sagte Henry. »Eure Körperwandler – Doktoren – sollen ihre weißen Mäntel nicht vor den Seherinnen tragen. Ihre Wärter trugen weiße Uniformen und weiße Mäntel. Meg verstören solche Dinge. Da ist es sehr wahrscheinlich, dass es die Mädchen ebenfalls verstört.«

»Das ist doch schon mal etwas«, sagte Steve. »Ich werde die Information weitergeben. Danke.«

»Die Terra Indigene sind bereit, das Land des Dorfs auszuweiten, um einen neuen Bau für die Cassandra Sangue zu errichten«, sagte Ming. »Aber erst müssen wir wissen, was wir bauen sollen.«

Ein beeindruckendes Zugeständnis, dachte Simon. Und es erinnerte ihn an etwas anderes. »Was ist mit diesem verlassenen Industriekomplex und den Wohnhäusern an der River Road? Ich weiß, dass der Pachtvertrag nicht verlängert wurde, weil die Fabrik zu viel Dreck in Land und Wasser geleitet hatte, aber ich habe mich gefragt, ob in den Häusern immer noch Menschen leben und welche Gruppe der Terra Indigene das Gebiet im Moment beansprucht.«

»Die Mädchen wären dort zu ungeschützt«, sagte Steve sofort. »Auf der Insel können wir kontrollieren, wer Zugang erhält. Deswegen sind sie hier.«

»Ich frage nicht wegen ihnen«, stimmte Simon zu. »Aber ich möchte nicht, dass sich dort Menschen einnisten, die aus Talulah Falls entkommen. Ich möchte kein potenziell feindliches Rudel auf dem Land zwischen Lakeside und Great Island haben.«

Steve sah Ming an, bevor er antwortete. »In einigen Häusern haben vor ein paar Monaten noch Leute gewohnt, aber der letzte Winter hat sie davon überzeugt, dass es besser ist, nicht alleine da draußen zu wohnen, wenn das Wetter schlechter wird.«

»Die Hawkgard haben berichtet, dass die letzten Menschen ihre Sachen gepackt haben und abgereist sind, sobald die Straßen wieder passierbar waren«, sagte Ming. »Ich habe nicht gehört, dass irgendwelche Terra Indigene die Gegend wieder als Wildes Land beansprucht haben. Möchtet ihr es beanspruchen?«

»Nicht alleine«, antwortete Simon.

»In diesem Fall könnten wir die Verantwortung für das Land mit dem Lakeside Courtyard teilen.« Ming sah Steve an und der nickte.

»Habt ihr Leute, die die Gebäude überprüfen könnten?«, fragte Simon Steve.

»Sicher«, antwortete er. »Wir haben Klempner, Baumeister und noch mehr. Ich werde ein Team zusammenstellen, das sich die Gebäude ansieht und uns eine Liste schreibt, was getan werden müsste, um sie wieder bewohnbar zu machen. Wir werden auch sehen, ob wir Wasser und Elektrizität in die Häuser bekommen.« Er zögerte. »Ich schätze, du stellst dir das als eine Gemeinschaft vor, in die man nur mit Einladung aufgenommen wird?«

Simon nickte. Er war sich noch nicht ganz sicher, wer dort leben sollte, aber ihm war klar, dass das Land und die Gebäude unter der Kontrolle der Anderen bleiben mussten.

Dann stand er auf. Körper und Geist waren viel zu voll. Gedrängt. »Genug.«

Steve erhob sich ebenfalls und tippte auf die Box von Eamers Bäckerei. »Nehmt die für euren Coffeeshop mit.« Dann verließ er die Kabine mit Ming.

Draußen wurden die Sägeböcke beiseitegeräumt und Passagiere kamen für die Fahrt zum Festland an Bord. Keiner kam in die Kabine.

Henry öffnete die Box der Bäckerei, grunzte zufrieden und nahm sich ein Stück Gebäck mit Fruchtfüllung. »Gut«, sagte er, nachdem er den ersten Bissen heruntergeschluckt hatte. »Also. Wünschst du dir schon, du wärst mit Nathan in die Addirondak-Berge gegangen?«

»Nein. Aber ich möchte mit Vlad sprechen. Und falls im Courtyard alles ruhig ist, möchte ich auf dem Heimweg einen Blick auf diese Häuser werfen.«

In diesem Augenblick hätte er seine Haut am liebsten gegen die des Wolfs getauscht, anstatt sich ständig mit menschlichen Problemen herumschlagen zu müssen, aber er trauerte der Chance, Zeit außerhalb des Courtyards zu verbringen, nicht hinterher. Er bereute es, nicht zurückgeblieben zu sein, um bei Meg bleiben zu können. Bei seiner menschlichen Freundin.

Er wünschte nur, er wüsste, warum Meg, der Pfadfinder, sich dazu entschlossen hatte, einen Schnitt zu setzen, während er unterwegs war.

3

Thaistag, Maius 10

Simon und Henry fanden eine Handvoll junger Sanguinati, die sich in einem der verlassenen Häuser eingenistet hatten, die die Siedlung ausmachten. Simon hatte ihr den Namen River-Road-Community gegeben. Die Gruppe waren von den Terra-Indigene-Gemeinschaften um die Großen Seen herum nach Talulah Falls gekommen, weil sie Geschichten über einen Überfluss an leichter, menschlicher Beute gehört hatten. Aber die Terra Indigene, die man geschickt hatte, um sich um die verbliebenen Menschen zu kümmern, waren nicht daran interessiert gewesen, ein paar Neulingen beizubringen, wie man in einer menschlichen Stadt lebte, und der Hauptvollstrecker der Falls hatte sie mit seinen Zöpfen und den klappernden Knochen fortgescheucht.

Nachdem sie den Jungspunden das Versprechen abgenommen hatten, nicht in Ferryman’s Landing zu jagen und im Gegenzug versprochen hatten, Erebus von ihrer aktuellen Lage zu unterrichten, waren Simon und Henry gegangen, zufrieden, dass sie zumindest einen minimalen Schutz bei ihrem neuen Projekt zurückließen.

Als sie in die Einfahrt einbogen, die von der Main Street zum Lakeside Courtyard führte, hörten sie Skippy Wolfgards jammerndes Geheul.

Simon musterte den jungen Wolf, der vor der Hintertür des Menschlichen Verbindungsbüros saß, während er den Minivan parkte.

»Arroooo! Arroooo! Arooeeooeeoo!« <Meg lässt mich nicht rein!>

Simon warf einen Seitenblick auf die Uhr des Wagens, stieß einen Seufzer aus und kurbelte das Fenster hinunter. »Skippy. Skippy!«

»Arroooo!« <Meg lässt mich nicht rein!>

Skippy war mit einem Hirn gestraft, das nicht immer ganz einwandfrei funktionierte. Manchmal übersprang es einfach Bröckchen von Informationen. Im Wilden Land endete das typischerweise damit, dass das Jungtier einen tödlichen Fehler beging. In einem Courtyard war es kaum mehr als eine Unannehmlichkeit und die Jungtiere, die es bis ins Erwachsenenalter schafften, wuchsen aus diesem Verhalten normalerweise heraus.

Skippy war vor ein paar Wochen nach Lakeside gekommen. An den meisten Tagen verbrachte er zumindest ein wenig Zeit mit Meg im Büro und in den umliegenden Gebäuden arbeiteten genug andere Wölfe, die ihn davon abhalten konnten, etwas allzu Dummes zu tun – und dann war da ja auch noch Nathan, der normalerweise als offizieller Leitwolf in der Gegend war.

Aber Skippys Hirn hatte ernsthafte Probleme mit der Tatsache, dass das Büro nicht immer offen war. Da Meg wahrscheinlich noch in ihrer Mittagspause war, würde der Jungwolf sich heiser heulen, ohne zu begreifen, dass sie ihn nicht hereinließ, weil sie eben nicht da war.

Vielleicht war sie auch da und bevorzugte einfach eine Wand zwischen sich und Skippys jaulendem Arroo – einem Geräusch, dem Skippy hoffentlich bald entwachsen würde, wie Simon von ganzem Herzen hoffte.

<Simon!>

Simon sah in den Rückspiegel und entdeckte Elliot Wolfgard, den Konsul des Courtyard und Simons Erzeuger, der vor dem Konsulat stand. <Tu etwas, um diesen dämlichen Wolf zu stoppen. Ich telefoniere gerade mit Bürgermeister Rogers und kann den Mann kaum hören.>

Simon stieg im selben Moment aus dem Minivan aus, als er Vlad durch die Hintertür von Howling Good Reads treten sah. <Ich kümmere mich darum>, sagte er zu Elliott.

<Warum lässt Meg ihn nicht rein?>, fragte Vlad, während er auf das Verbindungsbüro zuschlenderte. Er nutzte die ursprüngliche Form der Kommunikation zwischen den Terra Indigene, anstatt zu versuchen, über das anhaltende Geheul zu brüllen.

<Es ist noch nicht an der Zeit, für den Nachmittag zu öffnen>, sagte Henry und schloss sich Simon und Vlad an.

Skippy, der noch immer an der geschlossenen Tür heulte, bemerkte sie gar nicht.

<Aber sie ist zurück zum Büro gekommen>, sagte Vlad grimmig. <Ich bin nur herübergekommen, um nach ihr zu sehen, weil Crystal Crowgard mich angerufen hat, um zu fragen, ob Meg sich mittlerweile beruhigt hat.>

<Warum muss sie sich beruhigen?>

<Keine Ahnung.>