In Liebe, Deine Paula - Lucinde Hutzenlaub - E-Book

In Liebe, Deine Paula E-Book

Lucinde Hutzenlaub

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Beschreibung

Eine junge deutsche Auswanderin im glanzvollen New York der Dreißigerjahre – und eine unsterbliche Liebe, die das Schicksal einer ganzen Familie bestimmt

Als Esther den Dachboden ihres Einfamilienhauses in Stuttgart ausmistet, fällt ihr der elegante Fuchspelzmantel ihrer Mutter Paula in die Hände. Und mit einem Mal sind all die schmerzhaften Erinnerungen wieder da, denn der Mantel hat eine lange Geschichte: Er stammt aus Paulas Jahren als Kindermädchen bei einer der reichsten Familien New Yorks. Esther weiß, wie sehr ihre Mutter das Leben in der pulsierenden Metropole der Dreißigerjahre liebte, die Jazzclubs und die Spaziergänge im Central Park – und einen jungen Anwalt namens Norman. Doch der Mantel erinnert Esther auch an all die Geheimnisse, an den schrecklichen Verrat und schließlich an Paulas plötzliches Verschwinden. Und sie weiß, dass es nun endlich an der Zeit ist, sich auf die Suche zu machen nach jener großen Lebensliebe, die das Schicksal ihrer Familie für immer veränderte …

»Paulas außergewöhnliche Geschichte zwischen Stuttgart und dem New York der Dreißigerjahre berührt und entfaltet einen unglaublichen Sog. Ein großartiges Leseerlebnis!« Maria Nikolai

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Seitenzahl: 452

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Lucinde Hutzenlaub

In Liebe, Deine Paula

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2024 by Lucinde Hutzenlaub

Copyright © 2024 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Redaktion: Lisa Caroline Wolf

Covergestaltung: Favoritbüro

Coverabbildungen: Keystone USA/ZUMA Press Wire; Ildiko Neer; ILINA SIMEONOVA/Trevillion Images; Avprophoto/shutterstock.com

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29345-1V002

www.penguin-verlag.de

Getrennt durch Zeit und Raum – für immer vereint in Liebe

Separated by time and space – forever united in love

Für Paula

Prolog

Sonntag, 25. Dezember 1932, Knickerbocker Club, 2nd E62 St

Paula hatte in ihrem Leben noch nie ein so prächtig geschmücktes Haus gesehen wie den Knickerbocker Club mit seinen hellerleuchteten Fenstern und den funkelnden Lichterketten, die um die Balustrade der Dachterrasse gewickelt waren. In ihrem weißen Cape, dem langen Kleid aus dunkelblauem Samt mit dem weich fallenden Rock, den schwarzen Pumps und den hellen Handschuhen fühlte sie sich wie eine Prinzessin. Als sei sie für einen Moment zurückkatapultiert worden in den Sommer des letzten Jahres, als sie mit Ingrid im Lichtspielhaus Das Lied ist aus gesehen und sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als eines Tages einmal genau so elegant zu sein wie Liane Haid als Tilla Morland.

Als sie den Club betrat, verschlug es ihr beinahe den Atem. Ein riesiger Weihnachtsbaum stand in der Mitte des Eingangsbereiches. Er war so groß, dass er bis in den zweiten Stock hinaufreichte. Er war über und über mit silbernen Christbaumkugeln und Lametta geschmückt und mit roten Schleifen aus Taft verziert. Im ganzen Raum duftete es nach Tannengrün und Zimt, und die Aufregung und Freude, mit der die anderen Gäste diese Pracht bestaunten, war beinahe körperlich zu spüren.

Auf der Balustrade im ersten Stock spielte eine Kapelle leise Weihnachtslieder, und livrierte Kellner liefen mit silbernen Tabletts durch die Menge und boten den Gästen Punch an. Diese Pracht war überwältigend, und Paula wusste gar nicht recht, wohin sie zuerst schauen sollte.

Wenn Ingrid nur hier sein und sie das alles mit ihr teilen könnte! Oder auch ihre Brüder und ihre Mutter. Paula dachte an die schlichte Küche in ihrem Haus in Gablenberg, an die kleine Tanne, die wie jedes Jahr ganz sicher auch jetzt wieder in der Ecke vor dem Fenster stand und mit Strohsternen und ein paar Kerzen geschmückt war. An das Lachen, das Singen, das Beten und Beisammensein, das so viel wichtiger geworden war, seitdem ihr Vater nicht mehr lebte und das nicht weniger Glanz verströmte, als das Funkeln und Glitzern im Knickerbocker Club. Nein, so aufregend und elegant das Fest hier war, Paulas Herz zog sich vor Heimweh zusammen bei dem Gedanken daran, dass sie dieses Weihnachten nicht bei ihren Liebsten sein konnte.

Vielleicht war das alles hier doch nicht ihre Welt. Auf einmal fiel es ihr schwer, sich auf das fröhliche Treiben einzulassen.

Als Paula auf die Dachterrasse trat, um sich für einen Augenblick zu sammeln, traf die Kälte sofort eisig ihr Gesicht.

Ein Frösteln fuhr durch ihren ganzen Körper. Helle Atemwölkchen stiegen vor ihrem Mund auf, und sie blieb für einen Moment dicht an der Hauswand stehen, bis sie sich an die Temperatur gewöhnt hatte. Erst dann trat sie an die Balustrade.

Mittlerweile waren zumindest die Lichterketten ausgegangen, sodass sie einen guten Blick auf den dunklen Central Park hatte, der direkt auf der anderen Straßenseite begann. Einen Block weiter rechts war einer der Haupteingänge, das wusste Paula, links davon lag der große See.

Selbst von hier aus konnte sie ihn sehen. An seinem Ufer brannten Laternen, und die glatte gefrorene Oberfläche aus Eis leuchtete geradezu in der Nacht, sodass Paula sogar von ihrem Ausguck aus und trotz der Dunkelheit die vielen Eisläufer darauf erahnen konnte.

Was für ein Spaß musste es sein, dort herumzuwirbeln, Figuren zu ziehen, Fangen zu spielen? Der See war bestimmt hundertmal so groß wie der Klingenteich in Gablenberg. Allein die Vorstellung, wie sie dort unendlich lange Sekunden einfach so dahingleiten konnte, ohne sofort ans Ufer zu stoßen oder jemandem ausweichen zu müssen, war herrlich und hob ihre Stimmung ein wenig.

»Paula!« Eine leise Stimme ganz nah an ihrem Ohr.

Sie zuckte zusammen, als warme Hände sich von hinten um ihre Oberarme schlossen. War das … konnte das

… wirklich möglich sein? Ihr Herz begann wie verrückt zu rasen, als sie sich langsam umdrehte und in Normans strahlendes Gesicht blickte. »Norman! Du bist hier!«

Kapitel 1 

Samstag, 17. Oktober 1931, Gablenberg

»He, Paula, du bist ja immer noch so eine lahme Ente!« Richard, der draufgängerischere ihrer beiden sechzehnjährigen Zwillingsbrüder, fuhr mit dem klapprigen Fahrrad der Mutter an ihr vorbei und zog dabei an einem ihrer Zöpfe.

»Autsch!«, rief Paula und rieb sich den Kopf, während sie versuchte, den Gepäckträger seines Rades zu fassen zu kriegen, aber Richard war schneller. Er wandte sich um und drehte ihr eine lange Nase, bevor er noch ein bisschen fester in die Pedale trat.

»Na warte! Wenn ich dich nachher zu fassen kriege, kannst du was erleben!« Paula lachte. Weder auf Richard noch auf seinen um ein paar Minuten jüngeren Bruder Kurt konnte sie ernsthaft böse sein, selbst, wenn Richard keine Gelegenheit ausließ, ihr einen Streich zu spielen. Paula wandte sich schnell um, als sie nun auch noch Kurts Stimme hörte. Er war der Ruhigere und Sensiblere von beiden und nicht selten entschuldigte er sich für Richard, wenn der wieder mal zu laut oder zu frech gewesen war.

»Warte auf mich, Paula!«, rief er und winkte.

Lächelnd beobachtete sie, wie er versuchte, den Besen, mit dem er gerade noch den kleinen Hof vor dem Milchladen im Souterrain des Hauses in der Klingenstraße 34 gefegt hatte, hinter der Treppe abzustellen und gleichzeitig der Mutter die Haustür aufzuhalten, die mit den letzten Milchkannen nach oben in die Küche wollte, um sie auszuwaschen. Sie würde auch gleich nach Ostheim nachkommen, wenn alle Kannen sauber und kopfüber auf dem hölzernen Ständer am Eingang zum Laden stehen würden.

Einmal im Monat reservierten sie im Stadtbad Ostheim eine Badekabine für die beiden Jungs und eine für Paula und ihre Mutter. Vor allem Richard und Kurt waren in Eile, weil der Erste immer die blank polierte Wanne einlassen und somit ein bisschen mehr Badezeit genießen konnte.

Paula hatte es nicht ganz so eilig. Ihre Mutter kam immer etwas später und ließ ihr gern den Vortritt. Sie sagte, sie wolle sich nicht auch noch in ihrer kostbaren Freizeit hetzen, aber vielleicht genoss sie es auch einfach nur, ein paar Minuten für sich zu haben, wenn Paula die Badekabine wieder verlassen hatte. Paula träumte davon, eines Tages ein richtiges Schaumbad zu nehmen. Alleine. In einem Badezimmer wie aus einem der Magazine, die Herr Becker, ihr Obermieter, manchmal mit nach Hause brachte. Darin hieß so ein Badezimmer selbstverständlich Boudoir, und es gab dort große Spiegel, flauschige Handtücher, kleine Tischchen mit üppigen Blumenvasen darauf, Kerzen und Champagner.

Zum Vergnügen wollte sie dort baden und nicht nur, um endlich mal wieder die Haare gründlich zu waschen und die hartnäckigen Spuren zu beseitigen, die der Waschlappen in der Küche nicht erwischt hatte. Vor allem aber, um das Wasser so heiß einlaufen zu lassen, wie es ihr gefiel, ohne die Ermahnungen ihrer Mutter, dass zu viel Hitze nicht gut für sie war und überhaupt der Nächste auch noch warmes Wasser wollte. Besonders jetzt, da der Winter wieder vor der Tür stand, stellte Paula es sich großartig vor, nicht direkt nach dem Bad wieder in die Kälte hinauszumüssen, sondern sich so richtig aufgeheizt und nach kostbarem Badeschaum duftend in einen seidenen Bademantel zu hüllen und sich ein wenig später vor einem großen Spiegel zu entscheiden, welches der extra für sie angefertigten Kleider und Schuhe sie am Abend für ein Abendessen in einem feinen Restaurant oder einen Besuch in der Oper anziehen wollte.

»Na, Pips, träumst du mal wieder?«

Paula bemerkte erst, dass Philip ebenfalls längst zu ihr aufgeschlossen hatte, als er seinen Arm um sie legte. Sein verschmitztes Lächeln sorgte wie immer dafür, dass sich in ihrem Inneren eine Wärme ausbreitete, die sicher auch ein noch so teures Schaumbad nicht zustande bringen konnte. Philip Kaiser war ihr Nachbar, ihr Spielkamerad und ihr allerbester Freund, seit sie denken konnte. Er kannte sie besser als jeder und jede andere, selbst besser als Paulas Mutter, als ihre Brüder oder als Ingrid, die die komplette Schulzeit neben ihr gesessen hatte. Pips war sein persönlicher Kosename für sie, entstanden irgendwann, als sie noch kleine Kinder gewesen waren. Philip war klug, groß und freundlich und sah mit seinen weizenblonden Haaren, den Sommersprossen, den strahlend weißen Zähnen und den warmen braunen Augen aus, als wäre er direkt aus einem von Herrn Beckers Modemagazinen entsprungen.

Alle Mädchen waren verliebt in Philip, das sah man an den sehnsuchtsvollen Blicken, die sie ihm zuwarfen, wenn er bei der monatlichen Tanzveranstaltung im Lamm an ihnen vorbeiging, und an den abschätzigen, die Paula galten. Wieder einmal fragte sie sich, warum er sich nicht längst für eine von diesen Mädchen entschieden hatte. Und wieder einmal fand sie, dass er ruhig auch noch ein bisschen damit warten konnte. Denn sobald er eine Familie hatte, würde er sicher nicht mehr so viel Zeit für die Ausflüge und die Gespräche mit ihr haben. Außerdem waren sie noch nicht einmal volljährig, und wenn es nach Paula ging, durfte sich das Leben auch ruhig noch eine Weile so frei und großartig anfühlen wie jetzt gerade in dieser Sekunde, in der der Samstagabend so verheißungsvoll vor ihr lag.

»Danke fürs Warten!« Strahlend trat Kurt zu ihnen und wischte sich über die Stirn. Er hakte sich bei Paula ein und zog sie mit, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als Philip loszulassen, ihm zum Abschied zuzuwinken und sich selbst zu ermahnen, sich nicht allzu viele Gedanken über diesen merkwürdigen Blick zu machen, mit dem er ihnen hinterhersah.

Spätestens, als sie in der Umkleidekabine stand und den Lärm, den Richard und Kurt draußen veranstalteten, zu ignorieren versuchte, hatte sie Philip tatsächlich vergessen und sie beeilte sich, um selbst ein Teil von dem ausgelassenen Herumgealbere zu werden.

Kapitel 2 

Knapp zwei Stunden später war Paula immer noch erhitzt vom Baden und voller Vorfreude auf den heutigen Abend. Ihre Wangen glühten, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Abgesehen davon war sie einfach nur glücklich, dass endlich wieder einmal etwas in Gablenberg los war. Etwas Schönes. Paula liebte den Ort, an dem sie geboren und aufgewachsen war. An fünf Tagen in der Woche arbeitete sie als Kellnerin im Lamm, servierte den Gästen Eintöpfe, Most und Wein und manchmal, wenn Adelheid, die Köchin, wieder von einem Hexenschuss geplagte wurde, kochte sie auch nach ihren Anweisungen. Aber zunehmend fragte sie sich, ob dieses Leben hier alles war, was der liebe Gott für sie vorgesehen hatte, oder ob es da draußen vielleicht noch mehr für sie gab. Gablenberg war ein ruhiges Weinbauerndorf, das zwar zu Stuttgart gehörte, aber dennoch nicht viel Großstadtflair zu spüren bekam oder gar selbst versprühte. Paula kannte hier jede Straße, jedes Haus und auch jeden, der im Milchladen ihrer Mutter einkaufte. Aber die Welt da draußen schien so verheißungsvoll, so voller Abenteuer und spannender Länder, dass es ihr schwerfiel, einfach nur still zu sitzen und dabei zuzusehen, wie das Leben an ihr vorbeizog. Immer, wenn sie an ihre Zukunft dachte, spürte sie eine Unruhe und eine diffuse Sehnsucht, die sie selbst nicht zuordnen konnte. Vielleicht lag es ja an ihrem neunzehnten Geburtstag, den sie in etwas mehr als zwei Wochen feiern würde. Früher hatte Paula immer gedacht, dass sie bis dahin längst erwachsen sein und genau wissen würde, wohin ihr Weg sie führte. Aber das war überhaupt nicht der Fall. Ganz im Gegenteil. Sie wusste nur, dass es für sie einfach mehr geben musste, als in diesem Haus zu bleiben und gemeinsam mit ihrer Mutter den Milchladen zu führen, so lange, bis sie einen Ehemann gefunden hatte und Kinder bekam. Selbst wenn Ingrid und alle anderen von einem solchen Leben träumten, schüttelte sich Paula allein bei dem Gedanken an die Vorhersehbarkeit des Ganzen. Wenn das ihr Dasein war, würde sie vermutlich ersticken und eingehen, bevor sie wirklich gelebt hatte.

Besonders schlimm wurde es jedes Mal, wenn sie im Lichtspielhaus gewesen war. Sie bewunderte all die wunderschönen Schauspieler in ihren schillernden Roben mit den funkelnden Juwelen, die sich bei Champagner so selbstverständlich über Gott und die Welt unterhielten, als wäre das Leben eine einzige, immerwährende Party, und sie sehnte sich danach, so etwas auch einmal zu erleben. Gott und die Welt.

Sie hatte schon ab und zu versucht, mit Philip, Ingrid oder mit ihren Brüdern über die Sehnsucht nach mehr zu sprechen, aber alle hatten sie nur verständnislos angesehen.

Keiner außer ihr schien sich die Frage zu stellen, welche Abenteuer es jenseits von Gablenberg zu erleben gab, außer vielleicht Richard, der zumindest nicht wie alle anderen Jungs in diesem Alter davon träumte, bei der Stuttgarter Straßenbahngesellschaft Schaffner zu werden und frühmorgens an den Ostendplatz zum Drehkreuz zu laufen. Was Paula hingegen in Bezug auf ihn große Sorgen bereitete, war, dass er oft bei den Kaisers nebenan am Radio saß, der einzigen Familie, die bisher eines hatten und die nötige Genehmigung dazu, wenn dieser grässliche Hitler wieder eine seine aufrührerischen Reden führte. So lange saß er dort, bis Herr Kaiser das Radio abdrehte und Richard nach draußen scheuchte.

Aber auch er würde seinen Platz schon noch finden. Jeder hatte ihn gefunden. Philip würde den Fensterbaubetrieb seines Vaters übernehmen, Kurt war glücklich bei den Straßenbahnbetrieben, ihre Mutter hatte den Milchladen, Ingrid vermutlich bald einen feschen Ehemann und die Familie, von der sie seit der Grundschule träumte. Selbst der unstete Richard würde vermutlich irgendwann bei Mercedes-Benz in Untertürkheim als Mechaniker landen und den ganzen Tag unter öligen Automobilen liegen, so wie er es sich seit Jahren wünschte. Jeder um Paula herum schien zu wissen, wo er hingehörte und was er für eine Aufgabe im Leben hatte. Nur Paula nicht. Sie wusste noch nicht einmal, wo sie suchen sollte. Sie liebte ihre Familie. Und Philip liebte sie auch. Und dennoch fühlte sie sich ab und zu, als wäre sie ein Pinguin mitten in der Wüste. Aber Tanzen half.

Vor dem kleinen Spiegel im Flur strich sie sich noch einmal über ihre glänzenden Locken, die sie mit zwei Klammern so nach hinten gesteckt hatte, dass sie beinahe wie Liane Haids Frisur in Das Lied ist aus aussahen. Den Film hatte sie letzte Woche mit Ingrid in den Ostend-Lichtspielen in der Raitelsbergstraße angesehen. Seitdem ließ sie vor allem das merkwürdige Ende nicht mehr los, bei dem sich Liane Haid als berühmte Sängerin Tilla gegen ihre große Liebe Ulrich entschieden und stattdessen den reichen Tönli geheiratet hatte. Und das alles nur wegen eines Missverständnisses.

»Frag nicht, warum ich gehe, frag nicht warum.

Was immer auch geschehe, frag nicht warum …«,

begann sie Tillas berühmtestes Lied aus dem Film zu singen, das ihr ständig im Kopf herumging, und gab sich Mühe, dabei ebenso verführerisch zu lächeln wie die Schauspielerin. Doch schon musste sie über sich selbst lachen. Sie war keine Tilla, keine Operettensängerin und schon gar keine Schauspielerin. Vor allem aber schwor sie sich, nie in ihrem Leben auf die Liebe zu verzichten, wenn sie sie denn einmal gefunden hatte. Sie wollte ehrlich sein, genau hinsehen und keine Missverständnisse zulassen. Immerhin war die Liebe das kostbarste Geschenk, das man einem Menschen machen konnte. Aber ob es diesen einen Menschen für sie da draußen überhaupt gab? Und ob sie sich wohl je begegnen würden? Wenn man bedachte, wie viele sich auf der Erde tummelten, war die Liebe sowieso ein ziemlich unwahrscheinlicher Zufall und ein Glück, das ganz bestimmt nicht jeder einfach so vor der eigenen Haustür fand.

»Fort mit dir!«, sagte sie zu ihrem nachdenklichen Gesichtsausdruck, der ihr nun wieder aus dem Spiegel entgegensah, und scheuchte den kurzen Anflug von Schwermut aus ihren Gedanken.

Bevor sie sich weiter selbst anstarren konnte, klingelte es zum Glück unten an der Tür. Philip war gekommen, um sie und ihre Brüder abzuholen. Auf dem Weg nach unten ging sie noch schnell bei ihrer Mutter in der Küche vorbei und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Ein wenig müde sah Luise Wilhelm aus, wie in letzter Zeit so oft, aber sobald sie Paula bemerkte, breitete sich ein warmes Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Schnell trocknete sie die Hände an ihrer Schürze ab, bevor sie Paula an den Armen nahm und zu sich drehte. »Wie hübsch du bist«, sagte sie leise. Behutsam strich sie ihrer Tochter über die zurückgesteckten Locken, bevor sie ihre Hand an Paulas Wange legte und sie nachdenklich ansah. »Deine Haare glänzen wie blank polierte Kastanien, hat dein Vater immer gesagt.« Sie lächelte wehmütig. »Ich wünschte nur, er könnte sehen, wie groß und stark sein Kastanienmädchen geworden ist.«

»Das wünschte ich auch,« sagte Paula ebenfalls leise.

Ihr Vater Karl Wilhelm war es gewesen, der seine Tochter immer dazu ermutigt hatte, zu träumen und zu lernen. Er hatte ihr gesagt, dass Beschränkungen sowieso nur in ihren Köpfen existierten und die Welt nicht an der Stadtgrenze aufhörte. Dass sie ihr Glück selbst in die Hand nehmen musste. Er hatte selbst davon geträumt, mit seinem besten Freund Walter Behrend gemeinsam nach New York zu gehen und einmal die Freiheitsstatue zu sehen, aber dann hatte er Lungenkrebs bekommen und alles war ganz schnell vorbei gewesen. Vermutlich hatte Paula ihm ihre verrückten Sehnsüchte und die Sorge zu verdanken, den Rest ihres Lebens genau hier zu verbringen, ohne nachzusehen, ob die Welt nicht vielleicht anderes, größeres für sie zu bieten hatte.

Ihr Vater fehlte ihr schrecklich. Er war gestorben, als Paula elf und die Zwillinge gerade mal acht Jahre alt gewesen waren. Und seitdem hatte ihre Mutter die drei Kinder allein großgezogen, den Milchladen geführt und sich um das Haus und ihre Mieter gekümmert. Kein Wunder sah sie müde aus. Sofort hatte Paula ein schlechtes Gewissen, weil sie tanzen ging, anstatt ihrer Mutter die eine oder andere Aufgabe abzunehmen.

»Soll ich dir nicht doch noch ein bisschen helfen?«, fragte sie schnell.

»Nein, geh schon, Paula. Ich komme zurecht. Einmal im Monat werde ich mich ja wohl allein um den Haushalt kümmern können.« Sie lächelte ihrer Tochter aufmunternd zu. »Aber nur, wenn du einen Walzer für mich mittanzt.« Luise Wilhelm begann, ihre Hüften ein wenig zu wiegen.

»Einen, Mutter? Wenn du willst, tanze ich sie alle!«, antwortete Paula fröhlich als die Vorfreude in ihr Herz zurückkehrte. »Und alle Quickstepps und Shimmys tanze ich auch.« Sie lachte laut auf, als ihre Mutter stehen blieb und sie mit gerunzelter Stirn ansah. »Dann wirst du Mühe haben, morgen in der Kirche wach zu bleiben«, sagte sie streng, aber ihre Augen funkelten ebenfalls fröhlich dabei. »Wobei das durchaus auch an Pfarrer Lehmanns langatmiger Predigt liegen kann.«

»Ich dachte, du magst ihn.«

»Ich mag ihn ja auch. Und es gefällt mir, wie er sich von diesem schrecklichen Wolff nicht unterbuttern lässt. Aber ein bisschen interessanter könnten die Gottesdienste trotzdem sein.«

Mit beidem hatte Luise Wilhelm auf jeden Fall recht. Überhaupt bewunderte Paula ihre Mutter. Sie war selbstbewusst, mutig und auch ein wenig streitbar. Neulich hatte sie Eugen Wolff, dem Ortsgruppenleiter der NSDAP, vor die Füße gespuckt, als er nach dem Gottesdienst aufgetaucht war und versucht hatte, seine politischen Botschaften unter die Gemeindemitglieder zu bringen.

Luise Wilhelm kannte keine Angst. Ob es allerdings wirklich klug gewesen war, sich mit diesem Mann anzulegen, da hatte Paula so ihre Zweifel.

»Also, was ist? Möchtest du etwa doch lieber bleiben und deiner alten Mutter beim Töpfeschrubben und Hühnerstallausmisten zuschauen?« Luise Wilhelm überkreuzte ihre Arme vor der Brust und sah Paula schmunzelnd an.

»Ich bin schon weg«, sagte Paula schnell und küsste ihre Mutter erneut auf die Wange. »Und morgen in der Kirche bleiben wir gemeinsam wach, versprochen!«

Im Lamm hatte der Wirt wie immer einen Großteil der Tische im Saal an die Wände schieben lassen, sodass eine große Tanzfläche entstanden war. Die Kapelle spielte bereits einen Shimmy, als Paula, Philip, Richard und Kurt eintraten. Sofort begann Paula im Takt zu wippen. Vom anderen Ende des Saales winkte Ingrid zu ihnen hinüber und Paula winkte freudig zurück. Dabei fiel ihr auf, dass Kurt neben ihr mindestens genauso begeistert die Hand zum Gruß gehoben hatte. Als sie zu ihm hinübersah, stellte Paula überrascht fest, dass eine leichte Röte seinen Hals überzog. Richard hatte sich gleich zu Beginn einer anderen Gruppe junger Männer angeschlossen, die ein ganzes Stück älter waren als er selbst, was Paula mit großer Sorge erfüllte. Zwei davon waren Martin und Friedrich. Eugen Wolffs Söhne. Laut, überheblich und angriffslustig, und, zumindest behaupteten das einige Nachbarn aus der Klingenstraße, Rädelsführer bei der Saalschlacht im Lamm zwischen Kommunisten und Mitgliedern der NSDAP im September gewesen. Paula wusste nicht, ob Richard wirklich gut fand, was Eugen Wolff und seine Söhne von sich gaben, oder ob sich ihr automobilverrückter Bruder nur von Wolffs Wanderer W11 beeindrucken ließ. So oder so wäre es ihr lieber, er hielte sich von Wolff senior und seinen Söhnen fern, die sich aufführten, als gehörte ihnen ganz Gablenberg.

»Ignorier sie einfach«, sagte Ingrid, die Paulas besorgten Blick bemerkt hatte, und stieß Paula mit dem Ellbogen an. »Sie werden sich schon benehmen. Immerhin will ja wohl jeder heute tanzen, oder etwa nicht?«

Da war sich Paula nicht so sicher. Die beiden jungen Männer standen mit starrem Blick und vor der Brust überkreuzten Armen am Rand der Tanzfläche und beobachteten die Tanzenden, als wollten sie eher das Geschehen kontrollieren, als ein Teil davon zu sein. Aber als die Kapelle nun einen Black Bottom anstimmte, zog Ingrid Paula so schnell hinter sich her auf die Tanzfläche, dass sie Mühe hatte, nicht zu stolpern. »Los komm schon! Oder willst du ein Feigling sein?«

»Ich?« Paula schüttelte den Kopf. »Das ist das Letzte, was ich will.« Ihre Mutter hatte Eugen Wolff die Stirn geboten, da würde Paula wohl vor den Augen seiner Söhne tanzen können. Sie begann, sich im Takt zu bewegen und bemühte sich dabei, das Gefühl abzustreifen, dass Martins und Friedrichs Blick sich in ihren Rücken bohrte.

Schließlich schloss sie für einen Moment die Augen. Wenn sie tanzte, fühlte sie sich frei wie ein Vogel. Es kam ihr dann so vor, als könnte sie tanzen und fliegen, wohin auch immer sie wollte. Bis nach Berlin, Wien, nach Paris oder sogar bis nach New York. Tanzend träumte sie sich in die Metropolen dieser Welt, bis sie einen unachtsamen Schritt nach hinten tat und aus Versehen ihren Hintermann anrempelte. Schnell drehte sie sich um, um sich zu entschuldigen, und stand direkt vor Martin Wolff. Erschrocken wandte sie sich wieder zu Ingrid um, aber die hatte sich längst zu Kurt und Philip gesellt.

Wolff hielt ihr auffordernd die Hand hin. »Ein Tänzchen?«, fragte er. Die Kapelle hatte einen Tango angestimmt.

»Danke, nein«, erwiderte Paula und schluckte. Ihr Mund fühlte sich trocken an und in ihrem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Martin griff nach ihrem Arm und hielt sie für einen Augenblick fest, während er sie mit seinem abschätzigen Blick fixierte. »Sicher?«

»Ganz sicher«, gab Paula zurück. Ihr Herz schlug bis zum Hals.

»Ich hoffe, du bereust das nicht irgendwann«, sagte Martin und lächelte falsch. Wenigstens ließ er sie los, aber dort, wo seine Hand gelegen hatte, spürte Paula ein eisiges Kribbeln.

»Da bist du ja! Ich habe dich schon überall gesucht!«

Philip trat neben sie und legte dem Arm um ihre Schultern. Sofort wurde ihr wieder ein bisschen wärmer. Die Erleichterung, die daraufhin ihren kompletten Körper flutete, hätte beinahe dafür gesorgt, dass ihre Knie weich wurden. Philip war mehr als einen Kopf größer als Wolff und er ignorierte dessen wütenden Blick einfach. Dafür lächelte er Paula an.

»Du musst wissen, dass sie mir genau diesen Tanz vorhin exklusiv versprochen hat, Martin, also entschuldige bitte, wenn ich auf meinem Recht beharren muss.«

»Schon in Ordnung, Kaiser«, antwortete Martin gepresst und drehte sich um, nachdem er zunächst ihm und dann ihr einen letzten gehässigen Blick zugeworfen hatte. »Wir beide können unseren Tanz ja jederzeit nachholen, nicht wahr, Paula? Vielleicht komme ich einfach mal vorbei und hole dich im Milchladen oder nach dem Kellnern ab? Wer weiß das schon?«

Philip zog Paula schnell an sich, während sie kaum das Zittern kontrollieren konnte, das sich ihres Körpers bemächtigen wollte.

»Nicht antworten und Kopf hoch, Fräulein Wilhelm«, raunte er ihr ins Ohr, als er sie aus Wolffs Blickfeld und einmal quer über die Tanzfläche schob. »Wo sind denn Ihre Manieren hin? Ein Lächeln und ein wenig mehr Begeisterung habe ich nach dieser Rettungsaktion ja wohl mehr als verdient!« Als sie am anderen Ende des Raumes angekommen waren, drehte er sie zu sich um und sah ihr fest in die Augen. »Ich glaube, du kannst wieder anfangen zu atmen. Ich weiß, man darf weder Wolff noch seine gekränkte Eitelkeit unterschätzen. Aber eines verspreche ich dir, Pips: Solange es mich gibt, wird dir nichts geschehen. Und ab jetzt gehst du abends nirgends mehr alleine hin, schon gleich gar nicht zum Kellnern. Ich bringe ich dich zur Arbeit und hole dich auch wieder ab. Keine Widerrede.«

Paula bemühte sich sehr, Philips Aufforderung nachzukommen und wieder ruhig ein- und auszuatmen, aber es fiel ihr immer noch schwer, ihr hämmerndes Herz zu beruhigen. Das Blut rauschte in ihren Adern, und ausgerechnet sie, die zu jeder Musik tanzen konnte, hatte Mühe, überhaupt einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Danke«, sagte sie und bemühte sich um ein Lächeln, als sie endlich zu ihm aufsehen konnte. »Du hast mir mindestens das Leben gerettet.« Es sollte ein Scherz sein.

»Und das würde ich jederzeit wieder tun«, antwortete Philip mit einer Ernsthaftigkeit, die keinen Zweifel daran ließ, dass er es auch so meinte.

Auf dem Heimweg passierten sie das ehemalige Haus der Familie Behrend in der Klingenstraße 28, in dem sie bis vor zwei Jahren mit ihren drei Töchtern Christa, Gertrud und Gabriele gewohnt hatten. Es war ein prächtiges mehrstöckiges Gebäude, das direkt am Klingenteich lag. Nun lebten die Behrends schon seit über zwei Jahren in New York und schickten regelmäßig Briefe und Postkarten, die Herr Behrend, der in Gablenberg ein Fotogeschäft betrieben hatte, selbst fotografierte.

Meist erzählten sie davon, wie großartig ihr neues Leben in dieser riesigen Stadt war, in der Herr Behrend ebenfalls ein eigenes Geschäft eröffnet hatte, das schnell erfolgreich war. Und dass überall in den guten Häusern New Yorks offenbar händeringend nach guten Haus- oder Kindermädchen gesucht wurde. Paula hatte sich schon oft vorgestellt, wie wundervoll es wäre, eines davon zu sein. Aber in ihrer Familie hatte so etwas nie zur Debatte gestanden. Immerhin war sie trotz all ihrer Sehnsüchte und den großen Worten ihres Vaters nur Paula Wilhelm, eine kleine Kellnerin aus Gablenberg mit Volksschulabschluss, deren verwitwete Mutter ihren Lebensunterhalt mit einem winzigen Milchladen verdiente. Sie konnte ja noch nicht einmal Englisch. Aber träumen konnte sie. Und in ihren Träumen war sie schon oft in die Stadt am Hudson gereist.

»Pola«, sagte sie leise und mehr zu sich selbst, als die wenigen erleuchteten Fenster des Hauses aus ihrem Blickfeld verschwanden und ihr eigenes Elternhaus im fahlen Schein der Gaslaternen vor ihr auftauchte. »My name is Pola.« Es klang fremd und lustig und mindestens so wundervoll wie alle Black Bottoms, Shimmys und Foxtrotts zusammen, die sie am heutigen Abend dann doch noch getanzt hatte. Nachdem Wolff endlich gegangen war und ihre Angst mitgenommen hatte.

Kapitel 3 

Sonntag, 1. November 1931, Gablenberg

Vorsichtig zündete Paula ihre große weiße Taufkerze auf dem silbernen Leuchter an. Sofort tauchte der Schein die Kaffeetafel in ein feierliches Licht. Draußen war ein typisch grauer Novembertag, kalt und unfreundlich, und es roch bereits nach Schnee. Wenigstens war im Winter im Milchladen nicht ganz so viel zu tun. Schon allein, weil sich Milch und Butter zu dieser Jahreszeit besser lagern ließen, die Obstbäume in ihrem Garten in den Hängen über Gablenberg abgeerntet und die Himbeer- und Brombeersträucher für den Winter zusammengebunden waren.

Was für eine schöne Überraschung, dass ihre Mutter tatsächlich gestern spät abends noch Paulas Lieblingskuchen mit Pflaumen und Streuseln gebacken hatte. Es war beinahe schon eine Tradition, dass sie das letzte Obst so spät wie möglich erntete und für Paulas Kuchen aufhob. Danach konnte der Winter kommen. Meist – so wie heute – stand er auch schon vor der Tür und schickte oft zu ihrem Geburtstag die ersten Flocken. Der Duft nach Butter und Zucker war gestern schon bis in ihre Kammer gezogen und hatte die Vorfreude darauf in ihre Träume gewebt. Nun saß sie mit Kurt, Richard, Ingrid, Philip und ihrer Mutter an dem Tisch, der mit der schönen weißen Tischdecke mit den Blumenstickereien an der Kante und dem feinen Porzellan gedeckt war, das Paula so liebte. Es hatte einen welligen Rand und einen schmalen goldenen Ring an der Außenkante. In der dazu passenden hohen Vase hatte ihre Mutter einen hübschen Strauß aus weißen Chrysanthemen, magentafarbenen Herbstastern und zartrosafarbenen Schneebeeren in ihrem Garten gepflückt, und in einer Glasschale türmte sich ein Berg aus schneeweißer Schlagsahne. Eine ganz besondere Köstlichkeit, die sie sich nicht oft gönnten. Aber noch viel mehr als diese Kaffeetafel machte es Paula glücklich, ihre Liebsten um den Tisch sitzen zu sehen.

Richard stimmte ein schräges »Viel Glück und viel Segen« an, in das alle einfielen und bei dem selbst Paula schließlich mitsang, weil es ihr unangenehm war, so im Mittelpunkt zu stehen. Schließlich brachen sie alle in Gelächter aus, weil sie sich nicht einigen konnten, ob es am Schluss Wohlstand, Freude oder Reichtum heißen sollte und jeder etwas anderes gesungen hatte.

»Alles Gute zu deinem neunzehnten Geburtstag, Liebes«, sagte Paulas Mutter und lächelte. »Ich hoffe, du hast heute Nacht etwas ganz Besonderes geträumt!« Paulas Vater hatte immer behauptet, dass alles, was man in der Nacht vor dem Geburtstag träumte oder sich nur fest genug wünschte, wahr wurde. Ein Brauch, der unbedingt aufrechterhalten werden musste und ihnen allen umso mehr bedeutete, weil es sich jedes Mal beinahe ein bisschen anfühlte, als sei Karl Wilhelm ein Teil der Geburtstagsgesellschaft.

»Habe ich«, erklärte Paula.

»Was denn?« Kurt musterte seine Schwester gespannt. Aber bevor sie antworten konnte, stieß Richard sie mit dem Ellbogen an.

»Bitte, Paula, sag es schnell und dann gib uns was von diesem Kuchen, damit wir nicht ausgerechnet an deinem Geburtstag verhungern müssen!« Theatralisch seufzend hielt er ihr seinen Teller hin und sah Paula so flehend dabei an, dass alle erneut in Gelächter ausbrachen.

»Das kann ich natürlich nicht verantworten«, gab sie grinsend zurück. »Ganz besonders, weil dein Hungertod offensichtlich unmittelbar bevorsteht. Da sage ich es euch besser sofort.«

Richard atmete laut und erleichtert auf. »Gott sei Dank. Sie hat Erbarmen.«

Bei all den Späßen war Paula nicht entgangen, dass Philip nichts gesagt, sondern sie einfach nur still beobachtet hatte. Sie wurde neuerdings nicht mehr richtig schlau aus ihm. In manchen Momenten war er so in sich gekehrt und still, dass sie beinahe das Gefühl hatte, er hätte sie vergessen, und in anderen, wie neulich beim Tanz, war er wieder ihr bester Freund und so vertraut, dass sie ihn beinahe besser kannte als sich selbst. Auch jetzt lag sein Blick abwartend auf ihr und sie spürte eine gewisse Anspannung, die ihn umgab. Was war nur mit ihm los?

Paula wusste, dass jeder im Raum davon ausging, dass sie sich wie jedes Mädchen ein eigenes Nähset oder neue Schuhe erträumt hatte, aber seit ein paar Monaten änderten sich ihre Wünsche ständig und hatten längst nichts mehr damit zu tun, was sie gern besitzen wollte. Sie wollte niemanden enttäuschen, schon gleich gar nicht ihre Mutter, und sie hatte keine Ahnung, wie Luise Wilhelm auf Paulas Traum reagieren würde. Vielleicht fiel es ihr nun deshalb so schwer, ihn auszusprechen. Sie räusperte sich. »Ich habe geträumt, wieder zu lernen«, sagte Paula fest, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Sie hatte erwartet, dass irgendjemand etwas sagen würde, dass Richard einen Scherz machen würde, aber alle blieben still. Sofort wanderte Paulas Blick zu ihrer Mutter. In dem Moment, in dem sie ihren Wunsch ausgesprochen hatte, wurde ihr bewusst, was das für Luise Wilhelm bedeutete. Wenn sie wirklich wieder zurück in die Schule ging, würde Paula kaum noch etwas dazuverdienen und sie auch im Milchladen und im Haus viel weniger unterstützen können. Heiß schoss die Scham über ihre selbstsüchtigen Gedanken durch ihr Herz. Wie hatte sie diesen Traum nur träumen, geschweige denn aussprechen können?

»Entschuldige, Mutter, ich … das war ein alberner Wunsch«, sagte sie schnell.

»Nein, ich … es … nein, bitte! Sag das nicht! Es … kommt nur ein wenig überraschend, Liebes.« Luise Wilhelm lächelte, aber Paula sah, wie blass sie geworden war. »Es gibt keine albernen Wünsche, vergiss das nie, hörst du?«

Doch, die gab es. Paula schämte sich fürchterlich.

»Lass uns darüber nachdenken, wie dein Wunsch in Erfüllung gehen kann«, fuhr ihre Mutter fort und legte ihre Hand auf Paulas. »Dein Vater hätte genau das hören wollen, mein Kastanienmädchen.«

»Also ich höre nur Pflaumenkuchen«, sagte Richard und streckte die Hand aus, um sich ein Streusel zu stibitzen.

»Beherrsch dich!«, tadelte ihn Paula, war aber froh, dass er dafür gesorgt hatte, die merkwürdige Stimmung zu vertreiben. Ja, sie würden darüber sprechen. Und Paula würde ihrer Mutter sagen, dass ihr verrückter Traum nichts weiter war als das: ein Traum. Und dass sie eigentlich viel lieber doch ein Nähset wollte.

Schnell nahm sie die Kuchenschaufel und gab ihrem Bruder endlich das heiß ersehnte Stück und noch einen ordentlichen Schlag Sahne obendrauf.

»Das war Rettung in letzter Sekunde«, sagte er und schloss genießerisch die Augen, als er sich die erste Gabel in den Mund schob, noch bevor irgendjemand anderes ebenfalls ein Stück Kuchen bekommen hatte. Paula gab ihm insgeheim recht, auch wenn sie dabei an etwas anderes dachte.

Selbst ihre Mutter ließ Richard gewähren, obwohl ihr schlechte Tischmanieren ein Graus waren, aber vermutlich war sie ebenso dankbar für diese Ablenkung wie ihre Tochter.

Schnell verteilte Paula großzügige Kuchenstücke an ihre anderen Gäste, schenkte jedem eine Tasse Kaffee ein und nahm sich selbst zum Schluss.

»Du könntest mit mir auf die Handelsschule für Mädchen in der Hasenbergsteige gehen«, sagte Ingrid nachdenklich. »Der Unterricht ist nur an zwei Vormittagen für jeweils vier Stunden, da bleibt noch genug Zeit zum Kellnern.«

Überrascht sah Paula ihre Freundin an. Ingrid hatte zwar schon einmal von dieser Schule erzählt, aber Paula hatte keine Sekunde damit gerechnet, dass sie wirklich dorthin gehen wollte. Sie war immer davon ausgegangen, dass Ingrid so lange in der Bäckerei ihres Onkels mitarbeiten würde, bis sie einen Ehemann gefunden hatte. Die Idee war trotzdem gut.

»Das wäre doch großartig, dann könnte ich euch beide manchmal abholen!«, rief Kurt begeistert und wurde sofort rot, als Richard zu lachen begann.

»Warum lachst du?«, fragte Paula nun doch ein wenig verärgert. »Wegen meinem Wunsch? Wegen Ingrids Idee? Oder wegen Kurts freundlichem Angebot?« Sie funkelte ihn an. »Oder nur, weil du selbst nichts dazu zu sagen hast?«

Immer noch lachend schüttelte Richard den Kopf. »Jetzt mal ernsthaft: Warum solltest du auf eine Schule gehen wollen, um Dinge zu lernen, die du nie brauchen wirst? Wann bist du damit fertig? In zwei Jahren? In drei? Was willst du mit dem Rechnungswesen, den Sprachen oder der Kurzschrift? Einen Ehemann findest du dadurch auch nicht leichter.« Er streckte die Hand nach der Kuchenschaufel aus. »Darf ich?«

»Wer sagt denn, dass ich überhaupt heiraten will?«, gab Paula heftiger zurück, als sie eigentlich wollte.

»Willst du nicht?« Nun hatte er aufgehört zu lachen und sah seine Schwester erstaunt an.

»Woher soll ich das denn wissen? Dazu müsste ich mich erst einmal verlieben, richtig? Und um mich zu verlieben, müsste mir vielleicht erst mal einer begegnen, der mein Herz berührt. Oder soll ich vielleicht mit Martin Wolff ausgehen?« Angriffslustig funkelte Paula Richard an. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Philip bei ihren Worten zusammengezuckt war.

Beschwichtigend legte ihre Mutter erneut die Hand auf Paulas.

»Warum nicht? Er ist bestimmt nicht der schlechteste Fang in Gablenberg«, antwortete Richard gelassen, was Paula nur noch mehr aufregte.

»Nur über meine Leiche«, zischte Paula.

»Pauline Wilhelm, jetzt ist es genug!« Nun war sie es, die sich einen strengen Blick der Mutter einfing. »Ich möchte nicht, dass ihr streitet. Benehmt euch bitte anständig, solange ihr hier zu Tisch seid. Vorerst wird gar nicht geheiratet. Über die Schule sprechen wir noch. Und jetzt genießt den Kuchen und die Sahne, sonst esse ich alles alleine auf!«

Philip hatte die ganze Zeit über geschwiegen und sich auch bei dem kurzen Wortgefecht der Geschwister rausgehalten. Er kannte die drei schon so lange, dass er es gewohnt war, dass sie sich immer mal kurz in die Wolle bekamen und sich dann genauso schnell wieder vertrugen.

Nun aber schob er wortlos und ein wenig verlegen ein kleines Päckchen über den Tisch vor Paulas Teller. Er hatte es in ein buntes Stück Wachstuch gepackt und mit einem schmalen Band eine kleine Schleife gebunden. »Es ist vielleicht nicht ganz das, was du dir gewünscht hast, aber ich hoffe, es gefällt dir trotzdem«, sagte er leise.

Sofort war Paulas Ärger über Richard verschwunden.

»Du bist ja verrückt, Philip!« Aufgeregt zupfte sie an der Schleife. Es war schon ewig her, dass sie etwas geschenkt bekommen hatte, das nicht nur einen praktischen Nutzen hatte. »Ich … was auch immer darin ist, ich finde es jetzt schon wundervoll! Und es ist ganz sicher genau das Richtige für mich!« Philip hatte es mit seiner Überraschung geschafft, die Stimmung wieder ins Lot zu bringen, und allein dafür war sie ihm dankbar.

Unter den neugierigen Blicken ihrer Familie und denen von Ingrid löste sie vorsichtig die Schnur und rollte sie zusammen, bevor sie das Papier anhob. Darunter war eine längliche Pappschachtel, und unter deren Deckel befand sich eine zarte Schicht weißes Seidenpapier. Als sie es behutsam zur Seite schob, kam eine feine silberne Hutnadel zum Vorschein, an deren Ende grüne und dunkelrote Glassteine in Silber gefasst und zu einer filigranen Blume arrangiert worden waren. Die Nadel war wunderschön und sie passte perfekt zu Paulas grünem Kleid, zu ihrem Haar und zu dem einzigen Hut, den sie besaß. Und sie war definitiv viel zu kostbar und zu teuer für Philip gewesen, selbst wenn er bei seinem Vater besser verdiente als sie alle zusammen. Mit großen Augen sah Paula zu ihm auf, um gleich wieder die Hutnadel anzustarren. So etwas Schönes hatte sie noch nie besessen.

»Das … das kann ich unmöglich annehmen«, stotterte sie.

»Doch, das kannst du«, antwortete Philip sofort und erwiderte ihren Blick. »Das musst du sogar. Ich habe sie extra für dich anfertigen lassen und kann sie nicht zurückgeben.« Er lächelte Paula an.

Sie sah hilfesuchend zu ihrer Mutter, aber auch der schien es die Sprache verschlagen zu haben. Ingrid stand auf und kam um den Tisch herum, um sich die Nadel anzusehen. Dabei streifte sie wie unbeabsichtigt Kurts Seite mit ihrer Hüfte und sorgte dafür, dass der arme Kerl schon wieder knallrot wurde.

Nun legte sie einen Arm um Paulas Schultern und beugte sich über die Pappschachtel. »Sie ist zauberhaft«, seufzte sie. »Du musst sie einfach tragen. Aber wenn sie dir nicht gefällt, dann nehme ich sie gern!« Sie lachte laut auf, als Paula sie in die Seite knuffte.

Vorsichtig strich Paula über die einzelnen Blütenblätter, bevor sie die Nadel aus ihrem Seidenpapierbett nahm und sie vorsichtig vor der Esszimmerlampe bewegte, sodass sie wie ein Kaleidoskop bunte Schatten in den Raum und auf den Tisch warf.

Paula lachte auf. »Das ist die schönste Hutnadel, die ich je besessen habe«, sagte sie verzückt. Als sie allerdings aufsah, um sich bei Philip zu bedanken, begegnete ihr nicht das fröhliche Lächeln, das sie erwartet hatte, sondern ein eher verschlossener Blick, der nicht zu seinem schönen Geschenk passte und sie zutiefst verunsicherte. Was auch immer in seinem Kopf vorging, so hatte Philip sie noch nie angesehen.

Kapitel 4 

Paula schlief schlecht. Immer wieder schlich sich Philips Blick in ihre Träume und weckte sie auf. Ein paarmal knipste sie die Nachttischlampe an, um mit ihrer Hutnadel weitere farbige Lichtflecken auf die Bettdecke zu malen und darüber nachzudenken, was ihr bester Freund vor ihr verbarg und ob sie ihn darauf ansprechen sollte.

Es war noch dunkel, als sie schließlich aufstand und nach unten in die Küche ging. Sie wusch ihr Gesicht und kochte sich anschließend einen Kräutertee aus getrockneter Minze und Melisse, der ein bisschen nach dem vergangenen Sommer schmeckte. Mit der Tasse in der Hand sah sie nach draußen, wo tatsächlich die dicken Schneeflocken fielen, die sich gestern schon angekündigt hatten.

Als sie ihren Tee getrunken hatte, nahm sie sich das selbst gestrickte warme Wolltuch von der der Garderobe, schlüpfte in die schweren hölzernen Gartenschuhe ihrer Mutter und verließ die Wohnung, um möglichst schnell zu den Hühnern und auch wieder zurück in die Wärme zu gelangen. Aber als sie die Haustür öffnete und schon im Begriff war, den ersten Schritt in den frisch gefallenen Schnee zu machen, sah sie den Brief, der auf der Schwelle lag. Die Handschrift darauf erkannte sie sofort. Sie kannte sie von den zahlreichen Nachmittagen, an denen sie gemeinsam Schulaufgaben gemacht hatten, und von den Rechnungen und Bestelllisten, die er für seinen Vater in dessen Werkstatt geschrieben hatte, während Paula neben ihm saß und ihm Geschichten von ihren Brüdern oder ihren Freundinnen erzählte. Dieser Brief war von Philip, und er war an sie adressiert. Als sie ihn hochnahm, begann ihr Herz aus Neugier und auch ein wenig aus Furcht laut zu pochen. Ob er die Antworten auf ihre nächtlichen Fragen enthielt? Was hatte er ihr Geheimnisvolles mitzuteilen, das er ihr nicht ins Gesicht sagen konnte? Schnell steckte sie den Umschlag unter ihr Tuch, damit er nicht von dem immer weiter fallenden Schnee aufgeweicht wurde.

Nachdem sie die Hühner gefüttert und dann das Frühstück vorbereitet hatte, zog sich Paula in ihre Kammer zurück und legte sich für einen Moment auf ihr Bett. Zunächst drehte sie den Brief unschlüssig in den Händen, bevor sie das komische Gefühl niederrang, und beherzt den Umschlag aufriss. Was sollte schon drinstehen? Vielleicht befand sich ja nur ein ausführlicher Geburtstagsgruß darin, weil ihm gestern die Worte gefehlt hatten. Oder vielleicht wollte er auch noch einmal sein Versprechen bekräftigen, dass er sie vor Wolff beschützen würde. Aber schon während sie das eng beschriebene Blatt herauszog, spürte Paula es: Dieser Brief würde alles verändern.

Liebste Pips,

wenn du gedacht hast, dies seine eine Geburtstagskarte, dann hast du nur bedingt recht. Natürlich wünsche ich dir das Beste zu deinem Jahrestag. Stell dir vor, nun sind es nur noch zwei Jahre, bis du volljährig bist und so viele Dinge tun kannst, die du schon immer tun wolltest – zum Beispiel wählen! Aber das weißt du ja selbst. Sowieso weißt du fast alles. Immer. Und ziemlich oft auch Sachen besser. Aber manches eben nicht. Du weißt beispielsweise nicht, dass ich jeden Abend an dich denke, bevor ich einschlafe. Morgens sehr oft als Erstes, wenn ich aufwache. Du bist in meinen Gedanken, wenn ich Holz zuschneide, Fenster einpasse oder die Werkstatt aufräume. Wenn du nicht da bist, denke ich an dich. Und wenn doch, erst recht. Du bist stärker als ich, schneller und ganz bestimmt auch schöner.

Erinnerst du dich noch, als wir beide nach der Volksschule am Klingenbach gespielt und Anni Meister diese Kröte in die Schuhe gesetzt haben? Ich muss immer noch lachen, wenn ich daran denke. Wie schnell wir nach Hause gelaufen sind und uns hinter eurem Hühnerstall versteckt haben! Aber geholfen hat es gar nichts, weil Annis großer Bruder Ewald genau wusste, wo er uns finden würde, und kam, um mich zu verhauen. Mich! Obwohl die Kröte natürlich deine Idee gewesen ist. Und was machst du? Du stellst dich vor ihn hin, mit deinen dünnen Armen und Beinen und deinem frechen Gesicht, und sagst ihm, er soll sich zum Teufel scheren, wenn er es nicht mit dir zu tun bekommen will.

Ich glaube, da ist es passiert. Und es hat sich nie wieder etwas daran geändert.

Nun muss ich selbst auch einmal mutig sein und sagen, was mir seit Wochen auf der Seele brennt. Du hast mich beobachtet, und mich so oft ertappt, mich immer wieder gefragt, was mit mir los ist. Die Arbeit, die Politik, mein Vater, habe ich gesagt und du hast mir nur halb geglaubt. Hast mich sogar gelöchert, ob ein Mädchen hinter meiner finsteren Miene steckt. Ja, ich gebe es zu: du hattest recht. Das Mädchen bist nämlich du, Pips.

Überrascht dich das? Oder hast du es vielleicht sogar geahnt? Noch ein paar Monate, und dann bin ich einundzwanzig. Erwachsen vor dem Gesetz. Volljährig. Ich könnte eine Freundin finden und irgendwann mit ihr eine Familie gründen. Aber immer, wenn ich daran denke, dass eine Frau an meiner Seite ist, wird mir himmelangst. Denn wie könnte das jemand anderes sein als du? Was soll ich einem anderen Mädchen, einer anderen Frau über dich erzählen? Über uns? Du kennst alle meine Geheimnisse, Paula, ach, was soll ich sagen, du bist ein Teil davon – oder noch genauer, du bist das Geheimnis. Ich weiß, es ist albern, für diese Worte Papier und Tinte zu verschwenden. Ich könnte einfach bei dir klingeln oder bei den Hühnern, im Milchladen oder an all den anderen Plätzen nachsehen, bei denen man dich in der Regel findet. Ich könnte dich bitten, mit mir gemeinsam rüber nach Gaisburg zu wandern zu unserer Apfelbaumwiese, wobei das im November natürlich eine eher merkwürdige Idee wäre. Aber dort oben über dem Neckartal, mit Blick hinüber zur Grabkapelle auf dem Württemberg, hätte ich dir ebenfalls von diesem Geheimnis erzählen können. Doch weil ich weiß, dass du so lange nachbohren würdest, bis du alles weißt (weil du nicht nur klug und schön und schnell bist, sondern auch noch eigensinnig und stur), und weil dann meine Worte nicht halb so schön und durchdacht sein würden, schreibe ich dir davon. Ich hoffe, dass du auch klüger bist als ich und weißt, was nun zu tun ist. Denn ich weiß es nicht. Dich auf die eine oder andere Weise zu verlieren, wäre dabei das Schlimmste, was mir passieren könnte. Denn ein Leben ohne dich kann und will ich mir gar nicht vorstellen. Was ich neulich beim Tanz gesagt habe, meine ich auch so: Ich will und werde dich immer beschützen. Ich werde für dich da sein. Und ich werde dich auch für immer lieben, Pips – auf welche Art und Weise du mich eben lässt. Aber du musst genau das wissen: Ich liebe dich. Von ganzem Herzen. Was auch immer geschieht. Und ich hoffe, dass du jetzt nicht davonläufst, denn ein Leben ohne dich kann ich mir einfach nicht vorstellen.

Dein bester Freund Philip

Bestürzt ließ Paula den Brief sinken. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Das konnte, nein, das durfte einfach nicht wahr sein! Er konnte sich nicht in sie verliebt haben. Es war einfach unmöglich. Natürlich liebte sie Philip auch, das stand völlig außer Frage, aber doch nicht so! Er war wie ein dritter Bruder für sie – vielleicht sogar wie ihr eigener Zwilling, aber allein die Vorstellung, er könnte ihr fester Freund sein, war so absurd, dass sie beinahe laut aufgelacht hätte.

Sie kannten sich, seitdem sie auf der Welt waren, hatten schon immer Haus an Haus, Tür an Tür gewohnt und waren befreundet gewesen, bevor sie richtig laufen konnten – sie waren nicht immer einer Meinung und hatten sich ab und zu gestritten, aber selbst wenn das geschah, hatten sie ihre Gefühle und Gedanken offen und klar geäußert. Missverständnisse hatte es zwischen ihnen noch nie gegeben. Wie hatte sie nur so blind sein können?

Philip wusste, wie sehr sich Paula manchmal eine Schwester anstelle ihrer Brüder gewünscht hätte, die ihr das Leben mitunter ganz schön schwermachen konnten, ihr damit aber gleichzeitig auch beigebracht hatten, für sich selbst einzustehen. Paula hingegen wusste, dass sie dankbar für diese Brüder sein konnte, denn Philip hatte niemanden. Außer seiner Mutter und dem schwermütigen Vater, der mit Narben auf Körper und Seele nur als halber Mensch aus dem Großen Krieg nach Hause gekommen war. Sie hatten gemeinsam die Volksschule an der Gablenberger Hauptstraße besucht, heimlich in den Gärten auf halbem Weg zur Berger Kaserne Äpfel, Kirschen und Zwetschgen stibitzt, sich durch den Torbogen in die Stallungen der Soldaten gestohlen, dort die Pferde gestreichelt und den Soldaten das Obst verkauft. Sie waren Freunde. Und Paula war davon überzeugt gewesen, dass diese Freundschaft ein Leben lang halten würde. Sie hatte sich getäuscht. Denn dieser Brief – Paula strich behutsam über Philips so vertraute Handschrift –, dieser Brief machte ihr Angst. Philip hatte unrecht. Sie war weder stark noch klug noch schnell. Ohne Philip an ihrer Seite war sie verloren. Und mit ihm …

»Kommst du, Paula? Wir wollen los!«

Die Kirche! Paula hatte sie völlig vergessen. Kurz überlegte sie, ob sie ihrer Mutter sagen sollte, dass sie sich nicht gut fühlte, aber dann stand sie doch auf und ging nach unten. Vielleicht würde sie Philip dort sehen und ihm sagen können, dass er sich getäuscht haben musste. Vielleicht hatte er den Brief gestern in einem Anflug von Sehnsucht geschrieben und bereute es längst, dass er ihn ihr gegeben hatte. Nein, sie musste in die Kirche und Philips Gesicht sehen, dieses Erkennen in seinem Blick, die Einheit spüren, die sie waren, und die Sicherheit über die Kirchenbänke hinweg fühlen, wissen, dass sich zwischen ihnen nichts geändert hatte.

Aber Philip war nicht in der Kirche. Seine Mutter sagte, er sei krank. Er wolle auch keinen Besuch. Sie drückte Paulas Hand und bat sie, ihren Sohn in Ruhe zu lassen. Da wusste Paula, dass der Brief kein Irrtum gewesen war und ihre Welt nie wieder dieselbe sein konnte.

Am Abend hatte der Schnee ein weißes Leuchten über Gablenberg gelegt, und Paula setzte sich ans Fenster, um den unaufhörlich fallenden Flocken zuzusehen. Für einen Moment beruhigte sie das. Aber das Licht, das hinter dem Vorhang aus Schnee von Philips Zimmer zu ihr herüberschien, sorgte dafür, dass sie sich unendlich verlassen fühlte. Was sollte sie bloß tun? Wie sollte sie sich verhalten, wie weitermachen, wenn sie ihren Freund nicht verlieren, aber auch nicht mit ihm zusammen sein wollte? Sie drückte die Stirn gegen die kalte Scheibe, in der Hoffnung, dass die Kälte auch ihre Gedanken klären würde.

Es dauerte ein paar Atemzüge, bis in dem komplizierten Puzzle ihrer Gedanken auf einmal das letzte fehlende Teil seinen Platz gefunden hätte. Plötzlich lag die Lösung ganz klar vor ihr.

Aufgeregt stand Paula auf und schlich nach unten ins Wohnzimmer, wo der letzte Brief der Behrends lag. Wieder dachte sie daran, dass es ihr im Grunde noch nicht einmal zustand, überhaupt daran zu denken. Aber dann hatte sie erneut die ermutigende Stimme ihres Vaters im Ohr, der sie nach ihren Träumen fragte, und die ihrer Mutter, die, ihr sagte, dass es für alles eine Lösung gab.

Richard hatte recht: Die Handelsschule war nicht das, was sie wollte. Es wäre nur ein Kompromiss gewesen und noch nicht einmal ein guter. Vielleicht war Philips Liebesbrief genau der Anstoß gewesen, den sie gebraucht hatte. Jetzt musste sie genauso mutig sein wie er und zu ihren eigenen Gefühlen stehen. Paula schloss die Augen und strich über die Postkarte mit der Fotografie vom Empire State Building, als wäre sie ein Talisman, den man nur fest genug reiben musste, damit dieser Wunsch in Erfüllung ging. Bitte lass mich dich eines Tages mit eigenen Augen sehen, flehte sie in Gedanken, bevor sie sich den Füllfederhalter ihres Vaters, ein Blatt Briefpapier und einen Umschlag aus dem Sekretär ihrer Mutter nahm und zu schreiben begann.

2. November, 1931, Gablenberg

Lieber Herr Behrend,

vielen Dank für Ihren interessanten Brief und die Postkarte zur Eröffnung des Empire State Buildings. Ich kann kaum glauben, dass es wirklich 381 Meter hoch sein soll! Wenn ich mir vorstelle, dass jemand auf die Idee gekommen wäre, es hier in Gablenberg zu bauen, muss ich jedes Mal lachen. 381 Meter – das ist beinahe so weit, wie von hier bis zur Petruskirche! Sind Sie schon dort gewesen? Ich meine natürlich im Empire State Building. Dass Sie in der Petruskirche waren, weiß ich selbstverständlich. Es muss fabelhaft sein, dort in New York durch die Straßen zu spazieren und die Wolkenkratzer zu bewundern. Bestimmt sieht man an jeder Ecke einen Filmstar, und alle tragen maßgeschneiderte Kostüme. Ach, verzeihen Sie bitte, aber Sie kennen mich ja: Wenn ich es mir nur vorstelle, ist es beinahe schon so, als würde ich es vor mir sehen. Aber natürlich hoffe ich vor allem, dass es Ihnen und Ihrer Familie gutgeht, dort drüben in Amerika. Sprechen die Mädchen schon perfekt Englisch? Haben sie schon amerikanische Freunde gefunden?

Hier in Gablenberg ist alles beim Alten – außer dass Ihr Haus an der Ecke nun neue Besitzer hat, aber das wissen Sie ja längst, denn Sie haben es Ihnen selbst verkauft.

Lieber Herr Behrend, vielleicht ist es verrückt und unangemessen, aber Sie haben mir immer gesagt, wie stolz mein Vater auf mich wäre und dass ich an meine Träume glauben soll, richtig? Und ich träume! Und wie! Jeden Tag mehr möchte ich die Welt bereisen und das Meer sehen. Ich möchte englische Worte hören und Lieder singen. Und ich möchte erfahren, wie es ist, seinen Platz im Leben gefunden zu haben.

Sagen Sie, werden immer noch Hausmädchen gesucht? Und wenn ja, glauben Sie, ich könnte eines davon werden?

Bitte entschuldigen Sie, wenn meine Fragen frech sind, und noch viel mehr, wenn ich nun auch noch eine Bitte anschließe, aber könnten Sie sich einmal umhören? Ich bin zuverlässig, fleißig, ich kann kochen und servieren und weiß, wie man sich benimmt. Zumindest hoffe ich das. Ach, Herr Behrend, ich wäre Ihnen so unendlich verbunden!

Es schreibt Ihnen mit größtem Dank für Ihre Geduld und mit hoffnungsvollen Grüßen, Ihre Paula Wilhelm

P. S.: Bitte Grüßen Sie Ihre Frau und Ihre Töchter!

Kapitel 5 

Freitag, 21. Juli 2023, Gablenberg